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Der Kristall der Zwerge: Zwergenkinder #4

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2015 170 Seiten
Reihe: Zwergenkinder, Band 4

Zusammenfassung

DER KRISTALL DER ZWERGE
Zwergenkinder 4

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 165 Taschenbuchseiten.

Ein Abenteuer aus dem Zwischenland der Elben.

Der Elbenkrieger Lirandil und die Zwergenkinder haben es geschafft: Der magische gläserne Schädel aus dem Besitz des legendären Fürsten von Shonda gehört ihnen! Doch er ist eine gefragte Beute: Auf dem Weg zurück nach Ara-Duun werden die drei von den Leviathanreitern angegriffen. Vor langer Zeit hat der Zwerg Ubrak sie verflucht. Mithilfe des Schädels wollen sie endlich den Bann brechen – und die Stadt Ara-Duun dem Erdboden gleichmachen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DER KRISTALL DER ZWERGE

Zwergenkinder 4

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 165 Taschenbuchseiten.

Ein Abenteuer aus dem Zwischenland der Elben.

Der Elbenkrieger Lirandil und die Zwergenkinder haben es geschafft: Der magische gläserne Schädel aus dem Besitz des legendären Fürsten von Shonda gehört ihnen! Doch er ist eine gefragte Beute: Auf dem Weg zurück nach Ara-Duun werden die drei von den Leviathanreitern angegriffen. Vor langer Zeit hat der Zwerg Ubrak sie verflucht. Mithilfe des Schädels wollen sie endlich den Bann brechen – und die Stadt Ara-Duun dem Erdboden gleichmachen.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author ; Titelbild STEVE MAYER

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Schattenbringer und Weltenriss

„Vorsicht!“, rief Lirandil. Dass der sonst so ruhige Fährtensucher aus dem Volk der Elben derart sorgenvoll reagierte, hatte seinen Grund. Es ging um sein Elbenpferd, das über eine wackelige Landungsbrücke aus brüchigem Holz von Bord eines Schiffes gehen sollte.

Einer der Seeleute des kleinen Schiffes, das gerade im Hafen von Hiros angelegt hatte, wollte das Pferd an der Mähne fassen. Aber das konnte es nun wirklich nicht leiden. Elbenpferde reagierten auf die Gedanken ihres Herrn und brauchten weder Zaumzeug noch Zügel. Doch nun war das Tier völlig verunsichert. Es wieherte und schnaubte und wagte einfach nicht den nächsten Schritt.

„Rührt es nicht an!“, rief Tomli den Seeleuten zu. Der Zwergenjunge stand neben Lirandil, der mit beruhigenden, aber ebenso entschlossenen Gedanken auf das Tier einwirkte.

„Kadremsa“ hieß das kleine Schiff, mit dem Tomli und seine Gefährten die Überfahrt von der Insel Rugala zum Hafen von Hiros hinter sich gebracht hatten. Der Name bedeutete in der Sprache der Rhagar soviel wie „Nussschale“. Sehr vertrauenerweckend wirkte das natürlich nicht auf Passagiere.

Aber es traf den Nagel auf den Kopf. Die „Kadremsa“ war wirklich kaum mehr als eine Nussschale. Sie hatte keine Aufbauten und nur ein einziges, nicht sehr großes dreieckiges Segel.

Eigentlich war die „Kadremsa“ gar nicht geeignet, um Pferde zu transportieren. Aber kein anderes Schiff hatte Tomli und seine Gefährten von König Wendurs Hafen auf der Insel Rugala aus mitnehmen wollen. Und auch der Kapitän der kleinen „Nussschale“ war nur dazu bereit gewesen, nachdem ihm ein Wucherpreis gezahlt worden war.

Tomli murmelte eine Zauberformel, die das Holz, auf dem das scheue Elbenpferd stand, etwas stabiler machte. Es ächzte nämlich bedenklich.

Endlich bewegte sich das Tier wieder vorwärts und gelangte schließlich an Land. Lirandil nahm es erleichtert in Empfang und tätschelte ihm den Hals.

Das Elbenpferd von Olfalas, dem Schüler des Fährtensuchers, hatte die Prozedur noch vor sich. Aber Olfalas hatte zur Überraschung aller sein Pferd besser im Griff als sein Meister. Der rothaarige Halbelb sandte ihm einen energischen Gedanken, woraufhin es vollkommen ruhig über die Landungsbrücke schritt.

„Die Schwierigkeiten kommen noch“, hörte Tomli das Zwergenmädchen Olba murmeln. Sie stand neben ihm, war aber abgelenkt. Schon die ganze Zeit über blickte sie auf das Meer hinaus.

„Damit meinst du hoffentlich nicht, dass du jetzt doch noch seekrank wirst“, sagte Tomli.

„Nein, das kann nicht passieren“, erwiderte sie. Von König Wendur persönlich hatte sie ein Döschen mit einem Pulver erhalten, das gegen Seekrankheit oder schädliche Einflüsse von Wassergeistern auf das allgemeine Wohlbefinden wirkte.

Sie deutete zur Sonne und blinzelte.

„Dort!“, sagte sie.

Tomli formte mit der Hand einen Schirm, um seine Augen vor der Helligkeit zu schützen. Doch das brauchte er schon einen Moment später nicht mehr. Ein dunkler, runder Schatten bildete sich plötzlich und verdeckte auf einmal den größten Teil der Sonne.

„Ich habe es vorausgesehen“, flüsterte Olba. Das Zwergenmädchen schüttelte tief betroffen den Kopf. Trotzdem war sie in diesem Moment genauso erstaunt wie alle anderen, die sich zurzeit im Hafen von Hiros befanden. Das, was sich am Himmel ereignete, war einfach unfassbar. Selbst der uralte, beinahe unsterbliche Elb Lirandil hatte so etwas in seinem langen Leben noch nicht gesehen.

Es wurde dunkel. Die Sonne war nur noch ein schmaler Lichtkranz, und man konnte die Sterne ausmachen, obwohl es eigentlich helllichter Tag hätte sein müssen. Auch der Mond war auf der andern Seite des Himmels zu sehen. Demnach konnte dies keine gewöhnliche Sonnenfinsternis sein, wie sie ab und zu mal vorkam.

Tomli wusste das. Er hatte schon einmal eine erlebt. Zusammen mit Saradul, seinem Lehrmeister in der Zauberkunst der Zwerge, hatte er damals durch magische Linsen geschaut, durch die man weit entfernte Dinge aus der Nähe betrachten konnte. Er erinnerte sich noch genau. Meister Saradul hatte ihm erklärt, dass sich der Mond für kurze Zeit vor die Sonne schob, sodass sein Schatten auf die Welt fiel.

Aber dies musste etwas anderes sein, durchfuhr es ihn.

Eisiger Wind kam auf, und gleichzeitig bildeten sich auf dem Ozean Blasen, als würde das Wasser anfangen zu kochen. Sie bildeten eine Linie, die sich geradewegs in jene Richtung erstreckte, aus der Tomli und seine Gefährten gerade gekommen waren: zur Insel Rugala!

„Das ist der Weltenriss!“, entfuhr es Meister Saradul.

Der Zwergenzauberer mit den zu Zöpfen geflochtenem Bart schob sich den Helm in den Nacken. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Und die rührten ganz gewiss nicht von der Last des schweren Rucksacks, den er trug, denn mit seiner kräftigen Zwergenstatur machte ihm das Gewicht nicht viel aus.

Er stand ungefähr drei Schritte von Tomli entfernt, und der Zwergenjunge warf ihm einen schnellen Blick zu. Er war bei Saradul aufgewachsen, und so kannte er den Zwergenzauberer gut genug, um sofort zu erkennen, wie erschrocken er war. Ja, er musste zutiefst entsetzt sein.

Saradul war oft übellaunig und mürrisch, auch wenn er es eigentlich gut meinte. Aber richtig erschrocken hatte Tomli ihn nur ganz selten erlebt.

Also musste das, was sich gerade ereignete, wirklich schlimm sein, erkannte Tomli, und er hatte plötzlich ein Gefühl, als würde sich eine eiskalte Hand auf seine Schulter legen.

Der Weltenriss war vor langer Zeit in den tiefsten Höhlen unterhalb der Zwergenstadt Ara-Duun entstanden. Der Zwergenschmied Ubrak hatte ihn versehentlich bei einem magischen Experiment erzeugt, und im Laufe der Zeit hatte er sich unterirdisch immer weiter ausgebreitet. Inzwischen drohte er die ganze Welt zu verschlingen. Die Magie, die von ihm ausging, wurde offenbar immer stärker und war bereits an manchen Stellen schon an der Oberfläche zu spüren.

Das bedeutete, dass es höchste Zeit wurde, dass Tomli und seine Gefährten die Prophezeiung erfüllten. Die besagte, dass drei Zwergenkinder, direkte Nachfahren des Zauberers Ubrak, die Rettung bringen würden: Tomli, der Zauberlehrling, Arro, der Schmied, und Olba, die für kurze Momente in die nahe Zukunft blicken konnte.

Vor einiger Zeit war Tomli zusammen mit Meister Saradul, den Zwergenkindern Arro und Olba, dem elbischen Fährtensucher Lirandil und dessen Schüler, dem rothaarigen Halbelben Olfalas deswegen von Ara-Duun aus zu einer langen Reise aufgebrochen. Ambaros, ein Zentaur, dessen Körper wie eine Mischung aus Pferd und Mensch aussah, hatte sich ihnen angeschlossen. Dem geheimnisvollen Buch des Heblon zufolge mussten die Zwergenkinder sieben magische Gegenstände finden, um den Weltenriss wieder zu schließen, den ihr Vorfahre Ubrak durch seinen Leichtsinn erschaffen hatte.

Drei dieser Gegenstände – Ubraks Amulett, seine Zauberaxt und die Schuppe eines Drachen von Rugala – hatten sie bereits in ihren Besitz gebracht. Aber vier magische Artefakte mussten noch gefunden werden, und damit lag der Großteil ihrer Mission noch vor ihnen.

Aber vielleicht war schon alles zu spät, befürchtete Tomli.

Wenn er in den düsteren Himmel blickte, erschien es ihm jedenfalls so.

„Das Ende der Welt ist gekommen“, hörte Tomli einen der Hafenwächter erschrocken ausrufen. Der Mann ließ vor Schreck seinen Speer fallen.

Tiefste Nacht brach herein, und es wurde eisig kalt. Selbst der schmale Sonnenkranz verschwand.

Aus dem Wasser quollen immer weitere Blasen. Aber es war kein Gas, was da vom Meeresgrund aufstieg. Diese Blasen waren mit Licht gefüllt. Grellem weißen Licht, wie es auch aus dem Weltenriss strahlte.

Tomli hatte den Weltenriss in den Höhlen unterhalb der Tiefenstadt von Ara-Duun schon gesehen. Außerdem spürte er die besondere Art der Magie, die von diesen Lichtblasen ausging. Er murmelte eine Formel, die ihn vor ihrer verderblichen Kraft abschirmen sollte.

Wasser spritzte über die Hafenmauer von Hiros, die das Hafenbecken zum offenen Meer hin abgrenzte. Auch im Hafen selbst geriet das Wasser in Bewegung und ließ die Schiffe schaukeln.

„Sogar die Wassergeister sind auf der Flucht“, erklärte Lirandil, und seine Augen wurden ganz schmal, während er in die dunkle Nacht starrte. Tomli konnte davon nichts erkennen. Aber Lirandil war ja auch ein Elb, und die waren unter anderem für ihre besonders scharfen Augen bekannt.

„Nichts wie weg hier!“, jammerte Ambaros. Der Zentaur stand immer noch auf dem kleinen Schiff, das nun seinem Namen wirklich alle Ehre machte, denn es schaukelte wie eine Nussschale auf den Wellen und zerrte an den Tauen, mit denen es festgemacht war. Die Landungsbrücke knarrte so laut, dass sie in Kürze wohl nicht einmal mehr mit Magie zu stabilisieren war.

„Dann bewegt endlich Euren Pferdehintern und kommt an Land!“, rief Saradul. „Was zwei empfindliche Elbenpferde schaffen, die schon ein falscher Gedanke verrückt machen kann, wird ja wohl auch ein zentaurischer Halsabschneider und Gauner hinkriegen, der dummen Menschen zu überteuerten Preisen Heilkräuter verkauft, von denen man nur Durchfall und Übelkeit bekommt!“

„Erlaubt mal, Meister Saradul!“, empörte sich Ambaros.

„Hopp!“, befahl Saradul mit knarzender Stimme. „Wir sollten wirklich nicht hier bleiben, denn es könnte tatsächlich sehr ungemütlich werden.“

Ambaros schnaufte aufgeregt und hörte sich dabei an wie ein Pferd, das einen langen, scharfen Galopp hinter sich hatte. Er griff mit seinen langen Armen nach hinten, um seine Satteltaschen festzuhalten. Das Gewand, das er über seinem menschenähnlichen Oberkörper trug, spannte dabei etwas. Er machte einen beherzten, wenn auch recht ungeschickten Satz nach vorn und kam mitten auf der Landungsbrücke auf.

Sein linker Hinterhuf ließ das morsche Holz splittern, aber Tomli reagierte blitzschnell und rief eine magische Formel, und so brach das Stück Holz, das der Zentaur herausgetreten hatte, erst weg, als Ambaros bereits einen weiteren Satz gemacht und festen Boden unter den Hufen hatte.

„Geht doch“, meinte Saradul.

Gischt spritzte auf den Landungssteg, und die Menschen im Hafen liefen in Scharen davon. Fischer ließen ihre halb geflickten Netze liegen, Hafenwächter verließen ihre Posten, und auch die Träger und Hafenarbeiter, die vorher schon innegehalten hatten, rannten in Richtung der eigentlichen Stadt.

„Wenn der Weltenriss wirklich aufbricht, gibt es nirgends mehr Rettung“, meinte Lirandil düster.

Während sich Olfalas um die Elbenpferde kümmerte, kniete sein Meister nieder, und sein Gesicht nahm einen angestrengten Ausdruck an. In dem ganzen Krach, der im Hafen von Hiros herrschte, versuchte er ein ganz bestimmtes, sehr feines Geräusch herauszuhören.

Er senkte den Kopf und legte sein spitzes Elbenohr an den Boden. Das schulterlange silbergraue Haar fiel dabei zur Seite.

„Es wird noch schlimmer“, verkündete er, als er sich wieder aufrichtete. „Wir sollten nicht in die Stadt gehen.“

Arro der Starke, wie man den Schmiedelehrling von Meister Yxli nannte, sah Tomli irritiert an. „Was meint er damit?“

Auf dem Rücken trug er ein Futteral, in dem die riesenhafte Zauberaxt ihres gemeinsamen Vorfahren Ubrak steckte. Die Streitaxt war so schwer, dass kaum ein Mensch sie zu führen vermochte. Doch Arro war durch die Ausübung des Schmiedehandwerks für einen Zwergenjungen seines Alters außerordentlich kräftig.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ihm Tomli.

Olba schien mehr zu wissen. Sie hatte mit ihrer Gabe offenbar schon gesehen, was sich ereignen würde.

„Vorsicht!“, warnte sie, aber ihr Ruf ging in dem allgemeinen Tumult unter.

Der Boden erzitterte unter ihren Füßen. An einem der hohen Türme in der Stadt brachen die Zinnen herab, und auf dem großen Hafenplatz, auf dem sich normalerweise geschäftige Händler drängten und ihre Waren feilboten, entstand ein tiefer Riss im gepflasterten Boden.

Steine wurden aus der Spalte emporgeschleudert wie Katapultgeschosse von Belagerungsmaschinen, der Riss zog sich bis zur Kaimauer, und dann lief er innerhalb von Augenblicken mit Wasser voll.

Die Bewegungen in der Erde waren so heftig, dass Tomli beinahe das Gleichgewicht verlor. Die Elbenpferde wieherten.

„Ganz ruhig“, murmelte Olfalas in der Elbensprache, um seine Gedanken, mit denen er die Pferde zu kontrollieren versuchte, besser konzentrieren zu können. Allerdings zeigte dies wenig Erfolg, was wohl daran lag, dass er selbst keineswegs ruhig war.

Die aufsteigenden Lichtblasen platzten eine nach der anderen auseinander. Zuvor waren darin seltsame, ineinander fließende Farben zu sehen.

Manche der Blasen zerplatzen sehr schnell, andere blähten sich zuvor sehr groß auf, während sie immer höher in den Himmel stiegen, und in ihnen waren fremdartige Landschaften zu erkennen.

In einer sah Tomli mit Rankpflanzen bewachsene Felsen und dahinter einen gelbbraunen Himmel und in einer anderen einen Dschungel mit Pflanzen, die riesenhafte Blüten mit Augen hatten und deren Stängel sich wanden wie die Hälse von Tieren.

Tomli war wie gebannt von diesem Anblick. Es war, als würde er durch Fenster aus dickem Glas in andere Welten sehen, vielleicht jene Welten, die hinter dem Riss lagen und aus denen all die grausigen Geschöpfe kamen, die in den letzten Jahrhunderten immer wieder in den tiefsten Schächten und Höhlen von Ara-Duun aufgetaucht waren.

Schließlich aber stiegen keine Blasen mehr an die Meeresoberfläche. Das Wasser beruhigte sich jedoch nicht, und es machte noch immer den Eindruck, als würde es kochen.

Der bis dahin undurchdringliche schwarze Schatten, der die Sonne verdeckte, verschob sich etwas, sodass auf einer Seite die Sonne als Lichtbogen wieder zum Vorschein kam.

In der Mitte dieses dunklen Schattens blitzte auf einmal etwas auf. Ein greller Lichtstrahl schoss von dort in das brodelnde Meer. Für einen Moment sah es aus, als würde auch durch den Himmel ein Weltenriss verlaufen und ihn förmlich auseinander reißen.

Plötzlich wurde Tomli geblendet. Für Augenblicke konnte er nichts sehen. Was immer es für ein Himmelskörper sein mochte, der sich vor die Sonne geschoben hatte, er explodierte, und gleißendes Licht erfüllte den gesamten Himmel.

Dann war es vorbei. Die Sonne strahlte wieder. Ein paar dunkle Flecken tanzten noch vor ihr herum, vielleicht die Schatten von Bruchstücken oder die Auswirkung irgendeiner dunklen Magie.

Tomli murmelte eine Formel, damit sich seine Augen schneller erholten, dennoch dauerte es eine Weile, bis er wieder richtig sehen konnte.

„Was war das?“, fragte er laut.

„Der Schattenbringer“, sagte Lirandil. „Ich habe ihn immer für eine Legende gehalten.“

„Schattenbringer? Was ist das?“

„Später, Tomli.“

„Aber ...“

„Später!“ Aus irgendeinem Grund wollte der Elb in diesem Moment nicht darüber reden.

Tomli wandte sich an Meister Saradul, der auf ihn noch nie zuvor einen so furchtsamen Eindruck gemacht hatte. Der Zwergenmagier wirkte vollkommen verstört.

„Was ist hier geschehen, Meister?“, fragte Tomli, aber Saradul schien ihn gar nicht zu hören.

„Die Frage sollte lieber sein, was sich gleich noch ereignen wird“, mischte sich Olba ein. Sie ließ suchend den Blick über den Himmel schweifen, der wieder strahlend blau war, so als hätte es die Finsternis des Schattenbringers nie gegeben.

„Was suchst du?“, fragte Arro.

„Da ist etwas auf der Reise hierher“, sagte sie. „Es fällt vom Himmel. Etwas oder ... jemand?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht richtig einordnen.“

Was vom Himmel fällt

Tomli und seine Gefährten begaben sich zum Hafenplatz, während sich das Leben in Hiros wieder einigermaßen normalisierte.

Hafenwächter eilten herbei und legten hölzerne Planken und Bohlen über den Spalt, der sich mitten durch den Platz zog. Das Holz stammte offenbar aus der Werft, die im Südwesten an den Hafen angrenzte.

Die ersten Marktschreier priesen bereits wieder ihre Waren an. Andere mussten zunächst einmal ihre Holztische wieder aufstellen, die von in Panik geratenen Stadtbewohnern umgeworfen worden waren, und die im Staub liegenden Waren aufsammeln.

Lirandil schritt der Gruppe voran. Ihm folgte Meister Saradul, in dessen schwerem Rucksack sich außer dem Buch des Heblon auch die Drachenschuppe befand, die Tomli von dem Drachenhüter Bagalon auf der Insel Rugala erhalten hatte.

Saradul hatte sie an sich genommen und wollte sie nicht mehr hergegeben. Dass es Tomli gewesen war, der sie durch seinen Mut errungen hatte, spielte für ihn keine Rolle. Die Schuppe war so wichtig, dass er unbedingt selbst auf sie Acht geben wollte.

Vermutlich hätte er am liebsten auch Ubraks Axt mit sich herumgeschleppt, aber das wäre auf die Dauer selbst für einen kräftigen Zwerg wie Saradul zu schwer gewesen.

Auch jetzt bemerkte Tomli, wie sein Lehrmeister manchmal halblaut eine Formel vor sich hinmurmelte, die dazu dienten, das Gewicht von Gegenständen zu reduzieren, damit man sie leichter tragen konnte.

Neben dem Zaubermeister ging Arro der Starke, dahinter Tomli und Olba, die immer wieder zum Himmel sah.

„Ich versteh das nicht“, sagte sie zu Tomli. „Eigentlich müsste es längst heruntergekommen sein.“

„Nicht, dass es uns auf den Kopf fällt“, meinte Tomli.

„Es - oder er“, berichtete ihn das Zwergenmädchen. „Was da herunterkommt, trägt einen Namen und hat Zähne, ist aber aus Stein. Und es braucht für den Weg hierher offenbar länger, als ich dachte.“ Sie zuckte mit den Schultern und strich mit einer Hand über einem der Zöpfe, die unter ihrem Zwergenhelm heraushingen.

„Hört sich nach einem Meteoriten mit Gesicht an“, meinte Arro grinsend.

„Das ist nicht witzig“, sagte Olba.

„War auch nicht witzig gemeint“, beteuerte Arro. „Eher gierig.“

„Wieso gierig?“, wunderte sich Tomli.

„Weil Metall, das man aus Meteoriten-Erz gewinnt, für jeden Schmied etwas ganz Besonderes ist, fast so wertvoll wie Zwergengold“, erklärte Arro. „Manche behaupten sogar, dass es magische Eigenschaften hat, die fast so stark wie die von Dunkelmetall sind.“

Den drei Zwergenkindern folgten der Zentaur Ambaros und Olfalas. Der rothaarige Halbelb war nicht nur ein gelehriger Schüler der alten elbischen Kunst des Fährtenlesens, sondern auch ein extrem guter Bogenschütze. Zudem hatte er ein besonders ausgeprägtes Talent, mit Elbenpferden umzugehen und sie durch seine Gedanken zu lenken.

Darum hatte sein Lehrer Lirandil ihm für den Moment die Gedankenkontrolle über sein Reittier überlassen. Der Fährtensucher wollte sich auf etwas anderes konzentrieren. Vielleicht nahm er mit seinen feinen Elbensinnen sogar schon jenes unbekannte Etwas wahr, das sich auf dem Weg zu ihnen befand.

Sie hatten ungefähr die Mitte des Platzes erreicht, da zischte etwas durch die Luft – schneller als das Geschoss eines Katapults.

„Vorsicht!“, schrie Olba noch. Sie sprang aus dem Stand, und das mit einer Kraft, wie es wohl nur Zwerge vermochten, und warf sich gegen Ambaros. Der war so überrascht, dass er das Gleichgewicht verlor und auf die Seite fiel.

Ein sechsarmiger Riese aus dem fernen Zylopien, der wohl als Träger im Hafen arbeitete und mit langen Baumstämmen beladen war, wich einen Schritt zurück und wirbelte herum. Dabei schlug er mit einem der Baumstämme gegen einen Fahnenmast, der regelrecht gefällt wurde und ein halbes Dutzend gerade wieder aufgerichteter Marktstände niederriss.

Genau dort, wo Ambaros eben noch gestanden hatte, klaffte ein Loch im Pflaster des Platzes. Es hatte einen Durchmesser von zehn Schritten und war so tief, dass sich ein Elb, der sich darin befand, auf die Schultern eines Zwerges hätte stellen müssen, um hinaussehen zu können.

Ambaros wäre um ein Haar noch hineingerutscht, aber Arro und Tomli sprangen hinzu und verhinderten es, indem sie sich gegen seinen Pferdeleib stemmten.

Dann starrten sie in den kleinen Einschlagskrater.

„Ein Meteorit!“, glaubte Arro.

Tatsächlich lag da ein Brocken dampfendes Gestein, das an einigen Stellen aufgeglüht war. Doch die Glut erlosch recht schnell. Gleichzeitig wurde der gesamte Einschlagskrater von einem magischen Schimmer erfüllt.

Sicherheitshalber zog Tomli seinen Zauberstab. Vielleicht musste er sich und seine Gefährten vor der Magie schützen, die in dem Loch wirkte.

Der dampfende Gesteinsbrocken war etwa so groß wie ein Zwergenkopf. Er bewegte sich und veränderte seine Form. Und mit einem Mal verstand Tomli auch, was Olba mit ihren Andeutungen gemeint hatte. Dieser Stein lebte auf eine unheimliche Art und Weise.

Er formte Arme und Beine mit Pranken und Klauen aus. Außerdem einen Kopf mit einem Maul voller nadelspitzer Steinzähne und Augen, die dämonisch leuchteten. Die Form veränderte sich mehrfach.

Die Arme wurden größer und länger, dann schrumpften sie wieder, während die Beine mit ihren Klauenfüßen mächtiger wurden.

Zuletzt falteten sich Flügel aus seinem Steinkörper, die sich langsam auf und nieder bewegten.

„Ein Gargoyle!“, entfuhr es Olfalas – denn diese steinernen Wesen, die als entfernte Verwandte der Drachen galten, waren auch im Zwischenland bekannt.

„Aber kein gewöhnliches Exemplar“, schränkte Lirandil ein.

Der Gargoyle flatterte empor. Seine Farbe veränderte sich, das Steingrau wurde zu einem giftigen Grün, wie manche Frösche und Echsen es zeigten. Es schimmerte aus seinem Inneren heraus, sodass ihn für Augenblicke ein magischer Lichtflor umgab.

Er flog an den Rand des kleinen Einschlagskraters, der bei seiner unsanften Landung entstanden war. Dann ließ er sich nieder und hockte sich nur einen Schritt von Tomli entfernt auf den Boden, um den Blick seiner glühenden Augen schweifen zu lassen.

Ein Gedanke erreichte Tomli – und nicht nur ihn, denn an den Gesichtern der anderen erkannte er, dass auch sie ihn vernahmen.

„Erinnere mich wieder. War nur Stein. Aber jetzt wieder Geschöpf. Flog fort. Geschleudert.“

Ein Fauchen entfuhr dem Maul des nun etwa katzengroßen Wesens.

„Ganz vorsichtig!“, mahnte Meister Saradul. „Diesem Biest sollte niemand über den Weg trauen!“

Die Hand des Zaubermeisters griff bereits verstohlen zum Zauberstab. Dass er überhaupt glaubte, dieses Hilfsmittel zu benötigen, konnte nur heißen, dass er die Situation als sehr ernst einschätzte.

Unterdessen stoben viele der Bewohner von Hiros, die sich rund um den Krater auf dem Hafenplatz befunden hatten, davon. Selbst den sechsarmigen Riesen mit seinen Baumstämmen verließ der Mut. Er ließ seine Ladung einfach fallen und stürzte davon.

„Ein Dämon!“, hörte man jemanden rufen. „Flieht, so schnell ihr könnt.“

Ambaros hatte sich wieder aufgerappelt und scharrte mit den Hufen. Zweifellos wäre der Zentaur am liebsten einfach davongaloppiert. Aber einerseits wollte er seine Gefährten wohl nicht einfach im Stich lassen, andererseits war er nun einmal sehr neugierig.

„Könnte es sein, dass dieses Geschöpf etwas mit dem Weltenriss zu tun hat?“, fragte Arro. „Wie ein Erzbrocken, den man so einfach einschmelzen und mit dem Schmiedehammer platthauen kann, sieht dieses ...“, er suchte nach dem richtigen Wort und fand es nicht, „... Ding gewiss nicht aus.“

„Schweig!“, herrschte Meister Saradul ihn. „Dies ist nicht der Zeitpunkt, an dem ein Schmied sich äußern sollte.“

„Was meint Ihr ...“

Saradul fiel ihm ins Wort. „Allein dein Gedanke, dieses Geschöpf mit Feuer und Schmiedehammer bearbeiten zu wollen, könnte es zu einem Angriff verleiten!“

Wie zur Bestätigung fauchte der Gargoyle aggressiv. Gleichzeitig erreichte die Gefährten ein Schwall so fremdartiger Gedanken, dass sie nicht in Worte zu übersetzen waren, ganz gleich in welcher Sprache.

„Keine Sorge, niemand haut dich platt oder schmilzt Metall aus dir heraus“, versicherte Tomli und hoffte, dass der entsprechende Gedanke von dem Wesen auch verstanden wurde.

Es fauchte ein weiteres Mal, die Augen glühten auf, und erneut empfingen die Gefährten einen Schwall von Gedanken. Teilweise waren sie völlig chaotisch und wirkten wie Gemurmel in einer fremden Sprache, teils bestanden sie aus Bildern, die ihnen übermittelt wurden: ein explodierender Himmelskörper, das gleißende Licht der Sonne, ein langer Weg durch Raum und Zeit, das Aufglühen in der Luft und der Einschlag in den Boden.

„Habe gebremst ... mit Magie gebremst, damit Sturz nicht so hart. Ar-Don ist mein Name, und ich komme von fernem Ort und aus ferner Zeit. Durch die Zeit geflogen, durch das All geflogen – etwas reißt und zerrt mich hier her. Ein Schlund, ein Abgrund aus Feuer, ganz in der Nähe ... Kein Entkommen ... Für niemanden ...“

Die Gedanken des Gargoyle wurden immer deutlicher, und schließlich hatte Tomli den Eindruck, den Großteil davon gut erfassen zu können. Dabei offenbarte sich ihm aber auch, dass das kleine Ungeheuer eigentlich gar nicht beabsichtigte, ihnen etwas mitzuteilen. Das Wesen sprach in Gedanken mit sich selbst, so als müsste es sich vergewissern, wer es eigentlich war.

Kein Wunder, wenn man eine Reise durch Raum und Zeit hinter sich hatte, ging es Tomli durch den Kopf.

Mit diesen Gedanken machte er den Gargoyle offenbar auf sich aufmerksam, denn das steinerne Wesen wandte den Kopf, um ihn direkt anzusehen.

„Ar-Don ... Gedanken ... verstehen.“

Tomli spürte, wie die Magie in diesem Wesen stärker wurde, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Aber er wagte nicht einmal, seinem Meister eine entsprechende Frage zu stellen, geschweige denn ihn zu warnen. Schließlich wusste er nicht, wie dieses Wesen, das sich Ar-Don nannte, darauf reagieren würde.

Also versuchte Tomli gar nichts zu denken, was äußerst schwierig war. Gleichzeitig fasste er seinen Zauberstab fester. Er konnte nur hoffen, dass wenigstens Meister Saradul oder Lirandil wussten, was zu tun war, falls es brenzlig wurde.

„Ar-Don ... nicht schmelzen ... kein Metall ...“, empfing er einen weiteren, sehr intensiven Gedanken des Gargoyle. „Nur Schlacke ...“

Das Wesen streckte einen seiner Arme aus, der sich auf einmal um das Doppelte verlängerte. Die Pranke bildete lange Finger aus, die an die Beine eines Tintenfischs erinnerten, und plötzlich schossen grelle Strahlen aus ihnen hervor.

Tomli wurde der Zauberstab aus der Hand gerissen. Er flog durch die Luft und landete in der ausgestreckten Hand des Gargoyle.

Meister Saradul wollte eingreifen und richtete seinen Zauberstab auf Ar-Don. Ein flimmernder hellblauer Lichtstrahl jagte aus der Spitze des Stabs, doch die magische Kraft traf den Gargoyle nicht, denn der hatte sich mit kräftigem Flügelschlag blitzschnell in die Lüfte erhoben.

Seine steinernen Schwingen bewegten sich dabei so hastig, dass man sie kaum noch zu sehen vermochte.

Der Lichtstrahl brannte sich in den Boden am Rand des Einschlagskraters. Mehrere Pflastersteine glühten auf und schmolzen.

Der Gargoyle schwebte nun über ihnen in der Luft, Tomlis Zauberstab triumphierend in der Pranke haltend.

„Das hätte niemals passieren dürfen!“, nahm Tomli einen sehr intensiven, völlig entsetzten Gedanken seines Meisters wahr.

Auch Saraduls Zauberstab wurde davongerissen, und im nächsten Augenblick schloss sich Ar-Dons zweite Pranke darum.

Der Gargoyle stieß Laute aus, die an höhnisches Kichern erinnerten.

Olfalas hatte den Bogen von der Schulter genommen und einen Pfeil eingelegt. Bei dem Halbelben ging das so schnell, dass die Bewegungsabläufe kaum zu sehen waren und es für so manchen Menschen wie Zauberei erscheinen mochte. Olfalas sprach eine Formel, um seinen Schuss mit Magie zu verstärken und zu lenken, dann ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen.

Der Pfeil traf den Gargoyle im Flug, bevor er sich mit seiner Beute davonmachen konnte. Es gab einen grellen Blitz, und das Gestein, aus dem Ar-Dons Körper bestand, zerbröselte zu feinem Staub. Er rieselte aus einer Höhe von drei Mannlängen zu Boden, während die Zauberstäbe von Tomli und Meister Saradul auf das Pflaster klirrten.

Der Staub, zu dem der Gargoyle zerfallen war, bedeckte sie, und die Zauberstäbe glühten auf, verformten sich, schmolzen und vermischten sich mit dem Steinstaub.

Dann aber bildete der Gargoyle innerhalb eines Augenaufschlags eine neue Gestalt – und die beiden Zauberstäbe waren mit ihm verschmolzen.

„Jetzt – wieder Metall in Ar-Don!“, nahm Tomli den erfreuten Gedanken des Geschöpfes wahr. „Metall – und Magie! So viel Kraft ... So viel neue Kraft ...“

„So kommst du mir nicht davon!“, knurrte Meister Saradul. Er richtete seine Hände auf den Gargoyle und murmelte eine Formel. Der Zauberstab war nur ein Hilfsmittel, das es einem Magier zwar erheblich erleichterte, seine Kräfte zu konzentrieren. Aber ein Meister wie Saradul war darauf nicht angewiesen.

Lanzen aus Licht schossen aus seinen Handflächen.

Der Gargoyle flog in die Höhe, um ihnen zu entgehen, doch die leuchtenden Gebilde zogen sich nicht in geraden Linien dahin, sondern verzweigten sich und bildeten ein gleißendes Netz.

Der Gargoyle fauchte wütend, als es ihn einfing und sich Hunderte von feinsten Lichtfäden wie Spinnweben um seinen wiederhergestellten steinernen Körper legten.

Der Gargoyle versuchte mit Zähnen und Klauen, die Lichtfäden zu zerreißen. Es blitzte, und Funken sprühten. Schließlich schaffte er es, zerfetzte das Geflecht, das sich um ihn herum gebildet hatte, und flog mit rasender Geschwindigkeit davon.

Meister Saradul sandte erneut gleißende Lichtfäden hinter ihm her, doch diesmal lenkte Ar-Don sie ab. Im Flug hob er die Prankenhand, Blitze zuckten aus den Fingern und trafen die Lichtfäden, die daraufhin die Richtung änderten und zu Saradul zurückkehrten.

Statt Ar-Don einzufangen, fiel das Netz aus Lichtfäden über den Zwergenzauberer und riss ihn zu Boden. Er strampelte, rief eine Formel nach der anderen. Aber die Lichtfäden hielten und verbanden sich miteinander, um ihn immer mehr einzuschnüren.

Ar-Don entfernte sich und war bald nur noch ein kleiner, unscheinbarer Punkt hoch über den Dächern und Türmen von Hiros, ehe er schließlich ganz verschwand.

Die Stunde des Schülers

„Tomli!“, ächzte Meister Saradul.

Sein Schüler stand da wie gelähmt. Was sollte er tun? Er hatte keinen Zauberstab mehr. Der war nun Teil eines Erzbrockens mit Flügeln und Zähnen, und es bestand kaum noch Aussicht, dass Saradul und sein Schüler ihre magischen Hilfsmittel jemals zurückerhalten würden.

Der Gargoyle war auf und davon, und offenbar konnte es seine Magie durchaus mit der eines Mitglieds der Zaubermeisterbruderschaft von Ara-Duun aufnehmen.

Unzählige Gedanken rasten Tomli durch den Kopf. Ihm fielen gleich Dutzende von Formeln ein, die in diesem Moment vielleicht genutzt hätten. Formeln, die die Auswirkungen von Magie dämpften.

Aber erstens war es Tomli nicht gewohnt, seine Magie ohne Zauberstab zu wirken, wie Meister Saradul es meistens tat. Und zweitens hatte er auch mit Zauberstab oft genug zu viel Kraft eingesetzt, was jedes Mal beinahe zu einer Katastrophe geführt hatte.

Und in diesem Fall kam es ganz besonders darauf an, nichts verkehrt zu machen. Schließlich wollte er Meister Saradul nicht in zusätzliche Schwierigkeiten bringen oder gar verletzen.

Dieser wälzte sich am Boden und rang mit den Lichtfäden, die ihn wie in einem Kokon einzuspinnen begannen.

„Tomli!“, ächzte er erneut.

Lirandil griff endlich ein. Er murmelte eine Formel in der Elbensprache und streute ein Pulver aus einem der Beutel an seinem Gürtel über den sich windenden Saradul.

Ein greller Blitz flammte auf, und Lirandil wurde einige Meter weit zurückgeschleudert. Benommen blieb er am Boden liegen.

Elbenmagie und Zwergenzauber vertrugen sich nicht immer.

Also nahm sich Tomli ein Herz und murmelte eine Formel. Es war der stärkste Magieminderungszauber, die ihm einfiel.

Er trat an seinen Meister heran, hob die Hände und konzentrierte sich, während er die Formel sprach. Dabei versuchte er die Angst zu unterdrücken, vielleicht zu viel Kraft einzusetzen. Denn die würden seinen Meister treffen, und das mit unabsehbaren Folgen, zumal Saradul momentan kaum in der Lage war, sich wirksam davor zu schützen.

Grünliches Licht leuchtete aus Tomlis Handflächen und erfasste den sich immer noch am Boden wälzenden Zaubermeister. Den hatten die Lichtfäden inzwischen so eingeschnürt, dass fast nichts mehr von ihm zu sehen war.

Doch anstatt die Kraft der Lichtfäden zu mindern, bewirkte Tomlis Zauber genau das Gegenteil.

Aus dem Kokon um Meister Saraduls Körper schnellten gut ein Dutzend Lichtfäden. Einer erwischte Tomlis Fuß, wickelte sich um seinen Knöchel und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Es geschah so plötzlich, dass der Zwergenjunge den Sturz nicht einmal mehr magisch abmildern konnte.

Er wollte den Arm heben, doch gleich mehrere Lichtfäden hatten sich um Handgelenk und Ellenbogen geschlungen und hielten ihn unten.

„Nun greif doch schon ein, du Zöger-Elb!“, forderte Olba von Olfalas. „Es wird auf jeden Fall nicht schlimmer dadurch werden!“

In Anbetracht der Lage reichte Olfalas diese Aussage der zwergischen Hellseherin, und so wagte er, worüber er schon eine Weile lang nachgedacht hatte, und legte einen Pfeil auf die Sehne.

Meister Saradul war bereits vollkommen in dem Kokon aus Licht eingesponnen, während Tomli noch erfolglos gegen die Fäden kämpfte. Der Lichtkokon bewegte sich nur noch minimal. Offenbar konnte sich der Zwergenmagier kaum mehr rühren.

Olfalas zielte auf den magischen Kokon.

„Da kann ich nicht hinsehen!“, jammerte Ambaros, wandte aber den Blick dennoch nicht ab.

Wieder unterstützte Olfalas seinen Schuss mit einer Formel, doch die Worte, die er diesmal benutzte, entstammten nicht der Elbensprache. Ambaros, der oft in Elbiana Heilkräuter einkaufte, fiel es sofort auf, und er stutzte.

Der Halbelb schoss, doch sein Pfeil fuhr nicht in den Kokon und drang darin ein, sondern schrammte nur an der leuchtenden Oberfläche vorbei, wobei er einen der Fäden aus dem Geflecht zog.

Der Pfeil sauste weiter zur anderen Seite des Hafenplatzes, traf einen der Wachtürme und blieb in einer Fuge zitternd stecken. Den Lichtfaden hatte er hinter sich hergezogen, sodass das Geflecht, in das Saradul eingesponnen war, rasend schnell aufgerollt wurde.

Der Zaubermeister wurde dabei wild umhergeschleudert. Schließlich war er gänzlich befreit, ebenso wie Tomli, denn das ganze Geflecht war miteinander verbunden, und so wurden auch die Fäden fortgerissen, die den Zauberlehrling umschlungen hatten.

Wie eine Ansammlung knisternder Blitze peitschte das Lichtgeflecht durch die Luft auf den Turm zu, bis es schließlich wie ein löchriges Fischernetz aus purem Licht vom Pfeil im Gemäuer hing.

Tomli war einen Augenblick lang schwindelig. In seinem Kopf drehte sich alles.

Olba beugte sich über ihn. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob es wirklich funktionieren würde.“

„Das hättest du mir vorher sagen sollen!“, beschwerte sich Olfalas.

„Dann hättest du weiterhin nur herumgestanden, anstatt etwas zu unternehmen“, entgegnete Olba. „Ich selbst kann ja weder mit dem Bogen schießen noch zaubern, sonst hätte ich selbst eingegriffen.“

Kräftige Arme fassten Tomli unter den Achseln. Es war Arro, der starke Schmiedelehrling, der seinen Freund auf die Füße zerrte. Dann hob er dessen Zwergenhelm auf, der Tomli vom Kopf gefallen war. „Wir sind hier zwar nicht unter der Erde, wo immer die Gefahr besteht, dass einem etwas auf den Kopf fällt, aber ein Zwerg sollte niemals ohne Helm herumlaufen.“

Tomli war im ersten Moment gar nicht in der Lage, nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er setzte den Helm wieder auf, dann wandte er sich nach seinem Meister um.

Um den kümmerte sich bereits Ambaros. Oder wollte es zumindest. Doch dem Zaubermeister war dies offenbar nicht recht, denn mit einer Handbewegung scheuchte er den Zentaur einen Schritt zurück.

Saraduls einzige Sorge schien dem Inhalt seines Rücksacks zu gelten. Er öffnete ihn, um zu sehen, ob mit der Drachenschuppe und dem magischen Buch des Heblon alles in Ordnung war.

Olfalas kniete sich neben Lirandil, der noch immer benommen am Boden lag. Sein Schüler sprach eine Elbenformel und hielt ihm eine Prise geraspelte Heilkräuter unter die Nase. Sogleich erwachte der elbische Fährtensucher und richtete den Oberkörper auf, sich dabei auf die Ellbogen stützend. Er sagte etwas in der Elbensprache zu Olfalas, und obwohl Tomli sie nicht beherrschte, begriff er, dass Lirandil seinen Schüler lobte.

Dann lenkte ein lauter Seufzer der Erleichterung seine Aufmerksamkeit wieder auf Saradul, der die Überprüfung seines Rucksacks abgeschlossen hatte, wobei er mit den Händen sowohl das Buch des Heblon, das aus magischem Rostgold bestand, als auch die Drachenschuppe abgetastet hatte.

Etwas anderes war allerdings überhaupt nicht in Ordnung.

Tomli bemerkte es, als Saradul sich umdrehte.

Er starrte seinen Meister fassungslos an, genau wie Arro, dessen Mund sich öffnete und der dann für eine ganze Weile vergaß, ihn wieder zu schließen.

Nur Olba wirkte nicht ganz so entsetzt. Vielleicht hatte sie es schon vorausgesehen und war daher darauf vorbereitet.

Saradul runzelte die Stirn und setzte sich den Rucksack wieder auf. „Was glotzt ihr mich denn an, als wäre ich ein Zwerg ohne Bart?“

„Ganz so schlimm es ist nicht, Meister“, sagte Tomli und überlegte fieberhaft, wie er Saradul beibringen sollte, was geschehen war.

„Wovon redest du, Schüler?“

„Das solltet Ihr Euch besser selbst ansehen“, sagte Arro.

Saradul blickte in seine Handfläche und murmelte eine Formel, die darin einen Spiegel erscheinen ließ.

Sein Bart war verkohlt. Die magischen Kräfte, denen er ausgesetzt gewesen war, hatten ihn auf grausige Weise verunstaltet. Man hätte meinen können, sein prächtiger, zu Zöpfen geflochtener Bart wäre für einen Moment in ein Feuer gehalten worden.

Als Saradul sah, in welch erbärmlichem Zustand sich die Zierde seines Zwergentums befand, stieß er einen lauten Schrei des Entsetzens aus, und unwillkürlich griff er sich an die Reste seines Barts.

Ein Fehler, denn seine Hände waren noch magisch aufgeladen. Es zischte, und der ohnehin schon völlig ramponierte und größtenteils verkohlte Bart zerfiel zu bröseliger schwarzgrauer Asche.

„Das darf nicht wahr sein!“, jammerte Saradul.

„Meister, er wächst doch nach!“, versuchte Tomli den Zwergenmagier zu trösten.

„Er hat recht“, mischte sich Olba ein. „Ich sehe es voraus.“

„Ach, wirklich?“, giftete Saradul.

„Ihr werdet sehen, Euer Bart wird prächtiger denn je zuvor. Und Ihr werdet die doppelte Anzahl von Zöpfe daraus flechten können.“

Meister Saradul starrte sie aus zornfunkelnden Augen an. „Auf den Beistand einer Zwergin, die ihr wahres Zwergentum verrät, indem sie sich den eigenen Bart entfernen lässt, kann ich verzichten!“, knurrte er. „Will aussehen wie eine Menschin, weil die angeblich hübscher sind!“

„Meister, sie wollte Euch doch nur trösten“, verteidigte Tomli das Zwergenmädchen.

Saradul stampfte mit dem Fuß auf. „Ich bin aber untröstlich!“

Er betastete sein Gesicht, das an ein gerupftes Huhn erinnerte. Es war kaum noch Bart übrig geblieben.

„Ihr wisst doch sicher einen Zauber, der Euch helfen könnte“, wagte Tomli zu hoffen.

„So einfach ist das nicht“, antwortete Meister Saradul. „Zwergenbärte verschwinden zu lassen, das ernährt ganze Kolonnen von unbegabten Möchtegern-Zwergenmagiern, die es niemals schaffen, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden. Doch seit Bärte bei den Zwerginnen außer Mode sind, können sich diese Stümper vor Anfragen kaum noch retten. Aber es ist etwas ganz anders, einen Bart wiederherzustellen, und zwar so, dass man sich mit dem Ergebnis im Gesicht nicht verstecken muss, weil jeder Zwerg sieht, dass es sich nur um ein mit Magie erzeugtes Bartgestrüpp handelt und nicht um einen richtigen Bart, der so ist, wie ein Zwergenbart sein sollte.“

„Ich wüsste eine vorübergehende Lösung für Euch, Meister Saradul“, mischte sich Arro ein. „Bei der Ausübung des Schmiedehandwerks haben selbst die Besten meiner Zunft hin und wieder mal Pech, und so muss ich leider eingestehen, mir über dem Schmiedefeuer auch schon mal den Bart versengt zu haben. Meister Yxli empfahl mir ein ganz einfaches Mittel, das den Schaden verbirgt, bis der Bart wieder nachgewachsen ist.“

„Und was sollte das sein?“, fragte Saradul misstrauisch.

„Ein Halstuch.“ Arro band sich seins ab. Er trug es stets, und Tomli hatte sich schon gefragt, wozu es eigentlich diente. Besonders hübsch war es nämlich nicht.

Arro reichte es Meister Saradul mit den Worten: „Es ist zumindest eine vorübergehende Lösung.“

„Und besser als ein Illusionszauber, den man nur mit sehr viel Mühe über längere Zeit aufrechterhalten kann“, fügte Tomli hinzu.

Zögernd nahm Saradul das Halstuch entgegen und band es sich so um, dass man den Teil seines Gesichts unterhalb der Nasen nicht mehr sehen konnte.

„Man wird mich für einen Straßendieb halten“, grummelte er.

„Da braucht Ihr nur den kläglichen Rest Eures Barts zu zeigen, dann wird jeder verstehen, weshalb Ihr diese Schande lieber verborgen haltet“, war Ambaros überzeugt.

„Ja, macht Euch nur über mich lustig, Zentaur!“, murrte Saradul. „Es heißt zwar, dass man den Pferden das Denken überlassen soll, weil sie die größeren Köpfe haben, aber Euch hat man damit ganz sicher nicht gemeint.“

„Ich wollte Euch wirklich nicht ...“

„Ach, haltet doch den Mund, wenn Euch nichts Gescheites einfällt!“, fiel ihm Saradul ins Wort, dann stapfte er davon.

Ambaros wandte sich an Lirandil. „Habe ich vielleicht nicht ganz den richtigen tröstenden Tonfall getroffen?“

„So scheint es“, erwiderte Lirandil.

„Es muss an der Sprache liegen“, meinte Ambaros. „Dabei habe ich immer gedacht, ich würde die Sprache der Zwerge von Ara-Duun so gut beherrschen, dass ich mich darin feinsinnig genug auszudrücken vermag.“

Lirandil lächelte nachsichtig. „Sich in der Zwergensprache feinfühlig zu äußern, werter Ambaros, bringen ja nicht einmal die Zwerge fertig.“

Tomli wollte Saradul folgen, aber Olba hielt ihn zurück, indem sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Dein Meister muss erst einmal wieder zu sich selbst finden. Du solltest ihn im Moment in Ruhe lassen.“

Unterdessen hatten sich einige der Stadtbewohner wieder auf den Platz am Hafen gewagt, und sie starrten den mit einem Halstuch maskierten Zwerg irritiert an. Einige entfernten sich sicherheitshalber wieder. Und irgendeine schrille Stimme rief: „Schlimm! Schlimm! Da laufen die Straßenräuber schon unbehelligt auf unserem Hafenplatz herum! Wie soll man denn da als Händler noch über die Runden kommen!“

„Lasst uns eine Herberge suchen“, schlug Lirandil den anderen vor.

Sie gingen in Richtung des Tors, das den Hafenplatz von der eigentlichen Stadt trennte, und auf dem Weg dorthin bat Olfalas den Zauberlehrling Tomli, mit seiner Magie den Pfeil zurückkehren zu lassen, der noch in einer Mauerfuge des Stadtturms steckte.

Normalerweise sammelte der Halbelb seine Pfeile immer wieder ein, wenn dazu die Möglichkeit bestand. Nach Elbenart hergestellte Pfeile waren nämlich recht kostbar, und Pfeile, die kein Elb hergestellt hatte, ließen sich zudem nur schwer magisch beeinflussen.

„Ich würde dir gern helfen, Olfalas“, erklärte Tomli, „aber ehrlich gesagt traue ich mich nicht.“

„Wieso nicht?“ In gedämpftem Tonfall fügte Olfalas hinzu: „Deinen Meister möchte ich zurzeit ungern fragen.“

„Das verstehe ich.“

„Und ganz ehrlich“, sprach Olfalas leise weiter, „so viel schwächer scheinen mir deine Kräfte nicht zu sein, auch wenn du erst ein Lehrling bist.“

„Auf Elbenlob soll man nichts geben“, sagte Tomli verlegen lächelnd.

„Wie bitte?“

„Ein Zwergensprichwort.“

„Ah, so.“

„Aber sieh, mein Problem war nie, dass ich nicht genug magische Kraft sammeln könnte“, erklärte Tomli. „Eher im Gegenteil. Und ich kann sie auch leider nicht besonders gut kontrollieren. Jetzt habe ich noch nicht einmal einen Zauberstab, der mir dabei helfen könnte.“

„Aber dieser Pfeil“, murmelte Olfalas und verzog gequält das Gesicht. „Drei Jahre Arbeit!“

Drei Jahre waren natürlich gemessen an dem unwahrscheinlich langen Leben, das einem Elb vergönnt war, nur ein etwas längerer Moment.

„Und das Jahr, in dem ich mir Gedanken über den Pfeil gemacht habe, habe ich noch gar nicht mitgezählt“, fügte Olfalas hinzu.

Die magischen Lichtfäden hingen noch immer von dem Pfeil herab und bewegten sich ein wenig. Ob das an der ihnen innewohnenden Magie lag oder vielleicht am Wind, der vom Meer herüberwehte, hätte nicht einmal der Zauberlehrling zu sagen vermocht. Tatsache war, dass da noch magische Kräfte wirkten. Und das war ein weiterer Grund, weshalb Tomli nicht gleich bereit war, Olfalas zu helfen.

„Ich mache dir einen Vorschlag“, bot er dem Schüler des Fährtensuchers stattdessen an.

„Und der wäre?“

„Wir lassen den Pfeil erst einmal, wo er ist. Dort oben wird ihn sich niemand so leicht holen können. Später kommen wir noch einmal her und sehen, was sich machen lässt.“

Olfalas runzelt die Stirn. „Und was soll sich bis dahin geändert haben?“

„Die magische Kraft in den Lichtfäden wird schwächer werden, und sie werden vermutlich sogar ganz verschwinden“, war Tomli überzeugt. „Das kann eigentlich nur eine Frage von Stunden sein, und spätestens morgen früh kann man den Pfeil vollkommen gefahrlos aus der Turmwand lösen.“

„Morgen früh, sagst du?“ Olfalas schien das überhaupt nicht zu behagen. Er blieb kurz stehen, und die beiden Elbenpferde, die ihm folgten, als wären sie treue Hunde, hielten ebenfalls an.

Der Halbelb seufzte, als er hinauf zum Turm blickte.

„Na gut“, ließ er sich schließlich auf Tomlis Vorschlag ein. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig.

In der Stadt herrschte große Aufregung. Die Ereignisse im Hafen hatten für Unruhe gesorgt. An jeder Ecke sprachen die Bewohner über das, was sich dort ereignet hatte.

Die meisten waren nicht mal so sehr wegen des Auftauchens des Gargoyle besorgt. Was sie ängstigte, war der Schatten, der die Sonne verdeckt hatte, und das Brodeln des Meeres. Und offenbar hatte es nicht nur in der Tiefe rumort.

Dass zum Teil Zinnen von den Mauern gestürzt waren, hatten auch Tomli und seine Gefährten mitbekommen. Hinzu kam, dass ein Riss im Hafenplatz klaffte.

Aber als sich die Gefährten weiter in die Stadt begaben, stellten sie fest, dass es noch weitere Schäden gegeben hatte.

Auch in den gepflasterten Straßen von Hiros war der Boden aufgebrochen, und Risse durchzogen die Wände Dutzender Häuser.

Auf einem der vielen Marktplätze, die es in Hiros gab, stand die Reiterstatue des amtierenden Fürsten der Hirosianer, und auch sie war durch die Erschütterungen in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Fürst hatte den Kopf und einen Arm verloren, die auf dem Pflaster lagen.

„Ich frage mich, ob das Auftauchen dieses Gargoyles bewirkt hat, dass der Weltenriss beinahe bis an die Oberfläche durchgebrochen ist“, überlegte Tomli laut.

„Es könnte auch umgekehrt sein“, meinte Olba. „Vielleicht hat der Riss dieses Wesen aus der Ferne von Raum und Zeit angezogen und abstürzen lassen.“

„Auf jeden Fall mochte der Gargoyle keine Schmiede“, sagte Arro, und das in einem Tonfall, als wäre es eine unumstößliche Tatsache, an der es keinen Zweifel gab.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Tomli seinen Zwergenfreund. „Ich hatte eher den Eindruck, er hätte etwas gegen Magier. Immerhin hat er meinem Meister und mir die Zauberstäbe weggenommen und sie sich ... tja, wie soll ich das sagen? Sie sich einverleibt!“

„Aber ich empfing seine Gedanken, und die galten einem Schmied und waren alles andere als freundschaftlich“, erklärte Arro. „Ich habe keine Ahnung, wieso und weshalb oder was er im Einzelnen gegen Schmiede hat. Aber diese Abneigung konnte ich sehr deutlich spüren.“

„Ist mir leider entgangen“, gestand Tomli und zuckte mit den Schultern. „Kann sein, dass er irgendwann mal schlechte Erfahrungen mir einem Schmied gemacht hat.“

Lirandil mischte sich in ihre Unterhaltung ein, indem er sie mahnte: „Redet nicht unbedacht. Auch wenn ihr die Zwergensprache benutzt, könnt ihr niemals sicher sein, dass euch nicht doch jemand versteht – und dieser Gargoyle hat hier jede Menge Aufsehen erregt.“

„Das mag ja sein, aber ...“

Lirandil ließ nicht zu, dass Tomli weitersprach, sondern legte sich einen Finger auf den Mund und raunte: „Wir reden später über das, was geschehen ist, nicht jetzt. Es gibt da noch einiges, was auch ihr erfahren solltet.“

„Dann hat dieser Gargoyle tatsächlich etwas mit dem Weltenriss zu tun?“, fragte Tomli.

„Später!“, beharrte Lirandil energisch. „Und jetzt übe dich in der schwierigsten aller Zauberkünste: der Magie des Schweigens!“

Die Herberge des Echsenmenschen

Lirandil führte sie zu einer Herberge ganz am anderen Ende der Stadt. Sie lag in unmittelbarer Nähe der äußeren Stadtmauer.

Sie waren bereits in Hiros gewesen, bevor sie zur Insel Rugala aufbrachen, um die Drachenschuppe zu erringen. Damals hatten sie keine Herberge gebraucht, da sie an Bord des Schiffs übernachtet hatten, mit dem sie gereist waren.

Diesmal aber benötigten sie eine Unterkunft.

Lirandil war bei einer seiner ausgedehnten Reisen früher schon einmal in Hiros gewesen und kannte sich daher gut in der Stadt aus.

Die Herberge hieß „Zur letzten Hoffnung“, und als die Gefährten den Schankraum betraten, begrüßte sie ein Echsenmensch aus dem reptilienartigen Volk der Whanur mit ein paar Zischlauten, wobei ihm seine beiden Zungen – von denen eine angeblich nur dem Geruchssinn diente – aus dem lippenlosen Maul schnellten.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783738901795
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
kristall zwerge zwergenkinder

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Der Kristall der Zwerge: Zwergenkinder #4