Lade Inhalt...

Anleitung zur Kindererziehung

©2016 250 Seiten

Zusammenfassung

Anleitung zur Kindererziehung
Praktische Wege zur Konfliktlösung für Lehrer, Eltern und Sozialpädagogen

von Karl Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 225 Taschenbuchseiten.

Prof. Dr. phil. Karl Bekker studierte Erziehungswissenschaft, Psychologie und Gesellschaftswissenschaft, war 15 Jahre lang in der Erziehungspraxis als Lehrer und Schulleiter tätig und von diesem Praxisfeld ausgehend in der Erziehungs- und Lebensberatung von Eltern und Kindern. Außerdem wirkte er etliche Jahre in der Lehrerausbildung. Er war Lehrstuhlinhaber für Erziehungswissenschaft im Fachbereich Sozialwesen der FHS Münster und vertrat dort außerdem das Fach Didaktik und Methodik der Sozialpädagogik.

Neben den bereits erwähnten Faktoren ist dem Autor für sein Verhalten und Erleben als Erzieher nicht unbedeutsam, dass seine Vorfahren (Vater, Großvater) Schulpädagogen waren, er innerhalb einer Geschwisterschar von 5 Kindern aufwuchs und selbst Familienvater ist.

Karl Bekker schrieb dieses Buch 1972. Es ist noch immer erschreckend aktuell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Anleitung zur Kindererziehung

Praktische Wege zur Konfliktlösung für Lehrer, Eltern und Sozialpädagogen

von Karl Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 225 Taschenbuchseiten.

––––––––

Prof. Dr. phil. Karl Bekker studierte Erziehungswissenschaft, Psychologie und Gesellschaftswissenschaft, war 15 Jahre lang in der Erziehungspraxis als Lehrer und Schulleiter tätig und von diesem Praxisfeld ausgehend in der Erziehungs- und Lebensberatung von Eltern und Kindern. Außerdem wirkte er etliche Jahre in der Lehrerausbildung. Er war Lehrstuhlinhaber für Erziehungswissenschaft im Fachbereich Sozialwesen der FHS Münster und vertrat dort außerdem das Fach Didaktik und Methodik der Sozialpädagogik.

Neben den bereits erwähnten Faktoren ist dem Autor für sein Verhalten und Erleben als Erzieher nicht unbedeutsam, dass seine Vorfahren (Vater, Großvater) Schulpädagogen waren, er innerhalb einer Geschwisterschar von 5 Kindern aufwuchs und selbst Familienvater von 5 Kindern ist.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

––––––––

  1. Zur Krise der pädagogischen Beziehungen

In vielen unserer Familien, Schulen und Heimen wird das Erzieherische in einem unglaublichen Maße mit Füßen getreten, und zwar durch Aktionen und Reaktionen der für die jeweiligen Lebenskreise verantwortlichen Pädagogen, mit denen sie das Erzieherische aussperren, statt es zu ermöglichen.

An unseren öffentlichen Schulen ist ein allgemeines Abschieben üblich: von einer erziehungsträchtigen Führung im Ganzen zur Stoffvermittlung, zur Diktatur, zur Dressur; vom unbequemen Lernschüler zum Sitzenbleiber, vom unbequemen Gymnasiasten zum Realschüler, zum Hauptschüler, zum Sonderschüler, zum Heiminsassen. Die letzten Instanzen in dieser Kette gleichen Auffanglagern, die nicht weiterschieben können, es sei denn, von Heim zu Heim.

Auch in etlichen Familien ist diese Tendenz zu beobachten. Man möchte am liebsten die eigentliche Verantwortung den Institutionen aufbürden; der Schule, der Kirche, der Erziehungsberatungsstelle, dem Heim.

Insgesamt folgt ein derartiges Erzieherverhalten der Formel: Irgendetwas muss da wohl schuld sein; die Trotzphase, die Pubertät, die Dummheit, die Erbanlage, die Zeitverhältnisse oder anderes mehr; nur ich als Pädagoge bin es in keinem Falle, und grundsätzlich muss da wohl irgendein anderer zuständig sein; ich bin es nicht, ich darf es in keinem Falle sein, denn sonst finge ja meine pädagogische Verantwortung erst richtig an.

Soweit dies den Lehrer betrifft, beginnt die Misere schon mit der Ausbildung. Befragt man Lehramtsanwärter für Grund- und Hauptschulen, nach welchen Vorstellungen sie die einzelnen nun auf sie wartenden Aufgaben der Schulpraxis bewältigen wollen, werden – von wenigen Ausnahmen abgesehen – fachgebundenes Wissen und didaktisch-methodische Einzelinformationen wiedergegeben.

Anhand von Besprechungen erteilter Unterrichtslektionen und mit Hilfe von Referaten über Rechen-Methodik, Deutsch-Methodik, das Wesen der Kurzgeschichte und dergleichen nimmt die Ausbildung ihren weiteren Gang bis zur 2. Staatsprüfung, in deren praktischem Teil dann Unterrichtslektionen zu erteilen sind.

Als Kriterium für einen guten oder schlechten Unterricht gelten die Einhaltung von vorgegebenen Zeitplänen, die Beachtung einer angemessenen stufenartigen Verlaufsform, die Berücksichtigung bestimmter Unterrichtsprinzipien sowie der jeweils auf Klasse und Fach bezogenen Leistungsnormen und Grundsätze, besonders, soweit diese Leitideen des Unterrichts in den verbindlichen Richtlinien enthalten sind.

Erreicht ein Lehrer nicht, dass Kinder im gewünschten Sinne mitarbeiten und Fortschritte machen, wird man ihm Fehler in der Beachtung didaktisch-methodischer Grundsätze nachweisen. Alle Besprechungen laufen also mehr oder weniger darauf hinaus: noch mehr Anschauung, noch mehr Selbsttätigkeit, noch mehr Lebensnähe und dergleichen mehr. Wenn nun dennoch zu viel Gleichgültigkeit und ungesammeltes Verhalten, Lärm im Klassenzimmer und ähnliche Störungen offenbar werden, wird ihm vom Schulrat, Schulleiter oder Arbeitsgemeinschaftsleiter etwa gesagt: „Die gesamte Disziplin ist schlecht, das muss hier noch ganz anders werden!“

Wie das konkret ins Werk zu setzen ist, darüber schweigt man sich von Seiten der Ausbildungs- und Fortbildungsleiter ebenso wie von Seiten der Schulaufsichtsbeamten – von seltenen Ausnahmen abgesehen – entweder aus, oder man gibt Ratschläge, wie das über den Unterricht zu schaffen sei, und hat damit selbst wieder etwas sicher Gelerntes oder Angelesenes in der Hand, auf dessen Basis man zu diskutieren versteht, wobei man im Grunde den hilfesuchenden Junglehrer immer mehr in die bange Frage hineintreibt: „Warum gelingt es bei mir nicht?“

Aber es gibt da eine weitere Ebene in unserer Schulwelt, auf der die Disziplinfrage, um die es ja hier eigentlich geht, diskutiert wird, weil sie sich dort immer wieder als Gesamtaufgabe unausweichlich stellt, nämlich auf der kollegialen Ebene bei der Bewältigung praktischer Aufgaben im Schulalltag. Dort erhält der Junglehrer zu dieser Frage meistens eine weniger vornehme, aber dafür ehrlichere, wenn auch meistens nicht zeitgemäße Auskunft.

„Verschaffen Sie sich Autorität!“, sagte ein kollegialer Schulleiter einem Hochschulabsolventen und meinte damit nach genauerem Befragen, der Junglehrer solle sich so furchterregend verhalten, dass Zucht und Ordnung in der Klasse herrsche; dann würde auch von selbst etwas gelernt werden. Dies ist in der Tat eine weit verbreitete Ansicht.

Ein kürzlich in den Ruhestand getretener Schulleiter begann zeit seines Berufslebens den Unterricht mit folgenden Kommandos: „Vordermann! Gerade sitzen! Rücken anlehnen! Hände falten! Augen nach vorne! Gut zuhören!“ Und dann lief der Unterricht ab. Dabei wurden die Formalstufen und einige Unterrichtsprinzipien berücksichtigt, soweit das unter diesen Vorbedingungen noch möglich war.

Der Schulleiter konnte gut erklären, darbieten, einüben, abfragen, prüfen und dergleichen. Einige Schülergenerationen von je 8 Jahren haben bei ihm viel Wissenswertes und Nützliches gelernt, und er stand in dem Ruf, ein tüchtiger Lehrer zu sein. Disziplinschwierigkeiten gab es bei ihm nicht.

Obwohl er unter verschiedenen Gesellschaftsordnungen und Zeitverhältnissen diente, änderte er sein Konzept der Disziplinierung im Grundsätzlichen nicht. Nur teilte er früher mehr Schläge aus, wenn die anfangs gegebenen Kommandos nicht ordnungsgemäß ausgeführt wurden. Später, als die körperliche Züchtigung mehr und mehr in Misskredit geriet, wurden statt der Schläge zunehmend Strafarbeiten und bedrohende Zurechtweisungen als Mittel zur Durchsetzung der geforderten Verhaltensformen eingesetzt.

Den fragenden Junglehrern riet dieser Schulleiter, zur Behebung ihrer Schulschwierigkeiten ebenfalls seine Mittel anzuwenden. Aber die Lehranfänger hatten zumeist nicht das Mark, mit großer Selbstverständlichkeit – wie ihr älterer Kollege – in einer demokratischen Gesellschaftsordnung junge Menschen mit autokratischen Mitteln zu führen. In der üblen Lage, das eine nicht mehr zu wollen oder zu können, über zeitgemäße demokratische Führungsweisen in der Schule jedoch nicht zu verfügen und belehrt zu sein, gerieten manche junge Lehrpersonen in große Not bei der Bewältigung ihrer schulischen Alltagsaufgaben, besonders die Lehrerinnen, denen es noch viel schwerer fiel als ihren männlichen Kollegen, sich trotz veränderter Gesellschaftsordnung irgendwelche furchteinflößenden Manieren anzueignen, mit denen man „Herr im Hause“ zu bleiben hoffte.

Aber auch die, welche sich mit diesen Mitteln durchzusetzen verstanden – also in kritischen Lagen den störenden Schüler zusammenschrien oder ihm den Gedichtband um die Ohren schlugen, um dann in dem so freigekämpften Raum das ausgewählte Kunstwerk vorzutragen –, auch diese Lehrpersonen bekannten manchmal, dass sie mit ihrer pädagogischen Arbeit nicht ganz zufrieden seien. Kein Wunder! Waren sie doch offenbar nur Sieger in einem Verhältnis, das im Grunde ein dauerndes Kampfverhältnis war, während es doch ein erziehendes sein sollte, was etwas völlig anderes ist.

Die Schulwirklichkeit zeigt also, dass vor, während und nach dem Unterricht noch andere Kriterien für eine erziehungsträchtige Führung von Kindern und Jugendlichen maßgebend sein können und müssen, die mit den Unterrichtsprinzipien nicht zu erfassen sind. Diese Kriterien werden besonders dann gefordert, wenn der glatte Unterrichtsablauf durch ein einmaliges oder dauerndes Fehlverhalten von Schülern gestört wird. Faulheit, Nachlässigkeit, Unordentlichkeit, Liederlichkeit, Schwatzhaftigkeit, unregelmäßiger Schulbesuch, mangelhafte Konzentration, Streitsüchtigkeit, Aufsässigkeit, Frechheit u.a.m. sind einige Bezeichnungen für die hier gemeinten Tatbestände des schulischen Alltags.

Gewiss werden diese unerwünschten Seiten des Schülerverhaltens gehäuft auftreten, wenn die gesamten Schulveranstaltungen mehr oder weniger auf die Erteilung von Unterricht reduziert sind und außerunterrichtliche Veranstaltungen – wie Wanderungen, Feiern und dergleichen – von den Lehrern als lästige Zusatzpflichten und von den Schülern hauptsächlich als willkommene Unterbrechung des leidigen Unterrichts empfunden werden. Da stehen sich Lehrer und Schüler nicht selten wie zwei Blöcke gegenüben, die in manchen Zügen ihres Verhaltens den Anschein erwecken, als seien sie der irrigen Auffassung verfallen, man müsse sich gegenseitig das Leben schwer machen.

  1. Abgrenzung der Begriffe mittelbarer und unmittelbarer erziehender Umgang

Das, was aus einer echten pädagogischen Verantwortung heraus der Erzieher mit dem Zögling zu tun hat, kann umfassend als erziehender Umgang bezeichnet werden. Dieser erziehende Umgang im Ganzen kann sich in Familie, Schule, Heim und anderen Lebenskreisen je verschiedener Formen gemeinsamen Tuns bedienen, die alle von der pädagogischen Absicht des hier und dort verantwortlichen Führers durchgestaltet sind. Solche Lebensformen in Familie, Schule, Heim und anderen Gemeinschaftskreisen sind mittelbare Teilbereiche des sie umfassenden erziehenden Umgangs, der zwischen Erzieher und Zögling waltet.

Ein weiterer Teilbereich des erziehenden Umgangs ist der unmittelbare Umgang des Erziehers mit dem Zögling, unmittelbar deshalb, weil er sich unmittelbar von Person zu Person ereignet, ohne dass zwischen ihnen im Augenblick des Geschehens ein gemeinsames Tun zu stehen braucht, wie es der mittelbaren Beziehung zugrunde liegt.

Es stehen aber unmittelbarer und mittelbarer Umgang als Teile des erziehenden Umgangs im Ganzen nicht beziehungslos nebeneinander. Wenn z.B. ein Fehlverhalten des Zöglings eintritt, das seine personale Reifung gefährden könnte oder die verschiedenen Formen und beteiligten Personen eines Gemeinschaftslebens stört, fängt für den einsichtigen Erzieher eine Führungsaufgabe eigener Art an. Die pädagogische Verantwortung wird nun herausgefordert zur Gestaltung einer unmittelbaren pädagogischen Situation, d.h., nicht in der Art einer Lehr- und Lernsituation, einer Feiersituation, Wander-, Arbeitssituation oder als eine andere mittelbare Umgangsbeziehung in Familie, Heim und Schule, sondern als Situation unmittelbar von Person zu Person.

Erst bei einer erziehungsträchtigen Führung, die auch die unmittelbare Beziehung von Person zu Person zu gestalten vermag, können an Stelle zerfallener Formen mittelbaren Umgangs neue erwachsen, überlieferte Formen echt übernommen werden, deren es viele gibt in Familie, Schule und Heim, kurz, überall dort, wo Menschen in erzieherischer Absicht entsprechend durchgestaltete Lebensformen geschaffen haben.

So müssen also von einem verantwortungsbewussten pädagogischen Führer eine sachgemäße Gestaltung des unmittelbaren erziehenden Umgangs sowie eine sachgemäße Gestaltung der zu seinem jeweiligen Verantwortungsbereich gehörenden Formen des mittelbaren erziehenden Umgangs gefordert werden. Im Überblick lässt sich dieser Zusammenhang so darstellen:

image

Es gibt also für den Pädagogen grundsätzlich zwei Weisen des Zugangs zur Person des Zöglings, zwei Weisen des erziehenden Umgangs mit ihm, die unmittelbare und die mittelbare. Der unmittelbare erziehende Umgang ist den verschiedenen Formen mittelbaren erziehenden Umgangs in einer sie durchstimmenden Mächtigkeit beigeordnet. Wo dieser Zusammenhang nicht gesehen wird, nicht danach gehandelt wird, weil vielleicht die schöpferische Gestaltungskraft zur unmittelbaren pädagogischen Führung heranwachsender Menschen nicht ausreicht, und zwar besonders bei akutem oder schon eingeübtem Fehlverhalten, entstehen Kümmerformen pädagogischer Führung.

  1. Mittelbarer erziehender Umgang
  1. Unterricht als mittelbare Umgangsform

Für die in pädagogischer Absicht durchgestalteten Schulveranstaltungen gilt, dass all ihre Formen nur Teile eines erziehenden Umgangs des jeweils verantwortlichen Lehrers mit den Schülern darstellen. So gesehen ist auch Unterricht nur ein Teil des umfassenden erziehenden Umgangs und zwar eine mittelbare Form. Allerdings nimmt er zeitlich den Hauptteil der sichtbaren Veranstaltungen ein, und sicherlich wäre die Schule nicht vorhanden, wenn nicht unterrichtet werden müsste.

Aber aller Unterricht ist erst sinnvoll für die optimale Entfaltung der heranwachsenden Person, wenn die einzelnen Unterrichtsveranstaltungen in einen umfassenden erziehungsträchtigen Umgang eingebettet sind und gestützt werden von der unmittelbaren Umgangsbeziehung zwischen Erzieher und Zögling. Das Verhältnis von Unterricht als mittelbarer Form des erziehenden Umgangs zur unmittelbaren Umgangsweise mit dem Zögling lässt sich folgendermaßen veranschaulichen:

image

Über das Unterrichten, besonders über den Schulunterricht, ist schon viel nachgedacht und geschrieben worden.

„Ein Lehrer, der eine Schulklasse unterrichtet, beabsichtigt dabei immer, dass seine Schüler zu einem ‚Gegenstand‘, zu bestimmten ‚Gehalten‘ oder ‚Inhalten‘ in Beziehung treten. Sie sollen zu Fertigkeiten gelangen, Kenntnisse und Einsichten gewinnen. Diese bildende Bewegung findet unter der Führung und mit Hilfe des Lehrers statt, sie wird von ihm beabsichtigt und geplant, aber sie muss tatsächlich vor sich gehen, wenn der Unterricht nicht tot oder leer sein soll [1]. Wie das ins Werk zu setzen sei, darüber gibt die recht umfängliche didaktisch-methodische Literatur vielseitige und gründliche, wenn auch nicht immer übereinstimmende Auskünfte.

„Die Unterrichtslehre ist Theorie des Unterrichts; als solche kann sie reine Theorie sein, d.h., sie kümmert sich bei der Darstellung nicht um die Angelegenheiten der Praxis und die Anliegen des Praktikers; sie kann praxisbezogene Theorie sein und dies in einem mehrfachen Sinn: a) sie entwickelt ihre Gedanken im Anschluss an die Praxis, b) im Hinblick auf die Praxis, c) aus der Praxis und auch für die Praxis“[2]. Sie will „die vielschichtige Wirklichkeit des Unterrichts und das vielgestaltige Gefüge des Unterrichtens mit seinen mannigfaltigen Faktoren“[3] aufhellen, damit in den anfallenden Situationen sichere Entscheidungen für den Lehr- und Lernprozess getroffen werden können.

Abgesehen von Untersuchungsergebnissen über das Lernen an sich, über den Unterrichtsstoff, über die Ordnung des Lehr- und Zeitplans sowie über die Organisationsformen der Lehr- und Lerngemeinschaft, sind bei der Bewältigung praktischer Unterrichtsaufgaben und ihrer Beurteilung in Vergangenheit und Gegenwart vor allem immer wieder zwei Gesichtspunkte herangezogen worden: die Stufen oder Phasen einer Unterrichtseinheit und die Unterrichtsgrundsätze.

  1. Verlaufsform von Unterricht

Das Unterrichtsgeschehen gliedert sich in einzelne Phasen. Diese Abschnitte können bei jedem natürlichen Lernen beobachtet werden. In Entsprechung zu den unterschiedlichen Unterrichtseinheiten und Organisationsformen und den damit verbundenen Akzentverschiebungen lassen sich die einzelnen Phasen des jeweiligen Lehr- und Lernprozesses ziemlich genau erkennen und benennen.

Jedoch sind Anzahl und Bezeichnungen der im Unterrichtsverlauf zu beobachtenden Phasen bei den einzelnen Autoren der vielen didaktisch-methodischen Bücher keineswegs übereinstimmend angegeben. Das macht auf den ersten Blick stutzig. Die verschiedenen Bezeichnungen für Anfangs-, Mittel- und Endphasen ergeben sich, wenn man verschiedene Stoffgebiete, Stoffeinheiten und Organisationsformen des Unterrichts zugrunde legt oder auch psychologische Annahmen, wie z.B. Herbart es tat. Aber „in einem gewissen, tieferen Sinne stimmen sie doch weitgehend überein“[4]; das zeigt besonders augenfällig eine Übersichtstafel von Josef Dolch[5]:

Lehr- und Unterrichtsstufen

image

image

Durch die Vielfalt der Stufenbezeichnungen werden dem Praktiker zahlreiche Gesichtspunkte angeboten, die Verlaufsgestalt eines bestimmten Unterrichts zu gliedern und die einzelnen Abschnitte möglichst treffend zu bezeichnen. „‘Einstimmung‘ passt z.B. oft, wo ‚Problemstellung‘ fehl am Platze wäre, ebenso ist einmal ‚Ausdruck‘ besser als Anwendung‘“[6].

  1. Unterrichtsgrundsätze

Neben der Betrachtungsweise des Unterrichts als einer Verlaufsform mit unterscheidbaren Phasen zwischen Ausgangslage und Ziel des Geschehens hat sich als Mittel zur klärenden Besinnung über den Lehr- und Lernprozess den Frage nach den Unterrichtsgrundsätzen erwiesen.

Wie die beschriebenen Unterrichtsphasen weichen auch die von den einzelnen Autoren herausgestellten Grundsätze zur Durchführung des Unterrichts zum Teil voneinander ab. Das wird schon äußerlich sichtbar durch Unterschiede in der Anzahl, der Reihenfolge und den Bezeichnungen der aufgestellten Forderungen. Ebenso weichen in diesem Punkt die verbindlichen Richtlinien voneinander ab, welche die einzelnen Länder der Bundesrepublik für ihre Schulen herausgebracht haben.

Folgende Aussagen mögen als Beispiele für Unterrichtsgrundsätze gelten:

Georg Kerschensteiner:

Das Prinzip der Totalität

Das Prinzip der Aktualität

Das Prinzip der Autorität im Bildungsverfahren

Das Prinzip der Freiheit im Bildungsverfahren

Das Prinzip der Aktivität

Das Prinzip der Sozialität

Das Prinzip der Individualität im Bildungsverfahren[7]

Franz Xaver Eggersdorfer:

Die Spontaneität oder das Arbeitsprinzip

Die Aufmerksamkeit

Das Anschauungsprinzip

Das Heimatprinzip

Das Sozialprinzip

Wahrheit und Wert

Festigung der Bildungsinhalte[8]

Oswald Opahle:

Gemeinschaft

Persönlichkeit

Konzentration (Ganzheitlichkeit)

Selbsttätigkeit

Anschauung

Individualität

Freiheit[9]

Georg Wössner:

Der Grundsatz der Anschauung

Der Grundsatz der Selbsttätigkeit

Der Grundsatz der Ganzheit[10]

Ferdinand Rettenmaier:

Das Prinzip der Anschauung

Das Heimatprinzip

Das Sprachprinzip

Das Prinzip der Selbsttätigkeit[11]

Franz Huber:

Der Grundsatz der Lebensnähe (Aktualität)

Der Grundsatz der Schülergemäßheit (6. Aufl.: Entsprechung)

Der Gedanke der Lebensdeutung und Lebenshilfe

Das Prinzip der „exemplarischen Lehre“[12]

Der Grundsatz der Anschaulichkeit (Anschauungsprinzip)

Der Grundsatz der Selbsttätigkeit

Der Grundsatz der Erfolgssicherung (Leistungsprinzip)[13]

Karl Stöcker:

Das Anschauungsprinzip

Das Aktivitätsprinzip

Das Prinzip der Lebensnähe

Das Prinzip der Erfolgssicherung und Übung

Das Prinzip der Kindgemäßheit[14]

Josef Tille:

Die Lebensnähe des Unterrichts

Die Anschaulichkeit

Die Kindgemäßheit

Der Grundsatz der Selbsttätigkeit

Die Sicherung des Unterrichtserfolges

Das Ganzheitsprinzip[15]

Hugo Reiring:

Lernpsychologische Grundsätze: Aufmerksamkeit, Anschauung, Apperzeption, Selbsttätigkeit

Anthropologische Grundsätze: Individualität, Sozialität

Ontologische Grundsätze: Fachlichkeit, Ganzheitlichkeit, Wertigkeit[16]

Walter Guyer:

Gesamtunterricht und Konzentrationsprinzip

(thematische Unterordnung der Lerngegenstände unter ein einheitliches Ganzes)

Unterricht auf werktätiger Grundlage

(Beachtung des Ausgangspunktes für verschiedene Schülerkategorien)

Das Anschauungsprinzip

Arbeitsprinzip und Arbeitsschulgedanke

(zur Verwirklichung der Selbsttätigkeit)

Ganzheitsprinzip[17]

Walter Horney:

Angemessenheit

Bedeutsamkeit

Ganzheit

Lebensnähe

Das Exemplarische

Anschauung

Aktivität

Individualisierung

Ökonomie

Sicherung des Erfolges durch Übung[18]

Hans-Karl Beckmann:

Sachgerechtigkeit (der Unterrichtsinhalte)

Entwicklungsgemäßheit

Aktualität

Anschauung

Heimatprinzip[19]

Richtlinien für die Volksschulen des Landes Nordrhein-Westfalen (Erlass vom 8.3.1955)

Kindgemäßheit

Anschaulichkeit

Lebensnähe

Das Exemplarische (nicht ausdrücklich benannt, aber sinngemäß im 3. Absatz des Kapitels „Bildungsplan“ beschrieben)

Selbsttätigkeit[20]

Bildungsplan für die bayrischen Volksschulen (1955):

Grundsatz der Individualisierung und personalen Erziehung

Grundsatz der Gemeinschaftspflege

Grundsatz der Entwicklungsgemäßheit

Grundsatz der Anschaulichkeit

Grundsatz der Ganzheit

Grundsatz der Selbsttätigkeit

Grundsatz der Erfolgssicherung

Grundsatz der Lebens- und Gegenwartsnähe

Grundsatz der Heimatverbundenheit

Grundsatz der Weltoffenheit

Grundsatz der Innerlichkeit und der Wertentscheidung

Grundsatz der Toleranz[21]

Insgesamt geben die Unterrichtsgrundsätze, die das didaktisch-methodische Nachdenken in Fachbüchern und Länderrichtlinien bisher aufgestellt hat, dem fragenden Praktiker mancherlei Gesichtspunkte für die eigene Unterrichtsgestaltung an die Hand.

Tatsächlich stimmen die erhobenen Forderungen mehr überein, als die Verschiedenartigkeit der gewählten Bezeichnungen zunächst erscheinen lässt. Der Grundsatz der Anschauung ist in allen angeführten Quellen vorhanden. Die Forderung, die Eigeninitiative des Zöglings zu ermöglichen, ist ebenfalls durchgängig, wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen: Selbsttätigkeit, Aktivität, Spontaneität. Weitgehend synonyme Begriffe sind z.B.: Angemessenheit – Entsprechung – Individualität – Schülergemäßheit – Kindgemäßheit – Entwicklungsgemäßheit;

Gemeinschaft – Sozialität;

Ganzheit – Ganzheitlichkeit – Gesamtunterricht – Konzentration.

Es würde den Zusammenhang dieser Arbeit sprengen, noch weiter auf die in den didaktisch-methodischen Werken allerorten nachzulesenden Leitideen einer fruchtbaren Unterrichtsgestaltung einzugehen. Nur der Grundsatz der Selbsttätigkeit muss noch genauer betrachtet werden, weil von dorther eine direkte Brücke zu den Prinzipien und Leitsätzen des erziehenden Umgangs führt, nach denen in dieser Untersuchung gefragt wird.

  1. Schülerselbsttätigkeit – ein zentraler Unterrichtsgrundsatz

Der Wert der Schülerselbsttätigkeit oder auch Schüleraktivität, wie sie oft genannt wird, ist unbestritten. Die Forderung ist immer wieder in Unterrichtslehren und Richtlinien der öffentlichen Schulen erhoben worden. Das Wort wird in aller Munde geführt, und doch wird die Sache wenig realisiert. Der Grundsatz der Selbsttätigkeit hat – von beachtenswerten Bemühungen einiger Lehrer und einiger Schulen abgesehen – noch kaum Eingang in die tägliche Unterrichtsgestaltung unserer Schulen gefunden. „So haben wir in der Alltagswirklichkeit des Unterrichts einen ‚lernenden Menschen‘, einen homo scholasticus, der nichts tut, als Bildungsgut in sich einfüllen zu lassen und es bei Gelegenheit wieder von sich zu geben“[22].

Im Interesse der Sache wird man überall dort, wo von der Schülerselbsttätigkeit die Rede ist, genau hinhorchen müssen. Der Begriff wird nämlich in vielfältiger Weise benutzt. Gerade wegen seiner hervorragenden Stellung in der pädagogischen Diskussion ist er auch sehr geeignet, das Eigentliche zu verdecken.

So liest man beispielsweise in den 1955 für die Volksschulen in Nordrhein-Westfalen erlassenen Richtlinien die Forderung, „die Selbsttätigkeit der Kinder zu pflegen. Nur durch unausgesetztes ernstes Bemühen“ – erklärt der Text dann weiter –, „sich Arbeitstechniken und Lösungsmethoden so zu eigen zu machen, dass er sie sinnvoll anzuwenden vermag, kann der Schüler zur Selbständigkeit gelangen und die Fähigkeit der Selbstbildung erwerben[23]“. Das kann wenig und viel, in keinem Fall aber alles beinhalten,was für eine fruchtbare Schülerselbsttätigkeit erforderlich ist.

––––––––

  1. Schablonengerichtete Aktivität

Wenn z.B. einem Schüler die Gleichung Prozentwert = Kapital mal Prozentsatz geteilt durch 100 vermittelt worden ist und er diese nun mit Fleiß zur Lösung einer beliebigen Anzahl von Textaufgaben benutzt, in denen nach dem Prozentwert gefragt wird, dann vollzieht sich hier zweifellos eine Selbsttätigkeit durch sinnvolles Anwenden einer Lösungsmethode. Das Kriterium einer sinnvollen Anwendung ist in diesem Falle erfüllt, wenn der Schüler es unterlässt, dieses Verfahren auch bei Aufgaben anzuwenden, bei denen z.B. nach dem Prozentsatz oder nach dem Kapital gefragt wird. Solche Fehlgriffe sind jedoch bei den einführenden Übungen nicht so leicht möglich, weil nach der Ordnung der meisten Rechenbücher die einzelnen Kapitelüberschriften angeben, um welche Rechnungsart es sich jeweils handelt.

Bei dieser Unterrichtsart ist es also möglich, eine Anzahl Aufgaben selbsttätig lösen zu lassen, ohne dass der Schüler eine Einsicht in die Gesamtrechenoperation zu haben oder zu nehmen braucht.

Ein Lehrer hat in einem voraufgehenden Unterricht die genannte Formel zur Prozentwertberechnung in erklärender Weise abgeleitet und ist der Meinung, die Schüler seien auch den einzelnen Schritten gefolgt, kurz, die Formel sei hinreichend „durchgenommen“. Er fragt nun seine Zöglinge: „Wie wird noch der Prozentwert ausgerechnet?“ Zwei oder drei Kinder wiederholen, was sie gelernt haben. „Wer kann das noch nicht?“, fragt der Lehrer nun. Keiner meldet sich. Darauf spricht der Lehrer: „Also können wir mit den Übungen anfangen. Schlagt die Seite 67 im Rechenbuch auf! Wer liest die Aufgabe?“ Einige Kinder melden sich; eins wird bestimmt, den Text vorzulesen. In ähnlich kleinen Aktions- und Reaktionsschritten wird die Aufgabe besprochen und dann den Kindern in der Einzelarbeit zur Lösung aufgegeben. Wer fertig ist, verhält sich still und wartet, bis die letzten auch soweit sind und der Lehrer die Ergebnisse vergleichen lässt.

Diese Schüleraktivität liegt an einer sehr kurzen Kette. Sie vollzieht sich im Rahmen der Anordnungen des Lehrers nach einheitlichen Formeln. Demzufolge kann sie des Genaueren als eine schablonengerichtete Schüleraktivität in aufgegebenen Kleinstschritten bezeichnet werden.

Viele Einheiten der täglichen Unterrichtsarbeit in unseren Schulen entsprechen im Grunde dieser Lehr- und Lernweise. Mit ihrer Hilfe können die Schüler das Lesen, Schreiben, Rezepte des Rechnens, des Antwortens, der Niederschriften, der bildlichen Darstellung, des gewünschten Verhaltens und anderer Praktiken mehr erlernen. Hierhin gehört auch insgesamt die fragend-entwickelnde Lehrmethode, bei der das Bildungsgut durch den Lehrer in viele mehr oder weniger willkürliche Einzelstücke zerlegt wird, deren Aneignung der Schüler durch die möglichst selbständige Beantwortung geschickt gestellter Fragen des Lehrers beweisen soll.

––––––––

  1. Methodisierte Aktivität

Im Unterschied zu der eben beschriebenen Form herrscht in einer anderen Klasse eine freiere Unterrichtsweise, wird ein höherer Grad der Schüleraktivität verwirklicht. Dort gibt der Lehrer den Arbeitsplan für einen gewissen Zeitabschnitt bekannt. Er sagt: „Wir wollen uns in der nächsten Zeit mit der Prozentrechnung beschäftigen. Morgen soll der Gesamtarbeitsplan besprochen werden.“

Im Laufe eines klärenden Unterrichtsgespräches tragen die Schüler zu dem Thema Wissen, Erfahrungen, Informationen, Beispiele und Aufgaben aus ihrem Lebenskreis zusammen. Dann wird das engere Ziel festgelegt, zu lernen, wie man den Prozentwert berechnen kann. Nun werden Mittel und Wege der Information und der Aneignung besprochen, schließlich noch Organisationsformen, wie Einzel-, Gruppen- oder Klassenarbeit. So setzt die Aktivität der Schüler schon bei der Planung und der methodischen Aufbereitung ein.

Allerdings bewegt sich der Schüler dabei nicht auf völlig neuen Wegen. Die diskutierten Arbeitsverfahren sind zuvor an ähnlichen Stoffen vielfältig erprobt und geübt worden. Neu ist nur das gerade anstehende Stoffgebiet, zu dessen Erarbeitung bekannte Verfahrenstechniken angewandt werden.

Bei dieser Unterrichtsweise ist gegenüber der zuerst beschriebenen der Bewegungsraum freier Schüleraktivität wesentlich erweitert. Grundsätzlich wird Freiheit bei der Wahl der Mittel zur Erarbeitung des anstehenden Stoffes gewährt. Außerdem können Teilziele selbständig aufgestellt werden. Nach hinreichender Übung in der methodischen Aufbereitung verschiedener Arbeitsvorhaben, in der Ausgliederung von Teilzielen und dem Aussuchen und Einsetzen geeigneter Mittel ist das Gesamt dieser Klasse bis dahin gefördert, dass die Schüler weitgehend eigentätig Ziele und Arbeitsvorhaben im Ganzen aufstellen und nicht nur innerhalb gegebener Gesamtaufträge aktiv werden.

Aber je mehr in dieser Weise geübt wird, umso mehr sinkt diese Aktivität zur Routine ab und desto weniger kann man hoffen, dass die eigentlich schöpferische Aktivität, von der noch später die Rede sein wird, sich dabei entfaltet. Jedoch lernt der Heranwachsende dabei, wie man sich autodidaktisch bilden kann.

Es wurden zwei Unterrichtsweisen vorgestellt, ihre wesentlichen Merkmale beschrieben. Hinsichtlich der Gewährung eines freien Bewegungsraumes für den Schüler und der Ermöglichung produktiver Aktivität lassen sich verschiedene Grade unterscheiden.

Bietet die Freisetzung der früher beschriebenen Schüleraktivität ersten Grades, welche aufgrund ihrer hervortretenden Merkmale als schablonengerichtete Schüleraktivität in aufgegebenen Kleinstschritten bezeichnet wurde, hauptsächlich die Möglichkeit, Fertigkeiten, Wissensstoffe und genormte Verhaltensweisen zu erlernen, so können bei dem zuletzt beschriebenen Unterrichtsverfahren noch Methoden der Selbstbildung erworben werden. Demzufolge handelt es sich hier um einen zweiten Grad der Freisetzung der Schülerselbsttätigkeit, die ihren Merkmalen gemäß als methodisierte Schüleraktivität zu angegebenen oder frei gewählten Zielen bezeichnet werden kann.

Läuft das Unterrichtsgeschehen in der Weise schablonengerichteter Schüleraktivität in aufgegebenen Kleinstschritten ab, wie es als lehrerdominante Art z.B. nach dem Herbart-Zillerschen Verfahren erfolgt und als programmdominante Art beim sogenannten programmierten Lernen, liegen Thema, Ziel und Methode jeweils in der Hand des Lehrers bzw. Programmierers, nach dessen Konzept eine schrittweise Lernentsprechung auf Seiten des Schülers erhofft wird.

Demgegenüber führt eine Arbeitsweise, die durch eine methodisierte Schüleraktivität zu angegebenen oder frei gewählten Zielen strebt, ihrem Wesen gemäß dahin, die Schüler mit den Methoden des Lernens vertraut zu machen, wie z.B. Hugo Gaudig es tat, um sein bekanntes Hochziel zu verwirklichen, nämlich „ein Handeln aus eigenem Antrieb, mit eigenen Kräften, auf selbstgewählten Bahnen, zu frei gewählten Zielen“[24]. „Und war man (oft erst nach Jahren) mit dieser ‚Einschulung‘ soweit, so konnten nun die Schüler, wie vordem der Lehrer, unter einer stark zurücktretenden, fast unmerklichen Leitung des Lehrers die Unterrichtsstoffe methodisch bearbeiten, und die Klasse war in eine Schar kleiner Lehrer verwandelt“[25].

Beide Verfahrensweisen haben etwas Starres an sich. Nur besteht ein gradueller Unterschied darin, ob der Lehrer die Fertigkeiten und Kenntnisse selbst „eintrichtert“ oder die erforderlichen Rezepte einüben lässt, der angestrebten Fertigkeiten und Kenntnisse durch allerlei Hilfsmittel möglichst selbständig habhaft zu werden.

Klassen, die nach dem zweiten Modell geführt worden sind, machen auf den uneingeweihten Beobachter einen sehr guten Eindruck, weil die zu beobachtende Eigeninitiative der Schüler besticht. In der Tat sollten wir froh sein, wenn die Mehrzahl unserer Kinder im Laufe ihrer Schulzeit soweit gefördert würde; denn hinter all diesen Bemühungen liegt ja die sachlich begründete Hoffnung, der Absolvent werde dann in den Stand gesetzt sein, sich selbständig weitere Bildungsstoffe zu erschließen und auf diese Weise seine Bildung und Erziehung selbst in die Hand zu nehmen. Gemessen an dem, was im Durchschnitt tagaus, tagein in unseren Schulen geschieht, was sich mehr oder weniger gekonnt auf der Ebene der zuerst gekennzeichneten schablonengerichteten Lernweise vollzieht, wäre die Realisierung der methodisierten Schülerarbeit ein großer Fortschritt.

Aber die Nähe zu einem statisch aufgefassten Bildungsbegriff bleibt dennoch, weil hier Bildung verstanden wird als „Rezeptologie“ der Teilhabe an Bildungsstoffen. Und über diesen Stand reicht die bereits erwähnte Stelle der Richtlinien von Nordrhein-Westfalen nicht hinaus: „Nur durch unausgesetztes ernstes Bemühen, sich Arbeitstechniken und Lösungsmethoden so zu eigen zu machen, dass er sie sinnvoll anzuwenden vermag, kann der Schüler zur Selbständigkeit gelangen und die Fähigkeit der Selbstbildung erwerben“[26]. Hier haben die sonst vorzüglichen Richtlinien in ihrem didaktischen Teil, wo ausdrücklich „die Selbsttätigkeit der Kinder“[27] gefordert wird, gewissermaßen einen zu engen Flaschenhals, durch den alles hindurchgezwängt werden soll, damit sich die Schule als „Stätte der Menschenbildung“[28] realisiere.

Gewiss gehören die beschriebenen Aktivitätsgrade 1 und 2 zum Ausreifen der Person dazu. Durch sie hindurch ereignet sich Reifung, aber sie kann sich nicht in ihnen erschöpfen. Wenn von der Ausreifung der Person im eigentlichen und umfassenden Sinne gesprochen werden soll, muss noch ein weiterer Grad der Aktivität vollzogen werden.

Daseinsgestaltung im eigentlichen Sinne aktualisiert sich erst in einer Beziehung, die z.B. Martin Buber „dialogisches Leben“[29] nennt. Es wird als Antwort auf das Seiende vollzogen, und zwar „ohne Vorsatz“ und „ohne Gewöhnung“, wie Buber sagt, d.h. also, ohne „Lösungsmethoden“, um noch einmal die Ausdrucksweise der zuvor zitierten Richtlinien zu nehmen.

––––––––

  1. Dialogische Beziehung und schöpferische Aktivität

Nach Martin Buber ereignet sich echte „Zwiesprache“[30] als „Wesenshandlung des Menschen“[31] durch „unser Eingehen auf die Situation, in die Situation, sie, die uns eben jetzt angetreten hat, deren Erscheinung wir nicht kannten und nicht kennen konnten, weil es ihresgleichen noch nicht gegeben hat“[32].

Erschöpft sich die Aktivierung des Schülers in den beschriebenen Graden eins und zwei, ist der Raum des dialogischen Lebens im Sinne Bubers noch nicht betreten. Vielmehr bedeutet das „Erwerben von Kenntnissen“[33] ... „zumeist das Hindernis für ein Leben des Menschen im Geist und bestenfalls die Materie, die darin, bewältigt und eingeformt, aufzugehen hat.

Das Hindernis. Denn die Ausbildung der erfahrenden und gebrauchenden Fähigkeit erfolgt zumeist durch Minderung der Beziehungskraft des Menschen – der Kraft, vermöge deren allein der Mensch im Geist leben kann“[34].

Also nicht durch methodisierte Beziehungen erschließt sich die Wirklichkeit, sondern durch intuitives Schauen und gelebte Beziehung, und zwar in drei unterscheidbaren „Sphären“: als „Leben mit der Natur“, als „Leben mit den Menschen“ und als „Leben mit den geistigen Wesenheiten“[35].

Unter „Natur“ wird hier die gesamte tote oder lebendige Gegenstandswelt gemeint; „es kann ein Tier sein, ein Gewächs, ein Stein. Keine Art von Erscheinung, keine Art von Begebenheit ist grundsätzlich aus der Reihe derer geschaltet, durch die mir jeweils etwas gesagt wird.“ ... „Die Möglichkeitsgrenzen des Dialogischen sind die des Innewerdens“[36].

Ganz ähnlich äußert sich Romano Guardini. Ihm folgend kann man erst vom „geistbestimmten Leben“ sprechen, sobald „die Wahrnehmung geistig durchgearbeitet wird und zur Erfassung des Sinnes führt, bzw. von Anfang an auf Sinnerfassung hingeordnet ist“[37].

Diese Sinnerfassung ereignet sich im Dialog mit dem „Gegenstand“, der „um seiner eigenen, in sich selbst ruhenden Bedeutung willen wert“ ist, „dass er sei“. ... „Gegenstände sind Ideen, Normen und Werte, die in sich gelten; um ihrer eigenen Gültigkeit willen, nicht weil sie für mich etwas bedeuten. Gegenstände sind die Wirklichkeiten; Dinge, Vorgänge, Verhältnisse, das Seiende und Geschehende, so wie es in sich und aus sich ist und geschieht. Also: die leblose Welt. Das Leblose in der Mannigfaltigkeit seiner Formen. Die Menschen; jeder in seinem Eigenwuchs und Eigenschritt und in der besonderen Teleologie seines Lebens. Die Geschichte. Der ganze Bereich der von Menschen hingestellten, weitergegebenen, fortgebildeten Schöpfungen, die objektive Kultur. Ferner die personalen Beziehungen; das Du; das Wir in allen seinen Formen, die überindividuellen Ganzheiten. Dahin gehören die religiösen Wirklichkeiten, insbesondere der in der Offenbarung mir entgegentretende Gott ... Das alles gesehen in seiner eigenen Art, in seiner eigenen Initiative; in seiner besonderen Teleologie, wie sie in ihm selbst zentriert und macht, dass es nicht um meinetwillen, sondern in sich und für sich da ist“[38].

Das sich daraus ergebende Postulat heißt also: „Erziehung dazu, den Gegenstand aus ihm selbst heraus zu erblicken; ihn anzuerkennen; seine Forderungen zu verstehen; ihm nach dem Recht dieser Forderungen zu gehorchen“[39]. Es gilt, Bedingungen zu schaffen, damit der junge Mensch „offen“ werde, „sichtig“ werde, „für das, was ist“[40], damit sich der Dialog mit den Gegenständen ereigne; und das eben leiten keine „Programme und Rezepte“[41], sondern es ereignet sich in dem Maße, wie es gelingt, im Schüler die „schöpferischen Zentren“ zu wecken“[42].

Bei einigen Autoren findet sich der beschriebene „zwiesprachige“ Bezug zur Gegenstandswelt und ihre Bedeutung für eine reife Daseinsgestaltung der Person unter dem Stichwort Sachlichkeit wieder.

Auch bei Guardini ist von sachlichen Beziehungen die Rede, die er den zweckhaften gegenüberstellt. Zur Veranschaulichung beschreibt er die zweckhafte Beziehung eines Holzfällers zu einem Baum und die sachliche eines Künstlers.

„Im ersten Fall war ich immer bei mir, habe mich nie aus den Augen verloren bzw. bin immer zu mir zurückgekehrt. Beim zweiten war ich von mir weg; eingegangen in das vor mir Stehende; hingegeben an sein Wesen, seine Schönheit, sein Geheimnis. Im ersten Fall habe ich mich behauptet, mich bestätigt, mich durchgesetzt; der Baum aber hat mir dazu gedient, war ein Stück meiner Umwelt, um meinetwillen da. Im zweiten Fall habe ich mich vergessen, bin von mir weggegangen, und ein offener Raum ist entstanden, in dem die Erscheinung des Baumes sich entfalten konnte. Das kann so stark gewesen sein, dass ich nachher richtig zu mir kommen musste; dabei ist aber etwas in mir vorgegangen. Ich bin irgendwie erquickt, gestärkt, bereichert worden“[43].

Im Sinne Guardinis versteht auch Hans Eduard Hengstenberg unter einer sachlichen Beziehung oder unter „Sachlichkeit ...: sich der Sache, das heißt dem Seienden, zuzuwenden um des Seienden selbst willen, – und zwar aus der Ganzheit der Person ... Sachlichkeit als „Seinlichkeit“ ist ein Konspirieren. Womit wird konspiriert? Mit dem inneren Seins- und Sinngesetz des Begegnenden ... Der Mensch muss nicht sachlich sein, er kann auch das Gegenteil: unsachlich sein. Unsachlichkeit entsteht immer dann, wenn der Mensch den Anruf zur Sachlichkeit, der von den Dingen in der Begegnung auf ihn zukommt, ablehnt. Ist Sachlichkeit ein Wohlwollen im weitesten Sinne, ein Wollen, dass das Seiende ganz das sei, was in ihm angelegt ist, so ist Unsachlichkeit das Gegenteil: Nicht-wollen, dass das Seiende das sei, was in ihm angelegt ist; im schlimmsten, dämonischen Falle ist es „Seinsneid“, das Sichärgern daran, dass das Seiende so ist, dass der andere mehr ist als ich“[44].

Was hier als „Seinsneid“ verstanden wird, ist das durchgehende Thema der gesamten individualpsychologischen Literatur, deren Verdienst es ist, in die zerstörerischen Kräfte dieser negativen Weise der Beziehung zur Gegenstandswelt und ihre Bedeutung für das Erstarren produktiver Daseinsgestaltung hineingeleuchtet zu haben, und zwar in einer Gründlichkeit, dass keine Erziehungs- und Bildungslehre von Aussagekraft diese Aussagen unberücksichtigt lassen kann.

Gehen Buber, Guardini und Hengstenberg irgendwie stets vom Aspekt des Dialogischen als gegebenem Vollzug aus, um von dieser Ebene her die Daseinsmöglichkeit des Menschen als Person anzuleuchten, so wählt die Individualpsychologie als Ausgangspunkt der Erörterung zumeist die Ebene der Verweigerung dialogischen Lebens. Im Sinne der Individualpsychologie – wenn auch nicht mit ihren einheimischen Terminologien – würde das Neurotische als ein Zustand der allgemeinen, weil grundsätzlichen Verweigerung dialogischen Lebens bezeichnet werden können. Eben weil die Annahme des Seienden, so wie es ist oder sich gerade jetzt verändert hat, verweigert wird, fällt das „Konspirieren“ in die Erstarrung.

Die individualpsychologische Forschung hat – seit ihrer Begründung durch Alfred Adler – anhand vieler Fallbeschreibungen deutlich gemacht, in welch vielfältiger Weise dialogisches Leben verfehlt wird. Das Erschütternde und Heilsame an solcher Literatur ist, dass dem Erzieher dabei aufgehen kann – vorausgesetzt, seine eigene Fähigkeit zum dialogischen Leben ist nicht ganz verschüttet –, in welch hohem Maße er selbst daran mitwirkt, dialogisches Leben bei den ihm anvertrauten Schülern zu ersticken.

Es kann hier unmöglich auf die gesamte individualpsychologische Literatur und ihre pädagogische Bedeutung eingegangen werden, aber im Zusammenhang mit dem Phänomen des Dialogischen und seiner Bedeutung für die Schüleraktivität, beides betrachtet unter dem Aspekt der Ausreifung der Person, soll noch ein Vertreter der Individualpsychologie zu Worte kommen, der in all seinen Schriften in besonderer Weise pädagogische Fragen aufgreift: Fritz Künkel.

Aufgrund klinischer Erfahrungen sieht er in den Störungen der wechselseitigen Beziehungen zwischen Einzelmensch und Umwelt die Verkümmerung menschlicher Daseinsgestaltung überhaupt und umgekehrt in ihrer größtmöglichen Entfaltung Bedingung und Kriterium für eine reife Entfaltung menschlichen Lebens.

„Der einzelne setzt sich mit der Umwelt auseinander, und das – oft unausbleibliche – Misslingen dieser Auseinandersetzung führt zur Neurose, zum Leiden oder zum Verbrechen und so in die Krisis hinein. So ergibt sich die Charakterpathologie. Aber auch die Umwelt setzt sich mit dem einzelnen auseinander, indem sie ihn verwöhnt und pflegt oder ausstößt, straft und verurteilt, oder aber ihm die Treue hält und ihn heilt. So ergibt sich die Charaktertherapie einschließlich Heilpädagogik und Selbsterziehung“[45].

Hinsichtlich der Erstarrung bzw. Gelöstheit der Wechselbeziehung zwischen Person und Umwelt stellt Künkel das Gesetz auf: „Die Sensibilität ist umgekehrt proportional der Irritabilität“. Er fügt hinzu: „Durch diesen Satz sind die Grundbegriffe der dialektischen Charakterkunde festgelegt[46]“. Mit anderen Worten heißt dieses Gesetz: „Je reizbarer ein Mensch ist, umso weniger feinfühlig ist er, und umgekehrt[47]“. Der gemeinte psychische Sachverhalt wird vom Autor durch folgende Skizze veranschaulicht[48]:

image

Ähnlich wie ein Thermometer ist die senkrechte Linie mit Gradeinteilungen versehen. Mit Hilfe dieser Darstellung soll der jeweilige Stand der Selbsteinschätzung eines ichhaften Menschen veranschaulicht werden. Das Minderwertigkeitsgefühl ist unterhalb und das damit korrespondierende Geltungsstreben ist oberhalb des Nullpunktes zu sehen; denn je tiefer das Minderwertigkeitsgefühl die Selbsteinschätzung des Menschen niederdrückt, desto intensiver treibt die psychische Ausgleichstendenz nach oben. An einem Beispiel Künkels soll die Wechselwirkung zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben noch etwas klarer dargestellt werden.

Das Ich-Ideal einer Person lautet: „Ein guter Mensch sein“. Auf der senkrecht gezeichneten Ich-Linie soll dieser Leitstern auf dem Punkt +100 angenommen werden. Da zu einem guten Menschen auch die Bescheidenheit gehört, wird seine Selbsteinschätzung zu diesem Thema also unterhalb des Punktes +100 liegen, vielleicht bei dem Wert +80. In einer bestimmten Situation entdeckt er bei sich Regungen der Selbstsucht. Die Selbsteinschätzung sinkt nun nicht etwa auf +75 zurück, was sachlich angemessen wäre und zu der Einsicht führen könnte, ein verhältnismäßig guter Mensch mit einigen Fehlern zu sein, sondern fällt sofort von +80 auf -80 herunter. Er hat das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein und ist darüber sehr niedergeschlagen. Seine ichhafte Grundeinstellung weist ihm einen vorzüglichen Ausweg aus dieser unglücklichen Lage. Er sieht, dass nur eine gute Seele über einen kleinen Fehler derart verzweifelt sein kann. Damit schafft er sich nun doch noch den Beweis für seine Güte. Seine Selbsteinschätzung erfährt einen plötzlichen Auftrieb und mag nun den Wert +80 oder noch mehr erreichen. So treibt der ichhafte Mensch sein inneres Gaukelspiel, denn Ichhaftigkeit und Selbstbetrug gehören zusammen. Er ist fortwährend damit beschäftigt, von einer vermeintlichen Minuslage, vor der er Angst hat, in eine Pluslage zu gelangen. Das macht ihn unausgeglichen und reizbar[49].

Der reizbare Mensch hat keine guten Kontakte zur Umwelt. Er wird gemieden, weil er leicht beleidigt ist, hohe Ansprüche hat oder viel klagt. Echte Gemeinschaftsbeziehungen zu ihm entwickeln sich kaum[50].

Die Ichhaftigkeit und damit die Reizbarkeit eines Menschen ist umso heftiger, je weiter die beiden entgegengesetzten Grade – Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben – auf der senkrecht angedeuteten Skala der Selbsteinschätzung auseinanderliegen. Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben – so wurde gesagt – bedingen einander und sind stets im Zusammenhang miteinander wirksam. Dennoch kann das äußere Bild ichhafter Einstellung recht entgegengesetzt aussehen. Es gibt Menschen, die sich überwiegend in stark aufgeblähtem Selbstbewusstsein geben, andere dagegen stellen überwiegend ein unglücklich niedergedrücktes Leben dar. Der übertrieben Selbstbewusste hat im Grunde Angst vor dem „Untensein“; der Niedergedrückte träumt von hochgradiger Geltung, ohne es eigentlich zu wissen.

So dringt den meisten Menschen entweder nur die Minuslage oder die Pluslage auf der Stufenleiter der Ich-Linie ins Bewusstsein. Wer bei seiner Selbstbetrachtung gleichzeitig beide Punkte seines Verhaltens in den Blick bekommt und sie als einander zugehörige Momente seiner ichhaften Haltung erkennt, ist meist schon auf dem Weg zu einer reiferen Einstellung, die waagerecht gedachten Kreise seiner sachlichen Beziehungen werden dann wachsen. Bewusste Einsicht in die eigene Ichhaftigkeit und ichhaftes Leben vertragen sich nämlich nicht gut miteinander; das eine baut das andere ab, wenn sie in ein und derselben Person zusammentreffen.

In der Skizze findet sich also das Ausmaß der egozentrischen Lebenseinstellung auf der senkrechten Linie durch die Höhe des Doppelkegels verbildlicht. In dem Maße, wie die ichhafte Einstellung geringer wird, dehnen sich die horizontalen Kreise des Doppelkegels aus. Sie stellen die sachlichen Umweltbeziehungen oder den Grad der Sachlichkeit eines Menschen dar.

Sachlichkeit geht einher mit einem großen Einfühlungsvermögen in die jeweilige Lage. Deshalb bezeichnet Künkel die Verhaltensweise eines sachlichen Menschen als Feinfühligkeit oder Sensibilität.

„Zweck jeder sachlichen Funktion ist der Dienst an der Welt; Zweck jeder ichhaften Funktion ist der Dienst am Ich. Darum richtet sich der ichhaft Eingestellte, ob er es weiß oder nicht, ständig nach seiner Selbsteinschätzung. Er hat ein Ich-Ideal, das er zu erreichen strebt, ein Leitbild, wie wir es nennen, an dem er seinen Wert oder Unwert misst. Alles, was geschieht, beurteilt er danach, ob es ihn seinem Leitbild näherbringt oder nicht. Jede Annäherung dorthin empfindet er als Glück, jede Entfernung als Unglück“[51].

Hinsichtlich der Pflege der Schüleraktivität und ihrer Bedeutung für die Ausreifung der Person muss man auf die hier gemeinte sachliche Lebenseinstellung und die daraus entspringenden Umweltbeziehungen achten. „Man lasse sich durch den Ausdruck ‚Sachlichkeit‘ nicht verleiten, nur an trockene Geschäfte zu denken. Sachlich, nämlich so, wie es die Sachlage verlangt, soll die Art des Funktionierens sein. Die Funktion, der Vorgang selber, wird dann meist zu einem Erlebnis, das nach dem heutigen Sprachgebrauch als das Gegenteil von sachlich empfunden wird, nämlich als urlebendig.“ So ist z.B. „die sachliche Verhaltensweise einem Menschen gegenüber die Menschlichkeit“. In den wechselnden Situationen der Lebensanforderungen „tritt dem Sachlichen jeweils das nächste Ziel ins Bewusstsein, wenn das bisherige erreicht oder unerreichbar geworden ist. Man nennt diese ewige Frische des lebendigen Menschen: Schaffenskraft oder Originalität oder gar Genialität“[52].

Die Folgerung für die Erziehung und Bildung kann also nur lauten, Bedingungen zu schaffen, diese sachliche, produktive Verhaltensweise des Schülers zu fördern und hervorzulocken, eine Schüleraktivität freizusetzen, die diese Urlebendigkeit der Person realisiert.

Das wäre zugleich der gemeinsame pädagogische Ertrag der genannten Autoren trotz verschiedener wissenschaftlicher Ausgangspositionen oder weltanschaulicher Standorte sowie möglicher Unterschiede in der Reichweite der Begriffe gleichen Namens, die in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben können, da es hier grundsätzlich um die Art und Weise des Verhaltens zur gegenständlichen und menschlichen Umwelt geht und im Zusammenhang damit um die Ausreifung der schöpferischen Potenz der Person.

Im Hinblick auf seine schulpädagogische Bedeutsamkeit wird das schöpferische Verhalten eingehend von Friedrich Copei, Max Wertheimer und Wolfgang Metzger behandelt. Allen drei Autoren ist gemeinsam, dass sie den Verlauf schöpferischer Prozesse beleuchten, ihre Wirkungen sowie die Faktoren ihrer Förderung und Behinderung[53]. Sie gleichen sich in der Absicht, der Schulpraxis konkrete Hilfen für die Gestaltung einer pädagogischen Arbeit zu geben, welche die Freisetzung schöpferischer Kräfte im heranwachsenden Menschen als ein entscheidendes Moment zur Erlangung seiner geistigen Selbständigkeit erachtet.

Copei, Wertheimer und Metzger machen übereinstimmend deutlich, dass eingeschliffene Wege gerade überwunden werden müssen, um zur Selbständigkeit im Sinne schöpferischen Verhaltens zu gelangen[54]. Es gilt, eine pädagogische Arbeit zu gestalten, welche die echte Einsichtnahme in Sachverhalte als obersten Grundsatz hat. Einsichtiges Lernen ist hier gesehen im Gegensatz zum blinden Lernen in Form von unverstandenem, gedächtnismäßig angeeignetem Material des Wissens oder im Gegensatz zum Lernen mit Hilfe schablonenhaft angewandter Methoden der Aneignung im selbsttätigen Verfahren, in das ein arbeitsschulmäßig aufgezogener Unterricht durchaus absinken kann.

Wertheimer fasst die Merkmale produktiver Denkvorgänge so zusammen:

„Denken besteht aus dem Bemerken und Ins-Auge-fassen struktureller Züge und struktureller Forderungen; dem Vorgehen im Einklang mit, und geleitet von diesen Forderungen; wobei man die Situation in Richtung struktureller Verbesserung verändert, was einschließt:

aus dem Bemerken struktureller Transponierbarkeit, struktureller Hierarchie, und aus der Scheidung strukturell äußerlicher von wesentlichen Zügen – ein besonderer Fall der Gruppierung;

aus dem Blick auf die strukturelle, nicht die stückhafte Wahrheit“[55].

Bei dem Bestreben des Schulpädagogen, das schöpferische Verhalten der Heranwachsenden zu fördern, lassen sich mit Wolfgang Metzger drei Bereiche unterscheiden:

„Das schöpferische Denken,

das schöpferische Gestalten,

das schöpferische Handeln“[56].

Es sind drei Äußerungsformen oder Medien, in denen sich schöpferische Freiheit bekunden kann.

„Wenn bei echt schöpferischer Arbeit von Freiheit die Rede ist, so kann dabei die Freiheit nie im Sinne von Willkür oder Beliebigkeit gemeint sein, sondern stets nur im Sinn des Freiseins von inneren oder äußeren Hindernissen und Kräften bestimmter Art: nicht nur das Fehlen von Hindernissen, die dem Fortschreiten auf das Ziel hin im Wege stehen, sondern ebenso auch von solchen, die das Verfehlen des eben verfolgten Zieles äußerlich unmöglich machen sollen, und desgleichen nicht nur das Fehlen von Kräften, die vom Ziel ablenken, sondern ebenso auch von Kräften, die uns auf das Ziel hinstoßen oder hinlocken sollen, ohne dass sie selbst sachlich irgendetwas mit ihm zu tun haben“[57]. Unter diesen Bedingungen kann der Mensch „etwas Besonderes, Neues, Eigenartiges, Ursprüngliches, Echtes, Wahres“ schaffen: „ein Kunstwerk, das uns in seinen Bann zieht, ein Gedicht oder ein Musikstück, das uns aufhorchen lässt, die Klarlegung ungeahnter Zusammenhänge, eine Entdeckung, eine Erfindung, die unerwartete und überzeugende Lösung einer organisatorischen Aufgabe, aber auch die von niemand für möglich gehaltene Auflösung eines menschlichen Zerwürfnisses. Dieses Ursprüngliche kann sich aber auch schon in den Bauten oder Zeichnungen eines hingegeben beschäftigten Kindes, in der bescheidensten mathematischen Entdeckung eines zehnjährigen Schülers oder in einem neuen Muster einer bäuerlichen Stickerei bekunden“[58].

Die Förderung schöpferischer Kräfte ist „eine erzieherische Aufgabe eigener Art“, ... „die durch die Vermittlung von Kenntnissen und auch durch die Aneignung der heute unentbehrlichen Zivilisationstechniken nicht ohne weiteres miterledigt wird“[59].

Hinsichtlich der Schülerselbsttätigkeit ergeben sich nun also folgende Grade:

Wenn Ziele auf frei gewählten Wegen angegangen werden, bedeutet das eine ursprüngliche Lebendigkeit bei der Verwendung bisher gelernten Wissens und Könnens. Bei dieser Aktivität handelt es sich primär um Einsichtnahme in Sachverhalte und die dadurch gesteuerte Verwendung früher erworbener Kenntnisse, Erkenntnisse, Methoden und Gewohnheiten.

Veranschaulicht man sich die drei genannten Grade möglicher Aktivität eines Schülers als Ausdruck der Tiefe seiner sachlichen Umweltbeziehungen durch horizontale Kreise und die drei genannten Medien der Aktivität – das Denken, Gestalten und Handeln – als Sektoren, ergibt sich folgendes Bild:

image

Die gestrichelten Linien sollen andeuten, dass es sich bei den unterschiedenen Graden der Aktivität um Akzentuierungen handelt, wobei die Übergänge fließend sein können; ebenso verhält es sich mit den drei Bereichen Denken, Gestalten und Handeln.

Insgesamt geht es hier um Gradunterschiede des Bildungsvollzuges. Die Grade eins und zwei können sich mit Hilfe von Vorstellungsreihen und deren gedächtnismäßiger Verknüpfung ereignen, wie sie uns die auf der Assoziationspsychologie basierende Lerntheorie deutlich macht. Der dritte Grad des Bildungsvollzuges lässt sich durch diese Theorie nicht hinreichend erklären, ja wird gerade durch die für sie kennzeichnenden Bindungen gefährdet, wie Max Wertheimer überzeugend nachgewiesen hat.

Die Forderung Hugo Gaudigs nach einer Schülerselbsttätigkeit „aus eigenem Antrieb, mit eigenen Kräften, auf selbstgewählten Bahnen zu frei gewählten Zielen“ bleibt – wie erwähnt – ein Hochziel der pädagogischen Bemühung, schöpferische Kräfte im Heranwachsenden zu entbinden. Aber die Praxis kennt unverrückbar auch dies: „Die Ausbildung im schöpferischen Verhalten schenkt dem Denker keine Fragen, dem Künstler keine Einfälle und dem Handelnden keine Ziele. Wer solches in Aussicht stellt, verspricht mehr, als irgendeine Wissenschaft halten kann“[60]. Unternimmt man nämlich den Versuch einer radikalen Realisierung der genannten pädagogischen Hochziele Gaudigs, läuft man Gefahr, in die Stufe der Methodisierung zurückzufallen, indem das, was schöpferische Aktivität sein sollte, durch Methode eingeübt wird; und auf diese Weise werden der Selbsttätigkeit die Merkmale des Schöpferischen geraubt. „Denn – in welchem Gebiete auch immer – nur das Wissen ist wirkliches Wissen, und nur das Können ist wirkliches Können, in dem die lebendigen Kräfte im Menschen entbunden und freigemacht werden, das der Mensch mit seinen Erlebniskräften aktiv durchdrungen und in sich aufgenommen hat. Es ist nun sein persönliches Eigentum geworden, und er kann nun wirklich lebendig damit umgehen und es frei – nicht gebunden an das Schema und das tote Vorbild – verwenden und gestalten“[61].

Der Schulalltag bietet viele Gelegenheiten, Bedingungen walten zu lassen, die dem Schüler die Chance geben, echt selbständige Wege zur Zielerreichung zu gehen. Ob im einzelnen Schüler nun wirklich jeweils schöpferische Prozesse ablaufen, das sei dahingestellt. Es kann nicht erwartet werden, dass jedes einzelne Kind von jeder gebotenen Chance zum schöpferischen Verhalten Gebrauch macht, ja Gebrauch machen kann, weil z.B. gerade schon ein Mitschüler die sachgerechte Lösung des Problems serviert. Außerdem fängt bereits bei der Wiederholung eines selbständig gefundenen Weges in gleicher oder ähnlicher Situation die Methodisierung an. Dennoch kann nicht darauf verzichtet werden, im Unterrichts- und Schulleben Bedingungen zu gewähren, die vielfältige Möglichkeiten zur schöpferischen Schüleraktivität bieten, so dass viele daran teilhaben können. Wie gesagt, können die Grade eins und zwei der Aktivität bei völliger Blindheit für sachgemäße Strukturen routinemäßig ablaufen, und der Schüler kann auf diese Weise zufriedenstellende Zensuren erlangen, sowohl in den Leistungsfächern als auch in „Kunst“ oder „Führung“.

Aber trotzdem bleibt dann ein stilles Verlangen nach einsichtigem, d.h. der Struktur der fraglichen Sache gemäßem Verhalten bei vielen Schülern und Erwachsenen zu beobachten. Das „Alleine!“, mit dem sich schon kleine Kinder gegen die übereifrig von der Erwachsenenwelt angebotenen Rezepte der Bewältigung von Situationen wehren, um sich selbständig zwischen Ausgangslage und Ziel in eigener Weise bewegen zu können, bleibt lange lebendig: „Im Nebel zu leben, in einer unübersichtlichen Mannigfaltigkeit von Faktoren und Kräften, die eine klare Entscheidung für das Handeln hinsichtlich der Hauptzüge der Situationen verhindern, ist für viele Menschen ein unhaltbarer, ein unerträglicher Zustand“[62]. Um diesen zu überwinden, wird aber „eine bestimmte Einstellung vorausgesetzt, eine Willigkeit, den Problemen gerade ins Gesicht zu sehen, eine Bereitschaft, sie mutig und gewissenhaft zu verfolgen, ein Verlangen nach Verbesserung, im Gegensatz zu willkürlichen, starren oder sklavischen Haltungen. Dies ist, wie ich meine, eines der großen Attribute, die die Würde des Menschen begründen“[63].

Wenn der Grad des Schöpferischen in den Begriff der Schüleraktivität mit aufgenommen ist, kann das entsprechend gestaltete Unterrichtsleben als mittelbar erziehender Umgang bezeichnet werden. Der Ausdruck mittelbar wurde zuvor erklärt. Erziehend ist der Umgang nur dann, wenn er so gestaltet wird, dass die schöpferischen Potenzen der Person herausgefordert werden. Nur in diesem Bereich ist der Umschwung zu einem verantwortlichen Entscheidungsleben möglich, der doch stets ein schöpferischer Akt ist. „Erziehung ist als Erzogenwerden das Erwachen der Verantwortung, ist als Erziehen Hilfe zu selbstverantwortlicher Entscheidung“[64]. Zu einem erziehungsträchtigen Unterrichtsleben gehört „notwendig ein gewisses Maß von Freiheit. Aufforderungscharakter ist nicht Zwangscharakter und bedeutet, dass nicht alles bis ins einzelne festgelegt sein darf, sondern dass ein Spielraum sein muss, wirkliches spannungsreiches Leben mit ständig neuen Situationen. Denn nur dann gibt es die Möglichkeit verantwortlich ergriffener Aufgaben“[65].

So vollzieht sich Erziehung im eigentlichen Sinne nur jenseits machbarer Bereiche, nicht durch die Gewährung der Aktivitätsgrade eins und zwei, sondern durch Ermöglichung der schöpferischen Aktivität. Der angegebene Raum erzieherischer Prozesse hebt sich als Vollzugsweise schöpferischer Aktivität deutlich ab von den beiden unteren Graden der Entfaltung; diese sind den vorgegebenen Bedingtheiten – wie Alter und Veranlagung – entsprechend direkt erwirkbar, hingegen kann der Pädagoge für jene nichts weiter tun, als Bedingungen eines fruchtbaren Gedeihens zu erstellen.

Wo sich unterhalb der Aktivierung der schöpferischen Potenzen des Menschen das Gesamtfeld machbarer Bildung ausbreitet, ist auch das sonst irgendwie anstößige Wort ‚Schülermaterial‘ sachlich angemessen. Bilden, das mit dem Wort Beil verwandt ist, bleibt so in der Nähe seiner ursprünglichen Bedeutung; denn bevor dieser Ausdruck von der Pädagogik übernommen wurde, besagte er eigentlich: „einem toten Material eine gewollte Gestalt, Form, zu geben oder eine solche mittels eines Materials zu wiederholen (ab-bilden)“[66]; [67].

Also hinsichtlich der Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten innerhalb der Aktivitätsgrade eins und zwei wird Bildung mehr in dem Sinne von Ausbildung zu verstehen sein. Auf das sittliche Verhalten bezogen, handelt es sich um die Aneignung und Einhaltung seiner Formen. Diese können gelehrt werden wie Inhalte des Wissens oder eingeübt werden wie Fertigkeiten. Die Aneignung von Gewohnheiten des Anstandes und der guten Sitte innerhalb des ersten Grades der Aktivitätsstufen hat eine sachliche Nähe zur Dressur.

Es stellt sich nun die Frage, wo denn bisher in unseren Schulen der Entwicklung einer schöpferischen Grundeinstellung zur Wirklichkeit Raum gegeben wurde. Man wird bei der Beantwortung dieser Frage in erster Linie die Schulpädagogik Peter Petersens nennen müssen und die aus ihrem Geist gegenwärtig noch hier und dort ausdrücklich oder unausdrücklich gestaltete Erziehungsarbeit.

––––––––

  1. Die Schulpädagogik Peter Petersens als Beispiel der Ermöglichung schöpferischer Schüleraktivität

Dass es der Pädagogik Petersens um die Hilfestellung zur Entwicklung des schöpferischen Verhaltens der anvertrauten Jugend geht, wird man sogleich zugeben müssen, wenn er zur Begründung der Schülerselbsttätigkeit sagt: „Denn keinem Volke ist es nur darum zu tun, dass Bekanntes, Gekonntes, Gewusstes zum Verständnis gebracht, eingeprägt und wiederholt, immer wieder getan wird, nein, neben diesem steht als das weit Wichtigere die Pflege der geistigen Fähigkeiten der jungen Generation, um anderes, Neues, noch nicht Dagewesenes zu entdecken, zu gestalten, zu leben und darzustellen. Nicht nur wider die Natur, sondern wider Wohl und Sinn des Volkes wäre es, Schulen und andere Veranstaltungen einzurichten und zu unterhalten, in denen lediglich also ein Papageienwissen geübt würde“[68].

Details

Seiten
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783738903584
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
anleitung kindererziehung
Zurück

Titel: Anleitung zur Kindererziehung