Zusammenfassung
Zwei Romantic Thriller von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 240 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende Romane:
Alfred Bekker: Jägerin der Nacht
Alfred Bekker: Jägerin des Grauens
Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen?
Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.
In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Die Liebe der Patricia Vanhelsing
Zwei Romantic Thriller von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 240 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende Romane:
Alfred Bekker: Jägerin der Nacht
Alfred Bekker: Jägerin des Grauens
Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen?
Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle.
In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author/ Firuz Askin
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Patricia Vanhelsing, Jägerin der Nacht – Der Anfang
von Alfred Bekker
1
Wie ein graues Leichentuch hatte sich der Nebel über die düsteren Straßen gelegt. Graue Löwen aus kaltem Stein blickten grimmig ins Nichts. In ihre Mitte das erstarrte Standbild eines Reiters...
Ein kalter Hauch wehte über den Londoner Trafalgar Square, in dessen Mitte sich die berühmte Nelson-Säule befand. Jetzt wirkte die Reiter-Statue des Admirals, der vor ungefähr zweihundert Jahren Napoleons Flotte besiegte, wie ein düsterer Schatten aus einer anderen Welt...
Harold Carrington schlug seinen Mantelkragen hoch, während er an den übergroßen Löwenköpfen vorbeischlenderte, deren kalter Blick ihn zu mustern schien.
Carrington hatte gerade in einer Snack Bar einen schnellen Lunch zu sich genommen. Nun war er auf dem Weg zurück zu den Büros seiner Anwaltskanzlei, die nur wenige Minuten entfernt lagen. In Gedanken war er bereits bei seinen nächsten Terminen. Sein Blick ging zwischendurch kurz zur Uhr. Er hatte seine Mittagspause eigentlich schon überzogen.
Als Senior-Chef der Kanzlei kannst du dir das ruhig mal herausnehmen, sagte er sich selbst. Schließlich bist du ja auch nicht mehr der Jüngste...
Carrington trat an den Straßenrand.
Wie riesige Schatten, dunkle, brummende Ungetüme, kamen zwei der großen Doppeldecker-Busse heran. Sie tauchten plötzlich aus dem Nebel heraus auf. Ihre karminrote Farbe wurde sichtbar. Carrington trat einen Schritt zurück, als die beiden Ungetüme an ihm vorbeiknatterten. Ein paar Pkw folgten noch. Carrington blickte zur anderen Seite. Von dort kamen eine ganze Reihe von Wagen. Er konnte sie noch nicht sehen, aber er hörte ihre Motorengeräusche.
Er musste noch warten.
Und dann schälte sich plötzlich der dunkle, langgezogene Wagen aus dem Nebel heraus.
Wie ein dunkler Schatten hob er sich gegen das Grau des Nebels ab. Im ersten Moment dachte Carrington an eines der charakteristischen, etwas altmodisch wirkenden Londoner Taxis mit ihrer schwarzen Lackierung und den runden Formen.
Aber es war kein Taxi.
Der Wagen näherte sich.
Es war eine langgezogene Limousine, deren Baujahr so um 1950 herum liegen musste. Ein Oldtimer, aber erstaunlich gut erhalten. Er war vollkommen schwarz. Die wenigen Chromteile blitzten, als wären sie gerade poliert worden.
Carrington registrierte, dass es vorne zwei Türen gab.
Der hintere Teil des Wagens konnte nur über das Heck erreicht werden.
Ein Leichenwagen, ging es Carrington durch den Kopf.
Aus irgendeinem Grund fühlte er auf einmal eine seltsame Beklemmung. Carrington war alles andere als ein abergläubischer Mensch. Er glaubte nicht daran, dass schwarze Katzen oder Leichenwagen Unglück brachten...
Und doch...
Er hatte das Gefühl, dass mit diesem Wagen etwas nicht stimmte.
Der Wagen hielt. Keine fünf Meter von Carrington entfernt, der auf einmal völlig in den Bann dieses Oldtimers gezogen wurde. Er achtete nicht mehr darauf, wann er endlich die Straße überqueren konnte. Verzweifelt versuchte er durch die Frontscheibe ins Innere zu blicken.
Die Sicht war schlecht.
Und doch...
Nein!, durchzuckte es ihn. Das darf nicht wahr sein!
Carrington sah das große, elfenbeinweiße Steuerrad. Er konnte sogar die Griffrillen für die Finger des Fahrers erkennen.
Aber da war keine Hand am Steuer.
Und dahinter...
Niemand!
Der Motor heulte in diesem Moment ohne erkennbaren Grund auf. Ein Laut, der an das Brüllen eines Löwen erinnerte. Es klang wütend, fast, als ob dieses Geräusch nicht von einer toten Maschine verursacht worden wäre, sondern von einem lebenden Wesen.
Schauder erfasste den Anwalt.
Und eine Furcht begann von Innen heraus an ihm zu nagen, für die es keinen vernünftigen Grund zu geben schien.
Sei kein Narr!, sagte er sich.
Erneut heulte der Motor auf.
Carrington hatte es die ganze Zeit geahnt, aber jetzt wurde es Gewissheit für ihn.
Der Kerl meint mich!, durchzuckte es ihn. Er runzelte die Stirn.
Er nahm sich ein Herz und wollte an den Leichenwagen herantreten, um durch die Seitenscheibe zu sehen. Er musste wissen, wer diesen Wagen fuhr...
Schließlich war es absurd zu glauben, dass sich ein solches Gefährt von allein bewegte!
Den ersten Schritt hatte er noch nicht gemacht, da ertönte auf einmal ein zischendes Geräusch. Carrington erstarrte. In der Fahrerkabine wurde es vollkommen schwarz. Einem geheimnisvollen Gas gleich, begann sich etwas auszubreiten, dass wie dicker Rauch aussah.
Pure Finsternis!
Carrington schluckte.
Etwas Ähnliches hatte er nie zuvor in seinem Leben gesehen. Er hatte sich immer für einen nüchternen, nur dem Verstand und dem Gesetz verpflichteten Menschen gesehen, der durch übersinnlichen Hokuspokus nicht zu beeindrucken war.
Aber jetzt konnte er nur wie gebannt zusehen...
Schwarzes Licht drang in einem gebündelten Strahl aus der Frontscheibe des Leichenwagens heraus. Carrington wollte im letzten Moment auswichen, doch der Strahl erfasste ihn voll.
Finsternis hüllte ihn ein. Carrington sah aus wie ein Schattenriss seiner selbst. Das dunkle Etwas, das aus dem Leichenwagen herausgeschossen war, hüllte ihn vollkommen ein.
Für Carrington war es von einer Sekunde zur nächsten eiskalte Nacht. Er konnte nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Er wollte fliehen, einfach wegrennen...
Wohin auch immer.
Er hatte das Gefühl, alles sei besser, als an diesem Ort zu verharren.
Blankes Entsetzen hatte ihn gepackt und zerriss seine Seele.
Panik schüttelte ihn, als er eine Sekunde später feststellte, dass er sich nicht bewegen konnte. Er war wie erstarrt. Wie die Löwen, die Admiral Nelson bewachten.
Nein!
Der Schrei seiner Seele blieb ungehört. Er kam nie über seine Lippen, denn auch die waren unfähig zur geringsten Bewegung.
Und dann hörte er das Fauchen des Motors.
Entfernt erinnerte es an den Laut eines zum Sprung bereiten dunklen Panthers.
Das Geräusch wurde lauter, drohender.
Der Leichenwagen schien loszufahren und auf Carrington zuzuhalten, der dies nur hören, aber nicht sehen konnte. Ein schrecklicher Augenblick der Furcht noch, dann fühlte Harold Carrington nichts mehr. Alle Geräusche verstummten für ihn.
Für immer.
2
Ein großer Menschenauflauf war am Trafalgar Square entstanden. Die Polizei hatte Mühe, die Neugierigen etwas fernzuhalten.
"Wahrscheinlich kommen wir viel zu spät", sagte Jim Field, der neben mir, auf dem Beifahrersitz meines roten Mercedes 190 saß. Jim und ich waren bei der LONDON EXPRESS NEWS angestellt, er als Fotograf und ich als Reporterin.
In der Redaktion waren einige Anrufe eingegangen, denen zu Folge am Trafalgar Square etwas Seltsames geschehen war. Ein Leichenwagen hatte offenbar mit voller Absicht einen Passanten überfahren und war dann verschwunden.
Was dahintersteckte war schleierhaft. Zweifellos fahndete die Polizei zur Zeit nach dem Leichenwagen und sobald man ihn hatte, würde man vielleicht mehr wissen.
Den Mercedes stellte ich in einer Nebenstraße um den Trafalgar Square herum ab. Jim und ich stiegen aus. Er strich sich das ungebändigte blonde Haar zurück und blickte kritisch in den Himmel. "Nicht gerade ein Idealwetter zum Fotografieren", meinte er.
Er trug verwaschene Jeans und ein ziemlich zerknittertes Jackett, dessen Revers durch die Fototasche ziemlich ruiniert war, die er ständig um den Hals hängen hatte. Das Longjackett, das er darüber trug, wirkte auch schon ziemlich angejahrt. Bei jedem Schritt klapperten irgendwelche Utensilien, die er in den zahlreichen Taschen verstaut hatte.
Er wirkte äußerlich etwas unkonventionell. Das zusammen mit seinem jungenhaften Charme führte manchmal dazu, dass er etwas unterschätzt wurde. Aber er war auf seinem Gebiet ein Spitzenkönner. Einer der Starfotografen der LONDON EXPRESS NEWS. Wir hatten schon oft zusammengearbeitet und uns dabei ausgezeichnet verstanden. Wir waren Freunde - allerdings auch nicht mehr, obwohl Jim sich das insgeheim eine ganze Zeitlang gewünscht hatte. Vielleicht tat er das auch noch immer. Aber Jim war einfach nicht das, was ich mir unter einem Traummann vorstellte.
Zusammen gingen wir zum Ort des Geschehens. Ein Teil der Straße war abgesperrt. Der Verkehr wurde auf den verbleibenden Fahrspuren vorbeigeführt. Spurensicherer verrichteten ihr anstrengendes und penibles Geschäft.
Jim knipste schon einmal wild drauflos. Was im Kasten war, war im Kasten.
Wir zeigten einem der uniformierten Officers, die die Schaulustigen in Schach zu halten versuchten, unsere Presseausweise, woraufhin sie uns passieren ließen.
Mir fiel ein junger Mann mit roten Haaren auf. Er trug einen Trenchcoat, aus dessen rechter Tasche ein Walkie-Talkie herausragte.
Ich sprach ihn an.
"Ich bin Patricia Vanhelsing von der LONDON EXPRESS NEWS. Sie müssen Inspektor Grant von Scotland Yard sein..." Ich hatte keine Ahnung, wer er war. Aber irgendwie wollte ich ihn dazu bringen, sich mit mir zu unterhalten.
Er musterte mich.
Dann brummte er: "Mein Name ist Jenkins. Und Inspektor werde ich frühestens in... Ach, ich habe mir abgewöhnt, darüber nachzudenken!"
Sein Gesicht wirkte jetzt entspannter.
"Was ist hier geschehen?", fragte ich. "Ein Mord? Oder doch nur ein Verkehrsunfall?"
"Vielleicht wollen Sie lieber mit meinem Vorgesetzten reden. Inspektor Barnes. Der müsste gleich wieder hier sein..."
Ich kannte Barnes zu gut. Ein Inspektor, der mir schon so manches mal das Leben schwergemacht hatte. Ein knochentrockener Polizist, für den jemand wie ich kein ernstzunehmender Gesprächspartner war. Nicht nur, weil ich als Reporterin für eine Boulevardzeitung arbeitete. Das wäre allein schon schlimm genug gewesen, denn Barnes' Verhältnis zur Presse war mehr als gespalten. Hinzu kam, dass ich mich in meinen Artikeln und Reportagen immer wieder mit übersinnlichen Phänomenen beschäftigt hatte. An deren Existenz gab es für mich keinen Zweifel - schon deshalb nicht, weil ich selbst eine leichte übersinnliche Gabe besaß, die sich in seherischen Träumen und Vision zeigte. Immer wieder hatte ich über mysteriöse Geschehnisse recherchiert - und immer wenn ich dabei auf Inspektor Barnes gestoßen war, hatte er mich nichts als Knüppel zwischen die Beine geworfen.
"Lassen Sie nur. Sie können mir sicher genauso gut weiterhelfen", sagte ich an Jenkins gewandt.
"Also gut", sagte er. "Bei dem Opfer handelt es sich um Harold Carrington, den Senior-Chef der Kanzlei Carrington, Nevins & Brolin, gleich hier um die Ecke. Wie es scheint wurde er von dem Leichenwagen absichtlich überfahren. Der Wagen hielt am Straßenrand an und fuhr dann auf den Bürgersteig... Das wissen wir von Zeugen..."
"Wie sah der Wagen aus?"
"Wie ein Oldtimer. An das Fabrikat konnte sich niemand erinnern. Aber es muss ein ganz auffälliger Wagen sein, wie man ihn normalerweise wohl nur noch im Museum oder im Fuhrpark Ihrer Majestät findet."
"Dann werden Sie den Wagen sicher schnell ermitteln..."
"Davon gehen wir aus."
"Hat es vor ein paar Wochen nicht schon einmal einen Fall gegeben, bei dem ein Leichenwagen von Zeugen gesehen worden sein soll?"
Jenkins nickte. "Ja. Es ist der dritte Fall, Miss Vanhelsing. Wobei noch nicht klar ist, ob es sich wirklich um denselben Wagen handelt. Zuerst hing die Sache bei der Verkehrspolizei, weil es so aussah, als würde es sich um Fälle von Fahrerflucht handeln..."
"Und jetzt?"
Jenkins zuckte die Achseln.
Er deutete auf sich.
"Sie sehen ja, wer die Angelegenheit jetzt bearbeitet. Scotland Yard."
"Das spricht für sich", stellte ich fest.
Er hob die Hände. "Hören Sie, ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse, Miss Vanhelsing. Vor allem sollen Sie die nicht in Ihrem Blatt verbreiten. Wir wissen nicht, was hinter diesen Todesfällen steckt. Vielleicht sind es wirklich nur Unfälle..."
"...oder aber ein Wahnsinniger, der seinen Wagen als Waffe benutzt?"
"Ja, das wäre auch denkbar", gab Jenkins schließlich zögernd zu. "Aber noch ist das Spekulation..."
3
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich einen großen, düsteren Schatten auftauchen. Ich drehte mich herum und sah die massige Gestalt von Inspektor Gregory Barnes. Allein seine körperliche Erscheinung wirkte schon einschüchternd. Sein Haar war kurzgeschoren. Sein Gesicht sehr breit und etwas aufgeschwemmt.
"Sieh an, Miss Vanhelsing... Hätte ich mir ja denken können, dass Sie hier auftauchen."
"Die Freude ist ganz meinerseits, Inspektor Barnes."
"Haben Sie sich schon eine sensationsheischende Story ausgedacht, die Sie ihren Lesern als Wahrheit verkaufen werden?"
"Warum so feindselig, Inspektor?"
Er zuckte die Achseln.
"Habe ich je einen Hehl daraus gemacht, dass ich weder Sie, noch Ihren abgerissenen Kollegen, noch ihr Schmierblatt sonderlich schätze?"
"Und ich dachte immer, dass ich Ihren Namen schon einmal in unserer Abonnentenkartei gesehen hätte!"
"Das muss wohl ein Irrtum sein."
"Vermutlich."
"Heute werden Sie jedenfalls bei mir auf Granit beißen, Miss Vanhelsing. Schreiben Sie, was Sie wollen, aber behindern Sie unsere Arbeit nicht!"
"Keine Sorge!"
"Dann möchte ich Sie bitten, uns jetzt in Ruhe unsere Arbeit machen zu lassen..."
Jim, der in der Zwischenzeit fleißig herumgeknipst hatte, trat nun zu uns und machte eine Aufnahme von Barnes.
Barnes kniff die Augen zusammen. Der Blitz blendete ihn.
"Was soll das?", rief er.
Jim zuckte die Achseln. "Wussten Sie noch nichts von unserer neuen Serie 'Scotland Yard - dein Freund und Helfer', in der wir besonders hilfsbereite Kriminalbeamte porträtieren?"
"Unterstehen Sie sich!", knurrte Barnes, der jetzt hochrot anlief.
4
"Sie sind von der Presse?", sprach mich eine etwas ältere Frau an, als wir den Ort des Geschehens verlassen wollten.
Sie hatte unmittelbar vor einem der steinernen Löwen gestanden, die Admiral Nelson bewachen und es machte ganz den Anschein, als hätte sie uns regelrecht abgepasst.
Ich schätzte sie auf Mitte sechzig. Ihr Pelzmantel war ziemlich altmodisch und ließ sie nicht gerade jünger erscheinen. Sie schien ziemlich aufgeregt zu sein. Ihre dürren Hände krallten sich um meinen Unterarm. Ihre Augen flackerten.
Furcht sah ich in diesen Augen.
"Ich habe alles mit angesehen!", sagte sie dann. Ihre Stimme war dabei kaum mehr als ein Wispern. Sie blickte sich um, so als wollte sie nicht, dass uns jemand belauschte. "Ich habe das alles auch den Polizisten gesagt, aber die... Ich glaube nicht, dass die mir glauben! Aber Sie...." Ihr Griff wurde schmerzhaft, so sehr drückte sie meinen Unterarm. Sie sah mich beschwörend an. "Wenn Sie darüber schreiben, Miss..."
"Vanhelsing!"
"...dann werden Sie das ernst nehmen müssen!"
"Was?", fragte ich. "Wovon sprechen Sie?"
Sie schluckte.
Ein Zittern ging durch ihren gesamten Körper. Aus den Augenwinkeln heraus ich Jims mitleidigen Blick. Es war ihm deutlich anzusehen, was er von dieser Frau hielt. Für ihn war sie eine verrückte Alte, die Wahn und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderzuhalten wusste. Auf jeden Fall jemand, auf dessen Aussagen nicht allzu viel Verlass war. Jim verdrehte die blauen Augen, um mir deutlich zu machen, dass die Unterhaltung mit der alten Dame reine Zeitverschwendung war.
Aber ich hatte ein anderes Gefühl.
Ich hatte da so eine Ahnung. Nichts Greifbares, nur ein unbestimmtes Gefühl, dass ich dieser Frau unbedingt zuhören musste...
Es war nicht näher zu erklären, aber ich hatte mir inzwischen angewöhnt, meine Ahnungen ernst zu nehmen.
"Satan", flüsterte sie. "Es muss der Teufel gewesen sein... Mein Gott, ich habe nie zuvor etwas Derartiges gesehen, Miss Vanhelsing! Nie... Und ich bin auch nie besonders gläubig gewesen, aber..."
"Beschreiben Sie es mir!", verlangte ich.
Der Schrecken stand ihr noch immer buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
"Da war dieser Wagen. Ein Leichenwagen..."
"Den haben offenbar noch mehr Zeugen gesehen!"
"Ja, ja! Ein ganz alter Wagen war das! Und dann hielt er an. Plötzlich schoss schwarzes Licht aus ihm heraus und hat diesen Mann völlig eingehüllt..."
"Den Mann, der anschließend überfahren wurde!"
"Ja. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Ganz bestimmt nicht! Ich habe so etwas noch nie gesehen! Sie müssen darüber schreiben..."
Sie sah mich an.
Und plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge den Leichenwagen, von dem sie gesprochen hatte. Jede Einzelheit konnte ich wahrnehmen, so als hätte der Wagen in diesem Augenblick vor mir gestanden. Von geradezu unglaublicher Intensität waren diese Bilder aus meinem Inneren, und ich wusste sofort, dass es sich um eine meiner Tagtraumvisionen handelte, in denen ich für wenige Augenblicke die engen Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten vermochte.
Niemand saß am Steuer dieses altertümlichen Leichenwagens.
Ich sah, wie in der Fahrerkabine sich eine Art dunkles Gas ausbreitete. Wie schwerer Rauch. Und dann sah die schwarzen Strahlen, die durch die Frontscheibe schossen...
Für einen Augenblick schienen mir die Sinne zu schwinden.
Sekundenlang konnte ich nichts sehen.
Dunkelheit umhüllte mich und ich hatte das Gefühl, zu taumeln.
"Patricia!"
Von sehr weit her drang Jim Fields Stimme in mein Bewusstsein.
Einen Moment später wurde es wieder hell vor meinen Augen.
"Was ist los mit dir, Patti?"
"Ich weiß es nicht", sagte ich, obwohl ich es ganz genau wusste. Aber Jim gegenüber hatte ich nie von meiner übersinnlichen Begabung gesprochen. Und daran wollte ich auch vorerst nichts ändern.
Ich atmete tief durch.
Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr ich mir über das Gesicht.
"Schreiben Sie darüber!", beschwor mich die alte Dame abermals. "Sie müssen es tun!"
Ich schaute sie an.
"Das werde ich!", versprach ich ihr. "Ganz bestimmt."
5
"Du glaubst doch nicht, dass an dem Gerede alten Frau etwas dran ist?", fragte Jim Field mich, als wir bereits wieder auf dem Weg zurück in die Redaktion waren.
"Das wird sich herausstellen, Jim!"
"Patti!"
"Haben wir nicht beide bereits Dinge erlebt, die sich mit den Methoden der herkömmlichen Wissenschaft nicht erklären lassen, Jim?" Gemeinsam waren wir wiederholt Zeuge übersinnlicher Phänomene geworden. Und doch blieb Jim diesem Thema gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt.
"Mag sein", räumte er ein. "Aber ich bin immer dafür, zunächst das Nächstliegendste anzunehmen..."
"Und das wäre in diesem Fall, dass diese Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank hat..."
"Findest du nicht?"
Ich seufzte. "Auf jeden Fall werde ich versuchen, an der Geschichte dranzubleiben."
"Sofern unser allgewaltiger Chefredakteur nichts dagegen hat", schränkte Jim ein.
"Das wird er schon nicht."
"Ach nein? Sag bloß, du kannst die Gedanken von Michael T. Swann lesen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Das nun nicht gerade... Aber er hat den Instinkt eines guten Reporters und wird erkennen, dass das eine vielversprechende Story ist..."
Jim zuckte die Achseln.
"Du musst es ja wissen!"
"Ganz bestimmt!"
Wir erreichten eine rote Ampel, und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich erinnerte mich an die Vision, die ich am Trafalgar Square gehabt hatte und allein diese Erinnerung verursachte eine leichte Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Diese alte Dame hat recht, ging es mir durch den Kopf.
"Du wirkst etwas abgespannt, Patricia", hörte ich Jims Stimme neben mir. "Soll ich fahren?"
"Die Plätze tauschen? Mitten auf der Kreuzung?"
"Nun..."
"Es ist schon alles in Ordnung, Jim."
"Ganz bestimmt?"
"Ja."
Wir quälten uns durch den zähflüssigen Londoner Verkehr, bis wir schließlich die Lupus Street erreichten, wo der Verlag der LONDON EXPRESS NEWS seinen Sitz hatte. Das Verlagsgebäude war ein riesiger Hochhauskomplex. Unsere Redaktion nahm darin ein ganzes Stockwerk ein. Außerdem gab es dann noch das Archiv im Keller - von vielen Mitarbeitern einfach ' die Katakomben' genannt.
Ich parkte den roten 190er auf dem großen Parkplatz.
Inzwischen hatte es sogar zu nieseln begonnen. Londoner Wetter der schlimmsten Sorte. Wir beeilten uns ziemlich, um den Eingang zu erreichen, aber dort angekommen klebten mir die Haare trotzdem am Kopf. Ich war so schlau gewesen, meinen Schirm in der Redaktion zu lassen. Und Jim besaß so etwas überhaupt nicht.
Durch einen langen Korridor ging zu den Aufzügen. Dann hinauf zur Etage der LONDON EXPRESS NEWS. Den größten Teil davon füllte ein Großraumbüro aus, in dem auch ich einen Schreibtisch hatte.
Michael T. Swann, unser leicht cholerischer Chefredakteur, besaß ein eigenes Büro, dessen Tür im Moment gerade offenstand.
Er unterhielt sich so lautstark mit dem Spesenprüfer der Rechnungsabteilung, dass man es durch das ganze Büro hören konnte. Nicht einmal das dauernde Geticke der Fernschreiber konnte das übertönen.
"Ja, glauben Sie vielleicht, man kann ein Millionenblatt zum Nulltarif machen! Was denken Sie denn, wovon wir alle leben? Davon, dass unsere Reporter ihren Job machen können - und zwar vernünftig! Ohne um jeden Liter Benzin feilschen zu müssen!"
Jim Field sah mich grinsend an.
"Na, da geht's ja mal wieder hoch her!" Er zuckte die Schultern und setzte dann noch mit einem schelmischen Lächeln hinzu: "Es wäre vielleicht nicht gerade klug, jetzt dazwischenzuplatzen und nach einer Gehaltserhöhung zu fragen..."
"Das wäre wirklich schlechtes Timing!", erwiderte ich.
Der Spesenprüfer verließ in diesem Augenblick Swanns Büro mit hochrotem Kopf und knallte die Tür hinter sich zu.
Einen Augenblick später ging die Tür wieder auf und Swann trat heraus.
Er war breitschultrig und etwas untersetzt. Die Ärmel seines Hemdes waren hochgekrempelt, die Krawatte gelockert.
Swann war mit ganzer Seele Zeitungsmann. Die LONDON EXPRESS NEWS war sein Lebensinhalt. Dem Ziel, diese Zeitung oben zu halten, ordnete er alles andere in seinem Leben unter. Und diesen Einsatz verlangte er auch von seinen Mitarbeitern.
Morgens war Swann oft der erste in der Redaktion, abends ging er als letzter. Zu Anfang meiner Zeit bei den LONDON EXPRESS NEWS war er mir gegenüber ziemlich skeptisch gewesen.
Aber Leistung erkannte er stets an und so hatten wir uns bald gut verstanden.
Er ließ den Blick durch das Großraumbüro gleiten. Als er mich gefunden hatte, bewegte er sich in meine Richtung.
Mit schnellen Schritten hatte er mich erreicht.
"Was ist mit der Trafalgar-Square-Story?", fragte er.
Ich fasste es kurz zusammen. Swann runzelte die Stirn. "Eine Mordserie?", echote er.
"Scotland Yard schließt das nicht aus."
"Okay, Sie haben 50 Zeilen, Patti!"
"Sechzig."
"Patti, wir sind hier in einer Zeitungsredaktion, nicht auf dem Basar!"
Ich zuckte die Achseln. "Wir können die Bilder kleiner machen", schlug ich vor. "Es dürfte ohnehin nicht viel darauf zu sehen sein, außer einer Menschenmenge und ein paar Kriminalbeamten - und den Trafalgar Square kann sich jeder im Reiseführer ansehen, sofern man ihn nicht schon kennt!"
Swann seufzte.
Ein nachsichtiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht, während er die kräftigen Arme in die Hüften stemmte.
"Sie wissen genau, dass Ihren Text niemand liest, wenn kein vernünftiges Bild daneben zu sehen ist, Patti!"
Jim grinste zufrieden. "Es freut mich, dass wenigstens Sie meine Arbeit zu schätzen wissen, Mr. Swann!"
Swann wandte den Kopf zu Jim herum und hob die Augenbrauen.
"Ich schätze Ihre Arbeit sehr, Jim! Allerdings hoffe ich auch, dass sie heute noch fertig wird!"
"Ein Becher Kaffee und ich bin schon unterwegs ins Labor, um die Bilder entwickeln zu lassen!", versprach Jim.
"Na, schön. Wenn einer von Ihnen beiden Mr. Hamilton sehen sollte, so sagen Sie ihm, dass er sofort zu mir kommen soll!"
Damit drehte Swann sich um und verschwand wenig später wieder in seinem Büro. Jim machte sich indessen an der Kaffeemaschine zu schaffen. Er reichte auch mir einen Pappbecher mit dampfenden Kaffee.
"Nur ein Becher", erinnerte ich ihn.
"Klar doch! Aber der Inhalt ist ja noch sehr heiß. Da brauche ich eine Weile!"
Wir lachten beide.
6
Jim hatte seinen Kaffee gerade ausgetrunken, da betrat Tom Hamilton das Redaktionsbüro. Jim winkte ihn herbei.
Und dabei beugte er sich zu mir und raunte: "Soll ich dir sagen, was für einen Auftrag Swann ihm gegeben hat?"
"Nein."
"Er durfte Jürgen Klinsmann interviewen, der die Tottenham Hotspurs vor dem Abstieg retten soll..."
"Das klingt ja nach Neid", stellte ich fest.
"Das klingt nicht nur so", erwiderte Jim.
Tom Hamilton war ein großer, dunkelhaariger Mann von etwa 35 Jahren, der seit einiger Zeit zur Reportermannschaft der LONDON EXPRESS NEWS gehörte. Zuvor war er Korrespondent einer großen Nachrichtenagentur in Übersee gewesen. Ein Job, von dem viele bei uns nur träumen konnten. Für Tom war die Stelle bei der NEWS ein Rückschritt in der Karriere und nicht wenige bei uns fragten sich, was dahintersteckte.
Aber Tom war - was seine Person betraf - alles andere als gesprächig. Ich hatte mal ein Gerücht aufgeschnappt, wonach er in Asien monatelang verschollen gewesen war. Man munkelte, dass die Tatsache, dass er jetzt nicht mehr für seine ehemalige Agentur arbeitete, damit zusammenhing. Aber etwas Genaues wusste ich nicht.
Tom begrüßte uns kurz.
Der Blick seiner grün-grauen Augen ruhte einen Augenblick auf mir. Ein verhaltenes Lächeln spielte um seine Lippen. Er war ein Mann mit großer Ausstrahlung. Ein sympathischer Kollege, den allerdings immer die Aura des Geheimnisvollen umgab. Er war schwer zu durchschauen und tat selbst nicht das Geringste dafür, dass sich daran etwas änderte.
Jim konnte ihn deshalb nicht besonders gut leiden.
Ich selbst hatte noch nicht so recht entschieden, was ich von ihm halten sollte.
"Mr. Swann will Sie sprechen, Tom", hörte ich Jim sagen. In seinen blauen Augen blitzte es angriffslustig. "Ich weiß zwar nicht genau, worum es geht, aber ich glaube, dass Ihr Klinsmann-Interview leider aus dem Blatt fliegt. Aus aktuellem Anlass!" Er warf den Pappbecher in den Papierkorb und wandte sich kurz in meine Richtung. "Bis nachher, Patti!"
Tom sah ihm amüsiert nach.
"Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?"
"Er meint es nicht so."
"Ich fürchte doch, Patricia." Sein Lächeln wirkte nachsichtig. Er schien das Ganze mit einer Art überlegenen Gelassenheit zu betrachten.
"Aus irgendeinem Grund scheint Jim mich nicht sonderlich leiden zu können", stellte er dann fest.
Ich hob die Augenbrauen.
"Sensible Männer sind schon was Feines", erwiderte ich, woraufhin wir beide lachten.
Und dann verschmolzen unsere Blicke für einen Moment. Seine ruhigen, grün-grauen Augen musterten mich auf eine Weise, die mich verwirrte.
Wir schwiegen einige Augenblicke, während um uns herum Chaos und Hektik herrschten. Schließlich befanden wir uns nach wie vor inmitten eines Großraumbüros. Aber für diese kurzen Momente schien das alles in den Hintergrund zu treten.
Was soll ich von diesem Kerl nur halten?, ging es mir durch den Kopf. Ich wusste es einfach nicht. Seine Augen waren keine Fenster zur Seele, sondern nur der vage Hinweis auf ein unentdecktes Land.
Ich schluckte.
"Vielleicht gehen Sie jetzt besser zu Mr. Swann", meinte ich dann mit fast tonloser Stimme. Ich versuchte ein Lächeln.
Vielleicht geriet es mir etwas zu verkrampft. Ich war froh darüber, mich nicht selbst dabei beobachten zu können.
"Glauben Sie mir, Tom: Es ist für Sie noch viel unangenehmer, wenn Mr. Swann Sie auch nicht mehr mag..."
Er grinste.
"Da haben Sie allerdings recht", gab er zu.
7
Ich schrieb meinen Artikel schnell herunter. Später musste er dann doch noch um 10 Zeilen gekürzt werden, weil noch Platz für den 'Witz der Woche' bleiben musste. Der Layouter hatte das zunächst verschlafen.
Dann gab es noch jede Menge Routine-Aufgaben, die zu erledigen waren. Später fand ich dann etwas Zeit, um hinunter in die Katakomben zu gehen. Ich wollte mich näher mit den Hintergründen des mysteriösen Todesfalls beschäftigen, über den ich heute zu berichten gehabt hatte.
Todesfälle, bei denen ein Leichenwagen in irgendeiner Form eine Rolle spielte... Fälle, die Scotland von einer Serie sprechen ließen. Da musste etwas im Archiv sein. Wenn etwas derartiges in London oder der Umgebung vorgekommen war, war es völlig undenkbar, dass davon nichts in der NEWS gestanden hatte. Auch wenn es nur eine kleine Notiz gewesen war.
Unter den Kollegen hatte ich mich natürlich auch umgehört.
Aber von denen wusste niemand etwas Genaues. Aber das hieß nur, dass sich bis jetzt keiner unserer Leute näher damit beschäftigt hatte. Auf die Dauer konnte eine Zeitung wie die LONDON EXPRESS NEWS sich natürlich nicht damit begnügen, nur Agenturmeldungen über diese geheimnisvollen Vorfälle nachzudrucken...
Es war mein Job, in dieser Hinsicht etwas zu tun. Den Segen vom Chefredakteur hatte ich ja.
Als ich in den Katakomben die entsprechenden Jahrgangsbände der NEWS suchte, erwartete mich eine Überraschung. Sie fehlten! Und auch unter den zahllosen Dossiers, die in Tausenden von Hängemappen untergebracht waren, schien etwas zu fehlen. So suchte ich vergebens Informationen über Harold Carrington, den Anwalt, der bei dem Attentat - vorausgesetzt es war eins - ums Leben gekommen war.
Laut Computerregister hätte eine Mappe über ihn dagewesen sein müssen. Carringtons Kanzlei war zumindest unserem Gerichtsreporter Allan Lester sofort ein Begriff gewesen.
Eine Kanzlei, deren Anwälte zu den Stars des britischen Strafprozesswesens zählten und in einigen spektakulären Mordfällen als Verteidiger gewirkt hatten.
Ein Fluch scheint über meinen Recherchen zu liegen!, ging es mir ärgerlich durch den Kopf.
Ich war nahe daran, aufzugeben, als ich mir schließlich aus einem Getränke-Automaten einen Kaffee ziehen wollte. Der Automat war in einem kleinen Leseraum angebracht, in dem ansonsten nur ein paar Tische mit ziemlich unbequemen Stühlen standen. Gerüchten zu Folge handelte es sich um ausrangiertes Mobiliar, das in grauer Vorzeit mal in unserem Redaktionsbüro dafür gesorgt hatte, dass unverhältnismäßig viele Reporter mit Rückenproblemen in den vorzeitigen Ruhestand gingen. Aber das alles war lange vor meiner Zeit. Gerüchte eben.
In diesem Leseraum erlebte ich eine Überraschung.
"Tom!", entfuhr es mir unwillkürlich.
Niemand anderes als Tom Hamilton hatte dort platzgenommen, intensiv in die Lektüre vertieft.
Er blickte auf.
Ein Lächeln umspielte für einen kurzen Moment seine Lippen.
Er schaute mich an. "Hallo, Patti! Die Stühle hier unten sind eine wahre Folter! Wahrscheinlich will der Verlag verhindern, dass wir zu gründlich recherchieren und unsere wertvolle Arbeitszeit damit vertun..."
Ich holte mir einen Kaffee.
Die zweite Überraschung folgte dann im nächsten Moment auf dem Fuß. Ich näherte mich dem Tisch, an dem Tom saß und sah auf die riesigen Folianten, in denen Tom gelesen hatte.
Jeder dieser übergroßen Wälzer enthielt genau einen Jahrgang der LONDON EXPRESS NEWS. Daneben lag eine Hängemappe. Auf einem kleinen Schild stand Carrington, Nevins und Brolin!
"Komisch", sagte ich.
Er blickte auf.
"Was?"
Ich deutete auf seine Lektüre. "Genau die Sachen habe ich auch gesucht..."
"So ein Zufall."
Ich umrundete den Tisch und wollte sehen, für welche Ausgabe und welchen Artikel er sich interessierte.
Vorher schlug er den Band zu.
"Bitte!", sagte er. "Sie können die Sachen haben."
Ich deutete auf die Mappe mit der Aufschrift Carrington, Nevins und Brolin.
"Sagen Sie bloß, die haben Jürgen Klinsmann bei seinen Vertragsverhandlungen beraten... Ich dachte immer, die würden sich nur mit Strafrecht befassen."
"Auch wenn jemand, der unsere Zeitung aufschlägt es kaum glauben mag - es gibt noch ein paar andere Dinge als Fußball!"
"Zum Beispiel?"
Er erhob sich. Wir standen genau gegenüber. So dicht, dass ich sein After Shave riechen konnte. Ich blickte ihm in die Augen. Und er erwiderte diesen Blick auf seine ruhige, Gelassenheit ausstrahlende Art und Weise.
"Langsam begreife ich, weshalb Sie bei Mr. Swann so ein Stein im Brett haben..."
"Ach, ja?"
"Sie sind eine wirklich gute Reporterin."
"Sie schmeicheln!"
"Aber nein! Wer so fragen kann wie Sie! Ich wette, wer von Ihnen in einem Interview in Ihre charmante Zange genommen wird, hat schon alles verraten, ehe er es selbst gemerkt hat!" Ich schenkte ihm ein Lächeln. Er erwiderte es.
Dann sagte ich: "Und bei Ihnen könnte man denken, dass Sie mal auf der anderen Seite tätig waren..."
"Was für eine andere Seite?"
Ich zuckte die Schultern. "Politiker, Prominente, Sportler, all die Leute, denen wir Fragen stellen. Sie scheinen perfekt darin zu sein, solchen Fragen auszuweichen!"
Tom hob die Hände.
"Aber wie ich sehe, hätte ich bei Ihrem Scharfsinn keine Chance... Nur gut, dass Sie mich nicht interviewen!"
"Vielleicht sollte ich das mal..."
Er sah auf die Uhr. "Tut mir leid, ich habe jetzt noch einen dringenden Termin."
"Oh, jetzt enttäuschen Sie mich aber!"
"Tut mir leid..."
Er fasste mich bei den Schulten und schob mich sanft zur Seite.
"Tom?"
Er war schon bei der Tür und drehte sich nun noch einmal herum.
"Ja?"
"Diese Art, einer Frage auszuweichen ist doch eigentlich unter Ihrem Niveau!"
Er lachte.
"Bis dann, Patricia!"
8
An diesem Abend kam ich relativ früh aus der Redaktion nach Hause. Ich parkte den roten Mercedes 190 in der Einfahrt von Tante Lizzys viktorianischer Villa und stieg aus. Der Nieselregen, der über den Tag hinweg immer mal wieder von dem grauen, unfreundlichen Himmel heruntergekommen war, war inzwischen verebbt. Dafür wurde der Nebel dichter.
Unterwegs hatte ich kurz die Wettervorhersage gehört und so wusste ich, dass kaum ein Anlass zur Hoffnung bestand.
Zumindest, was das Wetter anging.
Ich ging zur Haustür.
Einen Augenblick brauchte ich noch, ehe ich den Schlüssel aus meiner übervollen Handtasche herausgekramt hatte. Dann steckte ich ihn ins Schloss und öffnete. Ich trat ein und ging einen langgezogenen Flur entlang. Zu beiden Seiten waren Bücherregale, in denen sich dicke, staubige Folianten Aneinander drängten. Dazwischen waren immer wieder eigenartige Gegenstände zu sehen. Geistermasken, kleine Totemstatuen aus tropischem Hartholz, deren tierhafte Gesichter den Betrachter grimmig anstarrten und ein seltsames Mobile aus kleinen Kristallkugeln.
Für jeden Fremden musste diese Villa und ihr Inneres befremdlich wirken. Eine Mischung aus überquellender Bibliothek und Geisterbahn. Aber mir war das alles nur zu gut vertraut. Seit meinem zwölften Lebensjahr lebte ich bei meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, die ich Tante Lizzy nannte.
Seit dem frühen Tod meiner Eltern hatte sie mich wie eine eigene Tochter großgezogen.
Und auch jetzt, da ich längst eine junge, selbstständige Frau war, die durch ihren Job auch finanziell auf eigenen Füßen stand, lebte ich noch hier. Das Verhältnis zwischen Tante Lizzy und mir hatte sich mit den Jahren gewandelt. War sie zunächst der fürsorgliche Mutterersatz gewesen, so war sie längst mehr zu einer Art Vertrauten und Freundin geworden. Und oft half sie mir bei meinen Recherchen, insbesondere dann, wenn es um Stories ging, bei denen übersinnliche Phänomene oder mysteriöse Erscheinungen im Mittelpunkt standen.
Dafür hatte Tante Lizzy nämlich von jeher ein besonderes Faible gehabt - möglicherweise auch durch die Studien ihres verschollenen Mannes Frederik geweckt, der ein berühmter Archäologe gewesen war. Zahlreiche seiner Fundstücke zierten die Räume der Villa und unterbrachen die langen Bücherreihen oft sehr obskurer Schriften. Die meisten befassten sich mit okkulten Themen, mit Geisterbeschwörung, Magie und Parapsychologie. Tante Lizzy war fasziniert von diesen Dingen, hatte aber niemals ihre gesunde Skepsis deswegen aufgegeben. Sie wusste sehr wohl, dass das Meiste, was auf diesem Gebiet auf dem Markt war, nichts als Betrug war.
Scharlatane machten sich die Neugier des Menschen zu Nutze, die Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen, nach Dingen, für die es - noch - keine befriedigende Erklärung durch die Wissenschaft gab.
Tante Lizzy war von der Existenz des Übersinnlichen überzeugt. Und daher hatte sie eine der größten Privatsammlungen, die es in Großbritannien auf diesem Gebiet gab, zusammengetragen. Sie wollte, dass die rätselhaften Phänomene wenigstens dokumentiert würden. Okkulte Schrift und uraltes Wissen über parapsychische Phänomene durften nicht verloren gehen. Für vieles gab es mit den Methoden der heutigen Wissenschaft noch keine hinreichende Erklärung. Aber für Tante Lizzy war das kein Grund, diese Phänomene einfach zu ignorieren.
Die Spreu vom Weizen auf diesem Gebiet zu trennen, das war die Lebensaufgabe, der sie sich gewidmet hatte.
Und dementsprechend sah das Innere ihrer verwinkelten und eigentlich sehr weitläufig angelegten Villa auch aus. Jeder Winkel war mit Exponaten ihrer sogenannten 'Sammlung' vollgestopft. Dazu gehörten neben okkulten Büchern und Gegenständen auch unzählige Zeitungsartikel aus dem In- und und Ausland, die sie sehr sorgfältig archivierte.
Lediglich meine Räume, die in der oberen Etage lagen, waren eine 'okkultfreie Zone', wie ich es oft scherzhaft genannt hatte.
Am Ende des Flures stand eine Tür halb offen. Licht drang heraus. Dort war die Bibliothek, wo sich der wichtigste Teil von Tante Lizzys Sammlung befand. Wohlgemerkt nur der Wichtigste - und nicht etwa der Größte!
Ich nahm an, dass sie in einem der Sessel saß, versunken in die Lektüre irgendeiner obskuren Schrift vertieft, in der ein verschlüsseltes Geheimwissen zu entdecken war.
Ich trat an die Tür und blickte hinein.
Aber von Tante Lizzy war dort keine Spur.
Auf den zierlichen Stühlen lagen aufgeschlagene Bücher herum. Manche waren auch auf dem Fußboden verstreut. Und der eigenartige Schreibtisch, den sie auf einer Auktion erworben hatte, quoll von merkwürdigen, gelblichen Pergamentrollen über, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Offenbar eine Neuerwerbung. Der Schreibtisch hatte es ebenfalls in sich. An allen vier Ecken befanden sich seltsame Tierköpfe. Grimmige, zahnbewehrte Mäuler geisterhafter Fantasiewesen, die einen giftig anblickten. Angeblich sollte es in dem Tisch ein Geheimfach geben, dass aber - sofern es überhaupt existierte - derart raffiniert angelegt war, dass Tante Lizzy es bislang vergeblich gesucht hatte.
Ich hörte Schritte und drehte mich herum.
Tante Lizzy kam die düstere Kellertreppe herauf.
In ihrem Arm trug sie zwei dicke Lederbände.
Sie schaute zu mir herauf.
"Oh, du bist schon da, Kind...", ächzte sie.
Ich trat auf sie zu und nahm ihr die schweren Bücher ab.
Kurz blickte ich auf den Titel des oberen Buches.
Magische Reisen - die okkulten Schriften des Mahmud al-Kebir in der Übersetzung George Francis McMahon.
Tante Lizzy seufzte hörbar.
"Meine Güte, ich werde auch nicht jünger", meinte sie, aber auf ihrem Gesicht stand ein Lächeln. "Ich bin richtig ein bisschen k.o.!"
"Kein Wunder, Tante Lizzy!"
"Ach, nein?"
"Bei dem Pensum, das du dir aufhalst! Das würde manche Jüngere in den Herzinfarkt treiben!"
Tante Lizzys Lächeln wirkte etwas matt.
"Es ist nett, dass du das sagst... Aber die Wahrheit ist es trotzdem nicht, Patti!"
Wir gingen zusammen in die Bibliothek.
Ich legte die Bücher an einem freien Platz ab. Und plötzlich meinte Tante Lizzy: "Was hältst du von einer Tasse Tee?"
"Da habe ich noch nie nein gesagt, Tante Lizzy!"
9
Wir tranken den Tee nicht in der Bibliothek, wie wir es sonst taten. Es war einfach kein Platz dort. Stattdessen blieben wir in der Küche.
Tante Lizzy berichtete mir voller Enthusiasmus über die Studien, die sie momentan anstellte. Sie versuchte nicht mehr und nicht weniger, als den geheimen Schlüssel zu entziffern, der in den Schriften des arabischen Okkultisten Mahmud al-Kebir enthalten sein sollte...
Eine Idee, die sie seit einiger Zeit völlig gefangennahm.
Plötzlich versiegte ihr Redefluss. Sie sah mich an und fragte dann: "Ich glaube, du bist mit den Gedanken ganz woanders, mein Kind. Und ich kann es dir nicht einmal verübeln..."
"Ach, Tante Lizzy..."
"Nein, nein! Ich habe einfach drauflos geredet, ohne darauf zu achten, ob du das nach deinem anstrengenden Tag in der Redaktion überhaupt hören willst!"
"Du weißt, dass deine Studien mich immer fasziniert haben...", sagte ich sanft. Tante Lizzy war es gewesen, die mich auf meine übersinnliche Begabung hingewiesen hatte.
Lange bevor ich diese Fähigkeit akzeptieren wollte.
Sie schaute mich an.
"Dir liegt irgendetwas auf der Seele", sagte sie. "Streite es nicht ab! Ich weiß, dass es so ist! Und das hat nun wirklich nichts mit übersinnlicher Begabung zu tun, sondern einfach nur damit, dass ich dich sehr gut kenne, mein Kind..."
Ich zuckte die Achseln.
"Vielleicht hast du recht", gab ich schließlich zu.
"Nun?"
Ich erzählte ihr von dem mysteriösen Todesfall, bei dem dieser geheimnisvolle Leichenwagen eine Rolle gespielt hatte.
"Von wie vielen Leuten wurde der Wagen gesehen?"
"Genau weiß ich es nicht. Aber es müssen einige gewesen sein, deren Aussagen die Polizei aufgenommen hat. Von den schwarzen Strahlen sprach allerdings nur diese Frau."
"Hast du ihre Adresse?"
"Natürlich. Ich hätte sie für komplett verrückt gehalten, wenn..."
"Wenn was?", hakte Tante Lizzy nach.
"Wenn ich es nicht vor meinem inneren Auge gesehen hätte, Tante Lizzy. Verstehst du, was ich meine?"
"Du sprichst von deiner Gabe, nicht wahr?"
Ich nickte heftig.
"Ja. Ich konnte mir die Szene so genau und in allen Einzelheiten vorstellen, als wäre ich selbst dabei gewesen. Es war furchtbar..." Ich atmete tief durch und fügte dann hinzu: "Es gab in letzter Zeit mehrere mysteriöse Todesfälle, bei denen ein Leichenwagen eine Rolle spielte... Ich frage mich, was da vor sich geht... Die Frau sagte, dass niemand am Steuer saß, Tante Lizzy. Sie glaubte, dass Satan persönlich erschienen sei."
"Sie war verwirrt", sagte Tante Lizzy. "Sie sah etwas, was völlig unglaublich war... Und sie suchte nach einer Erklärung."
Ich nickte.
"Ja", murmelte ich.
"Ich werde mal in meinem Pressearchiv nachsehen, ob ich etwas über Morde finde, die ein Leichenwagen ohne Fahrer begangen haben könnte. In Ordnung, Patti?"
Ich trank meine Teetasse leer.
Und dann sagte ich voller Dankbarkeit: "Weißt du, manchmal denke ich darüber nach, wie viel Prozent meines Reportergehalts eigentlich dir für deine Recherchendienste zustehen, Tante Lizzy!"
10
Eine dunkle Gasse. Nebel kroch wie ein grauer, unheimlicher Riesenwurm durch die Straßen. Es war Nacht, und das Licht der wenigen Straßenlaternen wirkte diffus. Wie verwaschene Lichtflecke im Nebel.
Ich ging den schmalen Bürgersteig entlang. Es war eisig kalt.
Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch, aber diese Art von Kälte schien durch jeden Stoff hindurchzukriechen. Sie kam einem den Rücken hinauf, ließ einen bis ins Innerste Frösteln und drang bis in Mark und Bein.
Eine Kälte, die aus dem Inneren kommt!, ging es mir durch den Kopf. Die Kälte des Todes...
Irgendein kaum hörbares Geräusch ließ mich zusammenfahren.
Ich drehte mich herum. Aber da war nichts zu sehen. Nicht einmal der fliehende Schatten irgendeiner Gestalt.
Hier bin ich schon gewesen!, dachte ich und versuchte mich zu erinnern. Ich kannte diese Straße oder glaubte es zumindest.
Aber woher?
Ich zermarterte mir das Hirn darüber, ohne eine Lösung zu finden. Das Unbehagen wuchs. Ich hatte das untrügliche Gefühl, beobachtet zu werden. Mein Blick glitt die verwinkelten Hauseingänge entlang. Es waren ziemlich alte Häuser, die da aneinandergereiht waren. Graues, brüchiges Mauerwerk, in dessen bröckelnde Fugen sich Moos gesetzt hatte.
Ich erreichte eine der Straßenlaternen, deren gebogene Form mich unwillkürlich an einen Galgen erinnert hatte, so lange nur der schattenhafte Umriss sichtbar gewesen war.
Jetzt sah ich die Spinnweben, die sich zwischen den gusseisernen Streben der Lampe spannten. Sie zitterten leicht im kühlen Nachtwind.
Und dann...
Ich erstarrte vor Schreck, als das knurrende Motorengeräusch aufbrauste. Wie das Fauchen einer Großkatze, so klang es beinahe. Nur viel stärker, unheimlicher, metallischer...
Wie der Laut eines grotesken Zwitters zwischen Tier und Maschine. Eine Ausgeburt des Wahnsinns..
Grauen erfasste mich.
Ich stand wie angewurzelt da, unfähig etwas zu tun.
Ein Kloß steckte mir im Hals und ich war kaum in der Lage zu schlucken. Gänsehaut breitete sich über meinen gesamten Körper aus.
Nein!, schrie es in mir.
Denn ich ahnte, was nun kommen würde. Ich ahnte es im Voraus und das machte die Qual und das Grauen um so schlimmer.
Das Motorengeräusch wurde lauter und höher und nahm jetzt eine beinahe schrille Tonlage an.
Wie die Augen eines geisterhaften Untiers blinkten die Scheinwerfer aus dem Nebel heraus. Etwas Dunkles tauchte auf...
Ich wich zurück.
Und dann schien das Licht der Straßenlaterne auf den schwarz lackierten Leichenwagen und die blitzenden Chromteile. Ich versuchte verzweifelt zu sehen, wer hinter dem Steuer saß...
Ich konnte niemanden erkennen.
Ein Spiel aus Licht und Schatten machte die Sache allerdings auch nicht leicht.
Ich wich weiter zurück.
Ich wusste, dass ich jetzt augenblicklich fliehen musste.
Fliehen, so schnell meine Beine mich trugen. Dieses Etwas dort im Wagen wollte nicht mehr, aber auch nicht weniger als... ...meinen Tod!
Aus den Augenwinkel heraus glaubte ich etwas Schattenhaftes, Dunkles in der Fahrerkabine des Leichenwagens zu sehen. Es war keine Gestalt und schon gar kein Mensch.
Es war...
Ein Gas?
Etwas Schwarzes, wie reine Finsternis, die sich in die Luft hinein ergoss und schließlich die gesamte Fahrerkabine einzunehmen schien. Eine tiefere Schwärze hatte ich nie zuvor gesehen. Ich begann zu laufen.
Aber der Wagen folgte mir.
Er fuhr leicht an.
Sein Motorengeräusch klang wie das Brummen einer Katze, die mit ihrer Beute spielt. Ich hatte nicht einmal den Hauch einer Chance und ich wusste es.
Verzweiflung erfasste mich. Ich zitterte am ganzen Körper und rannte in heller Panik die schmale Gasse entlang. Ich dachte daran, in einem der Häuser Zuflucht zu suchen und sprang über einen der niedrigen Gartenzäune. Mit wenigen Sätzen war ich bei der Haustür und klingelte. Ich trommelte mit den Fäusten gegen die Tür...
Und doch wusste ich im tiefsten Inneren, dass es zu spät war.
Längst zu spät.
Etwas unsagbar Dunkles schoss wie ein schwarzer Blitz durch den Nebel. Etwas erfasste mich und im nächsten Moment war ich unfähig zur geringsten Bewegung. Wie steingeworden stand ich da. Nicht einmal die Hand vor Augen konnte ich sehen.
Namenlose Finsternis umhüllte mich wie ein schwarzes Leichentuch.
Nein!
Ich wollte schreien, aber meine Lippen bewegten sich nicht.
Eisige Kälte ließ mich von innen heraus erzittern. Ich war in einem furchtbaren Gefängnis aus reiner Finsternis gefesselt.
So, dachte ich, muss der Tod sein!
11
Ich zitterte. Kalter Angstschweiß rann mir die Stirn herunter und mein Herz raste wie wild.
Das Erste, was ich sah, war ein großes, rundes Licht. Ich brauchte einige Augenblicke, um zu erkennen, dass es der Mond war, der durch das Fenster meines Schlafzimmers hereinschien.
Du hast geträumt, Patti! Es war einer deiner Alpträume, in denen sich deine Gabe manifestiert...
Meine Hand umkrallte die Bettdecke, so als müsste ich mich erst darüber versichern, dass dies die Realität war.
Du bist wirklich hier, in Tante Lizzys Villa, versuchte ich mir einzureden. Ich atmete tief durch.
Dann strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und schlug die Decke zur Seite.
Barfuß ging ich über den glatten Holzboden bis zum Fenster.
Der kalte Fußboden unter meinen Füßen schien mir zu beweisen, dass dies alles real war - und nicht jene Hölle, die ich eben erlebt hatte.
Ich drückte die Stirn gegen die Fensterscheibe. Dabei schloss ich einen Moment lang die Augen.
Ganz genau erinnerte ich mich an den Leichenwagen und an das schwarze Licht, das aus der Fahrerkabine herausgedrungen war.
"Oh, mein Gott", flüsterte ich.
Meine eigene Stimme kam mir entsetzlich schwach und zaghaft vor. Der Ton vibrierte vor Angst. Das Grauen hielt mein Inneres noch immer in seinem unerbittlichen Würgegriff.
Ich presste Zeige- und Mittelfinger gegen die Schläfen und versuchte mich dann verzweifelt an die Straße zu erinnern, in der ich im Traum gewesen war.
Ich war überzeugt davon, dass sie existierte.
Irgendwann wirst du sie betreten!, wurde es mir dann schaudernd klar. Irgendwann, in nächster Zeit... Und wenn du dort bist, wirst du es wissen, Patti!
Ich rang nach Luft.
Aber dann, dachte ich, wird es zu spät sein!
12
Am nächsten Morgen fühlte ich mich scheußlich. Den Rest der Nacht hatte ich schlecht geschlafen und mich immer wieder von einer Seite zur anderen gewälzt, ohne wirklich den Frieden des Schlafs zu finden.
Als ich in der Redaktion eintraf, wurde ich sofort in das Büro von Michael T. Swann bestellt.
Jim hatte dort bereits in einem der breiten Ledersessel platzgenommen. Ich schloss die Tür hinter mir.
"Nehmen Sie Platz", hörte ich Swann sagen, der gerade in einem Manuskript herumstrich, dass er dann nach einem wütenden Ächzen in den großen Papierkorb beförderte, der unter dem Schreibtisch stand.
Swann erhob sich.
Sein Schreibtisch war völlig überladen. Stapel von Manuskripten, Aktenordnern und Papieren schichteten sich dort zu riesigen, stets einsturzgefährdeten Gebirgen auf. Immer wenn Swann eine etwas heftigere Bewegung machte, hatte man den Eindruck, dass einer dieser Türme allein schon durch den dadurch entstehenden Luftzug einstürzen müsste.
Erstaunlicherweise geschah das nie.
Jedenfalls hatte ich es in meiner Zeit bei der NEWS noch nie erlebt und ich wusste von Kollegen, die schon weitaus länger auf diesen Augenblick warteten.
Jim spielte etwas desinteressiert an der Kamera herum, die er um den Hals trug.
Nachdem Swann ihm einen strengen Blick zugeworfen hatte, erstarrte Jim mitten in der Bewegung. Der Fotograf zuckte mit den Schultern.
Swann musterte mich.
"Ich will gleich zur Sache kommen, Patti. Es hat in der Nacht einen weiteren Todesfall gegeben... Ein Anwohner hat die Szene beobachtet."
Ein kalter Schauder ergriff mich. Die Müdigkeit, die mich gerade noch fest im Griff gehabt hatte, war wie weggeblasen.
"Wieder der Leichenwagen?", fragte ich.
In Wahrheit wusste ich es - durch meine Gabe. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, absolut sicher zu sein.
Und ich ahnte noch etwas anderes...
Etwas, das noch viel furchtbarer war!
"Ja", sagte Mr. Swann und studierte dabei eingehend mein Gesicht. Ich erwiderte seinen Blick. "Ein Anwohner hat den Wagen gesehen und der Polizei eine sehr gute Beschreibung geliefert. Sie deckt sich mit der, die es von dem Wagen am Trafalgar Square gibt. Inzwischen hat Scotland Yard auch eine Art Phantombild dieses Geisterwagens anfertigen lassen..."
Swann drehte sich herum und hatte das Bild mit einem sicheren Griff von seinem Schreibtisch gefischt. Er reichte es mir.
Ja, das ist er!, ging es mir schaudernd durch den Kopf. Ich hatte ihn bereits gesehen. Zweimal, vor meinem inneren Auge.
Ihn jetzt auf Papier gebannt vor mir zu haben, war ein seltsames Gefühl. Gedanken wirbelten in mir wild durcheinander.
Dein Traum...
Letzte Nacht...
Es war alles so verwirrend...
Michael T. Swann sagte indessen: "Das Ganze ist in der Mildoon-Street passiert. Einen Stadtplan besitzen Sie ja, also werden Sie hinkommen. Ich glaube nicht, dass es Sinn hat, jetzt schon bei Scotland Yard aufzutauchen. Die scheinen mir momentan sehr gereizt zu sein!"
"Misserfolg ist halt kein sanftes Ruhekissen!", mischte sich jetzt Jim Field ein.
"Sie sagen es, Jim!"
"Was schlagen Sie also vor, Mr. Swann?", wandte ich mich an den Chefredakteur.
"Sprechen Sie mit dem Augenzeugen. Ich habe Ihnen die Adresse aufgeschrieben und Sie beide auch schon mal gewissermaßen angemeldet. Der Mann heißt Tomkins und ist bereit, Ihnen Auskunft zu geben...
"Okay", murmelte ich.
"Wer ist denn das Opfer?", fragte Jim.
"Eine junge Frau", erklärte Swann. "Noch nicht identifiziert."
13
"Kein gutes Gefühl, dass da so ein Wahnsinniger durch die Straßen Londons fährt...", meinte Jim, kurz bevor wir die Mildoon-Street erreichten.
Ich erwiderte nichts.
Zu sehr war ich von dem gefangen, was ich sah...
Nebel kroch durch die enge Gasse. Ein dunkler grauer Tag, an dem die Wolken beinahe den Boden zu berühren schienen.
Ein trostloser Tag.
Ich blickte die lange Reihe der alten Häuser entlang. Mit wachsendem Entsetzen registrierte ich die bröckelnden Fugen...
Das Moos, das sich in sie hineingesetzt hatte und bizarre Muster bildete, die entfernt an eine alte Inschrift erinnerten...
Dies ist der Ort!, durchzuckte es mich.
Es gab keinerlei Zweifel. Dies war jener Ort, von dem ich in der vergangenen Nacht geträumt hatte.
Ich schluckte.
Mir war, als ob eine kalte Hand sich auf meine Schulter legen würde. Ich fuhr den Wagen an den Straßenrand und atmete tief durch.
Jim beobachtete mich skeptisch.
"Scheint, als wärst du nicht ganz fit", meinte er.
"Danke der Nachfrage", erwiderte ich mit einem matten Lächeln. "Es geht mir gut. War halt ein bisschen spät gestern Abend."
"Mit wem hast du denn den vergangenen Abend verbracht - beziehungsweise den Rest davon?"
"Mit meiner Großtante."
"Oh." Jim hob die Augenbrauen. "Sehr aufregend klingt das ja nicht..."
"Los, lass uns an die Arbeit gehen!"
"Wie du meinst!"
Wir stiegen aus. Die Adresse, die wir suchten, war nicht zu verfehlen. Der niedrige Gartenzaun war zerstört worden. Das gleiche galt für die Rosenbeete, die jemand mit viel Liebe angelegt hatte und die jetzt von Reifen zerwühlt waren.
Ich erschrak bis ins Mark. Nein, es konnte keinen Zweifel mehr geben. Dies war jene Tür, an die ich im Traum der vergangenen Nacht geklopft hatte. Wie von Sinnen vor Angst...
Wir klingelten an der Tür
Ein etwas älterer Herr mit grauem Haarkranz und blauer Strickjacke machte uns auf.
"Sind Sie Mr. Tomkins?", fragte ich.
Er reichte mir die Hand. "Der bin ich. Sie müssen die Dame von der Zeitung sein."
"Ganz recht. Mein Name ist Patricia Vanhelsing und dies ist mein Kollege Jim Field. Er ist für die Fotos zuständig."
Tomkins reichte auch ihm die Hand.
"Angenehm", murmelte der Augenzeuge.
Ich kam sofort auf den Punkt. "Sie haben gesehen, was sich hier heute Nacht abgespielt hat?"
"Ja", nickte er. "Ich konnte es erst überhaupt nicht glauben. Wissen Sie, ich leide seit Jahren unter Schlafstörungen. Besonders seit Dr. Arrows - ich weiß nicht, ob Sie den vielleicht kennen - mir die falschen Tropfen aufgeschrieben hat und..."
Ich unterbrach ihn und hoffte, dass sein Redefluss einigermaßen zu lenken sein würde. Schließlich waren Jim und ich nicht hier, um uns die vermutlich ellenlange Krankengeschichte dieses Mannes anzuhören.
"Sie waren also wach", sagte ich.
"Ja."
"Wissen sie noch in etwa die Uhrzeit?"
"So gegen drei Uhr morgens. Ich habe Scrabble gespielt. Das beruhigt mich. Manchmal kann ich dann wieder einschlafen."
"Wo waren Sie?"
Er trat aus der Tür heraus und deutete hinauf zum Obergeschoss.
"Das dritte Fenster von links... Da! Sehen Sie?"
"Ja."
"Ich hörte dieses eigenartige Motorengeräusch. Es klang, so als wolle jemand absichtlich Krach mit seinem Wagen machen. So ein Verrückter, habe ich gedacht. Schließlich ist das doch Ruhestörung, oder finden Sie nicht?"
"Sicher."
"Ich ging zum Fenster und dann sah ich diese unheimliche schwarze Limousine. Ein Leichenwagen, muss schon uralt gewesen sein, aber sehr gepflegt. Ein richtiger Oldtimer. Wissen Sie ich bin ein bisschen abergläubisch. Ich weiche schwarzen Katzen aus - und eben auch Leichenwagen. Soll Unglück bringen, wenn man ihnen begegnet, vor allem, wenn sie von links kommen. Das gilt für schwarze Katzen genauso wie für Leichenwagen und Fledermäuse..."
"Was passierte dann?", fragte ich tonlos. Ich konnte es mir gut vorstellen. Ich brauchte nur an die Bilder aus meinem Traum zu denken.
Während Mr. Tomkins sprach, blickte ich zur Seite und schaute mir die Häuser auf der anderen Straßenseite an.
Der Traum der vergangenen Nacht musste in irgendeinem Zusammenhang mit den Geschehnissen stehen, die sich hier abgespielt hatten...
"Ich dachte noch, sitzt denn da niemand am Steuer?", hörte ich Tomkins sagen. "Ich wollte schon meine Brille holen, da klopfte es wie wild an der Tür. Schwarze Strahlen schienen aus dem Wagen herauszukommen... Irgend so ein neumodisches Licht oder so... Und dann..." Tomkins' Stimme vibrierte leicht. Er schluckte, bevor er weitersprach. "Dann ist der Leichenwagen einfach losgefahren, mitten durch den Vorgarten durch. Er hat diese junge Frau voll erwischt. Wie Sie sehen, haben wir keine Stufe vor der Tür. Meine Frau hat immer schon gesagt, dass wir mal eine anlegen lassen sollten, weil's doch besser aussieht. Aber wir hatten nicht das nötige Geld. Ich glaube, die junge Frau könnte noch leben, wenn..."
Ich hörte nicht mehr hin.
Jim verknipste einen halben Film.
"Ich habe nichts dagegen, wenn ich in der Zeitung zu sehen bin, aber vielleicht sollte ich eine andere Jacke anziehen..."
"Ist schon in Ordnung", sagte Jim.
"Wie hieß das Blatt noch mal?",
Jim brummte: "LONDON EXPRESS NEWS."
"Komisch", murmelte Mr. Tomkins.
Ich schaute ihn wieder an. "Was ist komisch daran?", fragte ich. "Das ist eine der auflagenstärksten Zeitungen Londons."
"Ich wollte nichts gegen Ihre Zeitung sagen", erwiderte Tomkins und hob dabei beschwichtigend die Hände. "Nein, wirklich nicht. Ich kaufe mir die NEWS täglich. Seltsam finde ich nur, dass heute morgen schon mal jemand hier war. Und zwar auch von der LONDON EXPRESS NEWS."
"Was?"
"Ja. Erst war dieser Mann hier, dann kam eine halbe Stunde später ein Anruf Ihrer Redaktion. Und jetzt sind Sie hier."
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Jim.
"Und Sie sind sich sicher, was den Namen der Zeitung angeht?"
"Ja."
"Wie sah der Mann aus?"
"Groß, dunkelhaarig."
"Hat er seinen Namen genannt?"
"Ja, aber ich erinnere mich nicht mehr so genau... Hamilt oder so ähnlich. Ist das wichtig?"
"Wer weiß..."
14
"Ich frage mich, was Tom Hamilton mit dieser Sache zu tun hat", meinte Jim Field, als wir wieder in meinem roten Mercedes platzgenommen hatten. Ich atmete tief durch. "Ist doch sonnenklar, dass er das war! Die Beschreibung passt auch..."
"Ich habe keine Ahnung", sagte ich.
"Aber, dass es seltsam ist, musst du zugeben! Würde mich nicht wundern, wenn er auf eigene Faust recherchiert und dann einen Artikel an die Konkurrenz verkauft..."
"Was hat er dir getan, Jim?"
Jim sah mich erstaunt an. "Was hat er mit dir getan, dass du derart blind für diese Dinge bist! Vielleicht hat er das auch schon öfter gemacht..."
"Was?"
"Stories an die Konkurrenz verkauft!"
"Jim!", sagte ich tadelnd.
"Überleg doch mal: Warum ist er nicht bei seiner Agentur geblieben. Er hatte einen Bombenjob dort..."
"...den er sicher nicht durch eine solche Dummheit aufs Spiel gesetzt hätte!"
"Bist du dir da sicher?"
Ich schwieg.
Im Moment gingen mir auch noch ganz andere Dinge durch den Kopf. Nach den Aussagen von Mr. Tomkins hatte sich der Mordanschlag genau so abgespielt, wie ich es geträumt hatte.
Im Traum hatte ich die Rolle des Opfers innegehabt...
Die Rolle jener jungen Frau, der der geheimnisvolle Leichenwagen aufgelauert hatte...
Du bist sie gewesen!, ging es mir schaudernd durch den Kopf. Einen furchtbaren Traum lang...
Ich würde Tante Lizzy darauf ansprechen.
Durch meine Gabe war ich hin und wieder in der Lage schlaglichtartig die Abgründe von Raum und Zeit zu überbrücken. Zukünftiges, Vergangenes oder Geschehnisse an weit entfernten Orten konnten in den Visionen und Alpträumen eine Rolle spielen. Tante Lizzy vertrat dabei die Theorie, dass diese Träume nicht exakt in Erfüllung gehen mussten. Es gab keine Zwangsläufigkeit, keinen ausgetretenen Pfad des Schicksals, von dem es keine Abweichung geben konnte. Vielmehr zeigte meine Gabe mir so etwas wie eine Wahrscheinlichkeit, die vermutlich Realität werden würde.
Das Erlebnis des Alptraums der letzten Nacht unterschied sich von allem, was ich zuvor in dieser Hinsicht erfahren hatte.
Und wenn die Szene aus dem Traum mir erst noch bevorsteht? , ging es mir schaudernd durch den Kopf.
"Wohin fahren wir jetzt?", fragte Jim.
Seine Stimme riss mich aus meinen düsteren Gedanken heraus. Zumindest für den Augenblick.
"Zur Anwaltskanzlei Carrington, Nevins und Brolin", sagte ich.
"Du suchst nach einem Grund für diese Morde... Einem Motiv!"
"Vielleicht kommt man dadurch ein Stück weiter. Dieser Leichenwagen scheint planmäßig vorzugehen..."
"Wie du von dieser Karre sprichst..."
"Wie denn?"
"Wie von einem lebenden Wesen", stellte Jim fest. Und er hatte recht. Wann immer ich über diesen Leichenwagen nachdachte, ich empfand ihn als etwas, das auf unheimliche Weise lebendig war. Nicht als ein von Menschen gesteuertes Fahrzeug.
Aber das war nur eine vage Empfindung.
15
In der Nähe der Kanzlei Carrington, Nevins und Brolin stellte ich den Mercedes ab. Die Kanzlei residierte in einem altehrwürdigen Gebäude aus viktorianischer Zeit. Ein Treppenaufgang führte hinauf zum Eingang.
Jim wollte gerade aussteigen, aber ich hielt ihn zurück.
"Warte!", sagte ich.
Jim runzelte die Stirn.
Ein Mann kam aus dem Eingang zur Kanzlei. Er trug einen grauen Wollmantel. Seine breitschultrige, hochgewachsene Silhouette kam mir vom ersten Augenblick an bekannt vor.
Dann drehte er für einen kurzen Moment den Kopf.
Kein Zweifel!, durchfuhr es mich.
"Tom Hamilton!", zischte Jim zwischen den Zähnen hindurch. "Wer hätte das gedacht... Ich frage mich, was er hier sucht..."
"Auf jeden Fall scheint er immer etwas schneller zu sein, als wir", stellte ich fest.
"Ganz wie in der Geschichte vom Hasen und vom Igel: Unser Igel heißt Tom und war immer schon da!"
Wir stiegen aus.
Tom Hamilton schien uns nicht bemerkt zu haben.
Jim knipste ein paar Bilder.
Tom ging die Straße entlang. Offenbar hatte er seinen Wagen am anderen Ende der Straße geparkt. Den Kragen seines Mantels hatte er hochgeschlagen. Er ging direkt in den Nebel hinein, der in dicken Schwaden dahinkroch. Einen Augenblick später war er nur noch ein dunkler Schemen. Ein Schattenriss, der sich schwarz gegen das Grau des Nebels abhob.
Das kann kein Zufall sein!, ging es mir durch den Kopf. Tom war in der Mildoon-Street und jetzt hier...
"Was hast du jetzt vor?", fragte Jim. "Wollen wir dem Kerl das durchgehen lassen?"
"Ich werde ihn schon zur Rede stellen!"
"Gegen seinen Charme hast du doch gar keine Chance. Der schmiert dir soviel Honig dorthin, wo bei anderen der Bart ist, dass du vergessen hast, was du eigentlich von ihm wolltest!"
"Da kennst du mich schlecht, Jim!"
"Ach, ja?"
Ein dumpfes Geräusch ließ uns beide zusammenzucken. Es war ein aufheulendes Motorengeräusch, das wie das Brummen einer großen Hornisse klang.
Ich kannte dieses Geräusch nur zu gut.
Aus meinem Traum.
Der Puls schlug mir bis zum Hals, als ich herumwirbelte und das schattenhafte Ungetüm aus dem Nebel heraus auftauchen sah. Die Scheinwerfer wirkten wie große, glühende Augen.
Wie erstarrt stand ich da.
Ein Kloß steckte mir im Hals, als ich im nächsten Moment den dunklen, langgezogenen Leichenwagen sich aus dem Nebel herausschälen sah.
Wie ein Wahnsinniger raste er die Straße entlang. Ich versuchte zu erkennen, ob jemand am Steuer saß...
Vergeblich.
Das dunkle Ungetüm jagte die Fahrbahn entlang. Passanten blieben stehen und sahen ihm nach.
Im nächsten Moment erkannte ich, was geschehen würde.
Der Leichenwagen hielt direkt auf Tom Hamilton zu!
"Nein!"
Ich schrie aus Leibeskräften und begann zu laufen.
Tom hatte sich herumgedreht. Blitzschnell warf er sich dann seitwärts, während der Leichenwagen an ihm vorbeizog. Die Geschwindigkeit dieses kostbaren Gefährts war mörderisch. Der dunkle Wagen kam wie ein finsterer Schatten heran. Er schrammte über den Bürgersteig. Nur wenige Zentimeter lagen zwischen Tom und diesem grauenhaften Wagen.
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- Erscheinungsjahr
- 2016
- ISBN (ePUB)
- 9783738901962
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Juli)
- Schlagworte
- liebe patricia vanhelsing