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Dreimal Horror

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2016 250 Seiten

Zusammenfassung

Dreimal Horror: Der Käfer-Gott/Die Mumien von Dunmore Manor/ Zombies erwachen
von Alfred Bekker

Dieses Buch enthält folgende Geschichten:
Alfred Bekker: Der Käfer-Gott
Alfred Bekker: Die Mumien von Dunmore Manor
Alfred Bekker: Zombies erwachen

Das Grauen schleicht durch die Nacht. Unheimliche Wesenheiten bedrohen die Menschen. Sie lauern in dunklen Gemäuern und und finsteren Gassen. Widergänger, Zombies und dunkle Gottheiten, die ihre zerstörerischenn Kräfte entfalten...
Cover: Steve Mayer

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dreimal Horror: Der Käfer-Gott/Die Mumien von Dunmore Manor/ Zombies erwachen

von Alfred Bekker

Dieses Buch enthält folgende Geschichten:

Alfred Bekker: Der Käfer-Gott

Alfred Bekker: Die Mumien von Dunmore Manor

Alfred Bekker: Zombies erwachen

Das Grauen schleicht durch die Nacht. Unheimliche Wesenheiten bedrohen die Menschen. Sie lauern in dunklen Gemäuern und und finsteren Gassen. Widergänger, Zombies und dunkle Gottheiten, die ihre zerstörerischenn Kräfte entfalten...

Cover: Steve Mayer

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

Der Käfer-Gott

von Alfred Bekker

Nebelschwaden hingen tief über der verwitterten Kirche von Dunbury. Das graue, windschiefe Gemäuer bildete das Zentrum der kleinen südenglischen Ortschaft. Um die Kirche herum befanden sich knorrige, grotesk verwachsene Bäume, deren Kronen die Gräber des örtlichen Friedhofs überspannten.

Eine durchdringende feuchte Kühle herrschte an diesem Morgen. Das gesamte Gelände war mit Flatterband abgesperrt und ein einzelner uniformierter Polizist hielt Wache. Sein Name war Constable Kenneth Jones.

Er stand noch ganz unter dem Eindruck des Grauens, das er hatte mit ansehen müssen. Jones war 45 und hatte Jahrzehnte Diensterfahrung hinter sich. Aber als der völlig verängstige Kirchendiener ihn gerufen und zu der furchtbar zugerichteten Leiche geführt hatte, war der Anblick selbst für Jones ein Schock gewesen.

Ein Motorengeräusch drang durch den Nebel.

Zwei Scheinwerfer tauchten als verwaschener Lichtflecken auf.

Jones atmete schwer. Seine Haltung straffte sich etwas.

Ein blauer Ford hielt vor der Kirche. Die Türen öffneten sich. Zwei Männer stiegen aus. Der Größere war dunkelhaarig und hatte den Kragen seiner Lederjacke hochgeklappt. Jones schätzte ihn auf Ende dreißig. Der Kleinere war jünger. Das blonde Haar war kurzgeschoren.

Jones ging den beiden entgegen.

“Sind Sie die Leute von Scotland Yard, auf die ich gewartet habe?”, fragte der Uniformierte.

Der Größere zog seinen Ausweis hervor. “Ich bin Chief Inspector Mike Brady und dies ist mein Kollege Jim Allistair. Constable Jones?”

“Der bin ich.”

“Ich nehme an, die Kollegen vom Erkennungsdienst und der Gerichtsmedizin sind noch nicht hier.”

“Sie sind die Ersten. Ich hoffe nicht, dass Ihre Kollegen sich im Nebel verfahren haben.”

“Führen Sie uns bitte zur Leiche, Constable”, forderte Brady.

Jones nickte. Es war ihm anzusehen, welche Überwindung es ihn kostete, zum Tatort zurückzukehren. “Machen Sie sich auf einiges gefasst, Gentlemen.”

Jones führte sie über einen mit vermoosten Steinplatten gepflasterten Weg zwischen den Gräbern hindurch. Der Boden musste sich im Laufe der Jahre an manchen Stellen abgesenkt haben, sodass einige der Steine ziemlich schief standen.

Hinter einem der knorrigen Bäume fanden sie dann den Toten -—oder das, was noch von ihm übrig war.

Die Kleidung war zerrissen.

Darunter kamen blanke Knochen zum Vorschein.

Die Leiche war bis auf einen Arm regelrecht skelettiert worden.

Das Schlimmste war der Anblick des Gesichts.

Die leeren Augenhöhlen...

Dazu der bestialische, scharfe Geruch, der in der Luft hing und nichts mit dem normalen Leichengeruch zu tun hatte.

Chief Inspector Mike Brady musste unwillkürlich schlucken.

“Wer hat den Toten gefunden?”, fragte Brady knapp.

“George McCoy, der Kirchendiener”, antwortete Constable Jones mit tonloser Stimme. Er vermied es sichtlich, zu dem Toten hinzusehen.

“Ich möchte mit ihm sprechen.”

“Er ist in die Kirche gegangen. Ich fürchte, er steht unter Schock, Chief Inspector.”

Brady nickte leicht.

Etwas hielt seinen Blick plötzlich gefangen. In der Leiche bewegte sich etwa. Ein Käfer, etwa so groß wie ein Daumennagel kletterte zwischen Rippenknochen und Kleiderfetzen hindurch. Er schimmerte golden. Sein Chitin-Panzer hatte schwarze Streifen. Er rieb die Beißwerkzeuge gegeneinander und begann damit, an dem blanken Rippenknochen zu nagen.

“Hast du den Käfer gesehen, Jim?”, wandte sich Brady an seinen Assistenten Jim Allistair.

“Welchen Käfer, Chief?”

Brady ging in die Hocke.

Der Käfer verschwand im Inneren des Leichnams.

In diesem Augenblick waren die Geräusche mehrerer Wagen zu hören. Türen klappten.

“Das müssen die Kollegen sein”, meldete sich Allistair zu Wort.

*

Wenig später tummelte sich etwa ein Dutzend Beamte auf dem Friedhof. Ein Team des Erkennungsdienstes von Scotland Yard war ebenso dabei wie ein Gerichtsmediziner.

Unter den zerfetzten Kleidern des Toten wurden Reste seiner Papiere gefunden, die eine Identifizierung gestatten. Der Name des Unglücklichen war Roger Thompson. Er stammte aus Dunbury und war vierzig Jahre alt.

Chief Inspector Mike Brady betrat die Kirche, um mit dem Mann zu sprechen, der den Toten gefunden hatte.

George McCoy saß in der ersten Kirchenbank. Er starrte auf das große Kreuz über dem Steinaltar. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht bleich wie die Wand.

Er murmelte fortwährend vor sich hin.

Brady verstand nur Bruchstücke davon.

“Erlöse uns von dem Bösen... Herr, lass es nicht zu, dass das Grauen wieder erwacht... ist Dunbury nicht genug gestraft worden?”

Wie in einer Litanei ging das immerfort so weiter.

McCoy schien völlig entrückt zu sein.

Brady fragte sich einen Augenblick, ob es überhaupt Sinn hatte, ihn jetzt anzusprechen. Aber dann entschied er sich trotz allem dafür. McCoy war der wichtigste Zeuge.

“Mr. McCoy?”

“Herr, erlöse uns und bewahre uns vor dem Schrecken dieser Nacht.”

Tränen rannen ihm über das Gesicht. Ein Zittern durchlief seinen gesamten Körper. Dieser Mann brauchte dringend psychologische Hilfe. Aber andererseits war er für Brady der wichtigste und bislang einzige Zeuge in diesem besonders grausigen Mordfall. Einem Fall, der nicht der erste seiner Art war...

Alle äußeren Umstände sprachen dafür, dass er in eine Serie von rätselhaften Todesfällen in der Gegend um Dunbury gehörte. Die Opfer waren allesamt beinahe vollständig skelettiert worden, so als hätten Tiere die Toten ausgeweidet und ihre Knochen regelrecht abgenagt. Außerdem waren jedes Mal bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung Spuren einer sehr starken Säure gefunden worden, nach deren Herkunft nun schon seit drei Jahren vergeblich gefahndet wurde. Es handelte sich um eine Substanz, die chemisch gesehen der Ameisensäure sehr ähnlich war, aber eine sehr viel stärkere zersetzende Wirkung aufwies.

Chief Inspector Nolan O’Leary hatte den Fall mit großer Akribie bearbeitet, hatte die Umstände dieser Todesfälle aber letztlich nicht aufklären können. Vor einigen Wochen war O'Leary in Pension gegangen. Mike Brady hatte den Fall der skelettierten Leichname gewissermaßen von O'Leary geerbt.

Brady war nicht besonders glücklich darüber.

An diesem Fall konnte man sich eigentlich nur die Finger verbrennen und am Ende als unfähiger Ermittler dastehen. Es gab Aktenordner voller Ermittlungsergebnisse, aber keine Antworten auf die bohrenden Fragen. Woher kam die Säure? Was hatte sich wirklich am jeweiligen Tatort ereignet? Die Theorie eines Boulevardblattes, wonach die Opfer von einem Wahnsinnigen bei lebendigem Leib in ein Piranha-Bad geworfen worden waren, ehe ihre sterblichen Überreste dann irgendwo in der Gegend um Dunbury abgelegt wurden, würde jetzt erneut durch die Medien geistern.

Brady musterte seinen bislang einzigen Zeugen.

Vielleicht muss ich mehr Geduld haben!, ging es ihm durch den Kopf. Du hast nur einen Zeugen! Behandle ihn also so behutsam, wie irgend möglich!

McCoy atmete schwer.

Brady sprach McCoy an.

“Ich bin Inspector Brady von Scotland Yard. Ich weiß, dass es Ihnen schwer fallen wird, über das zu reden, was Sie gesehen haben, aber vielleicht könnten Sie mir trotzdem ein paar Angaben machen. Je mehr Informationen wir..."

“Das Grauen...", flüsterte McCoy plötzlich. Brady war sich nicht sicher, ob ihn der Kirchendiener überhaupt verstanden hatte. Zu entrückt wirkte der hagere Mann. “Das Grauen kehrt zurück nach Dunbury... Wir sind gestraft für unsere Sünden. Mein Gott, welche Schuld mögen wir nur auf uns geladen haben, um diesen Fluch zu verdienen!”

“Von welchem Fluch sprechen Sie?”, erkundigte sich Brady.

Ein Ruck ging durch den hageren Kirchendiener.

Brady glaubte schon, jetzt den richtigen Dreh gefunden zu haben, um diesen völlig aus der Bahn geworfenen Mann richtig anzusprechen.

Aber er täuschte sich.

“Gehen Sie, Inspector. Es ist besser, wenn Sie Dunbury so schnell wie möglich wieder verlassen. Das Böse lauert hier! Dies ist eine Stadt Satans!”

Brady blieb ruhig.

Er versuchte Verständnis zu signalisieren. “Was Sie mit ansehen mussten, als Sie den Toten fanden, war furchtbar. Ich bin hier, um aufzuklären, was passiert ist. Also helfen Sie mir bitte.”

McCoy presste die Lippen aufeinander und nickte. “Entschuldigen Sie, Chief Inspector...”

“Dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Mir hat sich bei dem Anblick auch der Magen umgedreht. Der Mann hieß Roger Thompson. Wir haben seine Papiere gefunden – oder besser gesagt das, was dieser unheimliche Killer davon übrig gelassen hat!”

“Die Schreie haben mich geweckt”, berichtete der Kirchendiener. Sein Blick war starr. Er sah auf einen imaginären Punkt auf dem Boden. “Es waren so furchtbare Schreie... Sie können sich das nicht vorstellen. Ich ging zum Fenster und sah Roger Thompson auf den Friedhof zu rennen.” McCoy schluckte. Ein erneutes Zittern durchlief seinen gesamten Körper.

“Was geschah dann?”, hakte Brady nach.

“Wie gesagt, Roger lief auf den Friedhof zu, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Mein Gott, und das war er auch! Etwas war hinter ihm her und...” McCoy stockte. Kalter Angstschweiß brach ihm aus. Er schüttelte stumm den Kopf. Seine Lippen krampften sich zusammen. Tränen rannen über sein Gesicht.

“Reden Sie weiter, McCoy?!”, forderte Brady eine Spur zu ungeduldig. “Was haben Sie gesehen?”

“Roger verschwand hinter den Bäumen”, fuhr der Kirchendiener stockend fort. “Ich konnte ihn nicht mehr sehen, aber nur Augenblicke später hatte es ihn eingeholt. Die Schreie... mein Gott... Ich hätte hinausgehen und Roger helfen müssen. Wir waren befreundet und kennen uns seit unserer Kindheit!” Der Mann weinte jetzt wie ein Kind. Schließlich setzte er seinen Bericht stockend fort. “Ich... ich konnte nichts für ihn tun! Als ich die Schreie hörte, war ich wie gelähmt.”

“Sie sprachen eben von einem Verfolger...”, erinnerte Brady den Kirchendiener. 

George McCoy sprang auf, wich mehrere Schritte von Brady fort und hob die Hand, als müsste er sich gegen den Chief Inspector schützen.

“Gehen Sie!”, keuchte er. “Oder auch Sie werden dem Bösen zum Opfer fallen...”

“Was ist dieses Böse, von dem Sie sprechen, McCoy?”, schrie Brady den Kirchendiener an. “Stehen Sie nicht so wie das Kaninchen vor der Schlange, sondern reden Sie endlich!”

Brady erhob sich.

Er trat entschlossen auf den völlig orientierungslosen McCoy zu und fasste ihn bei den Schultern.

“McCoy, jetzt packen Sie schon aus! Sagen Sie mir, was mit Roger Thompson geschehen ist! Finden Sie nicht, dass Sie das einem Mann schuldig sind, den Sie von Kindesbeinen an kennen?”

McCoy hob den Blick.

“Sie würden mir ja doch nicht glauben!”, behauptete er. Er riss sich los und rannte in Richtung der Kirchentür. Jim Allistair kam ihm entgegen. Der Scotland Yard-Beamte schickte sich an, ihn aufzuhalten, aber Bradys Ruf hielt ihn davon ab.

“Lass ihn, Jim!”

Allistair wich zur Seite.

Wie von Furien gehetzt rannte McCoy auf die Kirchentür zu, riss sie knarrend auf und stürzte hinaus ins Freie.

“Was war denn mit dem los?”, erkundigte sich Allistair, nachdem Brady seinen Kollegen erreicht hatte.

Der Chief Inspector zuckte die Achseln. “Ich blicke da noch nicht durch”, bekannte er.

*

Wenig später verließen Brady und Allistair die Kirche. Die Kollegen des Erkennungsdienstes suchten das gesamte Gelände nach Spuren ab. Zentimeter für Zentimeter.

Gleichzeitig bemühte sich das Team des Gerichtsmediziners darum, Roger Thompsons sterbliche Überreste in einen Metallsarg zu schaffen.

Brady verspürte nicht die geringste Lust dazu, sich das genauer anzusehen. Von dem Anblick der skelettierten Leiche war ihm ohnehin schon jeglicher Appetit vergangen.

Aber er hatte keine Wahl.

Dr. Johnson, ein schlaksiger Mann Anfang dreißig, winkte Brady herbei. “Kommen Sie!”, rief der Gerichtsmediziner.

Als Brady ihn erreichte, hielt er ihm eine kleine, durchsichtige Plastiktüte hin. “Das haben wir in der Leiche gefunden!”, erklärte Dr. Johnson.

Brady zog die Augenbrauen zusammen. Eine tiefe Furche bildete sich mitten auf seiner Stirn. “Ein Käfer!”, entfuhr es ihm.

Dr. Johnson nickte.

“Ein Käfer, dem der Kopf fehlt, um genau zu sein!” Johnson hob die Augenbrauen. “Wahrscheinlich hat ihm ein Artgenosse das Futter missgönnt!”, kicherte er.

Brady konnte Johnsons Humor nicht teilen.

Er gab Johnson den Käfer zurück.

“Warum zeigen Sie mir das?”

“Weil es ein enorm wichtiger Fund sein könnte, Chief Inspector. Was er letztlich bedeutet, kann ich Ihnen natürlich erst nach einer eingehenden Untersuchung sagen. Von einer Obduktion kann man angesichts des Zustandes der Leiche ja wohl nicht mehr wirklich sprechen. Aber eines steht fest: Einen Parasiten wie diesen Käfer habe ich noch in einer Leiche gesehen! Noch nie!”

“Ich konnte nicht viel aus dem Kirchendiener herausquetschen, aber immerhin so viel, dass Thompson offenbar die Straße entlang lief, den Friedhof erreichte und erst hier getötet wurde. Wenig später will McCoy dann hier aufgetaucht sein.”

“Hat Ihr Zeuge Ihnen auch gesagt, wie lange er bis zum Fundort der Leiche gebraucht hat?”

“Nein, er war nicht sehr gesprächig.”

“Was er Ihnen gesagt hat, ist Unsinn, Chief Inspector. Es ist vollkommen unmöglich, einen Menschen innerhalb so kurzer Zeit das Fleisch beinahe komplett von den Knochen zu trennen.”

“Das ist mir auch klar, Dr. Johnson. Andererseits sprach McCoy immer wieder von den entsetzlichen Schreien, die er vom Friedhof hörte...”

“Der Kerl ist doch völlig durch den Wind!”, gab Dr. Johnson zu bedenken. “Ich habe ihn wie einen Wahnsinnigen aus der Kirche stürmen sehen. Mein Rat: Nehmen Sie ihn fest und sorgen Sie dafür, dass er seine Gummizelle bekommt!”

“McCoy mag verwirrt sein”, gestand Brady zu. “Aber gerade in diesem Punkt halte ich ihn für glaubwürdig. Gerade diese Schreie müssen sich auf entsetzliche Weise in sein Bewusstsein gebrannt haben!” Brady machte eine Pause. Schließlich fuhr er in gedämpftem Tonfall fort: “Halten Sie es für möglich, dass ein Tier für Thompsons Tod verantwortlich ist?”

“In dem Fall reden wir von einem Monster!”, erwiderte Dr. Johnson.

*

Einer der Erkennungsdienstler kam auf Brady und Allistair zu. Es handelte sich um einen rundlichen Mann namens Harry Smith. Er hielt etwas in der Hand.

“Hier, ich habe etwas für Sie, Brady!”

“So?”

“Die Wohnungsschlüssel des Toten. Verwertbare Spuren waren nicht zu finden, aber vielleicht sehen wir uns Mr. Thompsons Zuhause mal genauer an!”

“Nichts dagegen”, nickte Brady.

Roger Thompsons Adresse lag kaum zweihundert Yards von dem Ort entfernt, an dem seine Leiche aufgefunden worden war. Die drei Scotland Yard-Beamten gingen die kurze Stecke zu Fuß.

Rechts und links an den Fenstern bewegte sich hin und wieder eine Gardine. Die Bewohner von Dunbury bedachten Brady und sein Team mit scheuen, misstrauischen Blicken.

Harry Smith blieb plötzlich stehen. Er zog einen Latexhandschuh über und hob einen blutigen Stofffetzen vom Boden auf.

“Um was solle wir wetten, dass dies hier von Roger Thompsons Sachen stammt?”, fragte Harry Smith düster. “Dieser Fetzen muss ihm regelrecht aus den Sachen herausgerissen worden sein!”

“Verdammt, ich möchte wissen wer oder was hinter dem armen Kerl her gewesen ist!”, stieß Jim Allistair hervor, dessen Hände sich unwillkürlich Fäusten ballten.

“McCoy sprach von etwas, das er einfach nur das Böse nannte”, murmelte Brady. “Aber er weiß garantiert mehr...”

“Genauso wie all die Leute, die uns jetzt beobachten!”, ergänzte Jim Allistair.

Wenig später erreichten sie das Haus, das zu Thompsons Adresse gehörte.

Es stand etwas abseits. Die Wände waren grau. Moos wuchs die Fugen entlang. Die Tür stand sperrangelweit offen.

Brady trat als Erster ein.

Der Flur war völlig verwüstet. Eine Kommode lag auf dem Boden und versperrte den Weg.

Brady stieg über das Möbelstück hinweg.

Er bemerkte Kratzspuren. “Wofür halten Sie das?”, fragte er an Smith gewandt.

Der Erkennungsdienstler zuckte die Achseln.

“Keine Ahnung. Könnte auch schon vorher dran gewesen sein.”

Könnte! Aber daran glaube ich nicht!”

“So? Woran denken Sie denn?”, fragte Smith gereizt.

“Ich denke an die anderen Fälle von skelettierten Leichen in dieser Gegend”, erklärte Brady ruhig. “Es gab im Gegensatz zum Fall Thompson nie Zeugen. Aber Spuren, die von einem sehr großen Tier kommen könnten.”

“Ich habe die betreffenden Berichte auch gelesen”, erwiderte Smith kühl.

Brady hob die Augenbrauen. “Und? Was ist Ihre Schlussfolgerung?”

“Ich weiß nur, dass es in ganz England kein Tier gibt, dass so große Krallen hat! Von einem aus dem Zoo entlaufenen Grizzly-Bären habe ich jedenfalls nichts gehört!”

Das Wohnzimmer sah aus, wie nach einem Kampf. Es gab Spuren von frischem Blut. Labortests würden erweisen, ob es sich um Thompsons Blut oder das seines Mörders handelte. Aus der Küche roch es verbrannt. Thompson hatte sich offenbar ein Omelette zum Frühstück machen wollen. Es war vollkommen verschmort. Die Herdplatte glühte. Allistair stellte den Strom ab.

Das Küchenfenster war zur Rückfront des Hauses ausgerichtet. Das Glas war zersprungen. Überall lagen Scherben. Die wenigen größeren Stücke wirkten milchig und seltsam verformt.

Smith nahm eines dieser Stücke an sich und hielt es ins Licht. “Das sieht mir nach der Einwirkung einer starken Säure aus!”, stellte er fest. “Und dieser beißende Geruch...”

“Wie am Fundort der Leiche!”, ergänzte Brady.

Smith nickte und deutete auf das Fenster. “Hier muss es hereingekommen sein.”

Es?”, hakte Brady nach.

Smith zuckte die Achseln. “Was immer Roger Thompson umgebracht haben mag!”

Er spricht von diesem Es, als ob er sicher wäre, dass Roger Thompsons Mörder kein Mensch gewesen sein kann!, ging es Brady durch den Kopf.

*

Den Rest des Morgens verbrachten Chief Inspector Brady und sein Team damit, Thompsons Haus nach Spuren zu durchsuchen und die Anwohner zu befragen. Eigenartigerweise schien niemand aus Dunbury etwas gesehen zu haben. Die Bewohner des kleinen Ortes gaben sich wortkarg. Selbst diejenigen, deren Fenster so ausgerichtet waren, dass sie von Thompsons verzweifelter Flucht etwas mitbekommen haben mussten, behaupteten, erst hingesehen zu haben, als schon alles geschehen war.

“Die lügen doch alle wie gedruckt!”, ereiferte sich Allistair später gegenüber Brady. “Irgendjemand muss doch etwas gesehen haben! Warum schweigen diese Leute?”

“Weil sie Angst haben, Jim.”

“Und wovor bitte schön?”

“Wenn wir das wüssten, wären wir schon ein ganzes Stück weiter in unseren Ermittlungen”, war Brady überzeugt.

Allistair atmete schwer.

Gegen Mittag waren die Beamten des Erkennungsdienstes aus Dunbury abgereist.

Nur Brady und Allistair blieben noch im Ort, um sich weiter umzuhören.

Die meisten Bewohner von Dunbury schienen sich angesichts dessen, was sich in ihrem Ort ereignet hatte, kaum vor die Türen ihrer grauen Steinhäuser zu trauen. Und wenn doch, so mieden sie den Blickkontakt mit den Scotland Yard-Beamten, wichen vor ihnen zurück und wechselten teilweise sogar die Straßenseite. Die Worte des Kirchendieners gingen Brady immer wider durch den Kopf. Er hatte von einem Fluch gesprochen. McCoy wusste auf jeden Fall mehr, als er zugegeben hatte, aber Brady war überzeugt davon, das es keinen Sinn hatte, ihn unter Druck zu setzen.

Dabei würde nichts herauskommen!, dachte Brady. Aber er kann unmöglich der Einzige sein, der dazu etwas sagen könnte!

Zur Lunchzeit betraten Mike Brady und Jim Allistair den DUNBURY INN, das einzige Lokal im Ort. Es war eine Mischung aus rustikalem Pub und Landhotel. Ein verwittertes, zweistöckiges Haus, in dessen Mauerwerk eine Steintafel eingelassen worden war, auf dem auf die erste urkundliche Erwähnung dieses Lokals im Jahre 1666 hingewiesen wurde.

An der Tür aus dunklem Holz fielen die teils grotesken Schnitzereien auf. Totenköpfe und Geistergestalten waren da von einem hoch begabten Schnitzer ins Holz gearbeitet worden. Darunter eine Zeile mit sich wiederholenden Zeichen, die auf Brady wie magische Runen wirkten.

“Der Wirt scheint 'ne okkulte Ader zu haben!”, kommentierte Jim Allistair diesen Anblick. Er deutete auf die Tafel mit der Jahreszahl. “Ich dachte eigentlich immer, dass damals Leute auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, die sich offen zu magischen Praktiken bekannten.”

“Diese Schnitzereien sind mit Sicherheit sehr viel jüngeren Datums”, stellte Brady fest.

Er öffnete die Tür.

Sie betraten den Schankraum.

Lautes, zänkisches Stimmengewirr schlug ihnen entgegen.

Eine Handvoll Männer saßen am Tresen und an den Tischen.

Sie verstummten, als die beiden Fremden eintraten.

Der Wirt war ein großer, fülliger Mann mit rotstichigem Bart und Halbglatze.

Brady sah sich um. Sein Blick musterte die Gesichter der Männer. Er sah blankes Entsetzen in ihren Zügen. “Mein Name ist Chief Inspector Mike Brady. Ich komme von Scotland Yard um den Tod von Roger Thompson aufzuklären.” Brady deutete auf Allistair. “Dies ist mein Kollege Jim Allistair. An ihn können Sie sich genau wie an mich jederzeit wenden, wenn Sie etwas Sachdienliches zur Aufklärung von Roger Thompsons Tod beizutragen haben.” Brady trat an den Tresen heran. Er griff in seine Jackentasche und holte ein Päckchen mit etwa zwei Dutzend Visitenkarten hervor und legte sie auf den Schanktisch. “Da steht unsere Nummer drauf.”

Noch immer herrschte Schweigen.

Man hätte in diesem Augenblick eine Stecknadel fallen hören können.

Sie wollen, dass wir möglichst schnell verschwinden und sie in Ruhe lassen!, überlegte Brady. Aber diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun...

“Roger Thompsons Leiche wurde skelettiert. Wenn es stimmt, was der Kirchendiener uns gesagt hat, dann muss dies innerhalb von wenigen Augenblicken geschehen sein. Auf welche Weise wissen wir nicht. Selbst ein geübter Schlachter oder Chirurg wäre dazu in dieser Geschwindigkeit nicht in der Lage. Außerdem muss das Fleisch irgendwo geblieben sein... Wenn jemand von Ihnen etwas dazu sagen kann, sollte er es jetzt tun. Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.”

Wieder bestand die Antwort lediglich aus abweisendem Schweigen.

“Ist es Ihnen allen wirklich gleichgültig, was mit Roger Thompson geschehen ist?”, rief Brady nach einigen Augenblicken unbehaglicher Stille. “Er war einer von Ihnen – und nicht der Erste, der auf diese grausame Weise ums Leben gekommen ist. Es gab bereits mehrere Fälle dieser Art in der Umgebung von Dunbury. Menschen verschwanden und wurden später in diesem grässlich zugerichteten Zustand aufgefunden. Ich bin überzeugt davon, dass diese Fälle in Zusammenhang stehen.”

Ein Mann trat jetzt aus dem Schatten heraus.

Er trug den dunklen Anzug eines Reverends.

“Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als der Mensch zu begreifen vermag!”, erklärte er. “Sie sind es gewohnt, das Böse zu bekämpfen, Chief Inspector Brady. Das ist Ihr Beruf – so wie es auf andere Art auch mein Beruf ist. Aber es gibt Formen des Bösen, gegen die auch Scotland Yard machtlos ist. Sie verschwenden hier Ihre Zeit. Vielleicht gewöhnen Sie sich einfach an den Gedanken, dass Sie hier nichts auszurichten vermögen.”

“Sie haben die Worte von Reverend Davis gehört”, mischte sich jetzt der Wirt ein. “Er hat für uns alle gesprochen. Wenn Sie ein Bier bestellen wollen, dann tun Sie es jetzt. Ansonsten...”

Der Wirt sprach nicht weiter.

Ein Ruck war durch Bradys Körper gegangen.

Er starrte an einen bestimmten Punkt knapp unterhalb eines der massiven Deckenbalken.

Ein kleines Mobilé hing dort.

Ein Luftzug aus der Tür zur benachbarten Küche des DUNBURY INN bewegte etwa ein Dutzend präparierter Käfer, deren goldfarbene Rücken von schwarzen Streifen gekennzeichnet wurden.

Brady deutete mit der Hand darauf und wandte sich an den Wirt. “Was ist das?”

“Nichts, was mit Ihrem Fall zu tun hat, Chief Inspector”, erwiderte der Wirt.

“Oh, doch, das hat es!”, erwiderte Brady. “In Thompsons Körper wurde ein derartiger Käfer gefunden. Und der kommt da nicht aus purem Zufall hin! Also reden Sie endlich! Oder ich nehme Sie fest und vernehme Sie im Yard!”

Reverend Davis ergriff das Wort, ehe der Wirt etwas sagen konnte.

“Wenn Sie Sam McLaughlin wegen dieses Käfer-Mobilés festnehmen, dann müssen Sie wohl oder übel mit der halben Bevölkerung Dunburys auf dieselbe Weise verfahren.”

Brady hob die Augenbrauen.

“So?”

“In Dutzenden von Häusern hängen diese Mobilés, Mr. Brady.”

“Eine regionale Besonderheit also?”

“Kann man so sagen”, murmelte der Reverend.

Brady ließ nicht locker. Er wandte sich erneut an den Wirt.

“Woher haben Sie das Ding?”

“Es handelt sich um das Geschenk eines Gastes”,  antwortete McLaughlin. “Sein Name ist Eric Naismith, dem Neffen vom alten Donahue.”

“Wo finde ich den?”

Der Wirt verzog das Gesicht. “Sprechen Sie von Donahue?”, fragte er. “Sie waren schon dort. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof. Er verstarb vor ein paar Jahren. Eric Naismith hat sein Anwesen geerbt.”

Brady kochte innerlich. Aber er ließ sich nichts anmerken. Er deutete erneut auf das Mobilé. “Wie auch immer, Mr. McLaughlin. Das Ding da ist zur kriminaltechnischen Untersuchung beschlagnahmt.”

Der Wirt erbleichte.

“Nein bitte nicht!”, stammelte er. “Sie dürfen mir das Mobilé nicht wegnehmen!”

Die Heftigkeit, mit der der Wirt reagiert hatte, überraschte Brady.

“Sie bekommen es ja wieder!”, versuchte er ihn zu beruhigen.

*

Am nächsten Morgen suchten Brady und Allistair Dr.Johnson im gerichtsmedizinischen Institut von Scotland Yard auf. Dr. Johnson hatte dunkle Ringe unter den Augen. “Ich habe für Sie die Nacht durchgearbeitet”, erklärte er. “Dieser Fall lässt mich einfach nicht los. Ich habe mir die Obduktionsberichte der vorherigen Opfer dieser gespenstischen Todesserie kommen lassen. Leider haben meine Kollegen nicht allzuviel herausbekommen. Ein paar interessante Details gibt es aber dennoch.” Er machte eine Handbewegung. “Wenn Sie mir bitte folgen wollen...”

“Ich glaube nicht, dass es nötig ist, dass wir uns das Skelett noch einmal ansehen”, meinte Jim Allistair, dem allein bei der Erinnerung an das, was er am Vortag gesehen hatte, schon speiübel wurde.

Dr. Johnson lächelte geschäftsmäßig. “Keine Sorge, Mr. Allistair. Ich wollte Sie in mein Büro bitten, damit wir nicht hier im Flur stehen bleiben müssen. Meine Füße tun mir weh von der dauernden Steherei am Seziertisch.”

Johnson führte sie in sein spartanisch eingerichtetes Büro.

“Schießen Sie los”, forderte Brady.

“Erstens: In allen drei bisher aufgefundenen skelettierten Leichen wurden Spuren derselben Säure gefunden. Sie erinnern sich an den Käfer ohne Kopf, den ich Ihnen zeigte...”

“Ja.”

“Ich habe inzwischen herausgefunden, dass es sich um den afrikanischen Skelettkäfer handelt. Den lateinischen Namen möchte ich Ihnen ersparen. Diese Art kommt im Hochland Äthiopiens sowie in einigen abgelegenen Regionen des Sudans  vor. Sie ernähren sich von Aas und nagen ihre Beute bis zum Skelett ab. Dabei verspritzen sie eine sehr aggressive Säure, deren chemische Zusammensetzung genau der Säure gleicht, die an den Skeletten nachgewiesen werden konnte.”

Brady hob staunend die Augenbrauen.

“Alle Achtung. Sind Sie im Nebenfach Insektologe?”

“Ich verfüge einfach nur über einen funktionierenden Internetzugang. Als Gerichtsmediziner sollte man sich allerdings mit Insekten einigermaßen auskennen, weil die Untersuchung der in einer Leiche befindlichen Parasiten wertvolle Erkenntnisse liefern kann. Übrigens sind diese Käfer untereinander sehr aggressiv und verspeisen sich mitunter sogar gegenseitig. Der Kopf des Exemplars, das wir in Thompsons Leiche gefunden haben, befindet sich vermutlich im Bauch eines Artgenossen!”

“Können Sie sich vorstellen, weshalb Einwohner eines englischen Dorfes sich Mobilés mit präparierten afrikanischen Käfern aufhängen?”, fragte Brady.

Johnson runzelte die Stirn.

“Das klingt in der Tat sehr eigenartig. Aber bei der Gelegenheit noch etwas anderes: Der Entdecker und Namensgeber dieser Käferart hieß Miles Donahue. Er lebte bis zu seinem frühen Tod in Dunbury und verfasste einige wichtige Werke über diese Krabbler.”

“Wer glaubt da noch an Zufall!”, murmelte Brady.

Johnson trat etwas näher an Brady heran. “Sie fragten mich gestern, ob Thompson durch ein Tier gestorben sein könnte. Was halten Sie denn von dem Gedanken, dass es vielleicht viele Tiere waren, die den armen Thompson zum Skelett abgenagt haben?”

*

Es war später Nachmittag, als Brady und Allistair nach Dunbury zurückkehrten. Miles Donahue’s Anwesen lag einige Meilen außerhalb des eigentlichen Ortes. Es handelte sich um ein herrschaftliches Landhaus im viktorianischen Stil. Schon von weitem ragten die grauen Mauern des Hauptgebäudes auf.

Wie Brady inzwischen herausgefunden hatte, war Donahue als Afrika-Forscher hervorgetreten und hatte sich insbesondere mit der kultischen Bedeutung von Insekten im alten Ägypten und im antiken Nubien befasst.

Vor wenigen Jahren war Donahue an einem Asthmaanfall gestorben und hatte das gesamte Anwesen seinem Neffen Eric Naismith vermacht.

Naismith war Ende zwanzig und für Scotland Yard keineswegs ein unbeschriebenes Blatt. Brady war auf mehrere Verurteilungen wegen Grabschändung gestoßen. Naismith hatte Grabsteine mit magischen Zeichen bemalt und zusammen mit anderen Mitgliedern einer okkulten Sekte immer wieder satanische Rituale auf Friedhöfen durchgeführt. In den letzten Jahren schien es jedoch ruhiger um ihn geworden zu sein.

“Naismith wird uns ein paar Fragen beantworten müssen!”, meinte Brady. “Allerdings habe ich noch immer nicht den blassesten Schimmer, wie das alles zusammenhängt!”

“Glaubst du vielleicht, dass ein ganzer Schwarm dieser afrikanischen Käfer über Thompson hergefallen ist? Das ist doch alles absurd! Johnson hat gesagt, dass die Skelettkäfer normalerweise Aasfresser sind.”

“Ich weiß, dass das alles ziemlich absurd zu sein scheint. Wir haben ein paar Verbindungslinien, das ist auch schon alles.”

“Allein bei dem Gedanken, dass Thompson von diesen Krabblern zerlegt wurde, dreht sich mir der Magen um!”, meinte Allistair. “Allerdings glaube ich nicht, dass diese Biester eine Leiche in der kurzen Zeit zerlegt haben können, die zwischen Thompsons letzten Schreien und dem Auffinden der Leiche liegt.”

“Möglichkeit eins wäre, dass unser Zeuge sich geirrt oder gelogen hat, was den zeitlichen Ablauf angeht. Thompson könnte schon in seinem Haus umgebracht und skelettiert worden und dann zum Friedhof gebracht worden sein.”

“Und was ist Möglichkeit Nummer zwei?”

“Schon mal was von Piranhas gehört?”

“Sicher.”

“Die skelettieren ein Rind innerhalb von ein oder zwei Minuten, während es durch einen Fluss watet.”

“Und so etwas Ähnliches stellst du dir bei diesen Käfern vor?” Allistairs Tonfall klang zweifelnd.

“Warum nicht?”

“Das bedeutet, dass Hunderte – nein, Tausende! – dieser Biester koordiniert angegriffen haben müssten!”

“Über diese Käferart ist außer den Fakten, die Johnson zusammengetragen, hat, recht wenig bekannt.”

“Trotzdem...”

“Und absurder als die Hypothese von irgendeinem Monster oder dergleichen klingt es in meinen Ohren auch nicht!”

*

Der Himmel hatte sich mit einer dunkelgrauen Wolkendecke zugezogen, die sich wie ein Leichentuch über das Land zu legen schien.

Als Brady seinen Ford vor das Portal des Hauptgebäudes fuhr, begann es zu regnen. Blitze zuckten aus dem düsteren Himmel heraus. Donnergrollen folgte.

Brady und Allistair stiegen aus. Der Regen wurde stärker. Die beiden Scotland Yard-Beamten beeilten sich, die Stufen des Portals hinauf zu gelangen. Augenblicke später standen sie vor der großen Tür mit den messingfarbenen Klopfringen. Es gab allerdings auch eine Klingel. Allistair betätigte sie ungeduldig.

Wenig später öffnete ein Mann in den Sechzigern die Tür. Sein Haar war grau, der Gang leicht gebeugt. Er trug die Uniform eines Butlers. Seine Handschuh waren so blütenweiß, dass er sie mindestens einmal am Tag wechseln musste.

“Sie wünschen?”, frage der Butler.

Allistair hielt ihm den Dienstausweis von Scotland Yard unter die Nase. “Wir hätten ein paar Fragen an Mr. Naismith.”

“Mr. Naismith lebt sehr zurückgezogen. Er empfängt für gewöhnlich keinen Besuch”, erwiderte der Butler.

“Uns wird er empfangen müssen!”, erwiderte Allistair ziemlich schroff.

“Die Alternative wäre, ihn zwangsweise zum Verhör abzuführen”, ergänzte Brady. “Ich glaube kaum, dass ihm das wirklich lieber wäre!”

Das Gesicht des Butlers blieb vollkommen unbeweglich. Wie eine Maske!, durchfuhr es Brady.

Der Butler richtete sich etwas auf. Seine Augenbrauen hoben sich ebenfalls. “Warten Sie einen Augenblick!”, forderte er dann und schlug die Tür wieder zu.

“Hey, so etwas lässt du dir bieten, Mike?”, fragte Allistair ziemlich gereizt.

Wenig später kehrte der Butler zurück, öffnete erneut die Tür und forderte die beiden Scotland Yard-Männer auf, ihm zu folgen. Sie betraten die Eingangshalle.

Die Wände waren behängt mit archaischen Geistermasken, deren afrikanischer Ursprung unverkennbar war. Totenschädel hingen an beinahe unsichtbaren Fäden von der Decke. Mobilés aus Schrumpfköpfen begannen durch den beim Öffnen der Tür entstandenen Luftzug ihren gespenstischen Tanz.

Und Käfer!

Genau wie an der Decke des DUNBURY INN waren sie präpariert und in kunstvoll gestalteten Mobilés aufgehängt worden. Es mussten Tausende sein... Der Luftzug sorgte dafür, dass man den Eindruck eines wimmelnden Schwarms hatte.

“Scheint, als wären wir hier tatsächlich an der richtigen Adressen”, raunte Jim Allistair dem Chief Inspector zu.

Brady nickte leicht.

Die beiden Männer folgten dem Butler die Freitreppe hinauf, über die man ins Obergeschoss gelangen konnte.

Sie passierten einen Korridor.

Ach hier waren die Wände mit grotesken Kultgegenständen aus aller Welt bedeckt.

Eric Naismith empfing die Scotlansd Yard-Beamten in der Bibliothek.

Die dicht mit Büchern gefüllten Regale reichten bis zur Decke. Uralte, in Leder gebundene Folianten reihten sich hier aneinander. Staub hatte sich auf den Buchrücken abgesetzt. Brady überflog einige der Titel. Okkulte Themen schienen vorherrschend zu sein.

Naismith war von schlaksiger Gestalt. Er trug einen dunklen Rollkragenpullover. Er klappte das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, zusammen und legte es auf einen der zierlich wirkenden runden Tische, die unregelmäßig im Raum verteilt standen. Anschließend erhob er sich aus seinem Sessel und trat seinen Gästen mit einem spöttischen Lächeln um die Lippen entgegen.

“So, Sie wollten mich also notfalls verhaften!”, sagte Naismith mit einem ziemlich überheblichen Unterton, der ihn Brady sogleich unsympathisch erscheinen ließ.

Er hielt dem Erben des großen Afrika-Forschers Miles Donahue den Ausweis hin und stellte sich und seinen Kollegen vor. “Wir haben ein paar Fragen im Hinblick auf den Tod von Mr. Roger Thompson.”

“Ich habe davon gehört”, sagte Naismith. “In einem Ort wie Dunbury verbreiten sich Neuigkeiten ziemlich rasch.” Naismith trat ein paar Schritte vor und wandte sich an den Butler. “Lassen Sie uns bitte allein, Charles.”

“Sehr wohl, Sir!”, gab der Butler zurück und neigte leicht den Kopf. Er verließ mit schleppendem Gang den Raum.

Brady hatte inzwischen bemerkt, dass es auch an der Decke der Bibliothek Dutzende von Käfer-Mobilés gab.

Der Chief Inspector deutete mit der Rechten dorthin. “Sie scheinen eine Vorliebe für bizarren Wandschmuck zu haben, Mr. Naismith.”

“Oh, diese zugegebenermaßen recht eigenwilligen Dekorationen stammen von meinem verstorbenen Onkel.”

“Skelettkäfer nennt man diese Krabbler, nicht wahr?”

“Das ist korrekt. Aber Sie werden kaum hier her gekommen sein, um mit mir über Insekten zu sprechen – seien sie nun präpariert oder nicht!”

“Doch, genau darüber möchte ich mit Ihnen reden”, widersprach Brady. “In Thompsons Leiche wurde einer dieser Käfer gefunden.”

Von draußen war Donnergrollen zu hören. Blitze zuckten in rascher Folge. Das Gewitter schien noch mehrere Meilen entfernt zu sein.

Naismith wandte sich ab. Brady hatte das Gefühl, dass er seinem Blick auswich.

Die Anspannung war dem Neffen des Afrika-Forschers Miles Donahue dennoch sehr deutlich an der Körperhaltung anzusehen.

“Nun, was Sie sagen ist durchaus möglich – und es gibt eine einfache Erklärung dafür.”

“Ich bin gespannt!”, sagte Brady.

“Mein Onkel Miles brachte seinerzeit einige Exemplare dieser Käferart nach England mit und begann sie zu züchten. Es ist durchaus möglich, dass einige von ihnen entwichen sind und in freier Wildbahn überlebt haben, auch wenn die klimatischen Bedingungen sicherlich nicht optimal sein dürften! Ist Ihre Frage damit zufriedenstellend beantwortet?”

“Halten Sie es für möglich, dass die Käfer einen Menschen umbringen und skelettieren?”, fragte Brady.

Eric Naismith verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

“Besser Sie gehen jetzt. Wenn Sie sich mit einem Insektologen unterhalten wollen, sind Sie bei mir an der falschen Adresse!”

“Vielleicht könnten Sie mir noch sagen, was diese Käfer-Mobilés zu bedeuten haben, die hier überall hängen!”

“Vor vielen Zeitaltern hatten Skelettkäfer magische Bedeutung”, erläuterte Naismith. “Im 18. vorchristlichen Jahrhundert gelangte der Kult des Käfergottes Nam-Re aus Nubien nach Ägypten, blieb dort jedoch auf kleine Zirkel beschränkt und konnte sich bis zur Islamisierung im 8.Jahrhundert halten. Mein Onkel hatte sich insbesondere der Erforschung dieses Geheimkultes gewidmet, wie man an seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema sehen kann.” Naismith deutete auf einen bestimmten Bereich der Bücherwand, der offenbar den Werken von Miles Donahue vorbehalten war.

“Haben Sie ein derartiges Mobilé dem Wirt des DUNBURY INN geschenkt?”, hakte Brady nach.

“Stellen Geschenke jetzt schon eine Straftat dar, Chief Inspector?”

Draußen grollte erneut der Donner. Prasselnder Regen schlug gegen die Scheiben. Aber da war noch ein anderes Geräusch, dass beides übertönte.

Es klang wie ein Schaben, war sehr durchdringend und kam unzweifelhaft aus der Tiefe.

Brady spürte, wie der Boden durch dieses Geräusch vibrierte.

“Was war das?”, fragte der Chief Inspector, nachdem es verstummt war.

Eric Naismith war bleich wie die Wand geworden.

Im nächsten Moment war dieser sehr charakteristische Laut erneut zu hören. Ein sägender Ton, der Brady durch Mark und Bein ging. Er hatte sofort das Gefühl, dass dies ein Geräusch war, das von einem lebenden Wesen verursacht wurde. Einem Tier.

Einem Monster!, durchzuckte es Brady.

“Nun reden Sie schon, Naismith! Was geht in diesem Haus vor?”

Schritte waren vom Korridor her zu hören. Ohne Anzuklopfen stürzte der ebenfalls vollkommen bleiche Butler in die Bibliothek.

“Sir, kommen Sie schnell!”

“Jetzt nicht, Charles!”

“Es duldet aber keinerlei Aufschub, Mr. Naismith!”, beharrte der Butler.

“Waten Sie hier!”, wandte sich Naismith an die beiden Scotland Yard-Beamten. Er wollte zur Tür gehen, aber Bradys Worte ließen ihn herumfahren.

“Wir werden uns ansehen, was sich in Ihrem Haus verbirgt, Mr. Naismith. Führen Sie uns zum Ursprung dieser Geräusche!”

“Das hat mit Ihrem Fall nichts zu tun!”, zeterte Naismith. “Also haben Sie auch kein Recht dazu!”

“Wenn Gefahr im Verzug ist, habe ich sehr wohl das Recht, mir alles anzusehen, was ich will, Mr. Naismith!”

Erneut war der Laut zu hören. Diesmal wirkte er fast klagend.

Als Brady die Tür passieren wollte, stellte sich Naismith ihm entgegen. ”Das dürfen Sie nicht! Ich bitte Sie! Um Ihrer Seelen willen, verlassen Sie dieses Haus und lassen Sie mich tun, was notwendig ist!”

“Vielleicht sagen Sie uns endlich mal, was hier eigentlich gespielt wird!”, verlangte Brady. “Wodurch werden diese Geräusche verursacht und was wissen Sie über den Tod von Roger Thompson? Was über die anderen skelettierten Leichen?”

Naismith versuchte zu antworten.

Er stammelte unzusammenhängende Sätze daher, von denen das Meiste in einem weiteren dieser nervenzerfetzenden Laute unterging. Diesmal war es so laut, dass Jim Allistair sich unwillkürlich die Ohren zuhielt. Brady verspürte ein drückendes Gefühl in der Magengegend. Alles vibrierte in der Bibliothek. Mehrere der ledergebundenen Folianten fielen aus den Regalen. Im Korridor löste sich eine der afrikanischen Geistermasken aus der Halterung, mit der sie an der Wand befestigt war und fiel krachend zu Boden. Das andauernde Donnergrollen untermalte dies mit einem anschwellenden Klangteppich.

“Das kam aus dem Keller!”, stöhnte Jim Allistair auf. “Los, gehen wir hin und sehen es uns an!”

“Nein!”, kreischte Naismith. “ES würde Sie umbringen!”

“Was ist ES?”, fragte Brady.

Naismith atmete schwer. Er löste die ersten Hemdknöpfe. Sein Gesicht hatte auch den letzten Rest von Farbe verloren. Er wirkte vollkommen verzweifelt.

“Sie können hier nichts tun, Mr. Brady. So glauben Sie mir doch!”

“Das werden wir ja sehen!”

Brady lief in den Flur hinaus. Er folgte den immer drängender werdenden Geräuschen. Da war irgend etwas in den Kellergewölben. Etwas, das bislang Bradys Begriffsvermögen überstieg. Aber der Chief Inspector war überzeugt davon, dass dort unten der Schlüssel zu allem sein musste. Brady ging schnellen Schrittes. Allistair folgte ihm.

Erst als beide die Freitreppe erreicht hatten, die ins Erdgeschoss führte, holte Naismith die beiden ein.

Der gebrechlich wirkende Butler folgte noch etwas später. Die tiefen, offenbar teilweise im nicht mehr hörbaren Infraschallbereich liegenden Töne setzten die zahllosen Mobilés in Bewegung. Totenschädel und Käfer führten einen wirren Tanz auf.

Brady durchschritt die Eingangshalle.

Er ging auf eine hölzerne Tür zu, von der er vermutete, dass sie in den Keller führte.

Der Chief Inspector stutzte, als er die Schnitzereien bemerkte. Sie glichen in sehr vielen Details jenen an der Außentür des DUNBURY INN.

Er umfasste die Klinke, riss die Tür auf.

Eine steile, rutschige Treppe führte in die Tiefe und verlor sich in der absoluten Dunkelheit, die dort herrschte.

“Nein!”, schrie Naismith.

Mit vor Schreck geweiteten Augen stürzte der Besitzer des Landhauses herbei.

Erneut ließ einer dieser schabenden Laute Brady schaudern.

Was mochte dort unten nur lauern? Ein lebendes Wesen, dass schien Brady klar zu sein.

Etwas krabbelte die Treppe hinauf.

Es war einer der goldfarbenen, schwarz gestreiften Käfer.

Eine Mischung aus Ekel und einem nicht fassbaren Entsetzen ergriff Brady.

Ein weiterer Käfer krabbelte empor.

Ein weiteres Dutzend folgte.

Brady wich unwillkürlich zurück.

Naismith drängte sich an Allistair vorbei, stieß auch Brady grob zur Seite und riss sich die obersten Knöpfe seines Hemdes auf. Er griff sich an die Brust und holte ein goldenes Amulett hervor, das er bis dahin verdeckt unter der Kleidung getragen hatte.

Es bestand aus einer goldenen Nachbildung eines Skelettkäfers. Nasmith nahm das Amulett vom Hals. Er hielt es an der Kette, streckte den Arm aus und ließ es hin und her pendeln. Dazu rief er laut: “Nam-re! Nam-re! Ptorem-tan!”

Die Käfer stoppten. Sie drehten um und kehrten zurück in die namenlose Dunkelheit, aus der sie gekommen  waren.

Naismith atmete tief durch.

Er fasste Brady am Arm. “Raus hier, Chief Inspector!”

“Kommt nicht in Frage!”

“Ich werde Ihnen alles erklären, aber wenn Sie jetzt noch einen Schritt in die Tiefe setzen, dann gibt es ein Unglück!”

Jim Allistair meldete sich zu Wort. “Vielleicht ist es besser, wenn wir wissen, was auf uns dort unten wartet, Mike!”, meinte er.

Brady zögerte einen Augenblick.

Dann gab er nach und ging zurück in die Eingangshalle. Naismith schloss erleichtert die Tür. Er deutete auf die Schnitzereien. “Diese magischen Symbole halten sie davon ab, den Keller zu verlassen und ins Haus einzudringen”, erklärte er. “Genau wie die Mobilés...”

“Wer sind sie?”, fragte Brady.

“Die Käfer.” Naismith stockte. Aus den Tiefen des Kellergewölbes drang erneut einer jener rätselhaften Laute, aber er war leiser als zuvor. Lediglich ein leichtes Vibrieren ließ den Boden kurz erzittern und es war diesmal keinerlei Druck auf de Magen zu spüren. “Scheinbar habe ich ihn etwas besänftigen können, aber das ist nur vorübergehend!”, sagte Naismith.

“Ich verstehe kein Wort.”

“Entschuldigen Sie. Am besten ich beginne von vorn. Mein Onkel Miles brachte einige Exemplare der Skelettkäfer hier her. Er züchtete sie und beschäftigte sich mit ihrer okkulten Bedeutung, die sie für die Anhänger Nam-Res, des Käfergottes über mehr als zweieinhalb Jahrtausende hinweg gehabt hatte. Onkel Miles geriet in den Besitz sehr seltener Papyrus, auf denen von uralten Ritualen die Rede war. Rituale, die die Priester des Geheimkultes von Nam-Re praktizierten. Auf diese Weise beschworen sie ihren Gott in Gestalt eines riesenhaften Skelettkäfers.”

“Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass dort unten...” Brady brach ab. Es klang unglaublich. Aber waren nicht sämtliche Umstände von Roger thompsons Tod bislang an der Grenze dessen, was ein halbwegs gesunder Verstand als Realität akzeptieren konnte?

Naismith nickte langsam.

“Ich weiß, dass sich alles in Ihnen dagegen sträubt, Mr. Brady, aber genau so ist es: Dort unten haust ein Monstrum. Ein Monstrum, das tötet und außerdem die mentale Kontrolle über Hunderttausende von kleinen Skelettkäfern ausübt, die seit vielen Jahren in den Kellergewölben dieses Hauses ihren Lebensraum gefunden haben. Eine Käferpopulation, die aus einzelnen, aus Onkel Miles’ Terrarien entwichenen Exemplaren hervorging.” Naismith kniff für einen Moment die Augen zusammen. Fast so, als würde er unter starken Schmerzen leiden. “Ich weiß, dass Onkel Miles mit den Ritualen der Nam-re-Priester experimentierte. Ich habe seine persönlichen Aufzeichnungen gelesen. Aber bis zu seinem plötzlichen Tod durch einen Asthmaanfall scheute er vor dem entscheidenden Schritt zurück. Er wagte es nicht, Nam-re aus dem Zwischenreich in unsere Welt zu holen...”

“Aber Sie hatten weniger Skrupel”, schloss Brady.

Naismith schluckt. “Ja”, flüsterte er. “Und ich verfluche den Tag, an dem ich meine Neugier nicht zu zügeln vermochte. Ich wollte den letzten Geheimnissen auf die Spur kommen. Und das bin ich ja auch, wenn auch auf ganz andere Weise, als ich es erhofft hatte.”

“Was ist mit den Toten?”, fragte Brady.

“Nam-Re ist hungrig”, flüsterte Naismith. “Es gibt vom Kellergewölbe aus einen Zugang zu einer Sickergrube, der groß genug für dieses Monstrum ist, um ins Freie zu gelangen. Er sucht sich seine Opfer und...” Naismith stockte. “Sie wissen ja, was mit er mit ihnen tut. Ich habe versucht, alle Ein- und Ausgänge des Kellergewölbes mit magischen Barrieren zu versperren.” Er deutete auf die Schnitzereien an der Tür zum Keller. “Außerdem habe ich an jeden, der es wollte, Schutz-Mobilés verschenkt und alles getan, um Nam-re hier einzuschließen. Aber manchmal wurde seine Kraft so stark, dass er sich nicht halten ließ...” Naismiths Stimme klang belegt, als er fortfuhr: “Es tut mir leid, was mit Thompson geschehen ist...”

Draußen donnerte es nicht mehr, aber der Regen wurde dafür um so heftiger. Er trommelte regelrecht gegen die hölzerne Eingangstür.

Brady zog seine Dienstwaffe aus dem Holster. Er wandte sich an Allistair. “Ruf Verstärkung, Jim! Ein Sondereinsatzkommando und genug Kräfte, um das gesamte Gelände hier abzuriegeln!”

“In Ordnung, Mike!”, antwortete Allistair tonlos.

Aus dem Keller dröhnte erneut ein schabender Laut.

Brady ging zur Kellertür und öffnete sie.

“Sie Narr!”, rief Naismith. “Glauben Sie, mit Ihrer Waffe könnten Sie irgendetwas gegen Nam-re ausrichten?”

“Ich will wissen, was an Ihrem esoterischen Gequatsche wirklich dran ist!”, versetzte Brady.

Naismith atmete schwer.

“Warten Sie, ich werde voran gehen. Das einzige Mittel, das Nam-re einigermaßen in Schach zu halten vermag, ist dieses Amulett!” Er deutete auf den Käfer aus Gold, den er sich wieder um den Hals gehängt hatte. “Das ist das Siegel des Hohepriesters der Nam-re-Bruderschaft. Ein magisches Artefakt, um die Macht des Käfergottes zu beherrschen. Leider verfüge ich nur über den Bruchteil der okkulten Kenntnisse dieser Priester...”

*

Brady und Naismith stiegen die Treppe hinab, während Jim Allistair Anweisung hatte, bei dem Butler namens Charles zu bleiben und auf das Eintreffen der per Handy verständigten Kollegen zu warten.

Naismith ging voran. Er machte Licht. Nur eine einzige Glühbirne beleuchtete flackernd den Kellerraum am Fuß der Treppe. Ein paar Skelettkäfer liefen mit überraschender Schnelligkeit über den Boden. Sie eilten davon und verkrochen sich in den Mauerritzen. “Diese Biester haben einen Großteil der elektrischen Leitungen hier unten zerfressen!”, berichtete Naismith. Er deutete auf eine Reihe von ölgetränkten Fackeln, die an der Wand hingen. “Nehmen Sie sich eine davon”, forderte Naismith und ging selbst mit gutem Beispiel voran. “Das Element Feuer bietet im übrigen einen gewissen Schutz gegen Nam-re...”

Naismith holte ein Feuerzeug aus der Jackentasche und zündete zunächst seine eigene Fackel und anschließend die des Chief Inspector an.

Der flackernde Schein der Flammen ließ Schatten an den Wänden tanzen.

Das Licht der Glühbirne flackerte ebenfalls bedenklich. Nicht mehr lange und die Käfer hatten es geschafft, für völlige Dunkelheit in den Kellergewölben zu sorgen.

Das schabende Geräusch war wieder zu hören.

Naismith erklärte, dass Nam-re es durch Aneinanderreiben seiner Beißzangen erzeugte.

“Er wartet auf uns”, flüsterte Naismith. “Er spürt, dass wir hier sind... Hören Sie, Brady, alles, was ich erreichen kann ist, dass Nam-Re in einer Art Ruhestarre verharrt und sein Hunger für einige Wochen, Monate – wenn wir Glück haben, Jahre – so gedämpft wird, dass er sich keine Opfer mehr zu suchen braucht.”

“Dieses Monstrum muss vernichtet werden”, murmelte Brady.

“Glauben Sie, das hätte ich nicht längst versucht?”, fragte Naismith.

“Vielleicht waren Ihre Mittel einfach zu...”

“...esoterisch?”

“Ja.”

Naismith lachte heiser auf. “Sie haben noch immer nichts verstanden, Brady...”

Er öffnete eine Tür, durch die die beiden Männer in einen düsteren Korridor traten, der jetzt vom Schein der Fackeln erhellt wurde.

Auf dem Boden fiel das unruhige Licht des Feuers auf tote Skelettkäfer. Vielen fehlte der Kopf.

“Diese Käfer bekämpfen sich offenbar gegenseitig!”, stellte Brady fest.

“Aber nur in den Phasen, in denen Nam-re sie nicht unter seiner absoluten mentalen Kontrolle hat. Etwa kurz nach dem Verzehr einer Beute...”

Sie gingen den Korridor bis zum Ende.

Dort befand sich eine weitere Holztür.

Brady erkannte, dass auch hier wohl einst dieselben magischen Zeichen und Bilder eingraviert worden waren, die Nam-re und seine Käferbrut daran hindern sollten, die Kellergewölbe zu verlassen. Allerdings waren diese Schnitzereien zu einem Großteil zerstört. Abgeschabt!, durchzuckte es Brady. Vielleicht durch die Beißwerkzeuge hunderter Skelettkäfer, die an der Tür emporgeklettert waren und sich in das teilweise schon morsch gewordene Holz festgebissen hatten.

Naismith öffnete auch diese Tür. Knarrend ging sie zur Seite.

Brady folgte Naismith in einen Raum, von dem der Schein der Fackel nur einen kleinen Teil erleuchtete. Regale lagen auf dem Boden. Ein furchtbarer, beißender Geruch schlug Brady und Naismith entgegen.

Es war derselbe Geruch, den Brady bereits bei Thompsons Leiche bemerkt hatte.

Das Skelett einer Katze oder eines kleinen Hundes lag auf dem Boden. Die Knochen waren sauber abgenagt worden. Daneben fanden sich kleinere Knochen und Schädel. Wahrscheinlich von Ratten.

Ein knisterndes Geräusch war jetzt zu hören. Brady streckte die Linke mit der Fackel nach vorn. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren.

Tausende von Skelettkäfern krabbelten über den Boden. Zusammen bildeten sie eine amorphe Masse, die sich koordiniert bewegte.

Naismith hielt dieser schwarmartigen Ansammlung von Käfern sein Amulett entgegen. Er murmelte Worte in einer längst vergessenen Sprache. Sie hallten in dem Gewölbe schauderhaft wider.

Die Käfer stoppten. Sie liefen übereinander, aber es schien plötzlich eine unsichtbare Wand zu geben, die sie nicht zu durchdringen vermochten.

“Nam-re!”, rief Naismith jetzt mit heiserer Stimme. “Natanget ptoram-ank-lor!”

Aus dem Schatten heraus bewegte sich etwas. Ein dumpfer, durchdringender Laut ertönte. Der Boden vibrierte.

Nie zuvor hatte Mike Brady eine derart schauderhafte Kreatur gesehen, noch ihre Existenz überhaupt für möglich gehalten. Ein riesenhafter Käfer bewegte sich in den Schein der Fackeln hinein. Das Tier hatte die Ausmaße eines Stiers. Es bewegte sich etwas, rieb die furchterregenden Beißwerkzeuge aneinander.

Eine Schrecksekunde verging, in der nichts anders als blanke Panik in Brady herrschte.

Er richtete seine Dienstwaffe auf das Monstrum.

“Glauben Sie mir jetzt?”, raunte Naismith. “Oder trauen Sie auch Ihren eigenen Augen nicht?”

“Ja, ich glaube Ihnen jetzt!”

Der Käfer erzeugte mit seinen Beißwerkzeugen einen besonders unangenehmen, durchdringenden Laut. Risse entstanden im Mauerwerk.

Brady spürte plötzlich einen stechenden Schmerz hinter den Schläfen . Er spürte, wie etwas versuchte, in sein Bewusstsein einzudringen. Fremde Gedanken, die sich in seine Seele hineinfraßen. Höllenschmerzen durchfuhren seinen gesamten Körper.

Er hörte Naismith aufschreien.

Mit heiserer Stimme versuchte dieser, seine Beschwörungen zu rufen, aber auch er schien unter dem furchtbaren mentalen Druck zu leiden, der von dem Riesenkäfer ausging.

Naismith taumelte zurück.

Dieses Monstrum geht zum Angriff über!, erkannte Brady.

Der Schmerz drohte übermächtig zu werden, während die Wirkung von Naismith’ magischen Formeln offenbar nachließ. Die Käferscharen vermochten plötzlich die unsichtbare Barriere zu durchdringen. Sie krabbelten mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die beiden Männer zu.

Schon hatten die ersten von ihnen Bradys Schuhe erreicht. Brady schüttelt sie ab, trat nach ihnen. Aber sie waren zäh. Und vor allem sehr zahlreich.

Der magische Bann, mit dem Naismith das Monstrum belegt hatte, schien nicht mehr so recht zu wirken. Nam-re versuchte offenbar, diese unsichtbaren Ketten, die ihn zurzeit fesselten, zu sprengen.

Brady biss die Zähne aufeinander.

Der Schmerz lähmte seine Gedanken vollkommen.

Er hob die Waffe, zielte auf den den monströsen Gegner und wollte abdrücken. Aber es löste sich kein Schuss aus seiner Pistole. Brady war plötzlich  wie gelähmt. Er fühlte, wie die ersten Käfer an seinem Bein emporkrabbelten. Der Schmerz nahm noch einmal an Intensität zu. Brady taumelte zu Boden. Die Fackel rutschte ihm aus der Hand. Ihr Schein wurde dadurch noch spärlicher. Die Käfer wichen vor dem Feuer zurück, umrundeten es und erreichten anschließend ihr Opfer. Zu Dutzenden krochen sie auf Bradys wie erstarrt daliegenden Körper. Rasende Schmerzen ließen den Chief Inspector aufschreien.

Das ist das Ende!, durchzuckte es ihn.

Er sah den Riesenkäfer auf ihn zu kriechen. Kalte Facettenaugen musterten ihn. Die Beißwerkzeuge wurden auseinander gespreizt. Ein dunkler Schlund lag dahinter.

*

Naismith trat dem Riesenkäfer entgegen. Er schwankte leicht. Offenbar war auch er durch den geistigen Druck dieses Monstrums benommen. Unablässig schrie Naismith seine okkulten Beschwörungsformeln heraus. In der Linken hielt er die Fackel, in der rechten das Amulett.

Tausende von Käfern überliefen bereits seinen Körper. Hier und da bohrten sich bereits die Beißwerkzeuge in Naismith’ Haut. Blut rann ihm über das Gesicht und den Hals entlang.

Er muss wahnsinnig sein!, durchzuckte es Brady.

Schreiend taumelte Naismith zu Boden.

Nam-re war über ihm. Schabende und schmatzende Geräusche waren zu hören. Gnädigerweise lag das Geschehen im Schatten, nachdem auch Naismith’ Fackel am Boden lag und nur noch mit kleiner Flamme brannte.

Ein grausiger Todesschrei gellte durch das Kellergewölbe.

Die Leiber unzähliger Skelettkäfer bedeckten Naismith.

Brady spürte, dass der mentale Druck auf sein Bewusstsein nachließ. Der Schmerz verebbte.

Brady erwachte aus der unheimlichen Erstarrung, in die er unter Einfluss des Käfergottes gefallen war. Er war wieder Herr seiner selbst.

Brady zögerte jetzt keine Sekunde.

Er drückte seine Waffe ab.

Immer wieder zog er den Stecher der Dienstpistole durch und ließ die Waffe loskrachen. Blutrot leckte das Mündungsfeuer aus dem Lauf. Er feuerte das gesamte Magazin leer. Insgesamt sechzehn Schüsse.

Der Riesenkäfer bewegte sich noch immer. Aber er wirkte merkwürdig blass. Brady nahm seine Fackel vom Boden auf und näherte sich.

Das Monstrum wurde jetzt durchscheinend wie eine blasse Diaprojektion. Dieser Effekt wurde immer stärker, bis es sich gänzlich aufgelöst hatte und verschwand. Die Käfer stellten ihren koordinierten Angriff sofort ein. Vorzugsweise bekämpften sie sich jetzt gegenseitig.

Brady wandte sich Naismith zu.

Ihm konnte niemand mehr helfen.

Wie vor ihm Roger Thompson und einige andere Leute aus Dunbury war sein Körper bis auf das Skelett abgenagt worden. Ein furchtbarer Tod!, dachte Brady. Warum hat er das getan?

Naismith hatte dieses furchtbare Schicksal provoziert.

Warum nur?, fragte sich Brady. Über diese Frage zermarterte sich der Chief Inspector noch lange den Kopf. Erst im Zuge weiterer Ermittlungen bekam er darauf eine Antwort.

*

Etwa eine Stunde später wimmelte es in dem Haus, dass Eric Naismith von Miles Donahue geerbt hatte, von Polizisten und Erkennungsdienstlern.

Es stellte sich heraus, dass Naismith umfangreiche persönliche Aufzeichnungen angelegt hatte. Offenbar war er seit langem verzweifelt darum bemüht gewesen, Nam-re unter Kontrolle zu bringen. Lange Nächte hatte er in der Bibliothek verbracht und die dortigen okkulten Schriften nach einer Möglichkeit durchsucht, Nam-re wieder in jenes Zwischenreich zu bannen, in dem er äonenlang geschlummert hatte.

Er erkannte bald, dass das nur durch ein Opfer desjenigen möglich war, der diese finstere Gottheit beschworen hatte.

Den nötigen Mut dazu hatte er erst in dem Augenblick gefunden, als das Monstrum seiner Kontrolle entwichen und zum Angriff übergegangen war.

“Naismith hat mir das Leben gerettet”, sagte Brady später an Allistair gewandt, als sie den ganzen Fall Revue passieren ließen. “Ich kann nur hoffen, dass dieses Wesen wirklich für immer gebannt ist!”

“Falls nicht, werden wir es erfahren”, erwiderte Allistair düster.

17.6.04  ENDE

Die Mumien von Dunmore Manor

von Alfred Bekker

„Tom! Vorsicht!“, schrie Sara Manley. Ihre Hände krallten sich in das Polster des Beifahrersitzes. Etwas schlug vorne gegen den Wagen. Die Bremsen des Coupés quietschten. Der Wagen rutschte ein Stück über die regennasse Fahrbahn, bevor er endlich stand.

Tom Smith atmete tief durch. Sara sah ihren Freund an. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Der Schreck stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben.

„Was war das?“, fragte sie.

„Keine Ahnung“, murmelte er. „Ich schätze irgendein Tier.“

Der Regen prasselte gegen die Frontscheibe. Es war dunkel. Ein furchtbarer Sturm fegte über die Isle of Wight und wurde immer heftiger. Mit der letzten Fähre hatten sie am Abend von Portsmouth aus übergesetzt, um ein verlängertes Wochenende auf der Insel zu verbringen. Sara war Anwältin, hatte gerade ihr Examen hinter sich und bei der renommierten Londoner Kanzlei Darrington, Jespers & Partners ihre erste Anstellung bekommen. Tom Smith arbeitete in einer Werbeagentur. Beide hatten sich auf das gemeinsame Wochenende gefreut, aber so langsam verwandelte sich ihr Wight-Wochenendtrip in einen Albtraum.

Das Wetter war furchtbar. Die Fähre hatte nur unter großen Schwierigkeiten in den Hafen einlaufen können. Eine Viertelstunde, nachdem Tom und Sara das Schiff verlassen hatten, war im Radio die Meldung gekommen, dass der Sturm Orkanstärke erreicht hatte und die Fährverbindung zum Festland daher bis auf weiteres eingestellt worden war.

„Ich schau mal, was passiert ist!“, meinte Tom.

„Du wirst ganz nass!“, gab Sara zu bedenken.

Tom hatte schon die Tür geöffnet. Das Coupé gehörte ihm. Er hatte es erst vor einer Woche gekauft. Sara wusste, wie peinlich genau Tom darauf achtete, dass kein Kratzer an den Wagen kam. Und jetzt dieser Unfall!

Die Innenbeleuchtung des Coupés blieb an, weil Tom die Tür hinter sich nicht richtig geschlossen hatte. Sara konnte jetzt noch weniger erkennen, was draußen vor sich ging. Sie sah nur ihr eigenes, leicht verzerrtes Spiegelbild.

Vollkommen übertrieben, was der Kerl da für ein Aufhebens um den Wagen macht!, ging es ihr durch den Kopf. Wir sollten froh sein, dass uns offensichtlich kein Reh oder Wildschwein gerammt hat und einfach weiterfahren! 

Aber sie wusste nur zu gut, dass sie mit solchen Argumenten bei Tom auf taube Ohren gestoßen wäre. So gut kannte sie ihn inzwischen schon.

Die junge Frau wartete. Sie drehte das Radio wieder an, das Tom zwischendurch abgeschaltet hatte. Ein Lokalsender berichtete über Sturmschäden an der gesamten englischen Südküste. Mehrere Personen waren durch herabfallende Dachziegel oder entwurzelte Bäume ums Leben gekommen. Es gab Unfälle und überschwemmte Straßen in der Gegend um Portsmouth, Poole und Bournemouth.

Warum kommt er nicht wieder?, ging es Sara ärgerlich durch den Kopf. Will er sich da draußen bis auf die Haut nass regnen lassen und sich eine Lungenentzündung holen?

„Sara!“, drang jetzt Toms Stimme durch die lauten Klopfgeräusche des Regens. „Sara, sieh dir das an!“

„Muss das sein?“, rief sie zurück.

„So etwas hast du nicht gesehen! Das gibt es doch nicht...“

Sara seufzte.

Da war eine Nuance in Toms Stimme gewesen, die sie noch nie zuvor in seinen Worten hatte mitschwingen hören.

Angst.

Das war es.

In den kurzen Sekundenbruchteilen vor dem Zusammenprall mit irgendeinem Tier – oder was immer es auch sonst gewesen sein mochte – hatte Sara nichts weiter als einen Schatten gesehen. Es war etwas gewesen, das sich sehr schnell bewegt hatte. Soviel hatte die junge Frau noch mitbekommen.

Aber das war auch schon alles.

„Na, los, komm schon, Sara!“, rief Tom noch einmal.

Sara stieg nun ebenfalls aus.

Der Regen klatschte ihr ins Gesicht. Der Wind heulte und bog die Bäume am Straßenrand. Hier und da knackte ein Ast.

Sara ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Eine gespenstische Nacht. In der Ferne waren Lichter zu sehen. Vielleicht gab es dort Häuser.

Tom Smith hob sich wie ein Schatten gegen das Scheinwerferlicht ab.

„Sieh dir das an, Darling“, forderte er sie auf und deutete auf das, was da im Schein des Autoscheinwerfers zu sehen war.

Sara runzelte die Stirn.

Der Regen war ihr plötzlich gleichgültig.

Auf dem Boden lag etwas, das wie eine Katze aussah.

Sie war gegen die Stoßstange des Coupés geprallt und hatte diese sichtbar eingedrückt. Jetzt lag das Tier ausgestreckt auf dem Asphalt.

Das Tier war sehr mager. Die Knochen traten hervor. Das Fell wirkte vertrocknet, fast wie gegerbt. Teile des Körpers waren mit gazeartigen Bandagen bedeckt, die sich offenbar nach und nach abgelöst hatten.

Die Augenhöhlen waren leer.

„Eine tote Katze“, stellte Sara fest. „Sieht aus wie...“

„Mumifiziert“, vollendete Tom. Tom kniete sich nieder. „Wie zum Teufel kommt dieses... Ding vor meinen Wagen? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass jemand bei diesem Wetter am Straßenrand steht, und darauf wartet, dass ein Wagen vorbeifährt, dem man ein Tierpräparat vor die Reifen schleudern kann. Das ist doch absurd!“

„Es hat sich bewegt“, beharrte Sara.

„Das hast du genau gesehen?“

„Ja.“

In den leeren Augenhöhlen leuchtete plötzlich etwas auf. Glühend rote Lichtpunkte entstanden dort.

Das Tier bewegte sich. Eine unheimliche Art von Leben kehrte in den teilweise bandagierten Körper zurück.

Das Tier sprang auf.

Tom zuckte zurück. Die Katze erwischte ihn mit den ausgefahrenen Krallen. Rote, blutige Striemen zogen sich über den Handrücken. Ein durchdringendes Miauen ertönte. Lautlos schnellte das Tier davon und verschwand im hohen Gras am Straßenrand.

„Bist du verletzt?“, fragte Sara.

„Nicht der Rede wert. Aber hast du das gesehen? Das glaubt uns kein Mensch!“

Sie stiegen wieder in den Wagen und fuhren weiter. Bis zu dem Cottage, das sie für das Wochenende gemietet hatten, konnten es nur noch wenige Meilen sein.

„Irgendein Perverser muss mit dieser Katze etwas Schreckliches angestellt haben“, meinte Tom. „Wie die aussah... Vielleicht ist sie aus einem Labor für Tierversuche entkommen, in dem man sie irgendwelchen Chemikalien ausgesetzt hat...“

„Aber das erklärt nicht ihre Augen, Tom“, widersprach Sara. „Dieses Leuchten. Wie glühende Kohlen... Es war unheimlich!“

„Vielleicht auch nur eine optische Täuschung!“

„Die Katze war im Licht gut zu erkennen, Tom! Du hast doch dasselbe gesehen!“

„Ja, schon...“

Sie schwiegen eine Weile. Was sie gesehen hatten, widersprach jeder Logik. Eine unheimliche Kraft hatte diesen Katzenkörper beseelt. „Sie war tot“, murmelte Sara schließlich nach einer Weile.

„Haben wir dafür einen Beweis?“

„So wie sie aussah!“

„Wie schlecht gepflegt und in ein Säurebad gelegt... Vielleicht konnte sie nicht mehr richtig sehen und ist uns deshalb vor den Wagen gelaufen.“

Sara seufzte.

„Ja, vielleicht“, murmelte sie.

*

Der Sturm wurde noch heftiger. Ein entwurzelter Baum versperrte die Straße. Sie mussten einen Umweg fahren, gelangten schließlich zu einem Pub, in dem sie sich nach dem Weg erkundigten.

„Fahren Sie bei dem Wetter besser nicht weiter“, beschwor sie der Wirt, ein Mann in den Fünfzigern, dessen kantiges Gesicht wie aus Stein gemeißelt wirkte. „Der Sturm soll noch schlimmer werden! Wenn Sie wollen können Sie eins meiner Fremdenzimmer mieten...“

„Danke, aber es können nur wenige Meilen bis zu dem Cottage sein, das wir gemietet haben“, entschied Tom.

Der Wirt zuckte die Achseln.

„Ganz wie Sie wollen, Mister...“

„...Smith.“

Fensterläden klapperten. Der Wind heulte stöhnend um das Haus. Der Wirt erklärte ihnen den Weg und wenig später saßen sie wieder im Wagen und fuhren weiter.

Immerhin ließ der Regen nach.

„Vielleicht wären wir doch besser in dem Pub geblieben“, meinte Sara.

„Der Kerl wollte doch nur seine Fremdenzimmer vermieten“, erwiderte Tom.

Eine geschlagene halbe Stunde brauchten sie, ehe sie schließlich das Cottage gefunden hatten. Es lag ziemlich einsam. Genau so, wie sie es sich beide für dieses Wochenende gewünscht hatten.

Über einen schmalen Schotterweg, der von der Hauptstraße abzweigte, gelangen sie schließlich an ihr Ziel. Tom parkte den Wagen so nahe vor der Haustür wie möglich. Sie stiegen aus. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung. Der Besitzer hatte ihnen zugesagt, den Schlüssel unter einen Blumenkübel am Eingang legen zu wollen. Dieser Blumenkübel war durch den Sturm umgekippt. Dutzende von Dachziegeln lagen vor der Haustür auf dem Boden.

Tom blickte hinauf und zog Sara ein Stück zurück.

„Vorsicht!“, warnte er sie, während im gleichen Moment bereits eine Serie weiterer Ziegel hinunterrutsche und auf dem Boden zerbrach.

„Da fehlt schon das halbe Dach“, stellte Sara fest.

Tom nickte. Er legte den Arm um seine Freundin und meinte: „Du hattest Recht, Darling. Wir hätten tatsächlich in dem Pub bleiben sollen. Selbst auf die Gefahr hin, dass dieser gewiss ziemlich geschäftstüchtige Wirt uns den doppelten Preis abknöpft!“

„Es ist ja noch nicht zu spät“, meinte Sara. „Wir können ja zum Pub zurück fahren.“

Tom ließ den Blick schweifen.

In einer Entfernung von etwa fünfhundert Yards erhob sich auf einer Anhöhe der düstere Schatten eines großen Herrenhauses. Ein einziges Fenster war erleuchtet.

„Da wohnt jemand“, stellte Tom fest.

„Ich würde trotzdem lieber zum Gasthaus zurückfahren.“

Tom zuckte die Achseln. „Wie du meinst.“

Sie stiegen wieder in den Wagen. Tom setzte zurück, um zu drehen. Die Hinterräder gerieten in eine aufgeweichte Stelle und begannen durchzudrehen. Der Motor heulte auf. Der Wagen grub sich immer tiefer in den Schlamm hinein. Tom versuchte noch ein paar Mal, behutsam vor und wieder zurück zu setzen, aber der Erfolg war gleich null. Der Wagen steckte fest.

„Das darf doch nicht wahr sein“, meinte Sara.

„Ich habe mir unser Wochenende ehrlich gesagt auch etwas anders vorgestellt“, bekannte Tom. Er deutete in Richtung des Herrenhauses. „Ich werde mal zu unseren Nachbarn laufen. Die werden ja wohl einen Spaten haben, mit dem ich die Hinterreifen wieder ausgraben kann!“

„Ich komme mit“, sagte Sara bestimmt.

„Wenn du willst, kannst du hier so lange warten.“

„Nein, auf keinen Fall bleibe ich allein hier“, sagte sie.

Das Erlebnis mit der unheimlichen Katze steckte ihr noch zu sehr in den Knochen.

Tom lächelte matt. Er strich ihr über das feuchte Haar. „Ganz wie du willst, Darling.“

Sie stiegen aus.

Tom warf noch einen Blick auf die Hinterreifen des Coupés. Aber da war wirklich nichts zu machen. Der Boden war mittlerweile an manchen Stellen derart aufgeweicht, dass man bis zu den Knöcheln in den Schlamm einsank. Das Scheppern von zerspringenden Dachpfannen mischte sich mit dem Heulen des Sturms.

Tom nahm Sara bei der Hand.

„Komm!“

Quer über eine Wiese gingen sie dem Herrenhaus entgegen. Sara musste niesen. Sie beide waren inzwischen bis auf die Haut durchnässt. Der Regen wurde noch einmal stärker. Ein immer eisiger werdender Wind trieb ihn ihnen direkt ins Gesicht.

Schließlich erreichten sie den Herrensitz.

Es handelte sich um ein dreistöckiges Haus, dem ein paar kleinere Nebengebäude vorgelagert waren. Früher hatten sie vermutlich zur Unterbringung des Personals gedient, heute benutzte man sie wahrscheinlich als Garage.

Sara musste unwillkürlich schlucken, als die das graue, dunkle Gemäuer vor sich aufragen sah. Moos hatte sich in die Mauerritzen gesetzt. Über dem Portal befand sich eine in den Stein gemeißelte Inschrift:

DUNMORE MANOR, 1602

Sara blieb plötzlich stehen.

„Was ist los?“, fragte Tom.

„Ich weiß nicht...“

Es war einfach nur ein Gefühl, das Sara in diesem Moment beherrschte. Von diesem Ort, so schien es ihr, ging etwas Böses, Bedrohliches aus. Sie konnte es nicht erklären und jeder Versuch, diese Empfindung in Worte zu fassen, hätte zweifellos lächerlich geklungen.

Also unterließ sie es und folgte Tom Smith die breiten Stufen des Portals hinauf.

Die Tür war aus dunklem Holz, das mit Schnitzereien versehen war.

Es gab keine Klingel oder andere sichtbare Zeichen der Moderne. Tom klopfte mit dem messingfarbenen Schlagring gegen das Holz.

Details

Seiten
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783738905885
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
dreimal horror

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Dreimal Horror