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Der Kristall der Zwerge: Zwergenkinder #4

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2015 170 Seiten
Reihe: Zwergenkinder, Band 4

Zusammenfassung

DER KRISTALL DER ZWERGE
Zwergenkinder 4

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 165 Taschenbuchseiten.

Ein Abenteuer aus dem Zwischenland der Elben.

Der Elbenkrieger Lirandil und die Zwergenkinder haben es geschafft: Der magische gläserne Schädel aus dem Besitz des legendären Fürsten von Shonda gehört ihnen! Doch er ist eine gefragte Beute: Auf dem Weg zurück nach Ara-Duun werden die drei von den Leviathanreitern angegriffen. Vor langer Zeit hat der Zwerg Ubrak sie verflucht. Mithilfe des Schädels wollen sie endlich den Bann brechen – und die Stadt Ara-Duun dem Erdboden gleichmachen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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DER KRISTALL DER ZWERGE

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Zwergenkinder 4

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 165 Taschenbuchseiten.

Ein Abenteuer aus dem Zwischenland der Elben.

Der Elbenkrieger Lirandil und die Zwergenkinder haben es geschafft: Der magische gläserne Schädel aus dem Besitz des legendären Fürsten von Shonda gehört ihnen! Doch er ist eine gefragte Beute: Auf dem Weg zurück nach Ara-Duun werden die drei von den Leviathanreitern angegriffen. Vor langer Zeit hat der Zwerg Ubrak sie verflucht. Mithilfe des Schädels wollen sie endlich den Bann brechen – und die Stadt Ara-Duun dem Erdboden gleichmachen.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author ;

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Schattenbringer und Weltenriss

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„Vorsicht!“, rief Lirandil. Dass der sonst so ruhige Fährtensucher aus dem Volk der Elben derart sorgenvoll reagierte, hatte seinen Grund. Es ging um sein Elbenpferd, das über eine wackelige Landungsbrücke aus brüchigem Holz von Bord eines Schiffes gehen sollte.

Einer der Seeleute des kleinen Schiffes, das gerade im Hafen von Hiros angelegt hatte, wollte das Pferd an der Mähne fassen. Aber das konnte es nun wirklich nicht leiden. Elbenpferde reagierten auf die Gedanken ihres Herrn und brauchten weder Zaumzeug noch Zügel. Doch nun war das Tier völlig verunsichert. Es wieherte und schnaubte und wagte einfach nicht den nächsten Schritt.

„Rührt es nicht an!“, rief Tomli den Seeleuten zu. Der Zwergenjunge stand neben Lirandil, der mit beruhigenden, aber ebenso entschlossenen Gedanken auf das Tier einwirkte.

„Kadremsa“ hieß das kleine Schiff, mit dem Tomli und seine Gefährten die Überfahrt von der Insel Rugala zum Hafen von Hiros hinter sich gebracht hatten. Der Name bedeutete in der Sprache der Rhagar soviel wie „Nussschale“. Sehr vertrauenerweckend wirkte das natürlich nicht auf Passagiere.

Aber es traf den Nagel auf den Kopf. Die „Kadremsa“ war wirklich kaum mehr als eine Nussschale. Sie hatte keine Aufbauten und nur ein einziges, nicht sehr großes dreieckiges Segel.

Eigentlich war die „Kadremsa“ gar nicht geeignet, um Pferde zu transportieren. Aber kein anderes Schiff hatte Tomli und seine Gefährten von König Wendurs Hafen auf der Insel Rugala aus mitnehmen wollen. Und auch der Kapitän der kleinen „Nussschale“ war nur dazu bereit gewesen, nachdem ihm ein Wucherpreis gezahlt worden war.

Tomli murmelte eine Zauberformel, die das Holz, auf dem das scheue Elbenpferd stand, etwas stabiler machte. Es ächzte nämlich bedenklich.

Endlich bewegte sich das Tier wieder vorwärts und gelangte schließlich an Land. Lirandil nahm es erleichtert in Empfang und tätschelte ihm den Hals.

Das Elbenpferd von Olfalas, dem Schüler des Fährtensuchers, hatte die Prozedur noch vor sich. Aber Olfalas hatte zur Überraschung aller sein Pferd besser im Griff als sein Meister. Der rothaarige Halbelb sandte ihm einen energischen Gedanken, woraufhin es vollkommen ruhig über die Landungsbrücke schritt.

„Die Schwierigkeiten kommen noch“, hörte Tomli das Zwergenmädchen Olba murmeln. Sie stand neben ihm, war aber abgelenkt. Schon die ganze Zeit über blickte sie auf das Meer hinaus.

„Damit meinst du hoffentlich nicht, dass du jetzt doch noch seekrank wirst“, sagte Tomli.

„Nein, das kann nicht passieren“, erwiderte sie. Von König Wendur persönlich hatte sie ein Döschen mit einem Pulver erhalten, das gegen Seekrankheit oder schädliche Einflüsse von Wassergeistern auf das allgemeine Wohlbefinden wirkte.

Sie deutete zur Sonne und blinzelte.

„Dort!“, sagte sie.

Tomli formte mit der Hand einen Schirm, um seine Augen vor der Helligkeit zu schützen. Doch das brauchte er schon einen Moment später nicht mehr. Ein dunkler, runder Schatten bildete sich plötzlich und verdeckte auf einmal den größten Teil der Sonne.

„Ich habe es vorausgesehen“, flüsterte Olba. Das Zwergenmädchen schüttelte tief betroffen den Kopf. Trotzdem war sie in diesem Moment genauso erstaunt wie alle anderen, die sich zurzeit im Hafen von Hiros befanden. Das, was sich am Himmel ereignete, war einfach unfassbar. Selbst der uralte, beinahe unsterbliche Elb Lirandil hatte so etwas in seinem langen Leben noch nicht gesehen.

Es wurde dunkel. Die Sonne war nur noch ein schmaler Lichtkranz, und man konnte die Sterne ausmachen, obwohl es eigentlich helllichter Tag hätte sein müssen. Auch der Mond war auf der andern Seite des Himmels zu sehen. Demnach konnte dies keine gewöhnliche Sonnenfinsternis sein, wie sie ab und zu mal vorkam.

Tomli wusste das. Er hatte schon einmal eine erlebt. Zusammen mit Saradul, seinem Lehrmeister in der Zauberkunst der Zwerge, hatte er damals durch magische Linsen geschaut, durch die man weit entfernte Dinge aus der Nähe betrachten konnte. Er erinnerte sich noch genau. Meister Saradul hatte ihm erklärt, dass sich der Mond für kurze Zeit vor die Sonne schob, sodass sein Schatten auf die Welt fiel.

Aber dies musste etwas anderes sein, durchfuhr es ihn.

Eisiger Wind kam auf, und gleichzeitig bildeten sich auf dem Ozean Blasen, als würde das Wasser anfangen zu kochen. Sie bildeten eine Linie, die sich geradewegs in jene Richtung erstreckte, aus der Tomli und seine Gefährten gerade gekommen waren: zur Insel Rugala!

„Das ist der Weltenriss!“, entfuhr es Meister Saradul.

Der Zwergenzauberer mit den zu Zöpfen geflochtenem Bart schob sich den Helm in den Nacken. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Und die rührten ganz gewiss nicht von der Last des schweren Rucksacks, den er trug, denn mit seiner kräftigen Zwergenstatur machte ihm das Gewicht nicht viel aus.

Er stand ungefähr drei Schritte von Tomli entfernt, und der Zwergenjunge warf ihm einen schnellen Blick zu. Er war bei Saradul aufgewachsen, und so kannte er den Zwergenzauberer gut genug, um sofort zu erkennen, wie erschrocken er war. Ja, er musste zutiefst entsetzt sein.

Saradul war oft übellaunig und mürrisch, auch wenn er es eigentlich gut meinte. Aber richtig erschrocken hatte Tomli ihn nur ganz selten erlebt.

Also musste das, was sich gerade ereignete, wirklich schlimm sein, erkannte Tomli, und er hatte plötzlich ein Gefühl, als würde sich eine eiskalte Hand auf seine Schulter legen.

Der Weltenriss war vor langer Zeit in den tiefsten Höhlen unterhalb der Zwergenstadt Ara-Duun entstanden. Der Zwergenschmied Ubrak hatte ihn versehentlich bei einem magischen Experiment erzeugt, und im Laufe der Zeit hatte er sich unterirdisch immer weiter ausgebreitet. Inzwischen drohte er die ganze Welt zu verschlingen. Die Magie, die von ihm ausging, wurde offenbar immer stärker und war bereits an manchen Stellen schon an der Oberfläche zu spüren.

Das bedeutete, dass es höchste Zeit wurde, dass Tomli und seine Gefährten die Prophezeiung erfüllten. Die besagte, dass drei Zwergenkinder, direkte Nachfahren des Zauberers Ubrak, die Rettung bringen würden: Tomli, der Zauberlehrling, Arro, der Schmied, und Olba, die für kurze Momente in die nahe Zukunft blicken konnte.

Vor einiger Zeit war Tomli zusammen mit Meister Saradul, den Zwergenkindern Arro und Olba, dem elbischen Fährtensucher Lirandil und dessen Schüler, dem rothaarigen Halbelben Olfalas deswegen von Ara-Duun aus zu einer langen Reise aufgebrochen. Ambaros, ein Zentaur, dessen Körper wie eine Mischung aus Pferd und Mensch aussah, hatte sich ihnen angeschlossen. Dem geheimnisvollen Buch des Heblon zufolge mussten die Zwergenkinder sieben magische Gegenstände finden, um den Weltenriss wieder zu schließen, den ihr Vorfahre Ubrak durch seinen Leichtsinn erschaffen hatte.

Drei dieser Gegenstände – Ubraks Amulett, seine Zauberaxt und die Schuppe eines Drachen von Rugala – hatten sie bereits in ihren Besitz gebracht. Aber vier magische Artefakte mussten noch gefunden werden, und damit lag der Großteil ihrer Mission noch vor ihnen.

Aber vielleicht war schon alles zu spät, befürchtete Tomli.

Wenn er in den düsteren Himmel blickte, erschien es ihm jedenfalls so.

„Das Ende der Welt ist gekommen“, hörte Tomli einen der Hafenwächter erschrocken ausrufen. Der Mann ließ vor Schreck seinen Speer fallen.

Tiefste Nacht brach herein, und es wurde eisig kalt. Selbst der schmale Sonnenkranz verschwand.

Aus dem Wasser quollen immer weitere Blasen. Aber es war kein Gas, was da vom Meeresgrund aufstieg. Diese Blasen waren mit Licht gefüllt. Grellem weißen Licht, wie es auch aus dem Weltenriss strahlte.

Tomli hatte den Weltenriss in den Höhlen unterhalb der Tiefenstadt von Ara-Duun schon gesehen. Außerdem spürte er die besondere Art der Magie, die von diesen Lichtblasen ausging. Er murmelte eine Formel, die ihn vor ihrer verderblichen Kraft abschirmen sollte.

Wasser spritzte über die Hafenmauer von Hiros, die das Hafenbecken zum offenen Meer hin abgrenzte. Auch im Hafen selbst geriet das Wasser in Bewegung und ließ die Schiffe schaukeln.

„Sogar die Wassergeister sind auf der Flucht“, erklärte Lirandil, und seine Augen wurden ganz schmal, während er in die dunkle Nacht starrte. Tomli konnte davon nichts erkennen. Aber Lirandil war ja auch ein Elb, und die waren unter anderem für ihre besonders scharfen Augen bekannt.

„Nichts wie weg hier!“, jammerte Ambaros. Der Zentaur stand immer noch auf dem kleinen Schiff, das nun seinem Namen wirklich alle Ehre machte, denn es schaukelte wie eine Nussschale auf den Wellen und zerrte an den Tauen, mit denen es festgemacht war. Die Landungsbrücke knarrte so laut, dass sie in Kürze wohl nicht einmal mehr mit Magie zu stabilisieren war.

„Dann bewegt endlich Euren Pferdehintern und kommt an Land!“, rief Saradul. „Was zwei empfindliche Elbenpferde schaffen, die schon ein falscher Gedanke verrückt machen kann, wird ja wohl auch ein zentaurischer Halsabschneider und Gauner hinkriegen, der dummen Menschen zu überteuerten Preisen Heilkräuter verkauft, von denen man nur Durchfall und Übelkeit bekommt!“

„Erlaubt mal, Meister Saradul!“, empörte sich Ambaros.

„Hopp!“, befahl Saradul mit knarzender Stimme. „Wir sollten wirklich nicht hier bleiben, denn es könnte tatsächlich sehr ungemütlich werden.“

Ambaros schnaufte aufgeregt und hörte sich dabei an wie ein Pferd, das einen langen, scharfen Galopp hinter sich hatte. Er griff mit seinen langen Armen nach hinten, um seine Satteltaschen festzuhalten. Das Gewand, das er über seinem menschenähnlichen Oberkörper trug, spannte dabei etwas. Er machte einen beherzten, wenn auch recht ungeschickten Satz nach vorn und kam mitten auf der Landungsbrücke auf.

Sein linker Hinterhuf ließ das morsche Holz splittern, aber Tomli reagierte blitzschnell und rief eine magische Formel, und so brach das Stück Holz, das der Zentaur herausgetreten hatte, erst weg, als Ambaros bereits einen weiteren Satz gemacht und festen Boden unter den Hufen hatte.

„Geht doch“, meinte Saradul.

Gischt spritzte auf den Landungssteg, und die Menschen im Hafen liefen in Scharen davon. Fischer ließen ihre halb geflickten Netze liegen, Hafenwächter verließen ihre Posten, und auch die Träger und Hafenarbeiter, die vorher schon innegehalten hatten, rannten in Richtung der eigentlichen Stadt.

„Wenn der Weltenriss wirklich aufbricht, gibt es nirgends mehr Rettung“, meinte Lirandil düster.

Während sich Olfalas um die Elbenpferde kümmerte, kniete sein Meister nieder, und sein Gesicht nahm einen angestrengten Ausdruck an. In dem ganzen Krach, der im Hafen von Hiros herrschte, versuchte er ein ganz bestimmtes, sehr feines Geräusch herauszuhören.

Er senkte den Kopf und legte sein spitzes Elbenohr an den Boden. Das schulterlange silbergraue Haar fiel dabei zur Seite.

„Es wird noch schlimmer“, verkündete er, als er sich wieder aufrichtete. „Wir sollten nicht in die Stadt gehen.“

Arro der Starke, wie man den Schmiedelehrling von Meister Yxli nannte, sah Tomli irritiert an. „Was meint er damit?“

Auf dem Rücken trug er ein Futteral, in dem die riesenhafte Zauberaxt ihres gemeinsamen Vorfahren Ubrak steckte. Die Streitaxt war so schwer, dass kaum ein Mensch sie zu führen vermochte. Doch Arro war durch die Ausübung des Schmiedehandwerks für einen Zwergenjungen seines Alters außerordentlich kräftig.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ihm Tomli.

Olba schien mehr zu wissen. Sie hatte mit ihrer Gabe offenbar schon gesehen, was sich ereignen würde.

„Vorsicht!“, warnte sie, aber ihr Ruf ging in dem allgemeinen Tumult unter.

Der Boden erzitterte unter ihren Füßen. An einem der hohen Türme in der Stadt brachen die Zinnen herab, und auf dem großen Hafenplatz, auf dem sich normalerweise geschäftige Händler drängten und ihre Waren feilboten, entstand ein tiefer Riss im gepflasterten Boden.

Steine wurden aus der Spalte emporgeschleudert wie Katapultgeschosse von Belagerungsmaschinen, der Riss zog sich bis zur Kaimauer, und dann lief er innerhalb von Augenblicken mit Wasser voll.

Die Bewegungen in der Erde waren so heftig, dass Tomli beinahe das Gleichgewicht verlor. Die Elbenpferde wieherten.

„Ganz ruhig“, murmelte Olfalas in der Elbensprache, um seine Gedanken, mit denen er die Pferde zu kontrollieren versuchte, besser konzentrieren zu können. Allerdings zeigte dies wenig Erfolg, was wohl daran lag, dass er selbst keineswegs ruhig war.

Die aufsteigenden Lichtblasen platzten eine nach der anderen auseinander. Zuvor waren darin seltsame, ineinander fließende Farben zu sehen.

Manche der Blasen zerplatzen sehr schnell, andere blähten sich zuvor sehr groß auf, während sie immer höher in den Himmel stiegen, und in ihnen waren fremdartige Landschaften zu erkennen.

In einer sah Tomli mit Rankpflanzen bewachsene Felsen und dahinter einen gelbbraunen Himmel und in einer anderen einen Dschungel mit Pflanzen, die riesenhafte Blüten mit Augen hatten und deren Stängel sich wanden wie die Hälse von Tieren.

Tomli war wie gebannt von diesem Anblick. Es war, als würde er durch Fenster aus dickem Glas in andere Welten sehen, vielleicht jene Welten, die hinter dem Riss lagen und aus denen all die grausigen Geschöpfe kamen, die in den letzten Jahrhunderten immer wieder in den tiefsten Schächten und Höhlen von Ara-Duun aufgetaucht waren.

Schließlich aber stiegen keine Blasen mehr an die Meeresoberfläche. Das Wasser beruhigte sich jedoch nicht, und es machte noch immer den Eindruck, als würde es kochen.

Der bis dahin undurchdringliche schwarze Schatten, der die Sonne verdeckte, verschob sich etwas, sodass auf einer Seite die Sonne als Lichtbogen wieder zum Vorschein kam.

In der Mitte dieses dunklen Schattens blitzte auf einmal etwas auf. Ein greller Lichtstrahl schoss von dort in das brodelnde Meer. Für einen Moment sah es aus, als würde auch durch den Himmel ein Weltenriss verlaufen und ihn förmlich auseinander reißen.

Plötzlich wurde Tomli geblendet. Für Augenblicke konnte er nichts sehen. Was immer es für ein Himmelskörper sein mochte, der sich vor die Sonne geschoben hatte, er explodierte, und gleißendes Licht erfüllte den gesamten Himmel.

Dann war es vorbei. Die Sonne strahlte wieder. Ein paar dunkle Flecken tanzten noch vor ihr herum, vielleicht die Schatten von Bruchstücken oder die Auswirkung irgendeiner dunklen Magie.

Tomli murmelte eine Formel, damit sich seine Augen schneller erholten, dennoch dauerte es eine Weile, bis er wieder richtig sehen konnte.

„Was war das?“, fragte er laut.

„Der Schattenbringer“, sagte Lirandil. „Ich habe ihn immer für eine Legende gehalten.“

„Schattenbringer? Was ist das?“

„Später, Tomli.“

„Aber ...“

„Später!“ Aus irgendeinem Grund wollte der Elb in diesem Moment nicht darüber reden.

Tomli wandte sich an Meister Saradul, der auf ihn noch nie zuvor einen so furchtsamen Eindruck gemacht hatte. Der Zwergenmagier wirkte vollkommen verstört.

„Was ist hier geschehen, Meister?“, fragte Tomli, aber Saradul schien ihn gar nicht zu hören.

„Die Frage sollte lieber sein, was sich gleich noch ereignen wird“, mischte sich Olba ein. Sie ließ suchend den Blick über den Himmel schweifen, der wieder strahlend blau war, so als hätte es die Finsternis des Schattenbringers nie gegeben.

„Was suchst du?“, fragte Arro.

„Da ist etwas auf der Reise hierher“, sagte sie. „Es fällt vom Himmel. Etwas oder ... jemand?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht richtig einordnen.“

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Was vom Himmel fällt

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Tomli und seine Gefährten begaben sich zum Hafenplatz, während sich das Leben in Hiros wieder einigermaßen normalisierte.

Hafenwächter eilten herbei und legten hölzerne Planken und Bohlen über den Spalt, der sich mitten durch den Platz zog. Das Holz stammte offenbar aus der Werft, die im Südwesten an den Hafen angrenzte.

Die ersten Marktschreier priesen bereits wieder ihre Waren an. Andere mussten zunächst einmal ihre Holztische wieder aufstellen, die von in Panik geratenen Stadtbewohnern umgeworfen worden waren, und die im Staub liegenden Waren aufsammeln.

Lirandil schritt der Gruppe voran. Ihm folgte Meister Saradul, in dessen schwerem Rucksack sich außer dem Buch des Heblon auch die Drachenschuppe befand, die Tomli von dem Drachenhüter Bagalon auf der Insel Rugala erhalten hatte.

Saradul hatte sie an sich genommen und wollte sie nicht mehr hergegeben. Dass es Tomli gewesen war, der sie durch seinen Mut errungen hatte, spielte für ihn keine Rolle. Die Schuppe war so wichtig, dass er unbedingt selbst auf sie Acht geben wollte.

Vermutlich hätte er am liebsten auch Ubraks Axt mit sich herumgeschleppt, aber das wäre auf die Dauer selbst für einen kräftigen Zwerg wie Saradul zu schwer gewesen.

Auch jetzt bemerkte Tomli, wie sein Lehrmeister manchmal halblaut eine Formel vor sich hinmurmelte, die dazu dienten, das Gewicht von Gegenständen zu reduzieren, damit man sie leichter tragen konnte.

Neben dem Zaubermeister ging Arro der Starke, dahinter Tomli und Olba, die immer wieder zum Himmel sah.

„Ich versteh das nicht“, sagte sie zu Tomli. „Eigentlich müsste es längst heruntergekommen sein.“

„Nicht, dass es uns auf den Kopf fällt“, meinte Tomli.

„Es - oder er“, berichtete ihn das Zwergenmädchen. „Was da herunterkommt, trägt einen Namen und hat Zähne, ist aber aus Stein. Und es braucht für den Weg hierher offenbar länger, als ich dachte.“ Sie zuckte mit den Schultern und strich mit einer Hand über einem der Zöpfe, die unter ihrem Zwergenhelm heraushingen.

„Hört sich nach einem Meteoriten mit Gesicht an“, meinte Arro grinsend.

„Das ist nicht witzig“, sagte Olba.

„War auch nicht witzig gemeint“, beteuerte Arro. „Eher gierig.“

„Wieso gierig?“, wunderte sich Tomli.

„Weil Metall, das man aus Meteoriten-Erz gewinnt, für jeden Schmied etwas ganz Besonderes ist, fast so wertvoll wie Zwergengold“, erklärte Arro. „Manche behaupten sogar, dass es magische Eigenschaften hat, die fast so stark wie die von Dunkelmetall sind.“

Den drei Zwergenkindern folgten der Zentaur Ambaros und Olfalas. Der rothaarige Halbelb war nicht nur ein gelehriger Schüler der alten elbischen Kunst des Fährtenlesens, sondern auch ein extrem guter Bogenschütze. Zudem hatte er ein besonders ausgeprägtes Talent, mit Elbenpferden umzugehen und sie durch seine Gedanken zu lenken.

Darum hatte sein Lehrer Lirandil ihm für den Moment die Gedankenkontrolle über sein Reittier überlassen. Der Fährtensucher wollte sich auf etwas anderes konzentrieren. Vielleicht nahm er mit seinen feinen Elbensinnen sogar schon jenes unbekannte Etwas wahr, das sich auf dem Weg zu ihnen befand.

Sie hatten ungefähr die Mitte des Platzes erreicht, da zischte etwas durch die Luft – schneller als das Geschoss eines Katapults.

„Vorsicht!“, schrie Olba noch. Sie sprang aus dem Stand, und das mit einer Kraft, wie es wohl nur Zwerge vermochten, und warf sich gegen Ambaros. Der war so überrascht, dass er das Gleichgewicht verlor und auf die Seite fiel.

Ein sechsarmiger Riese aus dem fernen Zylopien, der wohl als Träger im Hafen arbeitete und mit langen Baumstämmen beladen war, wich einen Schritt zurück und wirbelte herum. Dabei schlug er mit einem der Baumstämme gegen einen Fahnenmast, der regelrecht gefällt wurde und ein halbes Dutzend gerade wieder aufgerichteter Marktstände niederriss.

Genau dort, wo Ambaros eben noch gestanden hatte, klaffte ein Loch im Pflaster des Platzes. Es hatte einen Durchmesser von zehn Schritten und war so tief, dass sich ein Elb, der sich darin befand, auf die Schultern eines Zwerges hätte stellen müssen, um hinaussehen zu können.

Ambaros wäre um ein Haar noch hineingerutscht, aber Arro und Tomli sprangen hinzu und verhinderten es, indem sie sich gegen seinen Pferdeleib stemmten.

Dann starrten sie in den kleinen Einschlagskrater.

„Ein Meteorit!“, glaubte Arro.

Tatsächlich lag da ein Brocken dampfendes Gestein, das an einigen Stellen aufgeglüht war. Doch die Glut erlosch recht schnell. Gleichzeitig wurde der gesamte Einschlagskrater von einem magischen Schimmer erfüllt.

Sicherheitshalber zog Tomli seinen Zauberstab. Vielleicht musste er sich und seine Gefährten vor der Magie schützen, die in dem Loch wirkte.

Der dampfende Gesteinsbrocken war etwa so groß wie ein Zwergenkopf. Er bewegte sich und veränderte seine Form. Und mit einem Mal verstand Tomli auch, was Olba mit ihren Andeutungen gemeint hatte. Dieser Stein lebte auf eine unheimliche Art und Weise.

Er formte Arme und Beine mit Pranken und Klauen aus. Außerdem einen Kopf mit einem Maul voller nadelspitzer Steinzähne und Augen, die dämonisch leuchteten. Die Form veränderte sich mehrfach.

Die Arme wurden größer und länger, dann schrumpften sie wieder, während die Beine mit ihren Klauenfüßen mächtiger wurden.

Zuletzt falteten sich Flügel aus seinem Steinkörper, die sich langsam auf und nieder bewegten.

„Ein Gargoyle!“, entfuhr es Olfalas – denn diese steinernen Wesen, die als entfernte Verwandte der Drachen galten, waren auch im Zwischenland bekannt.

„Aber kein gewöhnliches Exemplar“, schränkte Lirandil ein.

Der Gargoyle flatterte empor. Seine Farbe veränderte sich, das Steingrau wurde zu einem giftigen Grün, wie manche Frösche und Echsen es zeigten. Es schimmerte aus seinem Inneren heraus, sodass ihn für Augenblicke ein magischer Lichtflor umgab.

Er flog an den Rand des kleinen Einschlagskraters, der bei seiner unsanften Landung entstanden war. Dann ließ er sich nieder und hockte sich nur einen Schritt von Tomli entfernt auf den Boden, um den Blick seiner glühenden Augen schweifen zu lassen.

Ein Gedanke erreichte Tomli – und nicht nur ihn, denn an den Gesichtern der anderen erkannte er, dass auch sie ihn vernahmen.

„Erinnere mich wieder. War nur Stein. Aber jetzt wieder Geschöpf. Flog fort. Geschleudert.“

Ein Fauchen entfuhr dem Maul des nun etwa katzengroßen Wesens.

„Ganz vorsichtig!“, mahnte Meister Saradul. „Diesem Biest sollte niemand über den Weg trauen!“

Die Hand des Zaubermeisters griff bereits verstohlen zum Zauberstab. Dass er überhaupt glaubte, dieses Hilfsmittel zu benötigen, konnte nur heißen, dass er die Situation als sehr ernst einschätzte.

Unterdessen stoben viele der Bewohner von Hiros, die sich rund um den Krater auf dem Hafenplatz befunden hatten, davon. Selbst den sechsarmigen Riesen mit seinen Baumstämmen verließ der Mut. Er ließ seine Ladung einfach fallen und stürzte davon.

„Ein Dämon!“, hörte man jemanden rufen. „Flieht, so schnell ihr könnt.“

Ambaros hatte sich wieder aufgerappelt und scharrte mit den Hufen. Zweifellos wäre der Zentaur am liebsten einfach davongaloppiert. Aber einerseits wollte er seine Gefährten wohl nicht einfach im Stich lassen, andererseits war er nun einmal sehr neugierig.

„Könnte es sein, dass dieses Geschöpf etwas mit dem Weltenriss zu tun hat?“, fragte Arro. „Wie ein Erzbrocken, den man so einfach einschmelzen und mit dem Schmiedehammer platthauen kann, sieht dieses ...“, er suchte nach dem richtigen Wort und fand es nicht, „... Ding gewiss nicht aus.“

„Schweig!“, herrschte Meister Saradul ihn. „Dies ist nicht der Zeitpunkt, an dem ein Schmied sich äußern sollte.“

„Was meint Ihr ...“

Saradul fiel ihm ins Wort. „Allein dein Gedanke, dieses Geschöpf mit Feuer und Schmiedehammer bearbeiten zu wollen, könnte es zu einem Angriff verleiten!“

Wie zur Bestätigung fauchte der Gargoyle aggressiv. Gleichzeitig erreichte die Gefährten ein Schwall so fremdartiger Gedanken, dass sie nicht in Worte zu übersetzen waren, ganz gleich in welcher Sprache.

„Keine Sorge, niemand haut dich platt oder schmilzt Metall aus dir heraus“, versicherte Tomli und hoffte, dass der entsprechende Gedanke von dem Wesen auch verstanden wurde.

Es fauchte ein weiteres Mal, die Augen glühten auf, und erneut empfingen die Gefährten einen Schwall von Gedanken. Teilweise waren sie völlig chaotisch und wirkten wie Gemurmel in einer fremden Sprache, teils bestanden sie aus Bildern, die ihnen übermittelt wurden: ein explodierender Himmelskörper, das gleißende Licht der Sonne, ein langer Weg durch Raum und Zeit, das Aufglühen in der Luft und der Einschlag in den Boden.

„Habe gebremst ... mit Magie gebremst, damit Sturz nicht so hart. Ar-Don ist mein Name, und ich komme von fernem Ort und aus ferner Zeit. Durch die Zeit geflogen, durch das All geflogen – etwas reißt und zerrt mich hier her. Ein Schlund, ein Abgrund aus Feuer, ganz in der Nähe ... Kein Entkommen ... Für niemanden ...“

Die Gedanken des Gargoyle wurden immer deutlicher, und schließlich hatte Tomli den Eindruck, den Großteil davon gut erfassen zu können. Dabei offenbarte sich ihm aber auch, dass das kleine Ungeheuer eigentlich gar nicht beabsichtigte, ihnen etwas mitzuteilen. Das Wesen sprach in Gedanken mit sich selbst, so als müsste es sich vergewissern, wer es eigentlich war.

Kein Wunder, wenn man eine Reise durch Raum und Zeit hinter sich hatte, ging es Tomli durch den Kopf.

Mit diesen Gedanken machte er den Gargoyle offenbar auf sich aufmerksam, denn das steinerne Wesen wandte den Kopf, um ihn direkt anzusehen.

„Ar-Don ... Gedanken ... verstehen.“

Tomli spürte, wie die Magie in diesem Wesen stärker wurde, und er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Aber er wagte nicht einmal, seinem Meister eine entsprechende Frage zu stellen, geschweige denn ihn zu warnen. Schließlich wusste er nicht, wie dieses Wesen, das sich Ar-Don nannte, darauf reagieren würde.

Also versuchte Tomli gar nichts zu denken, was äußerst schwierig war. Gleichzeitig fasste er seinen Zauberstab fester. Er konnte nur hoffen, dass wenigstens Meister Saradul oder Lirandil wussten, was zu tun war, falls es brenzlig wurde.

„Ar-Don ... nicht schmelzen ... kein Metall ...“, empfing er einen weiteren, sehr intensiven Gedanken des Gargoyle. „Nur Schlacke ...“

Das Wesen streckte einen seiner Arme aus, der sich auf einmal um das Doppelte verlängerte. Die Pranke bildete lange Finger aus, die an die Beine eines Tintenfischs erinnerten, und plötzlich schossen grelle Strahlen aus ihnen hervor.

Tomli wurde der Zauberstab aus der Hand gerissen. Er flog durch die Luft und landete in der ausgestreckten Hand des Gargoyle.

Meister Saradul wollte eingreifen und richtete seinen Zauberstab auf Ar-Don. Ein flimmernder hellblauer Lichtstrahl jagte aus der Spitze des Stabs, doch die magische Kraft traf den Gargoyle nicht, denn der hatte sich mit kräftigem Flügelschlag blitzschnell in die Lüfte erhoben.

Seine steinernen Schwingen bewegten sich dabei so hastig, dass man sie kaum noch zu sehen vermochte.

Der Lichtstrahl brannte sich in den Boden am Rand des Einschlagskraters. Mehrere Pflastersteine glühten auf und schmolzen.

Der Gargoyle schwebte nun über ihnen in der Luft, Tomlis Zauberstab triumphierend in der Pranke haltend.

„Das hätte niemals passieren dürfen!“, nahm Tomli einen sehr intensiven, völlig entsetzten Gedanken seines Meisters wahr.

Auch Saraduls Zauberstab wurde davongerissen, und im nächsten Augenblick schloss sich Ar-Dons zweite Pranke darum.

Der Gargoyle stieß Laute aus, die an höhnisches Kichern erinnerten.

Olfalas hatte den Bogen von der Schulter genommen und einen Pfeil eingelegt. Bei dem Halbelben ging das so schnell, dass die Bewegungsabläufe kaum zu sehen waren und es für so manchen Menschen wie Zauberei erscheinen mochte. Olfalas sprach eine Formel, um seinen Schuss mit Magie zu verstärken und zu lenken, dann ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen.

Der Pfeil traf den Gargoyle im Flug, bevor er sich mit seiner Beute davonmachen konnte. Es gab einen grellen Blitz, und das Gestein, aus dem Ar-Dons Körper bestand, zerbröselte zu feinem Staub. Er rieselte aus einer Höhe von drei Mannlängen zu Boden, während die Zauberstäbe von Tomli und Meister Saradul auf das Pflaster klirrten.

Der Staub, zu dem der Gargoyle zerfallen war, bedeckte sie, und die Zauberstäbe glühten auf, verformten sich, schmolzen und vermischten sich mit dem Steinstaub.

Dann aber bildete der Gargoyle innerhalb eines Augenaufschlags eine neue Gestalt – und die beiden Zauberstäbe waren mit ihm verschmolzen.

„Jetzt – wieder Metall in Ar-Don!“, nahm Tomli den erfreuten Gedanken des Geschöpfes wahr. „Metall – und Magie! So viel Kraft ... So viel neue Kraft ...“

„So kommst du mir nicht davon!“, knurrte Meister Saradul. Er richtete seine Hände auf den Gargoyle und murmelte eine Formel. Der Zauberstab war nur ein Hilfsmittel, das es einem Magier zwar erheblich erleichterte, seine Kräfte zu konzentrieren. Aber ein Meister wie Saradul war darauf nicht angewiesen.

Lanzen aus Licht schossen aus seinen Handflächen.

Der Gargoyle flog in die Höhe, um ihnen zu entgehen, doch die leuchtenden Gebilde zogen sich nicht in geraden Linien dahin, sondern verzweigten sich und bildeten ein gleißendes Netz.

Der Gargoyle fauchte wütend, als es ihn einfing und sich Hunderte von feinsten Lichtfäden wie Spinnweben um seinen wiederhergestellten steinernen Körper legten.

Der Gargoyle versuchte mit Zähnen und Klauen, die Lichtfäden zu zerreißen. Es blitzte, und Funken sprühten. Schließlich schaffte er es, zerfetzte das Geflecht, das sich um ihn herum gebildet hatte, und flog mit rasender Geschwindigkeit davon.

Meister Saradul sandte erneut gleißende Lichtfäden hinter ihm her, doch diesmal lenkte Ar-Don sie ab. Im Flug hob er die Prankenhand, Blitze zuckten aus den Fingern und trafen die Lichtfäden, die daraufhin die Richtung änderten und zu Saradul zurückkehrten.

Statt Ar-Don einzufangen, fiel das Netz aus Lichtfäden über den Zwergenzauberer und riss ihn zu Boden. Er strampelte, rief eine Formel nach der anderen. Aber die Lichtfäden hielten und verbanden sich miteinander, um ihn immer mehr einzuschnüren.

Ar-Don entfernte sich und war bald nur noch ein kleiner, unscheinbarer Punkt hoch über den Dächern und Türmen von Hiros, ehe er schließlich ganz verschwand.

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Die Stunde des Schülers

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„Tomli!“, ächzte Meister Saradul.

Sein Schüler stand da wie gelähmt. Was sollte er tun? Er hatte keinen Zauberstab mehr. Der war nun Teil eines Erzbrockens mit Flügeln und Zähnen, und es bestand kaum noch Aussicht, dass Saradul und sein Schüler ihre magischen Hilfsmittel jemals zurückerhalten würden.

Der Gargoyle war auf und davon, und offenbar konnte es seine Magie durchaus mit der eines Mitglieds der Zaubermeisterbruderschaft von Ara-Duun aufnehmen.

Unzählige Gedanken rasten Tomli durch den Kopf. Ihm fielen gleich Dutzende von Formeln ein, die in diesem Moment vielleicht genutzt hätten. Formeln, die die Auswirkungen von Magie dämpften.

Aber erstens war es Tomli nicht gewohnt, seine Magie ohne Zauberstab zu wirken, wie Meister Saradul es meistens tat. Und zweitens hatte er auch mit Zauberstab oft genug zu viel Kraft eingesetzt, was jedes Mal beinahe zu einer Katastrophe geführt hatte.

Und in diesem Fall kam es ganz besonders darauf an, nichts verkehrt zu machen. Schließlich wollte er Meister Saradul nicht in zusätzliche Schwierigkeiten bringen oder gar verletzen.

Dieser wälzte sich am Boden und rang mit den Lichtfäden, die ihn wie in einem Kokon einzuspinnen begannen.

„Tomli!“, ächzte er erneut.

Lirandil griff endlich ein. Er murmelte eine Formel in der Elbensprache und streute ein Pulver aus einem der Beutel an seinem Gürtel über den sich windenden Saradul.

Ein greller Blitz flammte auf, und Lirandil wurde einige Meter weit zurückgeschleudert. Benommen blieb er am Boden liegen.

Elbenmagie und Zwergenzauber vertrugen sich nicht immer.

Also nahm sich Tomli ein Herz und murmelte eine Formel. Es war der stärkste Magieminderungszauber, die ihm einfiel.

Er trat an seinen Meister heran, hob die Hände und konzentrierte sich, während er die Formel sprach. Dabei versuchte er die Angst zu unterdrücken, vielleicht zu viel Kraft einzusetzen. Denn die würden seinen Meister treffen, und das mit unabsehbaren Folgen, zumal Saradul momentan kaum in der Lage war, sich wirksam davor zu schützen.

Grünliches Licht leuchtete aus Tomlis Handflächen und erfasste den sich immer noch am Boden wälzenden Zaubermeister. Den hatten die Lichtfäden inzwischen so eingeschnürt, dass fast nichts mehr von ihm zu sehen war.

Doch anstatt die Kraft der Lichtfäden zu mindern, bewirkte Tomlis Zauber genau das Gegenteil.

Aus dem Kokon um Meister Saraduls Körper schnellten gut ein Dutzend Lichtfäden. Einer erwischte Tomlis Fuß, wickelte sich um seinen Knöchel und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Es geschah so plötzlich, dass der Zwergenjunge den Sturz nicht einmal mehr magisch abmildern konnte.

Er wollte den Arm heben, doch gleich mehrere Lichtfäden hatten sich um Handgelenk und Ellenbogen geschlungen und hielten ihn unten.

„Nun greif doch schon ein, du Zöger-Elb!“, forderte Olba von Olfalas. „Es wird auf jeden Fall nicht schlimmer dadurch werden!“

In Anbetracht der Lage reichte Olfalas diese Aussage der zwergischen Hellseherin, und so wagte er, worüber er schon eine Weile lang nachgedacht hatte, und legte einen Pfeil auf die Sehne.

Meister Saradul war bereits vollkommen in dem Kokon aus Licht eingesponnen, während Tomli noch erfolglos gegen die Fäden kämpfte. Der Lichtkokon bewegte sich nur noch minimal. Offenbar konnte sich der Zwergenmagier kaum mehr rühren.

Olfalas zielte auf den magischen Kokon.

„Da kann ich nicht hinsehen!“, jammerte Ambaros, wandte aber den Blick dennoch nicht ab.

Wieder unterstützte Olfalas seinen Schuss mit einer Formel, doch die Worte, die er diesmal benutzte, entstammten nicht der Elbensprache. Ambaros, der oft in Elbiana Heilkräuter einkaufte, fiel es sofort auf, und er stutzte.

Der Halbelb schoss, doch sein Pfeil fuhr nicht in den Kokon und drang darin ein, sondern schrammte nur an der leuchtenden Oberfläche vorbei, wobei er einen der Fäden aus dem Geflecht zog.

Der Pfeil sauste weiter zur anderen Seite des Hafenplatzes, traf einen der Wachtürme und blieb in einer Fuge zitternd stecken. Den Lichtfaden hatte er hinter sich hergezogen, sodass das Geflecht, in das Saradul eingesponnen war, rasend schnell aufgerollt wurde.

Der Zaubermeister wurde dabei wild umhergeschleudert. Schließlich war er gänzlich befreit, ebenso wie Tomli, denn das ganze Geflecht war miteinander verbunden, und so wurden auch die Fäden fortgerissen, die den Zauberlehrling umschlungen hatten.

Wie eine Ansammlung knisternder Blitze peitschte das Lichtgeflecht durch die Luft auf den Turm zu, bis es schließlich wie ein löchriges Fischernetz aus purem Licht vom Pfeil im Gemäuer hing.

Tomli war einen Augenblick lang schwindelig. In seinem Kopf drehte sich alles.

Olba beugte sich über ihn. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. „Ich war mir nicht ganz sicher, ob es wirklich funktionieren würde.“

„Das hättest du mir vorher sagen sollen!“, beschwerte sich Olfalas.

„Dann hättest du weiterhin nur herumgestanden, anstatt etwas zu unternehmen“, entgegnete Olba. „Ich selbst kann ja weder mit dem Bogen schießen noch zaubern, sonst hätte ich selbst eingegriffen.“

Kräftige Arme fassten Tomli unter den Achseln. Es war Arro, der starke Schmiedelehrling, der seinen Freund auf die Füße zerrte. Dann hob er dessen Zwergenhelm auf, der Tomli vom Kopf gefallen war. „Wir sind hier zwar nicht unter der Erde, wo immer die Gefahr besteht, dass einem etwas auf den Kopf fällt, aber ein Zwerg sollte niemals ohne Helm herumlaufen.“

Tomli war im ersten Moment gar nicht in der Lage, nur ein einziges Wort hervorzubringen. Er setzte den Helm wieder auf, dann wandte er sich nach seinem Meister um.

Um den kümmerte sich bereits Ambaros. Oder wollte es zumindest. Doch dem Zaubermeister war dies offenbar nicht recht, denn mit einer Handbewegung scheuchte er den Zentaur einen Schritt zurück.

Saraduls einzige Sorge schien dem Inhalt seines Rücksacks zu gelten. Er öffnete ihn, um zu sehen, ob mit der Drachenschuppe und dem magischen Buch des Heblon alles in Ordnung war.

Olfalas kniete sich neben Lirandil, der noch immer benommen am Boden lag. Sein Schüler sprach eine Elbenformel und hielt ihm eine Prise geraspelte Heilkräuter unter die Nase. Sogleich erwachte der elbische Fährtensucher und richtete den Oberkörper auf, sich dabei auf die Ellbogen stützend. Er sagte etwas in der Elbensprache zu Olfalas, und obwohl Tomli sie nicht beherrschte, begriff er, dass Lirandil seinen Schüler lobte.

Dann lenkte ein lauter Seufzer der Erleichterung seine Aufmerksamkeit wieder auf Saradul, der die Überprüfung seines Rucksacks abgeschlossen hatte, wobei er mit den Händen sowohl das Buch des Heblon, das aus magischem Rostgold bestand, als auch die Drachenschuppe abgetastet hatte.

Etwas anderes war allerdings überhaupt nicht in Ordnung.

Tomli bemerkte es, als Saradul sich umdrehte.

Er starrte seinen Meister fassungslos an, genau wie Arro, dessen Mund sich öffnete und der dann für eine ganze Weile vergaß, ihn wieder zu schließen.

Nur Olba wirkte nicht ganz so entsetzt. Vielleicht hatte sie es schon vorausgesehen und war daher darauf vorbereitet.

Saradul runzelte die Stirn und setzte sich den Rucksack wieder auf. „Was glotzt ihr mich denn an, als wäre ich ein Zwerg ohne Bart?“

„Ganz so schlimm es ist nicht, Meister“, sagte Tomli und überlegte fieberhaft, wie er Saradul beibringen sollte, was geschehen war.

„Wovon redest du, Schüler?“

„Das solltet Ihr Euch besser selbst ansehen“, sagte Arro.

Saradul blickte in seine Handfläche und murmelte eine Formel, die darin einen Spiegel erscheinen ließ.

Sein Bart war verkohlt. Die magischen Kräfte, denen er ausgesetzt gewesen war, hatten ihn auf grausige Weise verunstaltet. Man hätte meinen können, sein prächtiger, zu Zöpfen geflochtener Bart wäre für einen Moment in ein Feuer gehalten worden.

Als Saradul sah, in welch erbärmlichem Zustand sich die Zierde seines Zwergentums befand, stieß er einen lauten Schrei des Entsetzens aus, und unwillkürlich griff er sich an die Reste seines Barts.

Ein Fehler, denn seine Hände waren noch magisch aufgeladen. Es zischte, und der ohnehin schon völlig ramponierte und größtenteils verkohlte Bart zerfiel zu bröseliger schwarzgrauer Asche.

„Das darf nicht wahr sein!“, jammerte Saradul.

„Meister, er wächst doch nach!“, versuchte Tomli den Zwergenmagier zu trösten.

„Er hat recht“, mischte sich Olba ein. „Ich sehe es voraus.“

„Ach, wirklich?“, giftete Saradul.

„Ihr werdet sehen, Euer Bart wird prächtiger denn je zuvor. Und Ihr werdet die doppelte Anzahl von Zöpfe daraus flechten können.“

Meister Saradul starrte sie aus zornfunkelnden Augen an. „Auf den Beistand einer Zwergin, die ihr wahres Zwergentum verrät, indem sie sich den eigenen Bart entfernen lässt, kann ich verzichten!“, knurrte er. „Will aussehen wie eine Menschin, weil die angeblich hübscher sind!“

„Meister, sie wollte Euch doch nur trösten“, verteidigte Tomli das Zwergenmädchen.

Saradul stampfte mit dem Fuß auf. „Ich bin aber untröstlich!“

Er betastete sein Gesicht, das an ein gerupftes Huhn erinnerte. Es war kaum noch Bart übrig geblieben.

„Ihr wisst doch sicher einen Zauber, der Euch helfen könnte“, wagte Tomli zu hoffen.

„So einfach ist das nicht“, antwortete Meister Saradul. „Zwergenbärte verschwinden zu lassen, das ernährt ganze Kolonnen von unbegabten Möchtegern-Zwergenmagiern, die es niemals schaffen, in die Bruderschaft aufgenommen zu werden. Doch seit Bärte bei den Zwerginnen außer Mode sind, können sich diese Stümper vor Anfragen kaum noch retten. Aber es ist etwas ganz anders, einen Bart wiederherzustellen, und zwar so, dass man sich mit dem Ergebnis im Gesicht nicht verstecken muss, weil jeder Zwerg sieht, dass es sich nur um ein mit Magie erzeugtes Bartgestrüpp handelt und nicht um einen richtigen Bart, der so ist, wie ein Zwergenbart sein sollte.“

„Ich wüsste eine vorübergehende Lösung für Euch, Meister Saradul“, mischte sich Arro ein. „Bei der Ausübung des Schmiedehandwerks haben selbst die Besten meiner Zunft hin und wieder mal Pech, und so muss ich leider eingestehen, mir über dem Schmiedefeuer auch schon mal den Bart versengt zu haben. Meister Yxli empfahl mir ein ganz einfaches Mittel, das den Schaden verbirgt, bis der Bart wieder nachgewachsen ist.“

„Und was sollte das sein?“, fragte Saradul misstrauisch.

„Ein Halstuch.“ Arro band sich seins ab. Er trug es stets, und Tomli hatte sich schon gefragt, wozu es eigentlich diente. Besonders hübsch war es nämlich nicht.

Arro reichte es Meister Saradul mit den Worten: „Es ist zumindest eine vorübergehende Lösung.“

„Und besser als ein Illusionszauber, den man nur mit sehr viel Mühe über längere Zeit aufrechterhalten kann“, fügte Tomli hinzu.

Zögernd nahm Saradul das Halstuch entgegen und band es sich so um, dass man den Teil seines Gesichts unterhalb der Nasen nicht mehr sehen konnte.

„Man wird mich für einen Straßendieb halten“, grummelte er.

„Da braucht Ihr nur den kläglichen Rest Eures Barts zu zeigen, dann wird jeder verstehen, weshalb Ihr diese Schande lieber verborgen haltet“, war Ambaros überzeugt.

„Ja, macht Euch nur über mich lustig, Zentaur!“, murrte Saradul. „Es heißt zwar, dass man den Pferden das Denken überlassen soll, weil sie die größeren Köpfe haben, aber Euch hat man damit ganz sicher nicht gemeint.“

„Ich wollte Euch wirklich nicht ...“

„Ach, haltet doch den Mund, wenn Euch nichts Gescheites einfällt!“, fiel ihm Saradul ins Wort, dann stapfte er davon.

Ambaros wandte sich an Lirandil. „Habe ich vielleicht nicht ganz den richtigen tröstenden Tonfall getroffen?“

„So scheint es“, erwiderte Lirandil.

„Es muss an der Sprache liegen“, meinte Ambaros. „Dabei habe ich immer gedacht, ich würde die Sprache der Zwerge von Ara-Duun so gut beherrschen, dass ich mich darin feinsinnig genug auszudrücken vermag.“

Lirandil lächelte nachsichtig. „Sich in der Zwergensprache feinfühlig zu äußern, werter Ambaros, bringen ja nicht einmal die Zwerge fertig.“

Tomli wollte Saradul folgen, aber Olba hielt ihn zurück, indem sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. „Dein Meister muss erst einmal wieder zu sich selbst finden. Du solltest ihn im Moment in Ruhe lassen.“

Unterdessen hatten sich einige der Stadtbewohner wieder auf den Platz am Hafen gewagt, und sie starrten den mit einem Halstuch maskierten Zwerg irritiert an. Einige entfernten sich sicherheitshalber wieder. Und irgendeine schrille Stimme rief: „Schlimm! Schlimm! Da laufen die Straßenräuber schon unbehelligt auf unserem Hafenplatz herum! Wie soll man denn da als Händler noch über die Runden kommen!“

„Lasst uns eine Herberge suchen“, schlug Lirandil den anderen vor.

Sie gingen in Richtung des Tors, das den Hafenplatz von der eigentlichen Stadt trennte, und auf dem Weg dorthin bat Olfalas den Zauberlehrling Tomli, mit seiner Magie den Pfeil zurückkehren zu lassen, der noch in einer Mauerfuge des Stadtturms steckte.

Normalerweise sammelte der Halbelb seine Pfeile immer wieder ein, wenn dazu die Möglichkeit bestand. Nach Elbenart hergestellte Pfeile waren nämlich recht kostbar, und Pfeile, die kein Elb hergestellt hatte, ließen sich zudem nur schwer magisch beeinflussen.

„Ich würde dir gern helfen, Olfalas“, erklärte Tomli, „aber ehrlich gesagt traue ich mich nicht.“

„Wieso nicht?“ In gedämpftem Tonfall fügte Olfalas hinzu: „Deinen Meister möchte ich zurzeit ungern fragen.“

„Das verstehe ich.“

„Und ganz ehrlich“, sprach Olfalas leise weiter, „so viel schwächer scheinen mir deine Kräfte nicht zu sein, auch wenn du erst ein Lehrling bist.“

„Auf Elbenlob soll man nichts geben“, sagte Tomli verlegen lächelnd.

„Wie bitte?“

„Ein Zwergensprichwort.“

„Ah, so.“

„Aber sieh, mein Problem war nie, dass ich nicht genug magische Kraft sammeln könnte“, erklärte Tomli. „Eher im Gegenteil. Und ich kann sie auch leider nicht besonders gut kontrollieren. Jetzt habe ich noch nicht einmal einen Zauberstab, der mir dabei helfen könnte.“

„Aber dieser Pfeil“, murmelte Olfalas und verzog gequält das Gesicht. „Drei Jahre Arbeit!“

Drei Jahre waren natürlich gemessen an dem unwahrscheinlich langen Leben, das einem Elb vergönnt war, nur ein etwas längerer Moment.

„Und das Jahr, in dem ich mir Gedanken über den Pfeil gemacht habe, habe ich noch gar nicht mitgezählt“, fügte Olfalas hinzu.

Die magischen Lichtfäden hingen noch immer von dem Pfeil herab und bewegten sich ein wenig. Ob das an der ihnen innewohnenden Magie lag oder vielleicht am Wind, der vom Meer herüberwehte, hätte nicht einmal der Zauberlehrling zu sagen vermocht. Tatsache war, dass da noch magische Kräfte wirkten. Und das war ein weiterer Grund, weshalb Tomli nicht gleich bereit war, Olfalas zu helfen.

„Ich mache dir einen Vorschlag“, bot er dem Schüler des Fährtensuchers stattdessen an.

„Und der wäre?“

„Wir lassen den Pfeil erst einmal, wo er ist. Dort oben wird ihn sich niemand so leicht holen können. Später kommen wir noch einmal her und sehen, was sich machen lässt.“

Olfalas runzelt die Stirn. „Und was soll sich bis dahin geändert haben?“

„Die magische Kraft in den Lichtfäden wird schwächer werden, und sie werden vermutlich sogar ganz verschwinden“, war Tomli überzeugt. „Das kann eigentlich nur eine Frage von Stunden sein, und spätestens morgen früh kann man den Pfeil vollkommen gefahrlos aus der Turmwand lösen.“

„Morgen früh, sagst du?“ Olfalas schien das überhaupt nicht zu behagen. Er blieb kurz stehen, und die beiden Elbenpferde, die ihm folgten, als wären sie treue Hunde, hielten ebenfalls an.

Der Halbelb seufzte, als er hinauf zum Turm blickte.

„Na gut“, ließ er sich schließlich auf Tomlis Vorschlag ein. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig.

In der Stadt herrschte große Aufregung. Die Ereignisse im Hafen hatten für Unruhe gesorgt. An jeder Ecke sprachen die Bewohner über das, was sich dort ereignet hatte.

Die meisten waren nicht mal so sehr wegen des Auftauchens des Gargoyle besorgt. Was sie ängstigte, war der Schatten, der die Sonne verdeckt hatte, und das Brodeln des Meeres. Und offenbar hatte es nicht nur in der Tiefe rumort.

Dass zum Teil Zinnen von den Mauern gestürzt waren, hatten auch Tomli und seine Gefährten mitbekommen. Hinzu kam, dass ein Riss im Hafenplatz klaffte.

Aber als sich die Gefährten weiter in die Stadt begaben, stellten sie fest, dass es noch weitere Schäden gegeben hatte.

Auch in den gepflasterten Straßen von Hiros war der Boden aufgebrochen, und Risse durchzogen die Wände Dutzender Häuser.

Auf einem der vielen Marktplätze, die es in Hiros gab, stand die Reiterstatue des amtierenden Fürsten der Hirosianer, und auch sie war durch die Erschütterungen in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Fürst hatte den Kopf und einen Arm verloren, die auf dem Pflaster lagen.

„Ich frage mich, ob das Auftauchen dieses Gargoyles bewirkt hat, dass der Weltenriss beinahe bis an die Oberfläche durchgebrochen ist“, überlegte Tomli laut.

„Es könnte auch umgekehrt sein“, meinte Olba. „Vielleicht hat der Riss dieses Wesen aus der Ferne von Raum und Zeit angezogen und abstürzen lassen.“

„Auf jeden Fall mochte der Gargoyle keine Schmiede“, sagte Arro, und das in einem Tonfall, als wäre es eine unumstößliche Tatsache, an der es keinen Zweifel gab.

„Wie kommst du darauf?“, fragte Tomli seinen Zwergenfreund. „Ich hatte eher den Eindruck, er hätte etwas gegen Magier. Immerhin hat er meinem Meister und mir die Zauberstäbe weggenommen und sie sich ... tja, wie soll ich das sagen? Sie sich einverleibt!“

„Aber ich empfing seine Gedanken, und die galten einem Schmied und waren alles andere als freundschaftlich“, erklärte Arro. „Ich habe keine Ahnung, wieso und weshalb oder was er im Einzelnen gegen Schmiede hat. Aber diese Abneigung konnte ich sehr deutlich spüren.“

„Ist mir leider entgangen“, gestand Tomli und zuckte mit den Schultern. „Kann sein, dass er irgendwann mal schlechte Erfahrungen mir einem Schmied gemacht hat.“

Lirandil mischte sich in ihre Unterhaltung ein, indem er sie mahnte: „Redet nicht unbedacht. Auch wenn ihr die Zwergensprache benutzt, könnt ihr niemals sicher sein, dass euch nicht doch jemand versteht – und dieser Gargoyle hat hier jede Menge Aufsehen erregt.“

„Das mag ja sein, aber ...“

Lirandil ließ nicht zu, dass Tomli weitersprach, sondern legte sich einen Finger auf den Mund und raunte: „Wir reden später über das, was geschehen ist, nicht jetzt. Es gibt da noch einiges, was auch ihr erfahren solltet.“

„Dann hat dieser Gargoyle tatsächlich etwas mit dem Weltenriss zu tun?“, fragte Tomli.

„Später!“, beharrte Lirandil energisch. „Und jetzt übe dich in der schwierigsten aller Zauberkünste: der Magie des Schweigens!“

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Die Herberge des Echsenmenschen

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Lirandil führte sie zu einer Herberge ganz am anderen Ende der Stadt. Sie lag in unmittelbarer Nähe der äußeren Stadtmauer.

Sie waren bereits in Hiros gewesen, bevor sie zur Insel Rugala aufbrachen, um die Drachenschuppe zu erringen. Damals hatten sie keine Herberge gebraucht, da sie an Bord des Schiffs übernachtet hatten, mit dem sie gereist waren.

Diesmal aber benötigten sie eine Unterkunft.

Lirandil war bei einer seiner ausgedehnten Reisen früher schon einmal in Hiros gewesen und kannte sich daher gut in der Stadt aus.

Die Herberge hieß „Zur letzten Hoffnung“, und als die Gefährten den Schankraum betraten, begrüßte sie ein Echsenmensch aus dem reptilienartigen Volk der Whanur mit ein paar Zischlauten, wobei ihm seine beiden Zungen – von denen eine angeblich nur dem Geruchssinn diente – aus dem lippenlosen Maul schnellten.

Lirandil erwiderte etwas, indem er die gleichen zischenden Laute ausstieß.

Tomli war erstaunt. Whanur traf man hin und wieder auch in der Zwergenstadt Ara-Duun an, und Tomli konnte sich kaum vorstellen, wie ein Geschöpf ohne zwei Zungen in der Lage war, diese Laute zu erzeugen, geschweige denn sich in der zischelnden Sprache der Whanur zu unterhalten oder sie gar zu verstehen, was sich Tomli ungleich schwieriger vorstellte.

Für einen Zwerg – und wahrscheinlich auch für jeden Menschen – hörten sich all diese Zischlaute völlig gleich an. Tomli jedenfalls war es unmöglich, darin irgendwelche unterschiedlichen Nuancen oder Betonungen herauszuhören. Dafür musste man wohl das feine Gehör eines Elben haben.

„Das ist Zzzrrsss“, stellte Lirandil den Whanur den anderen vor. „Als ich ihn zuletzt sah, war er gerade aus dem Ei geschlüpft.“

„Lange ist das her“, sagte der Whanur in beinahe perfekter und sehr gut verständlicher Rhagar-Sprache, allerdings mit dem typischen Dialekt der Menschen von Hiros, was darauf hindeutete, dass er sein ganzes Leben hier verbracht hatte. „Und ich habe nichts dagegen, wenn man mich Ilbon nennt.“

„Aber Ilbon ist ein Menschenname“, staunte Ambaros. „Er ist in allen Ländern, in denen die Rhagar-Sprache benutzt wird, ziemlich verbreitet.“

„Und ist für Menschen, Zwerge und Zentauren leicht auszusprechen“, fügte Ilbon hinzu. „Es mag viele Menschen geben, die Ilbon heißen, aber ganz bestimmt nur einen einzigen Whanur, sodass ich mich schon in diesem Punkt von den anderen unterscheide. Außerdem können sich Menschen und Zwerge diesen Namen leicht merkt. Hiros wird nun einmal überwiegend von Menschen und anderen Geschöpfen bevölkert, deren Zungen etwas schwerfällig sind.“

„Und die vor allem nur eine haben, was es auch für mich nicht leicht machte, Eure Sprache zu erlernen, werter Ilbon“, gestand Lirandil.

„Nun, wie dem auch sei, mein Pech ist Euer Glück“, erklärte Ilbon. „Zurzeit sind alle Zimmer im Haus frei, und so habe ich Platz genug für Euch und Eure Freunde, Lirandil. Wie lange wollt Ihr bleiben?“

„Das wissen wir noch nicht. Vielleicht nur eine Nacht. Vielleicht aber auch länger.“

„Falls Ihr darauf spekuliert, dass Euch ein Schiff der Sandlinger durch die Wüste fährt, solltet Ihr nicht allzu große Hoffnungen darauf setzen“, warnte der Whanur. „Zurzeit legt nämlich keines der Wüstenschiffe vor Hiros an. Dabei haben die Sandlinger nicht etwa Schwierigkeiten, sich der Stadt zu nähern. Ihr wisst ja, ihre Wüstenschiffe gleiten nur über feinen Sand. Schon ein wenig Gras, das zwischen den Dünen sprießt, scheint ihre Schiffsmagie so zu stören, dass sie nicht mehr vorwärts kommen. Doch zur Wüste hin gibt es außerhalb der Stadtmauern nichts außer Dünen.“

„Das freut mich zu hören“, mischte sich Ambaros ein.

Der Echsenmann betrachtete ihn daraufhin eingehend. „Es kommen nicht viele Zentauren nach Hiros, deswegen erinnere ich mich an Euch, werter ...?“

„Ambaros. Ich treibe Handel mit allem und jedem“, stellte sich der Zentaur vor und vollführte mit seinem menschähnlichen Oberkörper eine Verbeugung, die viel zu tief war und deshalb sehr ungelenk wirkte. Tomli fürchtete schon, der Zentaur könnte das Gleichgewicht verlieren und nach vorn kippen. Eine Formel, um das gegebenenfalls zu verhindern, kannte der Zwergenjunge zwar aus dem Unterricht bei Meister Saradul, aber sie ohne Zauberstab anzuwenden, hätte er sich im Moment nicht getraut.

„Seid Ihr nicht der Zentaur, den man vor einigen Jahren beinahe wegen mutwilliger Wüstenzerstörung verurteilt hätte?“, fragte der Whanur. Dabei schnellten seine beiden Zungen aus dem Maul.

Man sagte den Whanur nach, sie hätten einen sehr feinen Geruchssinn, der sich sogar mit dem der Elben messen könnte. Tomli hatte auch gehört, dass viele Echsenmenschen aus dem Geruch ihres Gegenübers erkennen könnten, ob dieser Angst hatte oder log. Doch vielleicht war das auch ein Gerücht.

„Wüstenzerstörung – so lautete tatsächlich die Anklage“, gab Ambaros zu. „Eines der düstersten Kapitel meines Lebens. Um ein Haar wäre es mir damals an den Kragen gegangen, und ich hätte den Rest meines Leben in einem finsteren Kerker fristen müssen.“

„Der Prozess hat damals die ganze Stadt beschäftigt“, erinnerte sich Ilbon.

„Als ich damals das Wüstenschiff verließ, bin ich unglücklich gestolpert, wobei mir ein Leinensack mit Kräutersamen vom Rücken fiel und aufplatze. Sofort wurden sie Samen vom Wind davongetragen und in die Wüste verteilt.“ Ambaros seufzte. „Könnt Ihr Euch vorstellen, dass man für so etwas hier in Hiros hart bestraft werden kann?“

„Ein sehr altes Gesetz“, erklärte Ilbon. „Hiros liegt sehr einsam, umgeben von der Wüste auf der einen und dem Ozean auf der anderen Seite. Da ist man froh, dass sowohl die Schiffe des Meeres als auch die Wüstenschiffe der Sandlinger die Stadt mit dem Zwischenland verbinden.“

„Und es wäre natürlich schlimm, würde auf einmal eine dieser Verbindungen abreißen“, schloss Lirandil.

„Beide Verbindungen sind bedroht“, sagte Ilbon. „Auf dem Meer sind es die Wassergeister, und was die Wüste betrifft, gibt es sogar mehr als nur eine einzige Gefahr.“ Der Whanur deutete mit dem grünlich schimmernden, von kleinen Schuppen bedeckten Zeigefinger seiner linken Pranke auf Ambaros und stieß ein kurzes Zischeln aus, dann fuhr er fort: „Ihr habt damals erklärt, dass die ausgestreuten Kräutersamen völlig harmlos wären, da sie im heißen Wüstensand nicht gedeihen könnten und es sich keineswegs um widerstandsfähige Gräser handle.“

„So war es doch auch“, verteidigte sich Ambaros.

„Dennoch war auch ich damals dafür, Euch hart zu bestrafen“, erklärte Ilbon. „Wüstenschädiger sind Verbrecher. Wer leichtfertig die Wüste durch Pflanzensamen bedroht, setzt das Schicksal unserer ganzen Stadt aufs Spiel. Was wäre Hiros ohne den Handelsverkehr, der durch die Wüste zu unserem Hafen führt? Und was wäre ein Wirt wie ich ohne all die Reisenden, die auf diese Weise hierher gelangen!“

„Darf ich mal fragen, wie Ihr seinerzeit aus diesem Schlamassel wieder herausgekommen seid?“, wandte sich Arro an den Zentauren.

„Das habe ich mich damals auch gefragt“, gab Ilbon zu. „Und nicht nur ich. Ich kenne viele in der Stadt, die sich sehr gewundert haben, dass das Gericht so milde zu Euch war.“

„Wozu seid Ihr denn verurteilt worden?“, hakte Arro neugierig nach.

Ambaros hob die Schultern. „Nun, der Fürst von Hiros litt damals unter starken Kopfschmerzen, und nachdem ich während der Gerichtsverhandlung sagte, dass die elbischen Heilkräuter, die man bei mir gefunden hatte, sehr gut dagegen helfen, und ich außerdem noch ganz beiläufig erwähnte, dass mir da ein paar gute Rezepte für Heiltränke bekannt seien, hat der Fürst mit dem Richter gesprochen und der Richter mit dem Ankläger und der Ankläger schließlich mit mir.“

„Nun macht es nicht so spannend“, forderte Ilbon. „Was war das Ergebnis all dieser Gespräche? Ich weiß nur, dass sich viele darüber gewundert haben, dass ein schändlicher Wüstenzerstörer so schnell wieder freikam.“

„Man verurteilte mich, den noch vorhandenen Rest meiner Kräuter dem Fürsten zu überlassen und ihm die entsprechenden Rezepte zur Verfügung zu stellen.“

„Ich wusste gar nicht, dass Ihr Euch mit der Heilkunst der Elben und der Herstellung ihrer Kräutertränke auskennt, Ambaros“, wunderte sich Lirandil. „Immerhin seid Ihr ganz gewiss kein Schamane oder elbischer Heiler.“

Ambaros zuckte erneut mit den Schultern. „Damit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich habe die Kräuter einfach aufgekocht und ein paar Worte in elbischer Sprache gemurmelt. Die beherrsche ich ja, aber natürlich nicht die Elbenmagie. Doch das hat niemand bemerkt, und zum Glück besserte sich der Zustand des Fürsten von da an.“

„Ihr scheint ja ein wahrer Glückspilz zu sein“, knurrte Saradul unter seinem hochgebundenen Halstuch hervor.

Dann wandte er sich an Ilbon, der schon die ganze Zeit über den maskierten Zwerg mit verstohlenen Blicken bedacht hatte. Es war kaum möglich, von dem Gesicht eines Echsenmenschen abzulesen, was er gerade dachte oder fühlte. Aber um zu erkennen, dass sich Ilbon über Saraduls Äußeres wunderte, brauchte man keine Riechzunge zu haben wie ein Whanur.

„Sagt uns jetzt noch, warum zurzeit keine Wüstenschiffe der Sandlinger nach Hiros gelangen“, forderte Saradul. „An den paar Kräutersamen, die unser Freund Ambaros vor Jahren mal unvorsichtigerweise ausgestreut hat, wie es nun mal seiner tollpatschigen Art entspricht, kann es wohl nicht mehr liegen.“

„Wir wissen es nicht“, antwortete Ilbon. „Aber Tatsache ist, dass seid ungefähr einer Woche kein Sandlinger-Schiff mehr hier angelegt hat. Unsere Wächter am Wüstenstadttor langweilen sich bereits, weil sie nichts mehr zu tun haben. So wie ich auch. Dabei habe ich einen sehr günstigen Platz für eine Herberge, denn schließlich muss hier jeder vorbei, der aus der Wüste zum Meereshafen will.“

„Könnten die Wüsten-Orks dafür verantwortlich sein?“, fragte Lirandil. „Als wir vor einiger Zeit aus Ara-Duun nach Cosanien aufbrachen, hieß es, dass sie Krieg gegen die Sandlinger führen.“

Beide Zungen schnellten gleichzeitig aus dem Maul des Whanur, schlangen sich für einen Moment umeinander, verdrehten sich regelrecht wie eine Kordel und flutschten anschließend mit einem schmatzenden Laut wieder zurück ins Echsenmaul.

Tomli hatte das auch schon bei einigen Whanur auf den Märkten von Ara-Duun gesehen.

„Die Wüsten-Orks führen Krieg gegen die Sandlinger?“ Das Zischen, das Ilbon seinen Worten folgen ließ, klang amüsiert. „Das kann unmöglich der Grund für ihr Fernbleiben sein, denn die führen doch andauernd Krieg gegeneinander. Dann versöhnen sie sich, führen wieder Krieg, versöhnen sich erneut, fangen wieder Krieg an und so weiter. Manche Kapitäne der Sandlinger akzeptieren den Frieden nicht, viele Hordenführer der Wüsten-Orks auch nicht, und dann geht das Ganze wieder von vorn los. Nein, wenn das der Grund sein sollte, hätten schon hundert Jahre lang keine Wüstenschiffe mehr in Hiros angelegen dürfen. Ihr Fernbleiben muss eine andere Ursache haben.“

„Habt Ihr eine Vermutung?“, fragte Tomli.

Der Whanur schüttelte den Kopf. Eine Geste der Menschen, Zwerge und Elben, die er sich offenbar angewöhnt hatte. „Nein. Aber man sagt, dass irgendein großes Unheil tief unter der Erde rumort. Heute stürzten Zinnen von Mauern und Türmen, Straßen brachen auf, und das Meer soll gebrodelt haben. Außerdem verfinsterte sich die Sonne. Das sind üble Zeichen, wenn Ihr mich fragt.“

„Ganz so schwarz wollen wir mal besser nicht sehen“, meinte Ambaros.

„Obwohl Ihr ein rücksichtsloser Wüstenzerstörer seid, Zentaur“, sagte der Whanur, „in diesem Punkt muss ich Euch zustimmen. Also genießt die Tage vor der große Katastrophe in meiner Herberge. Es wir Euch an nichts fehlen. Mein Koch ist Mensch und versteht seine Kunst, und die Zimmer sind wanzenfrei - garantiert!“

„Wir sind sehr froh, das zu hören“, sagte Lirandil zurückhaltend.

Selten waren die Gefährten auf ihrer Reise derart gut untergekommen. Selbst in der Burg des Königs von Rugala war es vergleichsweise bescheiden gewesen. Die Zimmer der Herberge „Zur letzten Hoffnung“ waren sehr groß und konnten bei höherem Gästeaufkommen mit schweren Vorhängen unterteilt werden.

In einem der Zimmer trafen sie eine offenbar uralte Echsenfrau, die sich nur noch langsam bewegte und sehr gebeugt ging. Die eigentlich grünlich schimmernde Haut der Whanur war bei ihr schon ganz grau geworden, und zum Gehen brauchte sie einen Stock, auf den sie sich stützen konnte.

Sie trug ganz nach Art der Whanur-Frauen sehr stark gemusterte Kleider in grellen Farben. Tomli hatte gehört, dass sich die Augen der Whanur gänzlich von denen aller anderen Geschöpfe unterschieden, weswegen sie Farben ganz anders sahen als ein Mensch oder Zwerg.

Lirandil sprach zu der Whanur-Frau und benutzte dafür ihre aus Zischlauten bestehende Sprache. Aber es schien bei den Whanur ähnlich wie bei anderen Geschöpfen, im Alter ließ das Gehör nach, und so musste sich Lirandil sehr anstrengen und laut genug zu zischeln, damit ihn die alte Echsendame auch verstand.

„Das ist Ilbons Mutter“, stellte Lirandil sie vor. „Sie hat früher die Herberge geführt und sagt, dass wir sie rufen sollen, sollte es uns an etwas fehlen.“

„Ganz bestimmt“, murmelte Saradul unter seinem Halstuch hervor. Es klang dumpf und wirkte durch die Maskierung noch unfreundlicher, als er es wohl gemeint hatte.

Die alte Whanur-Frau wandte ruckartig den Kopf, die beiden Zungen schnellten aus ihrem Maul und umschlangen sich auf die gleiche Weise, wie die Gefährten es zuvor schon bei Ilbon gesehen hatten.

Dann sagte sie mit leiser, zischelnder Stimme, aber in sehr klar verständlicher Rhagar-Sprache: „Es riecht nach schlechter Laune und tiefem Schmerz, und das so stark, dass es auch eine uralte Echse wie ich noch merkt, obwohl meine Sinne schon sehr schwach geworden sind.“

Meister Saradul verdrehte die Augen. Dass ein ihm so fremdartig erscheinendes Geschöpf wie diese alte Echsenfrau sofort merkte, was mit ihm los war, missfiel ihm.

„Die alte Pracht wird wiederkehren“, sagte Ilbons Mutter, deren eigentlicher Name so unaussprechlich war, dass wohl nur Lirandil in der Lage gewesen wäre, ihn zu formen.

„Jetzt ist es aber gut“, schimpfte Saradul.

„Glaubt Ihr, ich sehe nicht, was mit Euch los ist?“, fragte die alte Echsenfrau und ließ ihren Satz in einem zweistimmigen Zischeln enden. „Ich kenne mich mit Zwergen gut genug aus, um zu wissen, dass es nur zwei denkbare Gründe gibt, die Euch dazu bewegen könnten, Euer Gesicht zu verbergen. Entweder seid Ihr ein Straßenräuber, aber dann hätte mein Sohn Euch nicht hereingelassen ...“

„Was Ihr nicht sagt“, grummelte Saradul.

„... oder Eurer Bart ...“

„Es freut mich sehr, Euch wiederzusehen“, schnitt Lirandil ihr schnell das Wort ab, um zu verhindern, dass sie weitersprach und Meister Saradul vor Wut platzte. „Ein halbes Echsenleben ist es her, denn als ich Euch das letzte Mal sah, wart Ihr eine junge Mutter, deren Sohn gerade geschlüpft war.“

Die Augen der alten Echsenfrau, die so kalt und teilnahmslos gewirkt hatten, nahmen einen eigentümlichen Glanz an. „Ja, das ist lange her“, stimmte sie zu. „Und es entsetzt mich, wie sehr Ihr Euch seitdem verändert habt, Lirandil. Doch der Zahn der Zeit scheint an allem zu nagen.“

„Verändert?“, fragte Lirandil irritiert. „Nun, meine Haare sind bereits vor vielen Zeitaltern ergraut, noch während der großen Seereise aus Athranor, bevor wir Elben ins Zwischenland kamen, aber ...“

„Eure Haare und Euer Gesicht kann ich gar nicht mehr sehen“, sagte die alte Echsenfrau und ließ die Zungen für einen Moment hervorschnellen. „Meine Augen sind leider mit den Jahren sehr schwach geworden. Es ist Euer Geruch, Freund Lirandil, der sich verändert hat.“

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Magier ohne Zauberstab

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Tomli und seine Gefährten versammelten sich im größten der Zimmer, die man ihnen zugewiesen hatte. Ambaros würde darin schlafen, denn es lag als einziges im Erdgeschoss. Zwar konnte der Zentaur durchaus Treppen steigen, aber je nachdem, wie steil oder eng sie waren, war das für ihn mit Schwierigkeiten verbunden, und so war er froh, im Erdgeschoss untergekommen zu sein.

Da nicht genug Sitzmöbel für alle vorhanden waren, nahmen sie auf dem Boden Platz. Ambaros ließ sich auf dem großen Teppich vor dem Bett nieder. Dort wollte er auch in der kommenden Nacht schlafen, da er dem Bett nicht zutraute, sein Gewicht zu tragen.

„Wir haben einiges zu besprechen“, begann Lirandil. „Es hat sich viel ereignet, seit wir in Hiros ankamen. Und ehrlich gesagt, gibt das Anlass zu großer Sorge. Der Weltenriss scheint sich in unfassbare Weise vergrößert zu haben und bereits jetzt Kräfte zu entfalten, die kaum noch zu begreifen, aber sehr zerstörerisch sind.“

„Vier magische Gegenstände müssen wir noch finden“, sagte Saradul und zählte sie auf: „Den Kristallschädel des Bronzefürsten von Shonda, den Hammer des Zwergenschmieds Galabror, den Stab der Windgeister und den Blauen Zauberstein. Nur dann besteht Hoffnung, dass dieses Unheil noch abzuwenden ist.“

„Doch mittlerweile bezweifle ich, dass uns dafür noch genügend Zeit bleibt“, ergriff wieder Lirandil das Wort, „zumal einige dieser Gegenstände genauso schwierig zu finden oder zu beschaffen sein werden, wie es bei Ubraks Amulett, der Zauberaxt und der Drachenschuppe aus Rugala der Fall war.“

„Und dieser Gargoyle?“, fragte Tomli.

„Dieser Gargoyle hat auch damit zu tun“, sagte Lirandil. „Genau wie der Schattenbringer, der die Sonne verdunkelte.“

„Heißt das, Ihr wisst darüber Bescheid, was da heute die Sonne verdeckt hat, werter Lirandil?“, fragte Saradul. Er selbst gab es normalerweise nur ungern zu, wenn er keine Erklärung für ein Ereignis hatte, das unzweifelhaft mit Magie zu tun hatte. Und wenn dann auch noch ein anderer mehr darüber wusste als er, fühlte er sich in seiner Ehre als Mitglied der Zaubermeister-Bruderschaft von Ara-Duun gekränkt.

Aber in diesem Fall war die Neugier einfach stärker als jeder falsche Stolz.

Tomli erging es nicht anders. Und so hing er gespannt an Lirandils Lippen, als der Elb endlich - nach einer für ihn typischen längeren Pause – fortfuhr.

„Ich weiß nicht, ob ich Euch schon einmal von Brass Elimbor erzählt habe. Er lebte bereits zur Zeit des ersten Elbenkönigs Elbanador in Athranor und starb erst kurz, nachdem die Elben das Zwischenland erreichten. Nie hat ein Elb länger gelebt als er. Für viele Zeitalter war Brass Elimbor der Oberste Schamane der Elben, und als dieser war es seine Aufgabe, die Verbindung zu den Eldran aufrechtzuerhalten.“

„Den Eldran?“, fragte Olba. „Was ist das?“

„Die guten Geister unserer Toten“, antwortete Lirandil. „In der Zeit von König Elbanador war die Magie der Elben noch sehr, sehr stark, und Brass Elimbors Macht war so groß, dass er nicht nur Verbindung zu den Geistern jener herstellen konnte, die in der Vergangenheit gestorben waren, sondern auch mit denen aus der Zukunft. Auf diese Weise erfuhr er von einer sehr fernen Zeit, in der die Sonne von einem dunklen Himmelskörper verdeckt wird, dem Schattenbringer. All dies schrieb er auf, und damals in Athranor wusste jedes Elbenkind darüber Bescheid. Heute mag das anders sein.“

„Ihr meint, dass wir heute in die Zukunft gesehen haben?“, fragte Tomli.

„Ja, das glaube ich. Denn die Übereinstimmungen sind zu groß. Und außerdem ...“

„Die Gedanken von Ar-Don!“, platzte Tomli dazwischen. „Er behauptete, nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit gereist zu sein.“

Lirandil nickte. „Richtig, Tomli. Genau das wollte ich gerade sagen.“

„Dann sind die Auswirkungen des Weltenrisses schon so gravierend, dass selbst die Zeit beeinflusst wird“, murrte Saradul, und es war ihm anzuhören, dass ihm innerlich schauderte. „Dieser Gargoyle wurde aus jener fernen Zeit zu uns geschleudert.“

„Und in dieser Zeit“, fügte Lirandil hinzu, „bedroht der Schattenbringer die ganze Welt, denn indem er die Sonne verdeckt, lässt er ein Land nach dem anderen in Eis erstarren. Brass Elimbor erfuhr, dass ihn nur eine äußerst starke Magie beeinflussen kann. Wenn der Weltenriss dies sogar über die Zeit hinweg schafft, gibt uns das einen Eindruck davon, welche gewaltigen Kräfte durch ihn freigesetzt werden.“

„Zu allem Überfluss hat der Gargoyle auch noch unsere Zauberstäbe gestohlen“, erinnerte Tomli. „Gerade hatte ich es geschafft, meine Magie besser zu dosieren.“

„Na, mal nicht übertreiben“, mischte sich Saradul ein. „Und abgesehen davon ist es vielleicht eine gute Gelegenheit zu erlernen, die Magie auch ohne Zauberstab anzuwenden. Allerdings solltest du möglichst damit warten, bis wir an einem Ort sind, an dem du nicht so viel Schaden anrichten kannst wie hier, in einer dicht besiedelten Stadt wie Hiros.“

„Besteht nicht die Möglichkeit, einen neuen Zauberstab zu erwerben?“, fragte Tomli. „Ich meine, es sind doch nur Stäbe aus Metall.“

„Gebt mir einen Schmiedehammer und etwas Eisen, und ich fertige euch Zauberstäbe, so kunstvoll, wie ihr beiden noch keinen gesehen habt“, prahlte Arro.

„So ein Zauberstab mag äußerlich wie ein Stück einfaches Metall erscheinen“, sagte Saradul. „Aber ganz so einfach ist es nicht. Ich will da nicht in die Einzelheiten gehen, doch einen Zauberstab magisch richtig einzustellen und mit Formeln zu besprechen ist eine ganz besondere Kunst. Und wenn man ungeeignetes Metall nimmt oder wenn das Erz, aus dem es gewonnen wurde, von einem verfluchten Ort stammt, kann das unvorhersehbare und vor allem sehr unangenehme Folgen haben.“

„Ich habe schon zwergische Zauberstäbe in bester Qualität auf den Märkten im fernen Aratania gesehen, und die waren gar nicht mal teuer“, meldete sich Ambaros zu Wort. „Warum sollte man sich nicht einfach mal hier in Hiros umsehen? Da wird doch auch mit allem Möglichen gehandelt.“

„Was Ihr im fernen Aratania gesehen habt, waren bestimmt plumpe Fälschungen“, war Meister Saradul überzeugt.

„Das glaube ich nicht“, widersprach Ambaros. „Ein Zwerg aus Ara-Duun verkaufte sie.“

„Sicher ein Betrüger.“

„O nein, ein ehrenwerter Händler! Ich kannte ihn von einigen Märkten in Ara-Duun. Sein Name war, glaube ich, Hambli.“

Saradul runzelte die Stirn. „Etwa Hambli der Garstige?“

„Nun, zu mir war er sehr freundlich, Meister Saradul“, entgegnete der Zentaur. „Zumindest solange er die vage Möglichkeit sah, mir etwas zu verkaufen. Später waren da, glaube ich, ein paar unfreundliche Verwünschungen in der Zwergensprache zu hören, aber ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich Hambli war, der sie ausstieß.“

Saradul lachte rau, was unter dem Tuch, das Arro ihm gegeben hatte, dumpf hervor klang. „Da Zwerge fast nie reisen, war der Markt von Aratania sicherlich nicht mit anderen Zwergenhändlern überlaufen“, spottete er. „Also redet keinen Unsinn! Wer soll es denn sonst gewesen sein, der Euch verwünschte? Nein, nein, das hört sich ganz nach Hambli an. Ein abtrünniger Betrüger, der schwarzmagische Künste anwendet und auch aufgrund anderer Machenschaften aus der Bruderschaft der Zaubermeister ausgeschlossen wurde.“

„Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, über die Verfehlungen eines Zwergen zu sprechen, der einst Mitglied in Eurer Bruderschaft war“, unterbrach Lirandil das Streitgespräch zwischen Saradul und Ambaros, worüber beide nicht sonderlich erbaut schienen.

„Das waren nicht irgendwelche Verfehlungen, deretwegen Hambli aus der Bruderschaft ausgeschlossen wurde“, erklärte Saradul ein klein wenig beleidigt. „Er hat die Illusionszauberformeln unserer Bruderschaft dazu genutzt, auf dem Markt minderwertige Amulette als sehr wertvoll erscheinen zu lassen. Für einen Magier ist das ein Verbrechen. Und Euch, werter Ambaros, sollte es deutlich machen, wem Ihr da auf den Leim gegangen seid.“

„Vielleicht sollte sich Ambaros trotzdem auf dem hiesigen Markt umsehen, ob es da nicht vielleicht doch einen geeigneten Ersatz für unsere Zauberstäbe zu erstehen gibt“, schlug Tomli vor. „Er kennt sich hier schließlich aus und weiß zumindest, wo so etwas unter Umständen angeboten wird.“ Der Zwergenjunge seufzte schwer, bevor er fortfuhr: „Dass uns dieser Gargoyle die Zauberstäbe zurückgibt und sich dafür noch einmal aufschmelzen lässt, kann niemand ernsthaft erwarten. Aber ohne Zauberstab bin ich nur ein halber Magier.“

„Ich stehe jederzeit zu Diensten“, erklärte Ambaros, während Saradul nur eine wegwerfende Handbewegung machte.

„Ich frage mich schon die ganze Zeit über, weshalb der Gargoyle das eigentlich getan hat“, sagte Olba.

„Er braucht diese Stäbe aus dem gleichen Grund wie ihre eigentlichen Besitzer“, antwortete ihr Lirandil. „Er will damit seine eigene Magie besser konzentrieren können. Und diese Magie wird er vermutlich benutzen wollen, um wieder in seine Zeit zurückzukehren.“

„Seine Gedanken waren voller Hass auf Schmiede“, erinnerte Arro die anderen. „Zumindest habe ich sie so aufgefasst, und ich muss sagen, dabei ist es mir ziemlich kalt den Rücken heruntergelaufen. Wie kann jemand dieses ehrbare Handwerk nur so sehr hassen?“

„Da wir dieser Kreatur wohl nicht wiederbegegnen werden, kann uns das herzlich gleichgültig sein“, glaubte der Zwergenzauberer.

„Verzeiht, Meister Saradul, aber in dieser Hinsicht ...“, begann Olba zögernd, verstummte jedoch, als sie Meister Saraduls Blick gewahrte. Da die untere Hälfte seines Gesichtes durch das Halstuch bedeckt war, wirkte dieser Blick noch umso einschüchternder.

„Soll das heißen, du kannst voraussehen, dass er uns noch einmal über den Weg flattert?“, grummelte der Zwergenzauberer.

„Das wird er sogar ganz bestimmt“, antwortete Olba. „Allerdings weiß ich nicht genau, ob wir ihn als unseren Freund oder unseren Feind ansehen sollen.“

„Er ist ein Dieb“, erinnerte Meister Saradul.

Olba zuckte mit den Schultern. „Wie gesagt, ich bin mir nur sicher, dass wir ihm noch einmal begegnen werden.“

„Nun, wir müssen entscheiden, was wir als Nächstes tun“, sagte Lirandil.

„Die Gegenstände, die wir noch finden müssen, sind seit langem verschollen und wurden zuletzt in fernen Ländern gesehen“, erklärte Saradul, womit er nicht gerade optimistische Stimmung verbreitete. „Ich habe Meister Heblons magisches Buch nach Hinweisen durchforstet, wo sie zu finden sind, aber offenbar war selbst ihm das nicht bekannt. Und – mit Verlaub – dieses Buch ist ja auch nicht mehr ganz aktuell.“

„Müsste nicht der gläserne Kristallschädel des Bronzefürsten von Shonda irgendwo hier in Rhagardan sein?“, fragte Lirandil.

Saradul nickte. „Die Betonung liegt auf irgendwo. Ihr wisst, wie groß Rhagardan ist, das Ihr auf Euren Elbenpferden schon durch die Sandlande geritten seit – was übrigens Beweis dafür ist, dass ein zu langes Leben, wie es den Elben zuteil wird, nur dem Verstand schadet.“

„Was hat Ubrak eigentlich mit diesem Schädel zu schaffen?“, fragte Arro. „Ich habe immer gedacht, unser leichtsinniger Vorfahre sei Schmied und Magier gewesen und nicht Glasbläser.“

„Ubrak schmiedete die aus Dunkelmetall bestehenden Augen“, antwortete Saradul.

„Ihr solltet uns mehr über diesen Schädel erzählen, Meister Saradul“, verlangte Ambaros. „Und was die Größe Rhagardans betrifft, so hinterlässt alles Spuren und kann gefunden werden, man muss nur genügend Leute kennen und die richtigen fragen.“

„Diese Worte hätten von einem Fährtensucher der Elben stammen können“, spottete Olfalas, der sich bisher zurückgehalten hatte.

Lirandil bedachte seinen Schüler mit einem tadelnden Blick, und im nächsten Moment waren bei dem Halbelben nicht nur die Haare rot.

„Vor langer Zeit“, berichtete Saradul, „herrschte der Bronzefürst von Shonda über das Menschenvolk der Rhagar und die ganze nördliche Sandlande von Rhagardan. Er hatte das Geheimnis des Metalls gelüftet, und so trugen seine Soldaten Waffen aus Bronze, wodurch ihr Herr großer Macht erlangte – bis später der Eisenfürst von Cosanien seine Regentschaft beendete.“

„Weil Eisen nun einmal stabiler und härter ist als Bronze“, warf Arro, der Schmiedelehrling ein.

„So ist es“, sagte Saradul. „Doch die Zwerge konnten über die minderwertige Bronze und das genauso minderwertige Eisen, wie es die Rhagar benutzten, nur lachen. Die zwergische Schmiedekunst war der der Menschen schon damals um ganze Zeitalter voraus. Und einer Legende zufolge hat der Bronzefürst die Kunst des Bronzegießens auch gar nicht selbst für sich entdeckt, sondern von einem gefangenen Zwerg erfahren, den er dafür die Freiheit versprach.“

„In Shonda erzählt man allerdings, dass ein Zwergenzauber die Bronzeschwerter so brüchig machte, dass die Armee des Bronzefürsten nicht gegen das Heer des Eisenfürsten bestehen konnten“, warf Lirandil ein.

„Üble Gerüchte, von Menschen in die Welt gesetzt“, knurrte Saradul. „Typisch für sie, die Schuld immer anderen zu geben. Und wenn man gar niemanden mehr findet, den man für das eigene Versagen verantwortlich machen kann, ist es stets irgendein Zwerg gewesen, der einem angeblich begegnet ist.“

„Ich wollte Euch nicht unterbrechen“, sagte der Elb mit leisem Lächeln.

„Gut“, murrte Saradul. „Dann will ich weiter von dem Kristallschädel berichten. Einst reiste der Bronzefürst von Shonda nach Ara-Duun, denn seinem Reich drohte große Gefahr durch die Leviathan-Reiter. Die reiten auf riesigen wurmähnlichen Geschöpfen, die sich schlangengleich über den Wüstensand bewegen.“

„Es gibt Leviathane auch hoch oben im Norden, im Eisland“, warf Lirandil ein. „Und die Bewohner des Eislandes reisen sogar im Inneren der Leviathane.“

„Dann müssen diese Geschöpfe entfernte Verwandte der Leviathane der Tiefen Wüste sein“, meinte Saradul. „Bei den Leviathan-Reitern handelt es sich um ein Menschenvolk, auch wenn es ganz andere Gewohnheiten als die Rhagar hat. Und sie bedrohten damals das Reich des Bronzefürsten. Ihre riesenhaften Reittiere vermochten jeglichen Wehrzaun und jede sonstige Befestigung einfach niederzuwalzen. Selbst die Wüsten-Orks und die Sandlinger, deren Magie doch immerhin stark genug ist, um ihre mächtigen Wüstenschiffe über den Wüstensand gleiten zu lassen, wussten sich nicht gegen die Leviathan-Reiter zu wehren. Also wichen sie ihnen aus, was die Katastrophe nur noch schlimmer machte.“

„Warum das?“, wollte Olba wissen.

„Da fragst du noch?“ Saradul schüttelte den Kopf. „Ohne die Sandlinger drohte der gesamte Handelsverkehr in großen Gebieten der Sandlande von Rhagardan zusammenzubrechen. In dieser verzweifelten Lage bat der Bronzefürst den damaligen Zwergenkönig von Ara-Duun um Hilfe. Die Leviathan-Reiter hatten bis dahin in der Tiefen Wüste gelebt, doch nun wurden sie auch für Ara-Duun zur Bedrohung. Also beschloss der Zwergenkönig, dem Bronzefürsten zu unterstützen, und er wandte sich an den zugleich begabtesten Magier und erfindungsreichsten Schmied der ganzen Zwergenheit.“

„Und das war Ubrak“, schloss Arro.

„Genau.“ Saradul nickte so heftig, dass ihm beinahe das Halstuch herunterrutschte, was er gerade noch im letzten Augenblick verhindern konnte. Er murmelte eine Formel, die Tomli sogleich erkannte. Man nannte diesen Zauber die „Magische Klebe“, und Tomli konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie ihm damit einmal ein furchtbares Missgeschick passiert war.

Er hatte die Formel unter Meister Saraduls Aufsicht zum ersten Mal anwendete, um ein Bild aufzuhängen, das er selbst gemalt hatte. Doch dabei war es so sehr mit der Wand verschmolzen, dass es zu einem Relief geworden war und sich nicht mehr entfernen ließ.

Saradul aber war in der Anwendung solcher Magie natürlich viel erfahrener, sodass ihm ein ähnliches Missgeschick bei den kargen Resten seines einstmals so prächtigen Zwergenbartes wohl nicht unterlaufen würde.

„Ubrak ließ von einem Glasbläser, dessen Name nicht überliefert wurde, einen Schädel aus kristallenem Glas anfertigen“, fuhr der zwergische Zaubermeister fort. „Dafür erstellte Ubrak zuvor ein Trugbild aus Licht vom Kopf des Bronzefürsten, an dem sich der Glasbläser orientieren sollte. Danach lud er den Kristallschädel mit magischer Kraft auf und schmiedete zum Schluss noch die Augen aus Dunkelmetall, sodass einer der mächtigsten Zauberwaffen entstand. Am schwierigsten war es, dem Bronzefürsten beizubringen, wie er diesen Schädel einsetzen musste. Die Magie der Menschen war nämlich damals genauso primitiv wie ihre brüchigen Bronzeschwerter.“

„Konnte der Bronzefürst denn mit dem Kristallschädel die Leviathan-Reiter vertreiben?“, fragte Arro.

„Ja, allerdings“, bestätigte Saradul. „Die Magie des Kristallschädels sorgte dafür, dass die Leviathane auf einmal von einer wilden Panik erfasst wurden und die Flucht ergriffen. Seitdem haben sich die Leviathan-Reiter aus der Tiefen Wüste südlich der Knochenküste nicht mehr hervorgewagt.“

„Knochenküste?“, fragte Tomli. „Diesen Begriff höre ich zum ersten Mal.“

„Sie beginnt bereits südlich von Hiros“, wusste Ambaros zu berichten. „Dort liegen massenweise Skelette von angespülten Walen, so erzählen die wenigen Seefahrer, die sich schon dorthin wagten, obwohl es keinen Grund dafür gibt außer purer Neugier. Schließlich ist die Knochenküste so unfruchtbar, dass jede Wüste dagegen wie ein blühender Garten wirkt. Tja, und dahinter liegt in südlicher Richtung die Tiefe Wüste, über die man so gut wie nichts weiß.“

„Und was ist mit den Wüsten-Orks und den Sandlingern?“, fragte Tomli. „Kommen sie dort nicht hin?“

„Die Sandlinger meiden die Heimat der Leviathan-Reiter“, erklärte Meister Saradul. „Was sollten sie dort auch? Sie sind letztlich Geschäftemacher und Händler, so wie unserer werter Ambaros. Bei den Leviathan-Reitern gibt es nichts, was den langen Weg dorthin wert wäre. Und die Wüsten-Orks haben sicherlich Angst davor, dass sie als Leviathanfutter enden, wenn sie sich diesen Kolossen zu weit nähern. Deren Mäuler sind größer als so manches Stadttor!“

„Befindet sich denn der Kristallschädel immer noch in Shonda?“, fragte Tomli. „Wenn das nämlich so wäre, dann ...“

„Das ist leider nicht der Fall“, schnitt Meister Saradul ihm das Wort ab. „Bei einem Überfall der Wüsten-Orks wurde er gestohlen und ist seitdem nicht wieder aufgetaucht. Wo er sich jetzt befindet, ist unbekannt.“

„Nicht einmal in Heblons Buch findet sich ein Hinweis darauf?“, wollte Olba wissen.

„Nur Mutmaßungen, die allesamt nicht stichhaltig sind“, erklärte Meister Saradul. „Natürlich gab es über die Zeitalter hinweg immer wieder mal Gerüchte, dass der Kristallschädel irgendwo aufgetaucht wäre, oft an mehreren Orten zur selben Zeit.“

„Dann sind diese Geschichten also recht unglaubwürdig“, murmelte Lirandil.

„Nun“, schränkte Saradul ein, „diese Gerüchte stammten allesamt aus dem nordwestlichen Rhagardan, nicht etwa aus Cosanien oder gar aus den Ländern nördlich des Pereanischen Meeres. Es gab damals die Vermutung, dass irgendein Vasall des Bronzefürsten die Wüsten-Orks zu dem Diebstahl anstiftete.“

„Warum das?“, fragte Olba.

„Die Orks sollten ihm den Schädel besorgen, weil er mit seiner Hilfe selbst die Macht an sich reißen wollte“, antwortete Saradul. „Aber das sind alles nur Spekulationen.“

„Euren Worten zufolge scheint sich die Suche nach diesem Schädel weitaus schwieriger zu gestalten, als ich angenommen habe“, sagte Ambaros daraufhin nachdenklich.

„Habt denn nicht einmal Ihr Kontakt zu den Wüsten-Orks?“, spottete Saradul. „Ich dachte, man kennt Euch überall und Ihr habt an jedem Ort der Welt schon einmal jemandem ein verdorbenes Kraut angedreht.“

Ambaros schien den Spott in Saraduls Worten überhört zu haben, oder er tat einfach nur so. „Oh, tatsächlich habe ich mit den Orks noch nie Handel getrieben. Jetzt, wo Ihr es ansprecht, fällt es mir selbst auf.“

„Wie sollen wir den Kristallschädel denn nur finden?“, wollte Tomli wissen. „Oder ist vielleicht einer der anderen Gegenstände leichter in unseren Besitz zu bringen?“

„Leichter?“, echote Saradul. „Habe ich das Wort leichter aus deinem Mund gehört, Schüler? Gewöhn es dir ab, solange wir auf dieser Mission sind. Streiche es einfach aus deinem Wortschatz. Wenn du so willst, dann wäre der Schädel die leichteste der Aufgaben, die wir noch zu erfüllen haben. Denn wir sind hier in Hiros zumindest schon einmal weniger als tausend Meilen von jenem Ort entfernt, an dem man angeblich zuletzt von dem Schädel hörte.“

„Nun, eine andere Frage hätte ich noch, Meister ...“

„Aber stell sie nur dann, wenn sie auch von Belang ist.“

„Ich denke, das ist sie. Es geht um die anderen Gegenstände, die wir bisher gefunden haben – das Amulett, die Axt und die Drachenschuppe. Sie hingen doch alle irgendwie mit Ubraks magischem Experiment zusammen. Aber den Schädel konnte unser Vorfahr doch gar nicht mehr dafür benutzen, denn der befand sich erst im Besitz des Bronzefürsten und galt später als verschollen.“

„Richtig, eine gute Frage“, lobte Saradul. „Die hat sich auch Meister Heblon lange gestellt, und schließlich fand er heraus, dass Ubrak einen zweiten Schädel hergestellt hat, denn er wollte eine gleichstarke Waffe gegen den Bronzefürsten zur Verfügung zu haben, falls der eines Tages auf die Idee verfallen würde, die Kraft des Kristallschädels gegen den Zwergenkönig von Ara-Duun einzusetzen.“

„Und dieser zweite Schädel wurde bei dem verhängnisvollen Experiment eingesetzt, das den Weltenriss verursachte“, schloss Arro aus diesen Worten. „Aber könnten wir nicht diesen zweiten Schädel irgendwo auftreiben?“

„Der verschwand damals im Weltenriss“, antwortete Saradul, „und dürfte somit noch schwieriger zu beschaffen sein als das Original.“

Während die anderen sprachen, saß Olba einfach nur da und sagte nichts. Nur Lirandil fiel das auf, und er beobachtete sie, ohne dass sie es bemerkte. Hatte sie durch ihre Gabe irgendetwas gesehen, was sich in Kürze ereignen würde? Jedenfalls hatten sich auf ihrer Stirn tiefe Furchen gebildet, und ihr Blick schien ins Nirgendwo gerichtet.

Olfalas, der ebenso angespannt wirkte wie das Zwergenmädchen, wenn auch nicht so abwesend, sprang plötzlich auf, griff nach seinem Bogen und eilte zur Tür hinaus. Dabei legte er eine Geschwindigkeit an den Tag, die man bei den eher ruhigen Elben nur selten erlebte.

„Mit den guten Sitten der Elben ist es auch nicht mehr weit her“, beschwerte sich Saradul auf seine knurrige Art. „Ihr solltet Eurem Schüler ein besseres Benehmen beibringen, Lirandil. Oder ist das für Fährtensucher nicht ganz so wichtig?“

„Es ist etwas mit den Elbenpferden!“, stellte Olba fest. Auch sie sprang auf und riss Tomli am Arm mit hoch. „Komm! Sonst werden sie vielleicht Gargoyle-Futter!“

Tomli stolperte hinter Olba her, während ihn das Zwergenmädchen mit sich zog. Dabei erreichte ihn ein ziemlich intensiver Gedanke von ihr. „Jetzt musst du beweisen, dass du auch ohne Zauberstab mit Magie umgehen kannst!“

Sie durchquerten den Schankraum der Herberge. Die Elbenpferde waren in einem Gästestall gleich hinter dem Hauptgebäude untergebracht.

Ilbon, der im Schankraum beschäftigt war, stieß ein irritiertes Zischeln aus. Dabei ließ er seine beiden Zungen hervorschnellen. Vielleicht hoffte er, irgendeinen Geruch aufzuschnappen, der ihm die plötzliche Panik seiner Gäste erklären konnte.

„Aber Ihr bleibt doch noch zum Essen, oder?“, rief er ihnen hinterher, als die beiden Zwergenkinder schon im Freien waren. „Mein Koch hat sich mächtig für Euch ins Zeug gelegt!“

Im nächsten Moment rannte ihn Arro, der seinen Gefährten folgte, beinahe um.

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Ar-Don der Gierige

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Tomli und Olba stürmten in den Stall. Die Elbenpferde hatten sich in die hinterste Ecke gedrängt. Sie schnaubten und waren sichtlich erregt.

Auf der anderen Seite des Stalls befand sich am Giebel ein offenes Fenster. Es war groß genug für einen Gargoyle, um hindurchzufliegen. Mitten im Stroh hockte das steinerne drachenähnliche Geschöpf.

Seine Flügel hatte Ar-Don angelegt, doch als die beiden Zwergenkinder in den Stall stürmten, breitete er sie wieder aus und ließ ein lautes Fauchen hören.

Zwei Pfeile aus Olfalas Köcher steckten bereits in der Holzwand des Stalls. „Ich konnte ihn diesmal nicht einmal treffen“, sagte der Halbelb.

Er hatte offenbar mit seinen feinen Ohren gehört, dass irgendetwas mit den Elbenpferden nicht stimmte. Deren Herzschlag musste für das Gehör eines Elben im Moment einem Trommelwirbel gleichen.

Olfalas hatte bereits einen neuen Pfeil eingelegt und auf den Gargoyle gerichtet, aber bisher nicht geschossen.

„Wieso konntest du ihn nicht treffen?“, wunderte sich Arro, der einen Augenblick nach Olba und Tomli in den Stall gepoltert war.

„Weil er mir ausgewichen ist! Bei Elbanador, dem legendären ersten Elbenkönig in Athranor! Ich habe noch nie ein Wesen sich so schnell bewegen sehen!“

„Dann hat er seit der ersten Begegnung mit dir dazugelernt“, meinte Olba.

„Scheint mir auch so“, bestätigte Olfalas.

Der Gargoyle kroch über den Boden wie ein Raubtier, das kurz davor stand, sich auf seine Beute zu stürzen. „Ar-Don braucht Kraft. Und Nahrung. So schwach ... so lange Reise liegt hinter ihm ...“

„Aber unsere Elbenpferde lässt du in Ruhe!“, stellte Olba unmissverständlich klar. Bei der resoluten und sehr bestimmten Art, wie sie sprach, konnte man hoffen, dass der entsprechende Gedanke in aller Deutlichkeit bei Ar-Don ankam.

Der Gargoyle fauchte erneut, riss das Maul weit auf und ließ es anwachsen, während der Rest seines Körpers schrumpfte.

Inzwischen waren auch Lirandil und Saradul eingetroffen.

Ambaros ließ auf sich warten. Aber vielleicht war es auch besser, wenn er sich zunächst einmal in sicherer Entfernung hielt. Schließlich war nicht auszuschließen, dass der Gargoyle plötzlich Appetit auf einen Zentaur bekam, wenn sich herausstellte, dass er die Elbenpferde nicht bekam.

Ein Schwall von Gedanken ging plötzlich von Ar-Don aus. Es waren Bilder.

Gedankenbilder.

Tomli und die anderen sahen Ar-Don mit den absonderlichsten Kreaturen kämpfen. Manche von ihnen waren so riesenhaft, dass der Gargoyle dagegen wie ein Winzling wirkte. Doch wenn er sein Opfer biss, zerfiel es zu Staub, und diesen Staub nahm Ar-Dons Körper in sich auf. Er verschmolz mit dem Staub, der sich in Stein verwandelte und den Gargoyle auf diese Weise wachsen ließ. Zum Schluss ahmte er die Form eines riesenhaften Wollnashorns nach, das er getötet und in sich aufgenommen hatte.

„Ar-Don ist viele. Muss größer werden wie früher schon ... Ich brauche Kraft und Staub und ... größer ... mehr!“

Die Flut der Gedankenbilder brach ab.

Dafür war etwas anderes wahrzunehmen. Eine unheimliche Gier, die so fremdartig wirkte, dass Tomli sie zunächst gar nicht begreifen konnte.

„Wir wollen, was uns zusteht!“, ging plötzlich ein eher trotziger Gedanke von Ar-Don aus. „Sonst wird Ar-Don sich nehmen, was er braucht!“

„Denk dir bitte ganz schnell etwas aus“, murmelte Olba dem jungen Zauberlehrling zu. „Du musst etwas tun!“

„Unternimm nichts!“, widersprach Meister Saradul jedoch energisch.

Ar-Don fauchte, seine Augen funkelten und blitzten plötzlich grell auf.

Dann sprang er mit enormer Kraft in die Höhe und breitete die Schwingen aus. An den Enden seiner Arme bildeten sich langfingrige Klauen.

Das Wiehern der Pferde wurde so schrill, dass es den Zwergenkindern in den Ohren schmerzte.

Ar-Don sprang auf die Pferde zu und ...

Im selben Moment pfiff einer von Olfalas magisch verstärkten Pfeilen durch die Luft. Doch der Gargoyle wich aus, so schnell, dass die Bewegung nur von einem Elbenauge wahrgenommen werden konnte. Für Menschen, Zwerge oder Zentauren sah es aus, als hätte sich Ar-Don innerhalb eines Wimpernschlags von dem einen an den anderen Ort versetzt.

Der Pfeil verfehlte ihn ebenso wie seine Vorgänger und blieb zitternd in der Wand stecken. Blitze zuckten noch aus ihm heraus, da Olfalas ihn mit Magie aufgeladen hatte.

Saradul ließ magische Strahlen aus seinen Händen schießen, die jedoch nach oben abgelenkt wurden. Sie brannten ein Loch in das Dach des Pferdestalls und zuckten in den Abendhimmel.

Ar-Don behauptete zwar schwach zu sein, doch gegen einen derartigen magischen Angriff verstand er sich bestens zu verteidigen.

Doch dann schlingerte seine Flugbahn.

Arro hatte längst Ubraks Axt aus dem Futteral auf seinem Rücken gezogen. Er hielt die mächtige Waffe, die eigentlich viel zu groß für ihn war, mit beiden Händen.

Der Gargoyle krachte gegen die flache Seite der Axtklinge. Es gab einen lauten Knall, und Funken sprühten sowohl aus der Klinge als auch aus Ar-Dons steinernen Leib.

Er prallte von der Axtklinge ab, schoss förmlich in die Luft und schlug durch das Holzdach des Stahls, sodass dort ein zweites Loch entstand, dessen Rand allerdings kurz aufflammte. Der Geruch von verkohltem Holz breitete sich aus.

Olba blickte zuerst zu Tomli, dann zu Arro. Der Schmiedelehrling war selbst am meisten erstaunt über das, was geschehen war.

„Gut gemacht, Arro“, meinte Olba, deren Stirnrunzeln wohl besagte, dass sie die Ereignisse nicht so vorausgesehen hatte, wie sie eingetreten waren.

Lirandil kümmerte sich indessen um die Elbenpferde und beruhigte sie, indem er eine Formel in elbischer Sprache murmelte. Das letzte Wort wiederholte er immer wieder, wobei der singsanghafte Rhythmus, in dem der Fährtensucher es aussprach, immer langsamer wurde.

Tomli erkannte, dass er ihnen auf diese Weise den Takt ihres Herzschlags vorgab.

„Wir hatten Glück“, war Saradul überzeugt.

Olba wandte sich an Tomli. „Ich habe gedacht, du müsstest mit Magie eingreifen. Ich habe nur den Angriff vorausgesehen.“

„Und ich habe dagestanden wie ein Zauberlehrling am ersten Ausbildungstag, weil ich einfach nicht wusste, was ich tun sollte“, gab Tomli zu. „So ohne Zauberstab ...“

„Sei froh darum!“, mischte sich Meister Saradul ein. „Du hast ja gesehen, was passiert ist, als ich versuchte, die Steinkreatur mit Magie abzuwehren.“ Der maskierte Zwerg deutete auf die beiden Löcher im Dach, von denen er eins zu verantworten hatte. „Ich spürte, dass der Gargoyle magisch stark aufgeladen war, sodass jeder magische Angriff auf ihn zum Scheitern verurteilt war.“

„Und doch habt Ihr Euere eigene Magie eingesetzt?“, sagte Lirandil verwundert.

„Es war ...“ Saradul zögerte.

„Eine Panikreaktion?“, fragte Olba.

„Ein Zaubermeister kennt keine Panik!“, behauptete Saradul.

Doch Tomli kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass Olbas Bemerkung den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, sonst hätte Saradul nicht derart schroff reagiert.

„Ich wollte nur nicht, dass wir ohne Elbenpferde dastehen und meine fußschwachen Gefährten mich tagelang aufhalten“, grummelte Saradul. „Als ich in den Gedanken dieses kleinen geflügelten Monstrums die Absicht erkannte, sich auf die Reittiere der Spitzohren zu stürzen, habe ich mich hinreißen lassen, genau das zu tun, was ich eigentlich nicht hätte tun sollen.“

„Zumindest wissen wir jetzt, wie schnell dieser Ar-Don dazulernt“, meinte Lirandil. „Er hat sich bestens gegen unsere Magie gewappnet.“

Saradul nickte grimmig und wandte sich an den Halbelben. „Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Lass deine Pfeile bei der nächsten Begegnung mit ihm im Köcher stecken. Jeder Schuss ist Verschwendung!“

„Dann rechnet auch Ihr damit, dass wir Ar-Don wiedersehen?“, fragte Olba.

Saradul hob die buschigen Augenbrauen und zog sie anschließend so zusammen, dass sie eine durchgehende Linie aus Haaren bildeten. Tomli hatte früher immer versucht, dieses Augenbrauenkunststück seines Meisters nachzuahmen, es aber nie geschafft. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine Augenbrauen ebenso wie sein bisher noch sehr flaumiger, dünner Bart einst genauso kräftig sein würden wie bei einem erwachsenen Zwerg.

„Du auch, Olba?“, fragte Saradul, und Sorge schwang in seinem Tonfall mit.

„Ich bin mir sogar sicher“, gestand sie. „Allerdings habe ich keine Ahnung, warum er uns offenbar verfolgt.“

„Aber ich weiß es“, behauptete Arro. Er hielt die Axt hoch, die er noch immer nicht ins Futteral zurückgesteckt hatte.

„Schlimme Zeiten sind dies, in denen Schmiedelehrlinge glauben, sich in die Belange von Zauberern einmischen zu können“, murrte Saradul kopfschüttelnd, doch dann forderte er Arro auf: „Aber sprich nur. Immerhin hast du Ubraks Axt auf meisterhafte Weise geführt und als Einziger von uns den Gargoyle wirksam bekämpft.“

„Ich habe ihn nicht bekämpft!“, korrigierte Arro. „Der Gargoyle ist mir gegen die Axtklinge geflogen. Ich habe nichts weiter getan, als die Axt in der Hand zu halten.“

„Sie schimmert immer noch, als wäre Magie darin wirksam“, stellte Olba fest. Sie wandte sich an Tomli. „Du hast mehr Ahnung davon. Was meinst du also?“

Tomli berührte mit ausgestrecktem Finger die Klinge, die Arro ihm hinhielt. Ein kleiner Blitz zuckte daraus hervor. Tomli murmelte sogleich eine Formel, um die Wirkung zu dämpfen, und sagte dann: „Es scheint zu einem Austausch gekommen zu sein.“

„Einem Austausch von Magie?“, fragte Olba.

Tomli nickte. „Ich weiß nur nicht, in welche Richtung.“

„Magische Kraft zieht den Gargoyle anscheinend an“, sagte Saradul. „Vielleicht ...“ Der maskierte Zwerg griff sich unter das Halstuch, um sich in gewohnter Weise an seinem Bart zu kratzen – oder eher an den Überresten davon.

„Nur Geduld, er spricht gleich weiter“, flüsterte Olba dem zwergischen Zauberlehrling zu. „Ganz bestimmt.“

„Vielleicht hatte er es gar nicht auf die Pferde abgesehen!“, meinte Saradul schließlich und schnippte mit den Fingern. Da auch die noch magisch aufgeladen waren, knisterten kleine Lichtblitze aus den Nägeln und krochen wie langbeinige Spinnen über seinen Handrücken. Der Zaubermeister achtete jedoch nicht darauf.

„Aber Ihr sagtet doch, er hätte an die Pferde gedacht“, erinnerte ihn Olba.

„Hast du seine Gedanken nicht auch mitbekommen?“, fragte Tomli das Zwergenmädchen.

Olba hob die Schultern. „Das war so ein wildes Chaos aus lauter gewalttätigen Bildern. Das arme Nashorn.“

„Ob so ein Wollnashorn mit dir ebenso viel Mitleid hätte, wenn du ihm mal begegnest, bezweifle ich“, spottete Tomli.

„Wie auch immer, ich konnte bei diesem Gedanken-Durcheinander kaum Einzelheiten erkennen.“

„Dann hat er uns getäuscht“, stellte Saradul mit ruhiger Stimme fest. „Er hat absichtlich an etwas anderes gedacht, um vor uns zu verbergen, dass er es in Wahrheit auf die Axt und die Kraft in ihr abgesehen hatte.“

„Und wieso konnte er sie mir dann nicht entreißen, sondern wurde stattdessen wie ein Stein beim Zwergenpingpong fortgeschleudert?“, fragte Arro.

Zwergenpingpong war unter den Zwergen von Ara-Duun ein sehr beliebter Sport. Er wurde mit Metallschlägern und rund geschliffenen Steinen aus den Schächten der Tiefenstadt gespielt. Tomli bedauerte sehr, dass er von den regelmäßig stattfindenden Turnieren ausgeschlossen war, doch dort herrschte striktes Magieverbot, und so war ein Zauberlehrling ab der ersten Unterrichtsstunde bei seinem Meister automatisch lebenslang für alle Wettbewerbe gesperrt.

„Die Kräfte in der Axt müssen zu stark für den Gargoyle gewesen sein“, glaubte Saradul. „Das wäre zumindest eine Erklärung.“

„Es gibt noch eine ganz andere Möglichkeit“, meldete sich Lirandil wieder zu Wort, der lange geschwiegen hatte. „Was, wenn der Gargoyle uns nicht täuschen wollte, sondern er sich einfach nicht zwischen Pferden und Axt entscheiden konnte.“

„Ihr meint, weil er aus mehreren Personen besteht?“, fragte Tomli.

Lirandil nickte ihm anerkennend zu. „Du hast es also auch bemerkt. Dann bin ich mir zumindest sicher, mich nicht getäuscht zu haben. Und Ihr, Meister Saradul, solltet stolz auf Euren aufmerksamen Zauberschüler sein.“

„Kann mir das mal jemand näher erläutern“, forderte Olba. „Ich kann die Erklärung für dieses Rätsel nämlich noch nicht in der Zukunft sehen.“

„Ich dachte, das hätten hier alle bemerkt“, sagte Tomli. „Die Gedanken dieses Gargoyle waren eigenartig. Mal hatte ich den Eindruck, sie würden von Ar-Don selbst stammen, dann war da von ›wir‹ die Rede, und dann hatte ich wieder den Eindruck, die Gedanken eines ganz anderen Wesens aufzuschnappen. Als ob da mehrere Personen wären. Ab und zu hatte ich sogar den Eindruck, als würde jemand über Ar-Don wie einen Fremden denken.“

„Das sind die Seelen all jener Wesen, mit denen er im Laufe der Zeit verschmolzen ist“, glaubte Lirandil. „Anders kann es nicht sein. Und vielleicht zerbrach bei Ar-Dons Aufprall auch die Einheit, die sie sicherlich vorher gebildet haben.“

„Und was machen wir, wenn diese steinerne Bestie wieder auftaucht?“, fragte Arro. „Er hat seit der ersten Begegnung mit uns gelernt, wie er Magie und Pfeile abwehren kann, also wird er sich das nächste Mal auch nicht mehr wie ein Zwergenpingpongstein wegschlagen lassen.“

In diesem Moment traten Ilbon und Ambaros in den Stall. Der Zentaur ließ dem Echsenmenschen den Vortritt. „Ist die Luft inzwischen rein“, fragte er besorgt.

Ilbon war entsetzt, als er die Löcher im Dach des Stalls sah, was sich bei einem Whanur in erster Linie durch ein lautes Zischkonzert äußerte, bei dem beide Zungen weit aus dem Echsenmaul züngelten. Außerdem änderte sich die Farbe an seinem Halswulst von Schlammgrün in ein dunkles Rot.

„Was habt Ihr getan?“, rief er aufgebracht.

„Wir werden für den Schaden aufkommen“, versprach Lirandil in dem Versuch, den Wirt zu beruhigen.

„Das will ich hoffen.“

„Keine Sorge, es gibt genug unter uns, die der Magie mächtig sind“, erklärte Tomli im fast feierlichen Tonfall. „Das Dach wird hinterher aussehen wie neu, als hätte es dort nie ein Loch gegeben.“

Doch der echsenartige Wirt hob die Hand und machte eine Geste, die deutlich machte, dass er von der Anwendung von Magie in diesem Fall nicht allzu viel hielt.

„Keine Zaubertricks bitte“, bat er sich aus. „Im Elbenreich zerfallen Gebäude, weil sie zum überwiegenden Teil aus Magie bestehen und man den Zauber nicht regelmäßig erneuert hat. Ich will nicht, dass die Löcher im Dach meines Stalls wieder erscheinen, wenn Ihr abgereist seid und ich dann niemanden finden kann, der sich mit dem angewandten Zauber gut genug auskennt, um ihn regelmäßig zu pflegen.“

„Wie soll man denn so ein Loch sonst stopfen?“, fragte Saradul völlig verständnislos.

Arro erschien das alles sehr viel weniger problematisch. „Gebt mir ein paar Nägel und Bretter, und ich schließe Euch die Löcher“, bot er an. „Ein Hammer wäre auch ganz brauchbar, denn ich weiß nicht, was passiert, wenn ich die flache Seite von Ubraks Axt dafür benutze, die Nägel ins Holz zu klopfen. Bei magischen Waffen kann es dramatische Folgen haben, wenn man sie unsachgemäß anwendet.“

Bevor der Herbergswirt auf das Angebot eingehen oder es ablehnen konnte, erklangen plötzlich die Signalhörner der Stadtwache.

Für Augenblicke sagte keiner der im Stall Anwesenden ein Wort.

„Wenn ich mich nicht irre, ist das ein Alarm!“, sagte dann Ilbon. „Es gibt verschiedene Signale. Ein Eibruder von mir ist bei der Stadtwache und musste sie alle auswendig lernen, bevor er dort angenommen wurde.“ Ein paar Zischlaute folgten, bevor Ilbon hinzufügte: „Ich glaube, dieses Hornsignal kündigt eine drohende Belagerung an!“

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Gefangen in der belagerten Stadt

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Tomli und die anderen traten ins Freie und sahen Kolonnen von Bewaffneten zur nahen Stadtmauer eilen. Es waren eindeutig Soldaten der Stadtwache, denn sie trugen das Wappen des Fürsten von Hiros.

Sie waren mit Armbrüsten, Schwertern und Hellebarden bewaffnet und stiegen die Treppen zu den Wehrgängen hinauf. Katapulte wurden in Stellung gebracht und geladen. Die Mauern von Hiros waren bis zu zehn Schritten breit, sodass man die Wehrgänge mit solchen Katapulten besetzen konnte.

Darunter befanden sich auch riesenhafte Armbrüste, deren Pfeile länger als zwei Männer waren, und Schleuderkatapulte, mit denen Steinbrocken durch die Luft geworfen werden konnten. Diese Steine waren so groß wie ein Wagenrad und so schwer, dass selbst die Riesen aus Zylopien Mühe hatten, sie anzuheben.

Die gehörten natürlich zu den Bedienungsmannschaften, denn anders wäre es kaum möglich gewesen, die Katapulte schnell genug nachzuladen.

„Da muss etwas wirklich Schlimmes im Gang sein“, glaubte Ilbon.

„Nun, ich war lange nicht hier in Hiros und kann nicht beurteilen, wie oft die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten belagert wurde“, meinte Lirandil.

Ilbon ließ seine Zungen aus dem Maul zischen. Vermutlich versuchte er aus den Gerüchen, die in der Abendluft lagen, irgendetwas herauszulesen. Er wandte sich an Lirandil und sagte: „Es hat in den letzten Jahren ein paar Überfälle von Wüsten-Orks gegeben und einen etwas längeren Krieg gegen das Reich Tagora. Das war ungefähr zwei Jahre, nachdem Ihr die Stadt verlassen habt.“

„In Elbenhaven hat man nichts davon gehört“, erklärte Lirandil.

„Die Tagoräer kamen mit einer großen Flotte und landeten ein paar Meilen nördlich von hier“, berichtete der Echsenmann. „Sie belagerten die Stadt fünf Monate lang und errichteten auch eine Seeblockade. Aber schließlich sind sie genauso unverrichteter Dinge abgezogen wie später die Wüsten-Orks.“

„Inzwischen gilt Hiros überall als uneinnehmbar“, fügte Ambaros hinzu.

Ilbon ließ noch einmal beide Zungen hervorschnellen. „Ich habe selten so viel Furcht gerochen“, behauptete er dann. „Sie kommt von den Soldaten, die schon über die Zinnen geblickt haben.“

Tomli wandte sich an Olba. „Kannst du nicht voraussehen, welcher Gefahr wir begegnen werden?“

„Tut mir leid, aber alles, was ich sehen kann, ist ...“ Sie stockte.

„Ja?“, hakte Tomli nach.

„Verwirrend!“, schloss sie.

„Kannst du das genauer erklären?“

„Nein. Aber ich weiß, dass du unbedingt einen neuen Zauberstab brauchst.“

„Sehr witzig.“

„Ich meine es ernst, Tomli. Du musst dir unbedingt einen besorgen, sonst werden wir noch mehr als einmal in einer üblen Klemme stecken. Außerdem sehe ich etwas, was alles Mögliche sein könnte, eine Höhle, das Innere eines riesigen Gebäudes ... Ich kann es wirklich nicht sagen.“

Daraufhin forderte Lirandil von dem Zwergenmädchen: „Folge mir. Wir werden hinauf zu den Zinnen gehen und sehen, was sich vor den Mauern der Stadt abspielt.“ Der Elb fuhr fort, ehe einer der anderen sich äußern konnte. „Olfalas und Saradul, ihr müsst auf die Elbenpferde aufpassen. Die werden wir vielleicht noch dringend brauchen, und ich will nicht, dass dieser Gargoyle zurückkehrt und sie zu Staub werden lässt, den er sich dann einverleibt, selbst wenn das vielleicht nur eine seiner vielen Persönlichkeiten will.“

„Also ich muss schon sagen ...“, wollte Saradul protestieren. Ihm missfiel es sehr, dass der Elb einfach so das Kommando an sich riss. Die Eile, die Lirandil dabei plötzlich an den Tag legte, erstaunte alle Anwesenden. Schließlich gehörte übermäßige Hast absolut nicht zu den Wesenszügen der Elben, und ganz besonders galt das für den Fährtensucher.

Doch der ließ Saradul gar nicht weiter zu Wort kommen, sondern bestimmte weiter: „Arro, du bleibst ebenfalls bei den Pferden. Schließlich ist es dir einmal gelungen, den Gargoyle zu vertreiben. Vielleicht hast du auch ein zweites Mal Glück.“

„Es kann aber auch sein“, verschaffte sich Saradul endlich Gehör, „dass diese Axt den Gargoyle überhaupt erst angelockt hat. Deshalb bin ich dafür, dass wir sie und die Drachenschuppe so schnell wie möglich an einen sicheren Ort bringen, so wie wir es bei dem Amulett gemacht haben.“

Ubraks Amulett wurde bei einem Steintroll in der Nähe von Ara-Duun aufbewahrt, dem Saradul vertraute.

„Vielleicht kommen wir später auf diesen Gedanken zurück“, stellte Lirandil in Aussicht. „Im Moment können wir den weiten Weg nach Ara-Duun jedoch nicht antreten. Wir kommen zurzeit überhaupt nicht aus Hiros heraus. Also tun wir besser das Nächstliegende.“

„Ihr habt nie erwähnt, dass Ihr nicht nur Fährtensucher, sondern auch Schulmeister und General seid“, knurrte Saradul. „Das Befehleerteilen macht Euch offenbar Spaß.“ Er konnte es nicht überwinden, dass der Elb einfach bestimmte, was zu tun war.

Lirandil ging nicht auf den Einwurf ein, sondern wandte sich an Tomli: „Und nun zu dir.“

„Ich möchte auch über die Zinnen sehen!“, sagte der Zwergenjunge schnell. „Allerdings befürchte ich, dass uns die Soldaten nicht nach oben auf die Wehrgänge lassen.“

„Ich werde dafür sorgen, dass sie mich gar nicht bemerken“, sagte Lirandil mit hintergründigem Lächeln. „Die Elbenmagie mag während der letzten Jahrtausende immer schwächer geworden sein, aber um ungesehen auf die Stadtmauer zu gelangen, wird sie reichen. Doch du, Tomli, wirst mit Ambaros losziehen, um dir einen neuen Zauberstab zu besorgen.“

„Aber ...“

„Kein Aber. Wir können nicht warten, bis du gelernt hast, deine Magie ohne Zauberstab genauso gut anzuwenden, wie es dein Meister vermag. Und selbst der konzentriert seine magischen Kräfte in kritischen Situationen lieber mit einem solchen Stab.“

„Wollt Ihr damit sagen, dass ich nicht imstande wäre, auch ohne ...“

Lirandil brachte den Zaubermeister mit einer bloßen Handbewegung zum Schweigen. Mit Magie hatte das nichts zu tun, eher mit der Autorität, die der uralte Elb ausstrahlte und der sich selbst Saradul nicht verschließen konnte.

Lirandils Blick ruhte weiterhin auf Tomli. „Es wird auf den Märkten von Hiros so viel Plunder angeboten, da wird es auch Zauberstäbe oder zumindest andere zum Zaubern geeignete Stäbe geben. Bring deinem Meister auch einen mit. Ich bin überzeugt, dass du die Fähigkeit hast, die richtigen Instrumente für euch auszuwählen.“ Er griff in eine der Taschen an seinem Gürtel und holte ein paar Münzen heraus.

„Elbensilber“, staunte Tomli.

„Es ist überall sehr begehrt. Seht zu, dass ihr es nicht verschwendet.“

„Ich werde schon darauf achten“, versprach Ambaros. „Vergesst nicht, ich bin der geborene Geschäftsmann und einer der gewieftesten Händler zwischen Nordbergen und den Sandlanden von Rhagardan.“

Schon beugte der Zentaur den Oberkörper vor, um sich die Münzen zu schnappen, doch Lirandil zog die Hand zurück und schloss sie, sodass die Münzen aus Elbensilber darin verschwanden. „Nicht Ihr, werter Ambaros, sollt diese Münzen erhalten, sondern Tomli.“

Ambaros machte ein beleidigtes Gesicht. „Wenn Ihr vielleicht den Verdacht hegt, ich wollte mich daran bereichern, schätzt Ihr mich und meinen Charakter vollkommen falsch ein.“

„Ich schätze Euch vollkommen richtig ein, werter Ambaros. Zumindest in der Hinsicht, dass Ihr nichts von Magie versteht.“

„Nun, das habe ich auch nie behauptet ...“

„Tomli versteht sich darauf aber sehr gut. Darum soll er die Münzen bekommen und entscheiden, wofür sie ausgegeben werden.“ Und mit diesem Worten gab Lirandil dem Zwergenjungen das Elbensilber.

Tomli erschauderte regelrecht, als der Elb ihm auch noch die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Ich vertraue auf deine Fähigkeit, das Richtige zu erkennen.“

Er schien Tomli mehr zuzutrauen als der sich selbst. Der Zwergenjunge konnte es kaum fassen. Er wollte etwas sagen, doch ein dicker Kloß saß ihm im Hals, und so brachte er keinen einzigen Ton heraus.

Er blickte auf seine Handfläche und sah, wie sich die Gravuren auf den Münzen veränderten. Sie zeigten die Gesichter berühmter Elben, zumeist Könige dieses weisen, stolzen Volkes. „Daron, Keandir, Eandorn, Péandir, Elbanador ...“

Eine Gedankenstimme murmelte die Namen des jeweiligen Elbenkönigs, wenn sich Tomli auf die entsprechende Münze konzentrierte.

„Sie sind nichts zum Herumspielen“, drangen Lirandils mahnende Worte in sein Bewusstsein.

Auf dem Weg zur Stadtmauer sagte Olba zu dem elbischen Fährtensucher: „Wenn Ihr mich mitgenommen habt, damit ich Euch etwas über die Zukunft sage, muss ich Euch leider enttäuschen.“

„Nicht jetzt“, wehrte Lirandil ab.

„Ich sehe im Moment nichts, das irgendeinen Sinn ergeben würde.“

„Olba, es ist schwer genug, unbemerkt zu den Zinnen zu gelangen“, sagte Lirandil. „Es ist noch schwerer mit einem Zwergenmädchen an der Seite. Und geradezu unmöglich ist es selbst für die besten Elbenmagier, wenn dieses Zwergenmädchen redet wie ein Wasserfall. Also sei jetzt still und folge mir einfach.“

Olba lag eine freche Erwiderung auf der Zunge, aber sie biss sich auf die Lippen und schluckte die Entgegnung hinunter.

Ein Hauptmann der Stadtwache kam ihnen entgegen. Er starrte zuerst Lirandil und dann Olba stirnrunzelnd an, während sich seine Hand um den Schwertgriff legte. Da machte Lirandil eine Handbewegung und murmelte eine Formel, woraufhin der Hauptmann an ihnen vorbeiging und sie nicht einmal mehr zu bemerken schien.

Dabei waren eine Zwergin und ein Elb nicht gerade unauffällig, ging es Olba durch den Sinn. Erstrecht dann nicht, wenn sie ausgerechnet zusammen irgendwo auftauchten.

Die gegenseitige Abneigung zwischen Zwergen und Elben war überall bekannt und beruhte auf Gegenseitigkeit, auch wenn die Ursachen dafür lange zurücklagen. Das waren Ereignisse, die sich irgendwann in der Alten Zeit von Athranor zugetragen hatten und die man vermutlich schon zu Zeiten von Lirandils Geburt nahezu vergessen hatte.

Olba und Lirandil stiegen eine der Treppen empor, die zu den Wehrgängen auf der Stadtmauer führten. Aus den Augenwinkeln bekam Olba mit, wie ein halbes Dutzend zylopischer Riesen Balken herbeischaffte. Doppelt so viele Zimmerleute verbarrikadierten damit das große Haupttor von Hiros.

Das konnte nichts Gutes bedeuten. Man rechnete offenbar damit, dass die Belagerung länger andauerte.

Lirandil und Olba mussten einer Kolonne von Bogen- und Armbrustschützen ausweichen. Auch von denen achtete niemand auf den Elb und das Zwergenmädchen.

Dann aber stieß Olba mit einem Hornbläser zusammen. Sie war einem großen Katapult ausgewichten, denn sie hatte vorausgesehen, dass sie sich ansonsten den Fuß unter dem Hinterrad quetschen würde. Es rollte gut einen Schritt nach hinten, weil jemand aus der Bedienmannschaft vergessen hatte, Keile unter die Hinterräder zu legen.

Dass sie stattdessen mit dem Hornbläser zusammenstieß, hatte sie nicht vorhergesehen.

Aber auch der schien gar keine Notiz von ihr zu nehmen.

„Entschuldigung“, murmelte Olba.

Der Hornbläser sah sie nur verständnislos an. Wenig später hörte das Zwergenmädchen noch, wie einer der Hauptmänner ihn anwies, ein bestimmtes Signal zu blasen, um zusätzliche Munition für die Katapulte an diesen Abschnitt der Mauer zu beordern.

Olba und Lirandil traten an die Zinnen. Ein Bogenschütze wich sogar für sie zur Seite, als Lirandil ihn darum bat. Nun waren sie wieder sichtbar.

„Wir brauchen die Magie eines Elben mehr denn je“, sagte der Bogenschütze und deutete hinaus vor die Stadt, wo bereits wenige Schritte jenseits des Stadttors die Wüste der Sandlande von Rhagardan begann.

Schon bevor Olba zwischen den Zinnen hindurchsah, war ihr ganz mulmig zumute.

Ich hätte es voraussehen müssen!, schoss es ihr durch den Kopf.

Riesenhafte wurmähnliche Geschöpfe schoben sich über den Wüstensand und auf die Stadt zu. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben.

Ihre Bewegungen erinnerten an Riesenschlangen. Aber ihre Körper hatten nichts Schlangen- oder Echsenhaftes an sich.

Warum habe ich das Innere eines Gebäudes gesehen?, überlegte Olba.

Seit einer ganzen Weile sah sie in ihren Gedanken immer wieder eine in seltsamen Farben ausgeleuchtete Halle. Sie musste irgendetwas mit diesen riesenhaften Geschöpfen zu tun haben, die sich im Licht des vergehenden Tages in breiter Front den Stadtmauern von Hiros näherten.

Es waren Hunderte, vielleicht sogar Tausende. Hin und wieder waren tiefe brummend Laute zu hören. Das meiste davon befand sich jedoch außerhalb des Hörbereichs vieler Geschöpfe. Für Elben galt das nicht.

„Die Leviathan-Reiter!“, sagte Lirandil im grimmigen Tonfall.

„Das sind Leviathane?“, fragte Olba ungläubig.

„Es gibt keine größeren Geschöpfe im ganzen Zwischenland und in Rhagardan“, erklärte der Fährtensucher mit sehr ernstem Unterton.

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Angriff der Leviathane

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Die Sonne ging unter und war als rot glühender Feuerball bereits zur Hälfte im Meer versunken. Die ganze Stadt und die Wüste dahinter waren in dieses rötliche Licht getaucht, und die Stadtmauern und Wachtürme warfen lange Schatten, die auf die herannahenden Leviathane zu deuten schienen. Aus der Ferne sahen sie aus wie übergroße Wale, die eine Riesenhand aus dem Wasser gefischt und an Land geworfen hatte.

Die mächtigen Geschöpfe schoben sich mit Macht über den Wüstensand und wirbelten ihn dabei auf. Der ganze Horizont wirkte mittlerweile wie eine einzige Wand aus braungelbem Staub, und so konnte man sich vorstellen, dass es ungemein viele Leviathane waren, die sich auf die Mauern von Hiros zuschoben.

Olba musste unwillkürlich schlucken.

„Ich sehe nur die Leviathane“, sagte sie. „Wo sind die Reiter?“

„Du kannst sie mit deinen Augen aus dieser Entfernung kaum ausmachen“, antwortete Lirandil. „Ich allerdings sehe sie genau. Sie sitzen auf dem Rücken ihrer riesigen Reittiere, um sie besser lenken zu können. Aber ein Großteil von ihnen ist ...“

„Im Inneren?“, unterbrach Olba den Elb. Sie hatte dessen Antwort offenbar im Voraus erahnt.

„Ja“, bestätigte Lirandil. „Ich sehe nur sehr wenige Reiter auf den Rücken der riesigen Wesen. Wo sollte der Rest von ihnen sonst sein, wenn nicht in diesen Geschöpfen?“

„Genau wie bei den Bewohnern des Eislandes, die Ihr erwähnt habt“, murmelte das Zwergenmädchen.

„Du hast gut zugehört“, stellte Lirandil fest.

„Muss es da drinnen nicht furchtbar dunkel sein?“

Lirandil schien sich ein wenig zu wundern, dass Olba angesichts der Bedrohung darüber nachdachte, wie dunkel es im Inneren eines Leviathans war. Doch er wusste auch, dass es meistens mit Olbas seherischen Fähigkeiten zusammenhing, wenn sie scheinbar sinnlose oder unpassende Fragen stellte. Das kam immer dann vor, wenn sie etwas voraussah, das sie nicht einzuordnen oder zu verstehen vermochte.

„In einem Leviathan ist es nicht dunkel“, antwortete er deshalb. „Zumindest nicht in den Leviathanen des Eislandes.“

„Wart Ihr schon einmal im Bauch eines solchen Ungetüms?“

„Ja“, bestätigte der Elb. „Das Blut schimmernd grünlich. Wenn von außen die Sonne darauf strahlt, wird dieses Schimmern stärker, und wenn sich der Leviathan dann unter das Eis gräbt, oft viele hundert Schritt tief, hält es noch lange an, sodass man sich in seinem Inneren gut orientieren kann.“

„Sieht es dort aus wie in einem der Höhlengewölbe von Ara-Duun oder einem vergleichbar großen Gebäude, das mit hellem Schimmer erfüllt ist?“, hakte das Zwergenmädchen nach.

„Ja, genau.“

„Und ist es möglich, dort Feuer zu entzünden? Ich sehe nämlich auch Feuer vor meinem inneren Auge.“

Lirandil nickte. „Das ist möglich.“

„Dann bin ich mir sicher, dass wir uns in nicht allzu ferner Zukunft im Inneren eines Leviathans wieder finden werden, Lirandil. Und dass wir große Furcht haben werden!“

Lirandil wandte sich ihr zu, hob die linke Hand und berührte mit Daumen und Zeigefinger Olbas Schläfe. „Konzentriere dich auf das, was du siehst“, verlangte er. „Und auf alles, was mit den Leviathanen zu tun haben könnte. Selbst, wenn es nur vage Ahnungen sind.“

„Deshalb habt Ihr mich hierher mitgenommen!“, entfuhr es Olba. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„So ist es. Und nun denk an nichts anderes mehr, nur an das Bild aus dem Inneren des Leviathans, das du offenbar schon länger in dir trägst.“

„Ja ...“, flüsterte sie.

„Schließ die Augen, wenn es dir hilft.“

Olba schloss die Augen, aber im ersten Moment hatte sie überhaupt nicht das Gefühl, dass es ihr half. Dann hörte sie Lirandil eine Formel in der Elbensprache murmeln, und das ermöglichte es ihr, sich besser zu konzentrieren. Sie empfand auf einmal auch weniger Furcht.

Wieder sah sie den hohen, von einem eigentümlichen Schimmern erfüllten Raum, von dem sie nun endlich wusste, dass es sich um das Innere eines Leviathans handelte. Und dann erblickte sie noch etwas. Etwas, das für Augenblicke so grell aufleuchtete, dass es ihr in den Augen schmerzte, obwohl sie es nur in ihrer Vorstellung sah.

Sie stieß einen überraschten Ruf aus.

Lirandil fragte sie nicht, was los sei. Er schien es zu wissen. Sie spürte den Druck seines Fingers an ihrer Schläfe.

„Sieh hin!“, sagte der Elb ruhig, aber auch sehr bestimmt. „Hab keine Angst und sieh hin, was immer es auch sein mag.“

Für einen kurzen Moment sah sie einen Schädel aus kristallklarem Glas, der aus seinem Inneren heraus leuchtete. Die Augen hoben sich dunkel gegen das Licht ab, aber ihr eigentümlicher Schimmer verriet, woraus sie gefertigt waren.

Dunkelmetall, erkannte Olba.

Dann sah sie nichts mehr. Da war nur noch Dunkelheit.

Sie hörte die aufgeregten Rufe und hektischen Laute in ihrer Umgebung. Soldaten erteilten Befehle, Hornsignale wurden geschmettert, um Nachschub zu ordnen. All das hatte sie für einige Augenblicke nicht mehr mitbekommen.

Sie öffnete die Augen und sah zu den sich nähernden Leviathanen hinüber. „Sie werden bis zu den Mauern vordringen und auf jeden Fall angreifen“, sagte sie. „Und auch mit all den Katapulten wird man sie nicht abwehren können.“

„Solange du nicht vorhersiehst, dass sie die Mauern niederdrücken, müssen wir uns keine Sorgen machen“, sagte der Elb mit seiner ruhigen Stimme.

„Aber genau das werden sie“, erklärte Olba mit Bestimmtheit. „Jedenfalls sehe ich das. Aber das heißt nicht, dass wir nichts dagegen unternehmen können.“

Sie blickte in Lirandils Gesicht. Auf der trotz seines Alters normalerweise vollkommen glatten Stirn hatte sich eine tiefe Sorgenfalte gebildet.

„Außerdem habe ich den Kristallschädel gesehen!“, stieß das Zwergenmädchen aufgeregt hervor.

„Beschreib genauer, was du gesehen hast!“

„Das kann ich nicht. Möglich, dass sich der Schädel im Inneren eines Leviathans befindet, aber es kann auch ein anderer Ort sein. Das Licht, das von ihm ausging, hat alles so überstrahlt, dass ich kaum etwas anderes erkennen konnte.“

„Aber du bist dir sicher, dass der Kristallschädel im Zusammenhang mit den Leviathanen steht?“, vergewisserte sich Lirandil.

„Ganz sicher.“

Lirandil nickte bedächtig. „Immerhin haben wir nun einen vagen Anhaltspunkt, wo wir den Kristallschädel suchen müssen.“

„Im Magen eines Leviathans?“

„Wenn Leviathane Mägen hätten, dann vielleicht“, gab Lirandil zurück.

Die Leviathane rückten auseinander, ihre Front fächerte auf, und sie bildeten einen weiten Halbkreis. Von der Mauer aus konnte man erahnen, dass sie auf diese Weise die gesamte Landseite der Stadt umschlossen.

Die riesigen Körper bildeten dabei eine lebende Wand, die wohl niemand durchdringen konnte. Offensichtlich hatten sie sich nach ihrer Größe angeordnet. Die längsten Leviathane bildeten den äußeren Wall, der Hiros vollkommen vom Rest des Landes trennte.

Die anderen reihten sich nebeneinander auf, als wollten sie sich für einen Sturmangriff bereitmachen und gemeinsam die Mauern von Hiros niederwalzen.

Doch noch warteten sie.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2015
ISBN (ePUB)
9783738901795
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
kristall zwerge zwergenkinder

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Der Kristall der Zwerge: Zwergenkinder #4