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Der Tod kennt keine offenen Rechnungen: Thriller

©2016 240 Seiten

Zusammenfassung

Thriller von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 217 Taschenbuchseiten.

Fünf Freunde, die sich seit der Studienzeit kennen, brechen mit dem Shoshone-Indianer Joseph Watonga zu einem Survivaltraining in die Rocky Mountains auf. Auch die beiden FBI-Agenten Jesse Trevellian und Milo Tucker haben sich von ihrem Kollegen überreden lassen mitzumachen. Sie alle ahnen nicht, dass in den unendlichen Wäldern der Tod auf sie lauert. Was als unterhaltsames Abenteuer begann, entwickelt sich zu einem wahren Alptraum. Gejagt von einem Mörder - und geplagt von ihren eigenen Schuldgefühlen über eine Tat, die über zehn Jahre zurückliegt, kämpfen sie ums nackte Überleben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Tod kennt keine offenen Rechnungen

Thriller von Thomas West

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 217 Taschenbuchseiten.

 

Fünf Freunde, die sich seit der Studienzeit kennen, brechen mit dem Shoshone-Indianer Joseph Watonga zu einem Survivaltraining in die Rocky Mountains auf. Auch die beiden FBI-Agenten Jesse Trevellian und Milo Tucker haben sich von ihrem Kollegen überreden lassen mitzumachen. Sie alle ahnen nicht, dass in den unendlichen Wäldern der Tod auf sie lauert. Was als unterhaltsames Abenteuer begann, entwickelt sich zu einem wahren Alptraum. Gejagt von einem Mörder - und geplagt von ihren eigenen Schuldgefühlen über eine Tat, die über zehn Jahre zurückliegt, kämpfen sie ums nackte Überleben.

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

 

 

Prolog

Bridger-Teton National Forest, Wyoming, Mitte September 1998

Die Schatten der Baumstämme huschten an mir vorbei. Mein Atem flog, meine Lungen stachen. Wieder ein Schuss. Ich blieb stehen und lauschte in die mondlose Nacht. Das Echo des Schusses brach sich in den Steilhängen und hallte durch den Wald wie ein Paukenschlag.

Weiter. Ich hastete zwischen den Bäumen hindurch, bohrte mich durch brusthohes Gestrüpp und sprang über entwurzelte Stämme. Mein Fuß stieß gegen etwas Hartes. Bäuchlings schlug ich im Unterholz auf. Stachlige Zweige scheuerten über mein schweißnasses Gesicht.

Ich blieb liegen. Laub raschelte, Schritte trommelten über den Waldboden. Nicht weit von mir. Milo? Ich versuchte meinen keuchenden Atem zu beruhigen.

Tief Luft holen, Jesse, tief einatmen, ganz ruhig ... wenn sie dich hören bist du erledigt ...

Hinter meinen Schläfen dröhnte mein Pulsschlag. Meine Glieder schmerzten, in meinen Füßen und Fingerspitzen kribbelte es. Ich wischte mir einen Schleier aus Schweiß von den Augen.

Die Schritte näherten sich. Ob es Milo war? Ich hatte ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.

Leise robbte ich durch das Unterholz. Bis an den Rand eines Abhangs. Eine Bodenspalte gähnte unter mir. Ein Bachlauf plätscherte. Keine Ahnung wie tief unter mir er sich durch den Waldboden schlängelte. Meine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen.

Auf der anderen Seite des Bachlaufes stieg das Gelände wieder steil an. Umrisse von Büschen und Baumstämmen schälten sich aus der dunklen Wand gegenüber. Die Schritte kamen von dort. Deutlich hörte ich jetzt den keuchenden Atem eines Menschen.

Gott, Milo - bist du das ...?

Dann dröhnte wieder ein Schuss durch die Nacht. Das Geräusch der Schritte brach jäh ab. Jemand stöhnte auf. Ich hielt den Atem an.

Milo ... Himmel noch mal ... hätte ich bloß eine Waffe ...

Ein Schatten brach durch die Büsche, schwankte und stürzte in die Bodenspalte des Bachlaufes. Ich hörte einen schweren Körper durch das Ufergestrüpp schliddern. Etwas schlug im Wasser auf.

Milo ...!

Mein Hirn war wie leergefegt. Nur noch der eine Gedanke: Milo ... Ich stieß mich ab und ließ mich die Böschung hinunterrollen. Wahnsinn, schrie etwas in mir, sie sind ihm auf den Fersen, du bist unbewaffnet, sie werden jede Sekunde hier auftauchen ...

Meine Jacke sog sich mit eiskaltem Wasser voll. Ich kroch aus dem Bach und lauschte. Jemand stöhnte ein paar Schritte entfernt von mir. Ein Schatten bewegte sich im Wasser. Ich kroch darauf zu. Meine Hand tastete Haar - menschliches Haar. Es war nass. Aber nicht von kaltem Gebirgswasser. Warm und klebrig fühlte es sich an.

"O nein ...", stöhnte ich. Finger berührten mein Gesicht.

"Jesse ...?", flüsterte eine schwache Stimme. Es war nicht Milos Stimme. Es war die Stimme eines der anderen Männer, mit denen Milo und ich seit über einer Woche durch die Wildnis streiften.

Ich schob mich näher an die Gestalt heran. So nahe, dass ich den warmen Atem des Mannes auf meiner Stirn spüren konnte. "Ja", flüsterte ich. "Ich bin's, Jesse ..."

Ich konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Nicht mal meine eigene Hand auf seinem Kopf konnte ich sehen.

Sein Flüstern war jetzt so schwach, dass ich ihn kaum noch verstehen konnte. Ich robbte noch näher heran und beugte mein linkes Ohr an seine Lippen. Seine Bartstoppeln berührten meine Ohrmuschel. Der metallene Geruch frischen Blutes umgab ihn.

"Hast du eine Waffe dabei ...?"

"Nein."

"Dann verschwinde ..." Seine Stimme war nur noch ein Hauchen.

Ich lauschte in die Dunkelheit. Stumm und schwarz stand die Mauer aus Büschen und Baumstämmen oberhalb der Böschung. Die Wipfel der Douglasien schlossen sich über mir wie das Gewölbe eines finsteren Kerkers.

"Hörst du ... hörst du, was ich sage …, Jesse ..."

Irgendwo hinter der schwarzen Wand dort oben raschelte es. Jemand schlich durch das Unterholz. Und näherte sich dem Bachlauf.

Die Hand des Verletzten schloss sich um meinen Nacken und zog meinen Kopf auf seine Brust. "Lauf ... lauf, Jesse ..." Er hustete. Und würgte. Etwas gurgelte feucht aus seinem Mund und ergoss sich über mein Gesicht. Blut. "Lauf so schnell du kannst ..."

Ich wischte mir das Blut mit dem Jackenärmel von der Wange. Du kannst ihn nicht allein lassen, sagte eine Stimme in mir, wenn du leben willst, musst du ihn allein lassen, schrie eine andere ...

Ich tastete nach dem Adamsapfel des Mannes. Und dann nach seiner Halsschlagader daneben. Sie fühlte sich an wie ein nasser Faden, den man unter Strom gesetzt hatte. Die Pulsschläge waren kaum noch zu unterscheiden.

So viel Blutverlust in so kurzer Zeit ...?

Er musste aus einer großen Wunde bluten. Kein Zweifel - er war lebensgefährlich verletzt.

Noch einmal glitten seine Finger über meinen Hals, tasteten sich hinunter zu meinem Jackenärmel und krallten sich in dem Stoff fest. Ich verfluchte den Augenblick, in dem ich meine Waffe verloren hatte.

Er zerrte an meinem Jackenärmel. Wieder beugte ich mich zu seinen zitternden Lippen herunter.

"Jesse ...", krächzte er. "Wenn du jemals ... wenn du jemals hier rauskommst ..." Er atmete nicht mehr, er hechelte nur noch.

"Was ist dann?", flüsterte ich.

"Dann ... dann geh ... dann geh zu ... meiner Frau ... und ... und sag ihr ..."

Ich erfuhr nicht mehr, was ich seiner Frau sagen sollte. Er bäumte sich auf. Drei, vier Mal - als würde sein sterbender Körper mit aller noch verbleibenden Kraft um den letzten Atemzug kämpfen.

Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, ich konnte nur die schnappenden Geräusche seines Munde hören. Seine Zähne schlugen aufeinander, seine Lippen schlossen und öffneten sich schmatzend. Einmal, zweimal, dreimal - und dann nichts mehr. Sein Körper erschlaffte. Ich war allein.

Über mir brach ein Ast im Unterholz. Ich blickte auf. Die dunkle Wand am Rande der Böschung bewegte sich. Die Gestalt eines Menschen schob sich aus dem Gebüsch. Reglos verharrte sie über mir vor der Erdspalte des Bachlaufes. Als würde sie lauern ...

Es war zu spät, um irgendetwas zu bereuen. Kein Weg führte mehr hinaus aus der verhängnisvollen Geschichte. Ich war mitten drin. Ob ich wollte oder nicht. Und Milo genauso. Falls er überhaupt noch lebte.

Bis zum bitteren Ende würde die tödliche Geschichte ihren Lauf nehmen. Eine Geschichte, die im Grunde schon lange vor diesem Herbst begonnen hatte. Vierzehn Jahre zuvor ...

 

*

 

Sieh dich an - du bist ein kränkelndes Großstadtgewächs. Eine Autopanne auf dem Highway ist schon die größte anzunehmende Katastrophe für dich. Oder ein Stromausfall, oder eine drohende Kündigung, oder die Tatsache, dass deine Zigarettenschachtel leer und kein Laden mehr geöffnet ist.

Ich werde dich in die Wildnis führen. Damit du die wirklichen Katastrophen kennenlernst. Damit du dich selbst kennenlernst - deinen brennenden Wunsch zu leben, deine verschütteten Kraftreserven, und deine Fähigkeit zu kämpfen.

Ich zieh dir das Netz unter dem Seil weg. Das Netz aus Luxus, trägen Gewohnheiten, Sozialversicherung und Einfamilienheim. Ich setze dich dem Zwang zu überleben aus. Damit du lernst, dass du ein Sieger bist.

Oder wie der Weise sagt: >Im Hafen ist das Schiff sicher - aber Schiffe werden nicht gebaut, um im Hafen vor Anker zu liegen ...<

Joseph Watonga, Survival-Trainer, in seinem Buch >Überleben<

 

 

1

Cascade Mountains, Kanada, Herbst 1984

Er fröstelte. Mondlicht sickerte durch die Birkenkronen und ließ die Stämme weiß aufscheinen. Mondlicht von zwei milchigen Scheiben. Über den Konturen der Birkenwipfel verschwammen sie miteinander. Chester Hayes schüttelte sich. Er kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf. Immer noch zwei Monde im tiefen Blau des Nachthimmels.

Sein Schädel schmerzte. Und fühlte sich kalt und feucht an. Stachliges Gestrüpp bohrte sich in seine Nackenhaut. Etwas krabbelte über seine linke Wange. Eine Ameise. Chester wischte sie mit dem Handrücken aus dem Gesicht.

Sein Rucksack erschien undeutlich auf seiner inneren Bühne. Ein heißer Schreck durchzuckte ihn. Mein Geld ... Augenblicklich war er hellwach. Er stemmte die Hände in den feuchten Waldboden und richtete sich auf.

Viel zu schnell. Der weiche Boden unter ihm schwankte. Gestrüpp, Büsche und Stämme bewegten sich kreisend. Übelkeit quoll ihm aus dem Gedärm in die Kehle.

Er stöhnte und versuchte den Brechreiz abzuschütteln. Vergeblich. Sein Magen schien sich in seine Speiseröhre zu schieben. Bitter kroch es ihm auf die Zunge. Er warf sich zur Seite ins Laub und erbrach sich.

Keuchend und würgend verharrte er über seiner Kotze. Sie stank säuerlich. Und sie stank nach Bohneneintopf. Und nach Whisky.

"Bullshit, verfluchter ..." Er starrte in den nächtlichen Wald hinein. Schmale Säulen ragten dicht an dicht aus dem abfallenden Waldboden in das Laubdach hinauf. Schlanke Birkenstämme. An manchen Stellen ließ das Mondlicht ihre herbstlichen Kronen gelb aufschimmern. "Wieso bin ich nicht mehr in der Hütte ...?" Saurer Speichel sammelte sich in seinem Mund. Er spuckte ihn aus. "Wie zum Teufel komm ich hierher ...?

Bruchstücke von Bildern blitzten in seinem Hirn auf. Whiskyflaschen, lachende Gesichter, der Gemeinschaftsraum der Blockhütte, Kaminfeuer, ein blondes Mädchen, Musik. Erinnerungen an die letzten Stunden, die er bei halbwegs klarem Bewusstsein erlebt hatte. Wie lange lagen sie zurück?

Langsam richtete er sich auf. Seine Glieder waren steif. Rücken, Gesäß und Beine vollgesogen mit der feuchten Kühle des Waldbodens. Noch immer drückte Übelkeit seinen Magen zusammen. Noch immer hatte er das Gefühl, einen schweren Helm zu tragen, dessen schwarzes Futter ihm tief ins Hirn hineinwucherte. Der dunkle Saal des Waldes flimmerte vor seinen Augen.

Er hatte zu viel getrunken. Viel zu viel. Niemals hätte er sich auf ein Besäufnis mit diesen Jungfüchsen einlassen dürfen. Was bist du für ein Idiot gewesen ...

Aber diese Frau ... Wie sie ihren Schenkel gegen seinen gedrückt hatte. Unter dem groben Tisch im Gemeinschaftsraum. Niemand hatte es bemerkt. Näher und näher war sie gerückt. Chester meinte, die Wärme ihres Körpers noch auf seiner rechten Seite zu spüren. Gott im Himmel - war er scharf gewesen ...!

Rascheln drang aus dem Wald. Irgendwo unterhalb des Hangs brach ein Ast. Er lauschte. Ein Vogel tschilpte. Flügelschlag zwischen den Kronen der Birken. Dann nichts mehr. Nur das Plätschern eines Baches.

Warum bin ich hier im Wald und nicht in der Hütte ...?

Er legte den Kopf in den schmerzende Nacken. Wie das Herbstlaub im Mondlicht schimmerte ... Jetzt sah er nur eine Mondscheibe. Aber ihre Ränder erschienen Chester fließend und zerfasert. Der Alkohol peinigte noch immer seinen Sehnerv.

Verdammter Idiot! So viel zu saufen! In deiner Situation ...

War der Vollmond gestern nicht erst nach Mitternacht aufgegangen? Chester riss das linke Handgelenk hoch und knipste die Beleuchtung seiner Armbanduhr an. Zehn nach vier. Als er das letzte Mal bewusst auf die Uhr geschaut hatte, war es kurz vor elf Uhr am Abend gewesen.

Lieg ich schon so lange hier draußen? Über fünf Stunden ...?! Wo zum Teufel ist mein Gepäck ...

Er blickte sich um. Überall die schmalen Säulen der Birkenstämme - unter ihm, über ihm und rechts und links von ihm. Und dazwischen dunkle Wälle aus Büschen und Gestrüpp. Nirgendwo Licht, nirgendwo ein erleuchtetes Fenster ...

"Ihr Sauhunde ...!" Die Wut schoss ihm heiß aus dem Bauch. "Ihr Wichser ...!" Sie hatten ihn in den Wald hinausgebracht, einfach in der Wildnis des Bergwaldes in das Unterholz geworfen ...!

Warum, warum ...? Ich bring euch um ... ich bring euch alle um ...

Er hatte versucht, die Frau zu küssen, natürlich ... er hatte seine Hand unter ihren Pullover geschoben - genau: So war es gewesen! Und einer dieser Klugscheißer hatte ihn am Kragen gepackt und über den Tisch gezogen. Und dann ...

Dann nichts mehr. Irgendwie musste dann der Film gerissen sein. Hatte ihn der Kerl bewusstlos geschlagen? Chester tastete seinen Schädel ab. Keine Wunde, keine schmerzende Stelle. Sollte er tatsächlich so viel Whisky geschluckt haben, dass er von allein einen Abgang gemacht hatte? Er, Chester Hayes? Ehemaliger Marine und trinkfestester Unteroffizier seiner Einheit? Unmöglich! Oder ...?

Wieder brach ein Ast irgendwo unter ihm im Hang. Er lauschte in die Dunkelheit. Laub raschelte. Irgendjemand bewegte sich durch den Wald. Jemand, der versuchte, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Chesters Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Feixen.

Keine Ahnung, wie man sich anschleicht ... verdammte Klugscheißer ... kommt nur, ihr Wichser - plagt euch das schlechte Gewissen, he? Kommt nur - ich werd' euch was zeigen, was man auf keinem College lernt ...

Sein Blick fiel auf eine dunkle Wölbung zwischen den Stämmen. Etwa zwanzig Schritte rechts von ihm hügelaufwärts. Ein Kuppelzelt. Sein Kuppelzelt.

Konnte das wahr sein? Sie hatten ihn nicht nur hier draußen im Wald abgelegt - sie hatten auch sein Zelt hierhergebracht! Und aufgebaut! Und seinen Rucksack? Sein Geld?!

Fluchend stand Chester auf, um zum Zelt zu gehen. Kaum tat er den ersten Schritt, stolperte er und schlug lang im Unterholz hin. Da war etwas zwischen seinen Füßen. Ein Widerstand. Er tastete seine Bergstiefel ab. Die langen Schnürsenkel des Stiefelpaares waren zusammengeknotet.

"Schweinehunde! Ich bring euch um ..." Er versuchte den Knoten zu lösen. Die Schnürsenkel waren feucht, der Knoten fest, und Chester konnte nichts sehen. "Wie die Karnickel schieß ich euch ab ...!" Die Wut machte ihn rasend. Seine Hände zitterten. Keine Chance die Stiefel zu entknoten.

Warum haben sie das getan ... warum ...?

Auf allen vieren robbte er durch das Unterholz auf sein Zelt zu. Seine Hand stieß gegen etwas Metallenes. Verwundert tastete er es ab. Ein kleiner Aluminiumkochtopf. Er roch nach Bohneneintopf. Chester hob ihn hoch. Er war halbvoll. Ein Rest des Mittagessens vom vergangenen Tag.

Wieso stellen die Wichser den Topf ins Gestrüpp ... Jedes Kind weiß, wie gefährlich das ist ... Klugscheißer ..."

Weiter. Zum Zelt. Er fand ein offenes Marmeladenglas, ein paar Brotscheiben und kurz vor dem Zelt ein Stück rohes Fleisch. Das Licht des Vollmonds spiegelte sich in der roten, feuchten Oberfläche des Fleischstücks. Es roch streng und ranzig. Schaffleisch.

Ein Gedanke kroch langsam aus den Tiefen seines Hirns. Ein schrecklicher Gedanke. Ein Gedanke, mit dem Chester nichts zu tun haben wollte. Doch erbarmungslos beschlagnahmte der Gedanke sein Bewusstsein. Und Chester begriff: Sie wollten ihn töten.

Wie weggeblasen die Wut. Hinter seinem Brustbein schien plötzlich eine offene Wunde zu brennen. Atemlos spähte er zwischen den Silhouetten der Birkenstämme hindurch den Hang hinunter. Das Rascheln ...

"Ihr Schweine", flüsterte er. "Ihr wollt mich an Old Ephraim verfüttern …", zischte er.

Er hatte keinen Schimmer, warum sie so etwas taten. Sie hatten ihn wie selbstverständlich in ihre Gruppe aufgenommen. Hatten Whisky und Proviant mit ihm geteilt. Nicht die Spur von Feindseligkeit hatte es gegeben. Außer eben, als er sich an die Frau herangemacht hatte.

Er besann sich auf das, was er bei der Army gelernt hatte. Fast lautlos bewegte er sich weiter durch Farnsträucher und über Moos. Meter um Meter auf das Zelt zu. Ihr verdammten Schweine - ihr wollt ihn anlocken ...

Er wusste genau, dass er sich besser zuerst um seine zusammengeknoteten Stiefel kümmern sollte. Doch das Zelt zog ihn magisch an. Oder eigentlich sein Rucksack, den er darin zu finden hoffte. Oder nein - der Inhalt seines Rucksacks, der zog ihn an. Er musste wissen, ob das Geld noch da war ...

Drei Schritte vor dem Zelt griff er in eine klebrige Masse. Honig. Das Glas lag ein Stück weiter im Moos. Ohne Deckel. Sie hatten Honig über das Gestrüpp und aufs Moos gekippt! Ihr wollt mich umbringen ... ihr wollt ihn anlocken ...

Er wischte die Hand am Hosenbein ab. Das Zelt war offen. Er kroch hinein. Sein Rucksack lag direkt hinter dem Eingang. Chester sah sofort, dass er nur halbvoll war. "Schweine", zischte er. Er riss die Schnüre auseinander und griff hinein. "Mich linken ..." Hastig zerrte er seine Kleider aus dem Rucksack. "Mich, Chester Hayes ...!" Keine Spur seines Geldes, nicht eine einzige Banknote.

Sein Oberkörper sank über seine Knie. Er heulte vor Wut. Seine Stirn bohrte sich in den Stoff des leeren Rucksacks. "Ich bring euch um, ich schieß euch alle über den Haufen ..." Seine Hand tastete etwas Hartes zwischen den am Zeltboden verstreuten Kleidern. Seinen .38er. Den hatten sie ihm gelassen. "Ich bring euch um ... ich schwör's - ich bring euch um ..."

Er steckte die Waffe in den Hosenbund. Fluchend setzte er sich in den offenen Zelteingang und beschäftigte sich mit seinen zusammengeknoteten Schnürsenkeln. Spärliches Mondlicht bestreute Farn und Moos, sodass er wenigstens Ösen und Schnüre seiner Stiefel erkennen konnte. Und die dicke Quaste aus vielen Knoten zwischen seinen Unterschenkeln. Mit den Fingernägeln versuchte er sie auseinanderzudröseln.

Ohnmächtige Wut tobte in seinem Brustkorb. In Gedanken streifte er schon durch den Wald und suchte den Weg zur Hütte. Notfalls würde er barfuß den Berghang hinaufsteigen. Bis ans Ende der Welt würde er laufen, um die jungen Leute zu töten. Und um sein Geld wiederzukriegen. Die Gier nach Rache hielt ihn in ihren heißen Klauen umklammert. Er stellte sich vor, wie er die Frau vergewaltigte. Du linke Schlampe ... du gerissenes Biest ...

Wieder raschelte es unterhalb des Zeltes im Hang. Chester horchte auf und lauschte. Das Rascheln kam ihm lauter vor, als vorhin noch. Viel lauter.

Jetzt ein schleifendes Geräusch, als würde ein Ast an einem Körper vorbeistreifen. Dann knackte ein Ast. Chester hörte ein Schnüffeln. >Old Ephraim< ohne Zweifel - sein Zwerchfell schien zu gefrieren. Für Sekunden war er nicht in der Lage, Atem zu holen. Stocksteif hockte er da und starrte in das Halbdunkel zwischen den Birkenstämmen.

Plötzlich Schritte oberhalb des Zeltes. Sie entfernten sich rasch hangaufwärts. Jemand floh. Ein Tier? Ein Mensch? Chester wagte nicht, sich aus dem Zelt herauszubeugen und nach oben zu sehen. Das Rascheln und Schnüffeln von unten kam näher und näher.

Chesters zitternde Finger nestelten verzweifelt an dem dicken Knoten zwischen seinen Stiefeln herum. Bitte lass es ein Stachelschwein sein ... Die feuchten Schnürsenkel ließ sich nicht entwirren. … ein Stachelschwein, bitte, lieber Gott, bitte, bitte ...

Die Schritte hinter dem Zelt waren längst nicht mehr zu hören. Dafür das Schnüffeln und Rascheln umso deutlicher. Chesters Blicke flogen zwischen seinen zitternden Händen und den Konturen der Büsche hangabwärts hin und her.

Es ist ein Stachelschwein ... ich bin ganz sicher ... hör dir doch das Schnüffeln an ... Old Ephraim macht ganz andere Geräusche ...

Er gab es auf. Keine Chance den verdammten Knoten aufzuziehen. Chester hob den Fuß, um den gestrafften Schnürsenkel zu entspannen. Raus aus den Hakenösen, und dann so weit aufziehen, bis sich der Stiefel abstreifen ließ ...

Ein Schatten schob sich durch das Gebüsch. Etwa zwanzig Schritte unterhalb des Zeltes. Chester erstarrte. Der Schatten schaukelte ins Unterholz bis zu der Stelle, an der Chester wieder zu sich gekommen war, und sich erbrochen hatte. Es war kein Stachelschwein. Stachelschweine waren nicht halb so hoch. Stachelschweine knurrten nicht. Stachelschweine hatten auch keinen Nackenhöcker.

Es war ein Bär. Es war >Old Ephraim< - so nannten Leute den Grizzly, der hier in den Rockies zu Hause war.

Chester war in den Rockies zu Hause. Zwar viel weiter südlich, in Montana, wo es noch weniger Grizzlys gab, als hier oben in den kanadischen Rockies - aber trotzdem hatte er x-mal gehört und gelesen, wie man sich zu verhalten hatte, wenn man die Begegnung mit >Old Ephraim< halbwegs lebendig überstehen wollte.

Sein Pulsschlag trommelte gegen Kehle und Schläfen, seine Beinmuskulatur schrie nach Flucht - doch Chester zwang sich zu ein paar tiefen Atemzügen und blieb sitzen, wo er saß.

Schmatzen drang aus dem Unterholz. Der Grizzly schien seine Kotze aufzuschlabbern. So leise wie nur irgend möglich lockerte Chester seinen rechten Stiefel und versuchte ihn auszuziehen. Wenigstens beweglich wollte er sein, falls der Bär angreifen sollte. Rascheln und schwere Schritte näherten sich. Chester hörte Krallen über Aluminium scharren. Old Ephraim hatte die Bohnen entdeckt.

Endlich rutschte Chesters Fuß aus dem rechten Stiefel. Jetzt der Linke ...

Der Bär stapfte schnüffelnd weiter durchs Unterholz. Direkt auf das Zelt zu. Chesters Hände zitterten derart, dass er nicht einmal mehr die Schnürsenkel aus den Hakenösen des Stiefels lösen konnte. Deutlich zeichnete sich die Gestalt des massigen Tieres jetzt im Halbdunkel des Waldes ab. Nicht einmal zehn Schritte links von sich sah Chester die lange Schnauze, den massigen Schädel, die kleinen runden Ohren, den Höcker hinter dem Nacken. Silbrig schimmerte der Pelz im Licht des Vollmondes.

Der Bär blieb stehen. Sein Kopf verschwand im Gestrüpp. Chester hörte es schmatzen. Der Grizzly hatte den Honig entdeckt. Hinlegen, sagte Chesters Verstand, tot stellen, Beine anziehen und Arme über Nacken und Hinterkopf verschränken ...

Chester stützte sich mit beiden Händen ab, um noch ein Stück weiter ins Zelt hinein zu rutschen und sich dort hinzulegen und sich tot zu stellen. Mit dem linken Fuß schleifte er den schon ausgezogenen Stiefel hinter sich her. Der verkeilte sich im Gestrüpp vor dem Zelt, bog einen Ast um und ließ in schließlich zurückschnellen.

Das von ihm selbst verursachte Geräusch ging Chester durch Mark und Bein. Reglos verharrte er und starrte zu dem Bären hinüber.

Das Schmatzen hatte schlagartig aufgehört. Der Grizzly hob seinen Schädel. Sekundenlang verharrte auch er reglos. Chester hörte ihn schnüffeln. Und dann hörte er die Unterkiefer des Bären aufeinanderschlagen. Eine eindeutige Drohgebärde - Old Ephraim hatte seine Witterung aufgenommen.

Lass ihn den Honig aufessen, bitte, lieber Gott ... lass ihn das Fleisch finden ... schick ihn zurück in den Wald ...

Blitzartig fiel das Tier aus vollkommener Bewegungslosigkeit in rasenden Galopp. Nicht mal zwei Sekunden später stand es vor dem Zelt. Ruhig wieder und schnüffelnd. Es fletschte die Zähne, und Chester sah, wie es die Ohren anlegte. Ein sicheres Zeichen, dass es angreifen würde.

Chesters Magen pulsierte, Übelkeit und Brechreiz stiegen ihm in die Kehle, sein Herzschlag trommelte gegen seine Schläfen. Er hatte nur noch eine Chance - seine Treffsicherheit. Die Schießkünste, die er sich bei der Army angeeignet hatte.

Langsam, ganz langsam fuhr seine Hand zum Hosenbund. Langsam, ganz langsam zog er den .38er heraus. Das Klicken ließ sich nicht vermeiden, als er den Hahn spannte.

Chester wusste, dass der Grizzly zuschlagen würde, sobald er den Arm ausstreckte, um zu zielen. Und er wusste, dass selbst ein Grizzly mit einer Trommel voller Geschosse im Pelz noch gefährlich war. Gefährlicher sogar als ein unverletzter Bär.

Er musste genau treffen. Haargenau. So genau, wie er bei der Army zu treffen pflegte. So genau, wie er bei seinen privaten Schießübungen in den vergangenen Wochen getroffen hatte. So genau wie er den Bewaffneten vor vier Tagen getroffen hatte.

Er visierte die Stirn des Grizzlys an. Eine Stelle in der länglichen Kerbe über den Augen. Er fixierte die Stelle, konzentrierte sich ganz auf sie, verschmolz mit ihr.

Dann riss er den Revolver hoch und drückte ab. Ein trockenes, metallenes Geräusch. Sonst war nichts zu hören. Die Trommel hatte sich gedreht, aber kein Schuss hatte sich gelöst.

Sie haben die Kugeln aus der Trommel geholt ... sie haben mir einen ungeladenen Revolver im Gepäck gelassen ...

Der erste Prankenhieb zerschlug ihm Handgelenk und Unterarm. Der zweite riss ihm die Brust auf und schleuderte ihn gegen die hintere Zeltwand. Chester schrie seine Todesangst hinaus. Doch der Bär warf sich auf ihn, und über siebenhundert Pfund pressten Chester die Luft aus den Lungen und brachen ihm Rippen und Wirbelsäule.

Als Old Ephraim ihm das Gesicht zerbiss, war Chester schon so gut wie tot ...

 

*

 

Dein Terminkalender sagt dir, an welchem Tag du dich zu welcher Uhrzeit an welchem Ort mit wem zu treffen hast. Ihr trefft euch zu verabredeter Stunde an verabredetem Ort, und mit den Jahren glaubst du an deinen Terminkalender.

Dein Arbeitsvertrag sagt dir zu welcher Uhrzeit du morgens im Büro anzutreten hast, und wann du am Abend nach Hause gehen darfst. Der Fahrplan der Metro sagt dir, welchen Zug du nehmen musst, um pünktlich im Büro zu sein und welchen, um abends so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, und mit den Jahren glaubst du an deinen Arbeitsvertrag und an Zugfahrpläne.

Du trittst am Montagabend in dein Haus, und deine Frau grillt Steaks und brät Kartoffeln. Du trittst dienstags ins Haus und sie frittiert Fisch und schneidet Salat. Mittwochs findest du sie vor der Mattscheibe bei einer Talkshow, donnerstags mit der Bridge-Runde im Wohnzimmer und freitags kocht sie für das Wochenende vor.

Am Samstag mäht ihr den Rasen und wascht das Auto, wie alle Nachbarn es tun, und am Sonntag fahrt ihr hinaus nach Coney Island, Disneyland oder in die Berge. Und mit den Jahren glaubst du an einen festen Rhythmus des Lebens.

Du siehst deine Kinder zur Welt kommen, aufwachsen, Schule, College und Universität besuchen, ihre Dollars verdienen und selbst Kinder zeugen, die sie aufwachsen, Schulen und Colleges besuchen sehen, und so weiter, und so weiter. Und du glaubst an das geordnete, stetige Fortschreiten der Dinge.

Du irrst dich. Es kommt der Tag, an dem erscheint einer nicht zur verabredeten Zeit am verabredeten Ort. Es kommt der Tag, da wird ein Vertrag gebrochen und ein Zug fährt nicht ein.

Es kommt der Tag, an dem wird deine Frau nicht zu Hause sein und deine Kinder werden Dinge tun, von denen du nicht einmal zu träumen wagst.

Es kommt der Tag, an dem wird Disneyland geschlossen haben. In den Bergen wird ein Vulkan ausgebrochen sein und dein Nachbar wird seinen Wagen nicht waschen, weil ihn ein Truck, eine Kugel oder ein Infarkt erwischt hat.

Glaube mir - das Leben ist eine Wildnis. Daran ändern keine Terminkalender, kein Verträge, keine Fahrpläne und keine Gewohnheiten etwas. Und überleben in dieser Wildnis wird nur, wer immer das Unerwartete erwartet. Oder, wie der Weise sagt: >Ohne Makel, wer beständig bleibet in Gefahr<.

Joseph Watonga, Survival-Trainer, in seinem Buch >Überleben<

 

 

2

Manhattan, Mitte Juli 1998

Morgendliches Briefing im Chefbüro. Wir saßen um den Konferenztisch herum. In den Tassen vor uns dampfte Mandys Kaffee. Jeder von uns berichtete, was er zu berichten hatte. Die anderen hörten schweigend zu. Der Chef machte sich die eine oder andere Notiz.

So fing die Geschichte für uns an, für Milo und mich.

Hinter uns lag eine aufregende Woche. Die Queen hatte New York City besucht. An sich nichts Besonderes. Die Windsors ließen sich öfter mal in unserem schönen Städtchen blicken.

Nur diesmal hatte Queen Elizabeth II einen Einkaufsbummel und ein Pferderennen mit einem Besuch beim Rudolph Giuliani und einer Rede vor der UN-Vollversammlung verbunden. Und schon hatten wir einen Staatsgast.

Wir vom FBI haben für die Sicherheit von Staatsgästen der Vereinigten Staaten oder eines ihrer Bundesstaaten zu sorgen. So ist das nun mal. Keine Aufgabe, um die sich der durchschnittliche G-Man reißt. Aber ein Job ist ein Job und muss erledigt werden.

Der Besuch der Queen war alles andere als langweilig gewesen. Keiner von uns hatte das erwartet. Zwei Spezialisten hatten versucht, ihr einen überirdisch teuren Diamanten zu rauben. Und fast wäre ihnen das gelungen ...

Aber wenn mich nicht alles täuscht, habe ich die Geschichte schon an anderer Stelle erzählt. Jedenfalls schlossen wir den Fall an diesem Morgen ab.

Anhand von Verhörprotokollen, Labor- und Einsatzberichten wurde das Verbrechen rekonstruiert und der Einsatz analysiert. Das Programm für die nächsten zwei Tage war klar: Alle Berichte und Protokolle mussten abgetippt werden. Die Staatsanwaltschaft brauchte Material für ihre Anklageschrift. Einer der Täter war gefasst worden. Der andere - eine Frau - war tot.

"Ich hab hier einen neuen Fall." Der Chef nahm einen Stapel Papiere vom Tisch. "Unsere Kollegen in Los Angeles bitten um Zusammenarbeit. Es geht um verschwundene Frauen. Einer von Ihnen sollte sich mit den Akten beschäftigen." Jonathan McKee legte die Papiere in die Mitte des Tisches. "Am besten noch heute."

"Kein Problem, Sir." Milo streckte den Arm nach den Papieren aus. "Mach ich glatt."

"Geht nicht", sagte ich. "Du musst die Post für die Staatsanwaltschaft erledigen."

"Mach du das mal - dein Stil ist eindeutig eleganter als meiner." Milo zog die Akten zu sich.

"Aber du hast dich das letzte Mal schon vor der Büroarbeit gedrückt." Ich nahm meinem Partner die Unterlagen ab. "Diesmal kommst du mir nicht davon."

"Ihr habt als Team auf die Queen aufgepasst." Ehe ich mich versah, schnappte sich Zeery die Papiere. "Also müsst ihr den Fall auch als Team zu Papier bringen." Er wandte sich an unseren Chef. "Ich mach das schon, Sir."

"Du hattest doch auch mit dem Fall zu tun!", knurrte Jay. "Leslie und ich haben Zeit - wir kümmern uns um die neuen Akten."

"Ihr Arbeitseifer ist wie immer vorbildlich, Gentlemen." Der Chef schmunzelte. "Morgen früh brauch ich eine Einschätzung für den neuen Fall und ein paar Ermittlungsvorschläge, und morgen Abend muss der Bericht über den abgeschlossenen Fall beim Staatsanwalt sein. Sie werden sich schon einigen."

Später, im Vorzimmer, standen wir um Mandys Schreibtisch. Sie wandte uns den Rücken zu und ordnete sechs Streichhölzer in ihrer Hand. Die Akten des neuen Falls lagen auf ihrer Schreibtischunterlage.

Sie drehte sich um. "Greifen Sie zu, Gentlemen." Zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand klemmten sechs Streichholzköpfe. Von einem der Hölzer hatte sie die untere Hälfte abgebrochen.

Milo zog als Erster. Triumphierend hielt er das abgebrochene Hölzchen hoch. "Seid nicht neidisch, Kollegen." Er schnappte sich die Unterlagen. "Wenn einer ein bisschen Glück verdient hat, dann ich. Das seht ihr doch sicher genauso."

"Das Schicksal kann so hart und ungerecht sein." Missmutig dachte ich an die vielen Stunden langweiliger Büroarbeit, die nun vor mir lagen.

"Nur wer sich den Umständen anpassen kann, wird überleben", grinste Milo. "Betrachte es einfach als Abhärtungstraining."

"Apropos >überleben<", sagte Orry Medina. "Mach jemand von euch zufällig Mitte September Urlaub?"

Clive und Jay hatten ihren Jahresurlaub für den August geplant. Leslie war gerade im Urlaub gewesen, und Milo und ich hatten uns noch nicht festgelegt. "Wieso?", fragte ich. "Hast du eine Segelyacht zu verleihen?"

"Nein. Ich hab mich und meine Verflossene für ein Survivaltraining in den Rockies angemeldet. Aber meine neue Freundin hat Angst vor Schlangen und Stinktieren." Er zuckte mit den Schultern. "Also fliegen wir im Winter in die Karibik."

Wir wussten, dass Zeery während der Ermittlungen im abgeschlossenen Fall eine Frau kennengelernt hatte. Eine Musikerin. "Und nun brauchst du jemanden, der sich für dich durch die Wälder schlägt", sagte Milo.

"Ich suche zwei Leute - wolltet ihr beide nicht sowieso zusammen Urlaub machen?" Er meinte meinen Partner und mich.

"Ich mach' mit niemandem Urlaub, der sich ständig um die Büroarbeit drückt." Ich mimte den Beleidigten.

"Survivaltraining ..." Nachdenklich rieb sich Milo das Kinn. "Klingt nach Konservenfutter und Blasen an den Füßen."

"Ich bring euch mal den Prospekt mit", grinste Zeery, "dann könnt ihr euch die Sache ja in Ruhe durch den Kopf gehen lassen."

Wir gingen zum Aufzug. Milo hinkte. Während des Einsatzes hatte er sich eine Kugel gefangen. Oberschenkeldurchschuss. Nicht schön, aber zum Glück auch keine gefährliche Verletzung.

Ein paar Minuten später sank ich in meinen Schreibtischsessel. Milo vertiefte sich in die Unterlagen des neuen Falls, und ich steckte mir die Kopfhörer des Diktaphons in die Ohren, um die Verhöre der vergangenen Tage zu protokollieren.

Zeerys Angebot hatte ich schon vergessen, als ich den Kassettenrekorder einschaltete und in die Tastatur griff. Ich hatte es sowieso nicht besonders ernst genommen. Das sollte sich bald ändern ...

 

*

 

Orlando, Florida, Mitte Juli 1998

Er stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Seine schwarze Haut glänzte wie Rohöl. Er war fast hundertneunzig Zentimeter groß, hatte einen vollkommen kahlen Schädel und einen muskulösen Nacken. Auch über Schultern, Rücken und Brustkorb zogen sich kräftige Muskelstränge.

Ein Bild von einem Mann. Selten hatte er allein geschlafen.

Vor dem Spiegel über dem Waschbecken rasierte er sich. Nass wie immer. Aber gründlicher und länger als sonst. Alles, was er an diesem Tag tat, tat er länger und gründlicher als an anderen Tagen. Sogar die Art, wie er nach der Rasur das Aftershave-Fläschchen aufschraubte, hatte etwas Andächtiges.

Behutsam, fast zärtlich trug er das Aftershave auf. Sekundenlang verharrte er vor dem runden Spiegel. Er wunderte sich, dass seine Miene so ganz und gar gleichgültig wirkte.

Keine Trauer in den großen, samtbraunen Augen, und erst recht keine Verzweiflung. Auch die wulstigen Lippen des großen Mundes vollkommen entspannt. Er fand sich selbst so überraschend alltäglich, dass er grinsen musste.

Splitternackt ging er in sein Schlafzimmer. Die Frau in seinem Bett schlief noch. Sie hieß Jessica. Sie hätte auch Sue, Mary oder Kate heißen können.

Sie lag auf dem Bauch. Das weiße Leintuch bedeckte nur ihren rechten Oberschenkel, ihre rechte Gesäßbacke und den unteren Teil ihres Rückens. Lächelnd betrachtete er die Wölbungen ihres Hinterns, die schmale Kerbe ihrer Wirbelsäule und die Konturen ihrer Schulterblätter. Ihre dunkle Haut glänzte vor Schweiß.

Seit einem halben Jahr war er mit ihr zusammen. Er hätte auch seit zwei Wochen oder einem halben Tag mit ihr zusammen sein können. Nichts wusste er von ihr. Gar nichts. Und sie war ihm gleichgültig. So verflucht gleichgültig. Und trotzdem hatte er sie genommen, wie man eine Göttin nehmen würde.

Er öffnete seinen Garderobenschrank und entnahm ihm Wäsche, Socken und Oberhemd. Vor dem Spiegel in der Schrankwand kleidete er sich an.

Mit ausgestrecktem Arm schüttelte er das weiße, sorgfältig gebügelte und gestärkte Hemd auseinander. Er betrachtete es mit einer Mischung aus Wehmut und Spott bevor er es überzog und zuknöpfte.

Es war eines von einundzwanzig weißen Hemden, die er besaß. Zehn befanden sich immer eine Woche lang in der Reinigung. Eines trug er am Leib, und zehn saßen gebügelt und gestärkt in seinem Schrank oder lagen gebraucht in der Wäschetruhe unter dem Waschbecken. Normalerweise.

Seit etwa einer halben Stunde lagen zwanzig gebrauchte Hemden in der Wäschetruhe unter dem Waschbecken. Das Hemd, das er sich gerade zuknöpfte, war sein letztes frisches Hemd.

Aus der rechten Schrankseite holte er einen Bügel mit einer Uniform heraus. Er stieg in die Hose, band sich die Krawatte um und schlüpfte in die Uniformjacke. Mit der großen, kräftigen Hand fuhr er sich über den kahlen Schädel, bevor er sich die Offiziersmütze aufsetzte.

Ein Blick auf die Armbanduhr - zwanzig vor sieben. Um acht begann die Feier. Vierzig Minuten kalkulierte er für den Weg von Orlando nach Cape Canaveral ein. Also hatte er noch eine gute halbe Stunde Zeit. Das reichte. Er wusste ja, was er schreiben wollte. Seit einer Woche wusste er es.

Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und und legte seine Offiziersmütze neben die Tastatur seines PCs. Dann nahm er einen frischen Briefbogen aus der oberen Schublade. Er schrieb selten mit der Hand. Dieser Brief aber musste mit der Hand geschrieben werden.

An alle, die es interessiert, begann er, (und blauäugig wie ich bin, hoffe ich, du wirst unter den wenigen sein, die sich für ein paar Zeilen von mir interessieren, Paul) - mein letzter Tag neigt sich dem Ende zu, mein letzter Abend bricht an ...

Schwarze Arme legten sich von hinten um seinen Hals. "Schon wieder fleißig, Darling?", hauchte eine verschlafene Stimme.

Er legte den Füllfederhalter hin und löste die nackten Arme von seiner Brust. "Zieh dich an, Jessica. Ich muss gleich los."

"Für einen Kuss wird doch noch Zeit sein." Sie setzte sich auf seinen Schoß und schmiegte sich an ihn. Ihre Lippen saugten sich an seinem frisch rasierten Hals fest.

Er hörte, wie ihr Atem schneller wurde. "Komm, Charley", flüsterte sie. "Fick mich noch einmal ..."

"Sorry, Honey." Er zog ihre Arme von seinem Nacken. "Heute musst du dich mit zweimal begnügen." Behutsam, aber nachdrücklich schob er die nackte Frau von sich. " Zieh dich an, Honey, und hol den Wagen aus der Garage - in zwanzig Minuten fahren wir los."

Schmollend zog sie ab. Er griff zum Stift und schrieb weiter.

einige werden sagen, ich hab's wegen den Schulden getan. Nun gut - man hat tatsächlich schon von Leuten gehört, die wegen ein paar hunderttausend Dollar den einzig sicheren Fluchtweg ergriffen haben. Aber das ist nicht der Grund.

Andere werden sagen, ich hab's wegen dem Alkohol getan. Okay - ich trinke mehr als mir gut tut. Und vermutlich sind sie bei der Army deswegen ganz froh, dass ich endlich den Abschied nehme. Aber auch das ist nicht der Grund.

Der Grund ist ganz einfach der: Ich will nicht mehr leben. Punkt. Das müsst ihr respektieren. Ich denke, ich hab' meine Show bei der Army anständig über die Bühne gezogen. Und jetzt ist genug.

Wahrscheinlich ist es schon ein paar Jahre her, dass ich aufgehört hab zu leben. Ein paar von euch wissen, was ich meine. Besonders einer von euch. Ich hab's versucht, aber ich schaff es nicht. Also bin ich zur Abwechslung mal ganz ehrlich. Und mache Schluss.

Du, mein lieber Paul, wirst wohl die meisten Schwierigkeiten damit haben. Versuche es zu akzeptieren, auch wenn du es nicht verstehst.

Die meiste Zeit deines Lebens hast du sowieso schon ohne mich zurechtkommen müssen. Du wirst es auch weiterhin schaffen.

Ich glaub ja nicht, dass es so was wie einen Himmel gibt. Aber falls doch, werd ich von dort aus auf dich aufpassen so gut ich kann ...

Er schrieb seinen Namen, das Datum und die Uhrzeit darunter und legte den Brief vor die Tastatur seines PCs. Dann nahm er einen Notizzettel und schrieb ein paar Namen darauf. Die Namen derer, die den Brief auf jeden Fall lesen sollten. Er heftete den Zettel mit einer Büroklammer an den Briefbogen.

Aus der Schreibtischschublade holte er zwei verschlossene Kuverts heraus. Auf dem einen war der Name einer Frau zu lesen. Der Name der einzigen Frau, die er je wirklich geliebt hat. Zusammen mit dem Abschiedsbrief legte er ihn in die Mitte seines aufgeräumten Schreibtisches. Den zweiten Brief steckte er in die Innentasche seiner Uniformjacke.

Fünfzehn Minuten später saß er auf dem Beifahrersitz seines Ford Mustangs. Jessica steuerte den alten Wagen über den Highway nach Merrit Island und Cape Canaveral. Die ersten Dünen zogen am Straßenrand vorbei. Bald öffnete sich der Blick aufs Meer - wie ein dunkelblauer, dunstiger Streifen lag es im Abendlicht.

"Ich bin schon so aufgeregt", sagte Jessica. "Glaubst du wirklich, dass mein Kostüm die richtige Garderobe ist für so einen Anlass?" Sie stellte diese Frage bereits zum fünften oder sechsten Mal.

Er betrachtete den kurzen, schwarzen Rock und die ärmellose, schwarze Bluse. Jessica sah hinreißend aus. Aber das hatte er ihr bereits wiederholt versichert. "Es wäre wirklich das richtige Kostüm, Jessie, aber du wirst nicht an der Feier teilnehmen."

"Wie bitte!?" Sie fuhr an den Rand des Highways und stellte die Warnblinkanlage an. "Das ist nicht wahr!", rief sie. "Sofort sagst du, dass das nicht wahr ist, Charley!"

"Es ist meine Feier, ich will ohne dich hingehen." Scheinbar ungerührt blickte er zu Windschutzscheibe hinaus. Der Frau fehlten die Worte. Sie starrte ihn fassungslos an. "Und nun fahr weiter, Honey."

"Du schämst dich mit mir, gib es zu ..." Tränen strömten über ihr schwarzes Gesicht. "Ich bin dir nicht schön genug, ich bin dir nicht gebildet genug ... du willst mich deinen Offizierskollegen nicht vorstellen ..." Sie weinte hemmungslos.

"Es ist mir scheißegal wenn du Hemmingway für unseren ersten Präsidenten und Deutschland für einen Stadtteil von München hältst - du bist die schönste Frau in ganz Orlando und niemand vögelt auch nun annähernd so gut wie du. Aber ich will einfach allein auf die Feier - und jetzt fahr!"

"Aber warum hast du mir das nicht schon früher gesagt ...", jammerte sie. "Warum erst jetzt ...?"

"Ich wollte mir den Tag nicht verderben - es ist ein wichtiger Tag für mich ..."

"Du bist gemein", heulte sie, "du bist so ein hundsgemeiner Schuft ...!"

"Bitte, Honey - fahr endlich weiter!"

"Nur, wenn du mich noch einmal fickst", schluchzte sie.

Er blickte auf die Uhr - zwanzig vor acht. "Fahr auf den nächsten Parkplatz." Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fuhr los. Kurz darauf rollte der Wagen auf dem Parkstreifen des letzten Parkplatzes vor Cape Canaveral aus.

Sorgfältig legte er seine Uniformhose auf die Rückbank. Er wollte die Bügelfalten retten und Flecken vermeiden. Es war die Zeit, in der jeder Fleck auf einer Hose jeden noch so fantasielosen Zeitgenossen sofort an den Mann im Oval Office denken ließ.

Hastig streifte die schwarze Schönheit ihren Tangaslip über ihre Pumps. Sie stützte sich auf Lenkrad und Sitzlehne auf. Mit gespreizten Schenkeln ließ sie sich auf seinem Schoß nieder. Sie zog ihre ärmellose Bluse hoch und entblößte über ihre prallen Brüste.

Er wühlte sein frisch rasiertes Gesicht zwischen die schwarze Pracht, packte ihre Hüften und nahm sie ohne große Leidenschaft. Jessica dagegen hüpfte wild und keuchend auf seinem Schoß herum. Sie kam schnell, und er war dankbar dafür.

Sie zogen sich an und fuhren schweigend zur Militärbasis. Es war zwei Minuten vor acht, als die Frau den Ford vor dem Offizierskasino stoppte. "Und wie komm ich jetzt nach Hause?" Ihre Stimme klang beleidigt.

"Hast du einen Dollar dabei?", fragte er gleichmütig. Verblüfft runzelte sie die Stirn, kramte aber in ihrer Handtasche, bis sie eine Dollarmünze fand. Sie reichte sie ihm.

"Wirf den Dollar in den Opferstock, wenn du das nächste Mal in einen Gottesdienst gehst." Er öffnete das Handschuhfach und zog einen großen Briefumschlag heraus. "Wagenpapiere und Kaufvertrag." Er zog den Wagenschlüssel ab und drückte ihn der verblüfften Frau in die Hand. "Der Wagen gehört dir", sagte er. "Du hast ihn mir eben für einen Dollar abgekauft. Meine Unterschrift steht schon unter dem Vertrag."

Ihr Unterkiefer klappte nach unten. Er küsste sie auf den Ansatz ihrer Brüste und stieg aus. "Charley ...", stammelte sie. "Was ist mit dir ...?"

"Fahr nach Hause." Er schlug die Wagentür zu. Am Eingang des Casinos blieb er stehen und zog das Briefkuvert aus seiner Uniformjacke. Er warf einen Blick darauf - es war an eine Adresse in Fort Washakie, Wyoming gerichtet. An einen Mann namens Joseph Watonga. Er warf den Brief in den Postkasten neben dem Eingang. Dann drehte er sich um und winkte. Als er das Kasino betrat, hörte er den Ford anfahren.

Mit großem >Hallo< begrüßten sie ihn. "Der Doc, Jungs, aufstehen, der Doc ...!" Lächelnd blickte er sich um. "Hey, Charley - wir dachten schon du verpennst deinen Abschied ..."

Männer in Uniformen standen auf und prosteten ihm zu. "Ein Hoch auf den Doc!", rief jemand. Etwa dreißig Offiziere mit ihren Frauen und über sechzig Mannschaftsgrade waren versammelt. Auch viele seiner Krankenschwestern erkannte er unter den Wartenden.

Der Kommandeur begrüßte ihn. "Die wichtigsten Leute kommen immer ganz zum Schluss", schmunzelte er. Auch die Stabsoffiziere und die leitenden Sanitätsoffiziere drückten ihm die Hand. Unter Hochrufen begleiteten sie ihn zu seinem Platz in der Mitte der u-förmigen Tafel.

Ein langer Abend folgte. Es wurde gegessen, es wurde getrunken, eine Jazzband spielte, verschiedene Leute hielten Reden - sein Nachfolger als Chefarzt des Militärkrankenhauses, die Oberschwester, zwei Offizierskameraden und natürlich der Kommandeur.

Die Air Force sei betrübt, weil sie ihn nach zwölf Jahren verliere, das Militärkrankenhaus von Cape Canaveral habe ihm viel zu verdanken, selten habe ein Oberstleutenant bei den Soldaten des Regiments so viele Freunde gehabt, und ähnliche Lügen.

Toasts wurden ausgebracht, eine Menge Glückwünsche ausgesprochen, und sein Nachfolger drückte ihm öffentlich die Daumen für seine neue, chirurgische Praxis in Denver, die es nicht gab.

Lächelnd ließ er es über sich ergehen. Nach der letzten Rede stand er auf, bedankte sich artig, riss ein paar Witze von der Sorte, die der Oberschwester schon seit Jahren die Schamesröte ins Gesicht zu treiben pflegten und füllte schließlich sein Whiskyglas fast bis zum Rand.

Er wandte sich seinem Kommandeur zu, nahm Haltung an und legte die Hand an die Mütze. "Sir, Oberstleutenant Dr. Charles Newman meldet sich vom Dienst ab." Eine Augenblick herrschte Stille, dann tosender Beifall.

Bis lange nach Mitternacht feierte er mit den Männer, mit denen er die meisten Stunden der vergangen zwölf Jahre verbracht hatte. Wie immer trank er Unmengen von Whisky, wie immer ließ er keinen Tanz aus, als die Jazzband ihren Stil wechselte und Tanzmusik spielte.

Seine Gedanken schweiften immer wieder ab zu der Frau, die er einst geliebt hatte, zu dem größten Fehler seines Lebens, den er einst begangen hatte, und zu seinem fast vierzehnjährigen Sohn Paul. Der Junge war ein Produkt seines zweitgrößten Fehlers. Die Ehe mit Jane war ein vor Anfang an ein zum Scheitern verurteilter Fluchtversuch vor seiner Trauer gewesen.

An dem Jungen hing er, wie an sonst nichts in der Welt. Seit einem Jahr hatte Paul sich mehr und mehr von ihm zurückgezogen. Wie das Leben so geht ...

Gegen drei Uhr morgens ließ er sich ein Taxi bestellen. Durch das Spalier der salutierenden Offiziere und Mannschaften schwankte er aus dem Kasino und sackte in die Rückbank des Taxis.

Erst als sie das Militärgelände verlassen hatten, beugte er sich zum Sitz des Fahrers vor. "Fahren Sie mich nach West Melbourne und dort an den Johns River."

"Der Captain am Telefon sagte, es würde nach Orlando gehen." Im Rückspiegel sah er die unwillige Miene des Taxifahrers.

"Ich will noch ein bisschen frische Luft schnappen - fahren Sie mich an den Johns River."

Der Chauffeur tat, was er verlangte. Eine halbe Stunde später hielt das Taxi auf einer Brücke außerhalb von West-Melbourne. Er zahlte und stieg aus. Entlang des Flussufers schlenderte er nach Norden. Er wollte es am See tun. An dem Ort, an dem er die wenigen wirklich glücklichen Stunden der vergangenen Jahre verbracht hatte.

Über eine Stunde war er unterwegs, bis er das Ufer des Lake Washington erreichte. Im Osten, über dem Atlantik graute bereits der neue Morgen.

Er suchte den Bootssteg im Schilf auf. Hier hatte er oft mit seinem Sohn gezeltet und geangelt. Er ging hinaus auf den Anlegesteg und starrte in den See. Ein dunkler, zitternder Schatten - sein Spiegelbild im Wasser.

Er zog seinen Armeerevolver und spannte den Hahn. Nicht weit von ihm sprang ein Fisch hoch. Ein Wasservogel erhob sich krächzend aus dem Schilfgras. Seine Silhouette verschwamm mit dem Morgengrauen. Im Schilf raschelte es.

Er führte den Revolver zum Kopf und steckte ihn in den Mund.

"Du bist ein Arschloch, Dad." Er fuhr herum. Die Gestalt eines Jungen tauchte aus dem Schilf auf. "Wenn du dich umbringst, bist du ein Arschloch ..." Die schlaksige Gestalt des Jungen betrat den Anlegesteg und näherte sich langsam.

"Paul ...", flüsterte Charley.

Der Junge kramte einen Schlüssel aus der Tasche. "Hab den bescheuerten Brief gefunden ... wusste, dass du's hier tun würdest. Warte schon seit fünf Stunden ...“ Dunkle Spuren zogen sich über das Gesicht des Jungen - Tränen. "… mich einfach allein lassen ..." Er lief los und warf sich in die Arme seines Vaters. "Versprich mir, dass du's nie mehr versuchen wirst ...", schluchzte er. "… nicht solange ich lebe ... versprich es ..."

 

*

 

Los Angeles, Kalifornien, Ende Juli 1998

Die Studenten klopften auf ihre Pulte. Manche erhoben sich und klatschten in die Hände. Der Beifall wollte nicht enden. Es war die letzte Vorlesung vor der Sommerpause. Und es hatte sich unter den Studenten herumgesprochen, dass es für ihren Medizinprofessors Burt Loominal die letzte Vorlesung überhaupt gewesen sein könnte. Die letzte jedenfalls an der State University.

Loominal packte seine Sachen zusammen - Disketten, Folien, Bücher, Papiere. Er winkte noch einmal in den Hörsaal hinein. "Danke - ich danke Ihnen, Ladies und Gentlemen."

In seiner unverwechselbaren Art schritt er aus dem Lehrsaal - weite, federnde Schritte, wiegende Hüften und leicht nach vorn gebeugter Kopf. Als wäre er auf eine Wand gefasst, die er mit der Stirn voran durchstoßen müsste.

Burt Loominal war nicht nur bei seinen Studenten beliebt. Auch die meisten Kollegen schätzten den Sportmediziner. Jedenfalls die, die ihm untergeben oder vorgesetzt waren. Den anderen galt er als kaum auszustechender Konkurrent.

Wie immer verzichtete er auf den Aufzug, um vom Erdgeschoss hinauf in den sechsten Stock zu gelangen, wo sein Büro lag. Er benutzte das Treppenhaus.

Loominal war mittelgroß, von drahtiger Gestalt und hatte dunkles, kurz geschorenes Haar. Der dichte Schnauzer in seinem schmalen Gesicht ließ ihn etwas älter aussehen, als er tatsächlich war. Kaum jemand schätzte ihn jünger als fünfundvierzig. Dabei hatte er erst im Frühling seinen Vierzigsten gefeiert.

Über der weißen Leinenhose trug er ein leichtes, graues Jackett und darunter ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Nicht eben die Kleiderordnung, die von der Universitätsleitung gern gesehen wurde. Aber als Sportmediziner konnte Loominal sich schon die eine oder andere Freiheit herausnehmen.

Vor der Glastür neben den Aufzügen begegnete ihm Frank Cipolla, Kollege von der chirurgischen Fakultät und alter Freund aus Studententagen.

"Hey, Burt - gratuliere!" Mit ausgestrecktem Arm kam Cipolla auf Loominal zu. "Es hat geklappt, wie ich höre - Tina hat mir die gute Nachricht unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut. Glückwunsch!"

Cipolla und Loominal spielten manchmal zusammen Tennis. Und trafen sich fast jedes zweite Wochenende zu Loominals neuentdecktem Lieblingssport - Bogenschießen. Und etwa alle zwei Jahre unternahmen sie eine längere Outdoor-Tour. Das gehörte schon zur Tradition ihrer langen Freundschaft.

Loominal ließ sich von dem alten Freund die Hand drücken und auf die Schulter klopfen. "Ich hab noch nichts unterschrieben", sagte er abwehrend. "Aber alle Ampeln stehen auf Grün."

Ein für Loominal typisches Understatement. Die Berufung nach Washington war schon seit einer Woche perfekt. Ein halber Lehrauftrag an der sportmedizinischen Fakultät. Und auch der Beraterjob im Gesundheitsministerium war eigentlich unter Dach und Fach. Der Vertrag allerdings sollte erst nach einem Treffen mit dem Präsidenten unterschrieben werden. Doch das war reine Formsache.

"Freut mich für dich", sagte Cipolla. "Aber schade für uns."

Er war etwas größer als der gleichaltrige Sportmediziner. Und wesentlich kräftiger gebaut. Braungebrannt und mit dichtem, blonden Haar, dass ihm halb über die Ohren und bis in den Nacken reichte, sah er aus wie ein Dressman auf der Titelseite eines Modemagazins. "Wir werden dich vermissen hier in L.A."

"Hoffentlich", grinste Loominal. Er winkte und drückte die Tür zum Treppenhaus auf. "Bis dann."

"Sehen wir uns nächste Woche in New York City?", rief der Chirurg ihm hinterher. Loominal hielt die Tür fest und sah seinen alten Freund fragend an. "Die Tagung mit Watonga im Michelangelo-Hotel. Du bist doch nächsten Monat mit von der Partie?"

"Ach so - die Watonga-Tagung. Natürlich. Ich hab's jedenfalls im Terminkalender stehen. Wenn ich meine Angelegenheiten in Washington bis dahin geregelt kriege, sehen wir uns im Michelangelo."

Immer drei Stufen auf einmal nehmend eilte er die Treppen hinauf. Seit seinem vierzigsten Geburtstag benutzte er nur noch in Notfällen den Aufzug. Nichts fürchtete Burt Loominal mehr, fett und steif, alt und gebrechlich zu werden. Er wollte unter allen Umständen fit bleiben.

Er betrat das Sekretariat der orthopädischen Sektion. Mit den beiden Kollegen teilte er sich eine Sekretärin. Aus seinem Postfach fischte er einen Stapel Briefe, Postwurfsendungen und Magazine. Dann ging er in sein Büro.

Ein Brief aus Washington war dabei. Der Briefkopf des Gesundheitsministeriums ließ sein Herz höher schlagen. Es war die Bestätigung des Termins mit dem Präsidenten. Der Gesundheitsminister persönlich hatte unterschrieben.

Den Lehrauftrag an der sportmedizinischen Fakultät in Washington betrachtete Loominal eher als Nebenjob. Viel wichtiger war die Chance ein Standbein in der Regierung zu erhalten.

Jahrelang hatte Loominal darauf hingearbeitet. Er war kein Mann, der irgendetwas dem Zufall überließ. Sein Karriereplan sah vor, dass er in spätestens drei Jahren seinen Stuhl im Kongress einnahm. Er wollte in die Politik. Er wollte an die Schalthebel der Macht. Seit er denken konnte, wollte er das. Und nun war es so weit.

Nächste Woche Mittwoch am späten Nachmittag sollte das Treffen mit dem Präsidenten stattfinden. Loominal blickte in seinen Kalender. Am Freitag nächster Woche begann die Tagung mit Joseph Watonga.

Der indianische Survival-Trainer veranstaltete eines seiner seltenen Seminare an der Ostküste. Die ganze Clique würde teilnehmen. Loominal konnte unmöglich kneifen. Außerdem lag der Termin günstig.

Er sah die restliche Post durch. Ein Brief des Gouverneurs von Kalifornien. Der Mann war ein alter Freund seines Vaters. Persönlich gratulierte er Loominal zum bevorstehenden Karrieresprung.

Ein Brief von der Los Angeles Times. Man bat ihn um ein Interview. Eine medizinische Fachzeitschrift schickte ihm ein Dutzend Leserbriefe, die auf seinen letzten Artikel eingegangen waren.

Ein Brief aus Seattle. Sein alter Freund Charley Newman hatte auch schon von seinem Sprung in die Vorzimmer des Weißen Hauses gehört. Er gratulierte und kündigte an, dass er nicht nach New York City zur Tagung mit Watonga kommen würde.

Dann ein Brief ohne Absender. Stirnrunzelnd betrachtete Loominal das großformatige, graue Kuvert. Seine Adresse war mit Maschine geschrieben worden. Er öffnete den Brief.

Er enthielt einen Zeitungsartikel. Einen Bericht der >Northern Lights< aus dem Jahre 1984. Tödliche Begegnung in den Cascade Mountains, lautete die Schlagzeile.

Loominal starrte sie an, als hätte er eine unerwartete Steuerforderung der Finanzbehörde aus dem Kuvert gezogen. Sein Mund wurde trocken. Ein Kloß schwoll in seinem Hals.

Er überflog den Artikel nur flüchtig. Sein Inhalt war ihm so vertraut, wie seine Doktorarbeit über die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Kniegelenks und ihre Bedeutung für die Pathophysiologie von arthrotischen Gelenkveränderungen.

Seine Hände zitterten als er den Zeitungsartikel beiseite legte. Er fühlte sich, als hätte er seine eigene Tumordiagnose auf einem Röntgenbefund gelesen.

Ein Bogen Papier lag einfach gefaltet hinter der Kopie des Zeitungsberichts. Wenige Worte nur, und mit einer Standardschrift ausgedruckt - >Nur ein auserlesener Kreis weiß Bescheid. Dabei könnte es bleiben. Das kostet achthunderttausend Dollar. Ansonsten erfährt das Weiße Haus die Story.< Das war der ganze Text. Statt einer Unterschrift eine E-Mail-Adresse.

Loominal ließ sich langsam in seinen Sessel zurücksinken. Er schloss die Augen. Sein Gesicht wirkte plötzlich merkwürdig blass und eingefallen. Zehn Jahre älter als noch Sekunden zuvor sah er aus ...

 

*

 

Manhattan, Anfang August 1998

Er drehte sich um und blickte durch die Fontscheibe des Cabbies zurück. Seine Augen blieben an den Tragsäulen und dem Stahlseilgeflecht der Brooklyn Bridge kleben, bis die Brücke aus seinem Blickfeld verschwand.

Er sah zu den Seitenfenstern hinaus. Enge Straßenschluchten zwischen glänzenden Wolkenkratzerfassaden zogen nun links und rechts des Cabbies vorbei.

Der Taxifahrer, ein russischer Einwanderer, bog in die Park Row ein. Schon seit der Exot mit dem langen, grauen Haar am La Guardian Airport in sein Cabby gestiegen war, beobachtete er ihn im Rückspiegel. Ein Indianer, was sonst? Einer von der Sorte, die noch nie aus ihrem Reservat herausgekommen waren, schätzte er.

"Zum ersten Mal hier?" Der Mann auf der Rückbank hing jetzt am rechten Seitenfenster und glotzte die steilen Häuserwände hinauf, als hätte er Angst, die Hochhäuser könnten umstürzen.

"Nein", sagte der Indianer knapp. Ein weißes Tuch hielt ihm das dichte Haar aus der Stirn.

"Aber noch nicht oft, oder?"

"Nein. Zweimal im Jahr höchstens." Seine Stimme klang tief und rau. Er sprach auffallend langsam.

"Doch so oft?", wunderte sich der Chauffeur. Er steuerte das Cabby in den Broadway hinein. Es war früher Morgen, noch nicht einmal sechs Uhr. Der Verkehr hielt sich in erträglichen Grenzen. "Dann gibts ja nicht mehr viel zu bestaunen für Sie."

"Versteh' ich nicht", brummte der Langhaarige auf der Rückbank. Sein dunkles Gesicht war von vielen feinen Falten zerfurcht.

Der Taxifahrer schätzte ihn auf mindestens fünfzig Jahre. Wenn nicht älter. Aber der merkwürdige Ausdruck um die Augen - er verlieh dem Gesicht etwas Jugendliches. Vielleicht war der Indianer doch viel jünger, als es zunächst den Anschein hatte.

"Na ja ... ich dachte nur - weil Sie alles so ..." Der Fahrer suchte nach Worten. "… na ja - so genau unter die Lupe nehmen."

"Ich hab mir abgewöhnt, mich an irgendwas zu gewöhnen", sagte der Indianer. "Außerdem weiß man nie, ob man einen Ort nicht zum letzten Mal sieht."

Der Taxifahrer war ein Mann, der viel nachdachte. Und beide Sätze des Exoten hinter ihm gaben ihm so viel Stoff zum Nachdenken, dass er den Rest der Fahrt kein Wort mehr sprach.

Ungestört versank der Indianer - er hieß Joseph Watonga - in den Anblick der gigantischen Kulisse von Lower Manhattan. Er hatte ein paar Jahre lang in New York City als Bauarbeiter gearbeitet. Und nebenbei amerikanische Geschichte und Literatur studiert. Jedenfalls ein paar Semester lang.

Zwei seiner sechs Jahre bei der US-Navy war er in Fort Hamilton, Brooklyn stationiert gewesen. Und seitdem kam er mindestens einmal im Jahr in den Big Apple. Kurz: Er kannte die Metropole am Hudson. Sogar ziemlich gut kannte er sie.

Und dennoch – jedes Mal wenn er in Manhattan eintauchte, war er neu fasziniert von diesem Gebirge aus Stein, Stahl und Glas, in dessen Schluchten das Leben so vielfältig und so schnell pulsierte, wie in sonst keiner Stadt, die Watonga kannte.

Zum Teil ließ sich dieses unverwüstliche Staunen durch die Umgebung erklären, in der er selbst die meiste Zeit des Jahres über lebte. Joseph Watonga wohnte in der tiefsten Wildnis Wyomings. In einer Blockhütte in den waldreichen Gebieten der südlichen Wind River Range. Knapp unterhalb der Baumgrenze.

Von Zeit zu Zeit zog es ihn auch auf die nördliche Seite des Gebirgszuges ins Reservat seines Stammes. Nach Fort Washakie. Einer seiner vielen Söhne hielt ihm dort ein Zimmer seines Hauses frei.

Und mindestens acht Wochen des Jahres verbrachte Watonga mit Leuten aus amerikanischen Großstädten. In kleinen Gruppen führte er sie in die entlegensten Gebiete der Rockies und brachte ihnen das Überleben in der Wildnis bei.

Über die East Houston Street ging es zur East Side. Und schließlich über die Avenue B Richtung Tompkins Square. Vor einem vierstöckigen Mietshaus stoppte das Cabby. Der Indianer zahlte, griff sich seine Reisetasche und stieg aus.

"Komischer Vogel", dachte der Taxifahrer, während er dem Mann in dem beigen Cordjackett und den Wildlederhosen hinterherblickte. "Aber großzügig." Drei Dollar Trinkgeld hatte er springen lassen.

Kaum hatte Watonga auf den Klingelknopf des zweiten Obergeschosses gedrückt, ertönte auch schon der Türöffner. Er wurde erwartet. Leichtfüßig lief er die Treppe hinauf.

Ein Mann stand in der offenen Wohnungstür - mittelgroß, dunkler Teint, kurzes, blauschwarzes Haar. Daniel Cagawea - einer der besten Freunde Watongas. Shoshone wie er. Sie umarmten sich stumm.

Cagawea führte ihn in die große Küche der Vier-Zimmer-Wohnung. Dort war schon der Frühstückstisch gedeckt. Die Kaffeemaschine brodelte. Cagaweas Frau und seine jüngste Tochter begrüßten Watonga. Man setzte sich, jeder erzählte wie es ihm in den Monaten, die sie sich nicht gesehen hatten, ergangen war.

Dan Cagawea war ein paar Jahre jünger als Watonga. Als Musiker war er in sehr jungen Jahren nach New York City gekommen und dort hängen geblieben. Er arbeitete bei einem privaten Sicherheitsdienst und machte nur noch sporadisch Musik. Über ein paar Ecken war er mit Watonga verwandt. Nichts Ungewöhnliches unter Shoshonen - irgendwie waren die meisten miteinander verwandt.

Nach dem Frühstück führte Cagawea seinen Gast ins Zimmer seiner Großmutter. Die alte Frau war seit Jahren bettlägrig. Klapperdürr, zahnlos und mit tausendfach zerfurchtem Gesicht thronte sie in einem mit zahllosen Kissen ausgepolsterten Bett. Niemand kannte ihr genaues Alter.

In den zwanziger Jahren war sie nach New York City gekommen und hatte ihr Geld als Tänzerin in einschlägigen Bars verdient. >Linda< hatte sie sich damals genannt, und so nannte ihre Familie sie bis heute.

Über ihrem Bett hing ein Portrait des berühmten Shoshonen-Häuptlings Washakie. Das gleiche Portrait, das Watongas Sohn ihm im Gästezimmer über den Sekretär gehängt hatte. Die zahnlose Greisin hatte den zu Beginn des Jahrhunderts gestorbenen Mann noch persönlich gekannt. Also musste sie über hundert Jahre alt sein.

Washakie war ein Ururgroßvater Watongas. Die Alte behauptete, eine Nichte des Häuptlings zu sein. "Sei gegrüßt, Joseph", krächzte sie, während er die blinde Frau auf die verwelkten Wangen küsste. "Warst du nicht erst letzte Woche hier?"

"Nein, Linda", sagte Watonga. "Das ist schon wieder fast ein Jahr her."

"Verflucht noch mal, wie die Zeit vergeht!", krächzte die Alte. "Was treibst du in dieser verkommenen Stadt?"

"Gute Freunde besuchen", lächelte Watonga. "Und morgen Abend hab ich 'ne Tagung im Michelangelo."

"'Ne Tagung - so, so", brummte sie. "Ich hab von dir geträumt, Joey - letzte Woche, oder vor einem Jahr, weiß der Teufel, jedenfalls kann ich mich gut an den Traum erinnern."

Joseph Watonga setzte sich auf den Bettrand. "Willst du mir den Traum erzählen?" Das jungenhafte Lächeln um seine Augen zog sich plötzlich zurück.

"Blöde Frage. Ich warte schon eine Woche oder ein Jahr lang darauf, ihn dir endlich erzählen zu können."

"Ich höre."

"Also - ich sah dich am Ufer eines Sees. Kiefern standen um den See herum, und Birken. Ein paar Lämmer weideten neben dir im Ufergras. Ich glaube, du hast auf sie aufgepasst. Am Himmel kreisten Vögel - große Vögel, drei oder vier. Zuerst dachte ich, es seien Seeadler. Aber sie näherten sich in immer enger werdenden Kreisen dem Seeufer, und ich merkte plötzlich, dass es keine Adler, sondern gottverdammte Geier waren."

Watonga hörte aufmerksam zu. Seine Augen waren schmaler geworden, und eine zusätzliche Falte stand zwischen seinen grauen Brauen. "Und dann?"

"Sie griffen sich die Lämmer, und du warfst mit Steinen nach ihnen, und als sie versuchten, die Lämmer in die Luft zu schleppen, hast du dir einen Prügel geschnappt und bist auf die Scheißgeier losgegangen ..."

"Und dann?"

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2016
ISBN (ePUB)
9783738906844
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
rechnungen thriller
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Titel: Der Tod kennt keine offenen Rechnungen: Thriller