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Die Magie der Zwerge: Zwergenkinder #1

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2015 166 Seiten
Reihe: Zwergenkinder, Band 1

Zusammenfassung

DIE MAGIE DER ZWERGE
Zwergenkinder 1

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 166 Taschenbuchseiten.

Das Zwischenland ist in großer Gefahr. Um sie abzuwenden, folgt der Elbenkrieger Lirandil einer alten Prophezeiung. Drei Zwergenkinder muss er finden: Eines ist ein Zauberlehrling, eines kennt die Zukunft und eines hat die Kraft und das Geschick eines Schmieds. Diese drei ahnen noch nicht, dass nur sie allein die Macht haben, ihre Welt vor dem Untergang zu bewahren. Wird ihnen das gelingen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DIE MAGIE DER ZWERGE

Zwergenkinder 1

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 166 Taschenbuchseiten.

Das Zwischenland ist in großer Gefahr. Um sie abzuwenden, folgt der Elbenkrieger Lirandil einer alten Prophezeiung. Drei Zwergenkinder muss er finden: Eines ist ein Zauberlehrling, eines kennt die Zukunft und eines hat die Kraft und das Geschick eines Schmieds. Diese drei ahnen noch nicht, dass nur sie allein die Macht haben, ihre Welt vor dem Untergang zu bewahren. Wird ihnen das gelingen?

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

„Drei Zwergenkinder musst du finden!“

Flammen loderten aus pechgefüllten Schalen empor, und Schatten tanzten an der Wand der uralten Tempelmauern. Murmelnde Stimmen waren zu hören und mischten sich mit dem Knistern des Feuers.

Zwei hochgewachsene Elbenkrieger mit hellen, blassen Gesichtern, schräg gestellten Augen und spitzen Ohren betraten die Säulenhalle und durchschritten sie bis zu den Feuern. Der eine war grauhaarig. Er trug ein Wams aus fließender Elbenseide. Sein Schwert hatte er am Eingang des Tempels abgeben müssen, denn die Halle des Orakels von Shonda betrat man nur unbewaffnet. Ansonsten war es jedem gestattet, einzutreten und dem Orakel seine Fragen zu stellen. Manchmal erschienen dann Schattenschriften an der Wand, manchmal erhielt der Fragende Antwort durch Stimmen, und einige Besucher berichteten von magischen Bildern in den Flammen. Hin und wieder hörte man auch nur ein unverständliches Murmeln und musste selbst herausfinden, was es zu bedeuten hatte.

Und sehr selten kam es vor, dass das Orakel die Frage bereits kannte, die der Besucher stellen wollte.

Man sagte, es sei der Geist des Eisenfürsten, der die Fragen beantwortete. Er war vor langer Zeit Herrscher in diesem Land gewesen und wurde noch immer verehrt.

„Bleib etwas hinter mir, mein Schüler“, sagte der grauhaarige Elbenkrieger zu seinem Begleiter. Der hatte rötliches Haar, was untypisch für einen Elb war. „Ich spüre starke Magie in diesem Raum, und es könnte gefährlich werden.“

„Aber ...“

„Tu, was ich sage, Olfalas, und vertrau mir! Du sollst alles miterleben, was hier vor sich geht. Denn wenn mir etwas zustößt, dann musst du allein weiterreiten.“

„Ich werde Eurem Willen Folge leisten, werter Meister der Fährtensucher.“

Der Grauhaarige trat nahe an die Feuerschalen heran, die in einer Reihe vor der Tempelwand standen, und breitete die Arme aus. „Ich bin Lirandil der Fährtensucher. Ich komme von weit her und erhoffe mir Hilfe und Rat vom Orakel. Ich muss wissen, ob ich auf dem richtigen Weg bin, denn das Schicksal aller Länder und Völker könnte davon abhängen.“

Das Gemurmel, das die ganze Zeit schon zu hören gewesen war, wurde lauter. Die Flammen in den Feuerschalen loderten plötzlich bis zur Decke empor.

Zwischen der Wand und den aufgereihten Feuerschalen befand sich ein Stein, und auch aus diesem schoss plötzlich eine Flamme empor, die bläulich schimmerte und ganz sicher nicht durch Pech gespeist wurde – sondern durch Magie.

Das Gemurmel wurde zu einer deutlich vernehmbaren Stimme. „Ich kenne dich, Lirandil. Und ich kenne deine Fragen und habe lange auf dich gewartet. Ein großes Verhängnis droht der Welt, aber es ist nicht die Magie der Elben, die sie retten kann, sondern nur die Kraft der Zwerge.“

„So bin ich wohl auf dem richtigen Weg, denn mein Ziel ist die Zwergenstadt Ara-Duun“, sagte Lirandil.

„Dort liegt die Ursache der Bedrohung, aber dort findest du auch die Kraft, die sie abwenden kann“, bestätigte das Orakel.

Und dann bildeten die Schatten an der Wand Zeichen aus. Zweifellos war es eine Schrift, und obwohl Lirandil diese Symbole nie zuvor gesehen, geschweige denn ihre Bedeutung erlernt hatte, stellte er überrascht fest, dass er sie zu lesen vermochte. Magie musste in diesen Zeichen liegen, uralte und sehr starke Magie.

Drei Zwergenkinder musst du finden, stand da. Eines ist ein Zauberlehrling, eines kennt die Zukunft und eines hat die Kraft und das Geschick eines Schmieds! Nur sie können das Furchtbare abwenden ...

So viel mehr stand noch an der Wand, dass Lirandil kaum alles zu lesen vermochte.

„Wie werde ich die Zwergenkinder erkennen?“, fragte er.

In den Flammen des Steins leuchteten die magischen Bilder von drei Gesichtern auf. Auf den Stirnen erschien jeweils für einen kurzen Moment ein leuchtendes Zeichen.

Eine magische Zwergenrune.

Tomli, der Zauberlehrling

„Heya! Vorwärts!“, rief Tomli. Der Zwergenjunge saß auf einem zweibeinigen Laufdrachen, dessen Vorderfüße tief in den Wüstensand einsanken.

Das Tier öffnete sein Maul und brüllte laut. Dabei zischte eine Stichflamme zwischen seinen mächtigen Zähnen hervor, und es ruderte mit den kleinen Stummelärmchen, die ihm unterhalb des Kopfes aus dem Körper wuchsen.

„Lass das!“, rief der Zwergenjunge. „Die Luft flimmert hier ohnehin schon vor Hitze! Willst du etwa, dass sich mein Bart entzündet?“

Tomli war zwar noch ein Junge, aber auch junge Zwerge hatten schon Bärte. Alle Angehörigen des Zwergenvolkes trugen sie. Die Zwerge kamen schon damit auf die Welt, und auch wenn Tomlis Bart noch lange nicht so dicht und lang war wie der eines erwachsenen Zwergs, so bedeckte er doch den Großteil seines Kinns und der Wangen. Später einmal, wenn er alt genug war, würde er ihn sich vielleicht flechten, so wie sein Lehrmeister Saradul, dessen Bart vermutlich bis zum Boden reichen würde, hätte er ihn nicht zu sieben Zöpfen geflochten.

„Na, wirst du wohl, du faules Drachenvieh!“, rief Tomli, als der Laufdrache nun endgültig stehen blieb und durch ein weiteres, noch empörteres Brüllen deutlich machte, dass er unter gar keinen Umständen mehr bereit war, auch nur einen seiner Krallenfüße vor den anderen zu setzen.

Heißer, übel riechender und schwefelhaltiger Qualm drang aus seinem Maul, dann machte der Drache einen Sprung und krümmte gleichzeitig den Rücken, sodass Tomli in hohem Bogen aus dem Sattel flog.

Der Zwergenjunge landete jedoch weich im Sand.

Während der Laufdrache schnaubte, rappelte sich Tomli auf. Er zog sich das Wams aus grober Zwergenwolle glatt und rückte das Kurzschwert zurecht, das er am Gürtel trug. Dann hob er den Helm auf, den er beim Sturz verloren hatte. Doch bevor er ihn sich wieder aufsetzte, schüttelte er zunächst den Sand heraus.

Der Laufdrache stand da und sah ihn mit seinen rötlich schimmernden Augen an.

Tomli überlegte, ob er einen der Zaubersprüche anwenden sollte, die ihm sein Lehrmeister Saradul beigebracht hatte. Schließlich war Tomli ein Zauberlehrling, und ein Laufdrache war auch durch einfache Zwergenmagie zu beeinflussen.

„So warte doch auf mich!“, vernahm er da einen Ruf, und im nächsten Moment kam ein weiterer Laufdrache über die Dünenkette gelaufen, die Tomli eben hinter sich gebracht hatte. Im Sattel saß niemand anders als sein Meister – Saradul, einer der wenigen Zauberer unter den Zwergen.

Sein Haar war schon ganz weiß, doch das hatte nichts mit seinem Alter zu tun. Meister Saradul war gerade mal etwas über zweihundert Jahre alt, und auch wenn Zwerge lange nicht so alt wie die fast unsterblichen Elben wurden, so bekam niemand von ihnen weiße Haare, nur weil er bereits seinen zweihundertsten Geburtstag gefeiert hatte.

Tomli hatte Gerüchte darüber gehört, dass Meister Saraduls weiße Haare von einem magischen Experiment herrührten, das ihn zu viel Kraft gekostet hatte. Aber Meister Saradul weigerte sich, mit seinem jungen Schüler darüber zu sprechen.

Auch Saraduls Laufdrache schien keine Lust mehr zu haben, den Weg fortzusetzen. Aber der Zaubermeister kannte ein paar Formeln aus der Zwergenmagie, die den freien Willen des Laufdrachen außer Kraft setzten.

Saradul atmete tief durch. „Hier ist ein guter Ort für die heutige Lehrstunde“, sagte er und glitt aus dem Sattel. Dabei hielt er seinen Helm fest.

Wie alle Zwerge war er breitschultrig und kräftig. Seine Beine waren allerdings verhältnismäßig kurz – kürzer als die von Menschen, die im Land der Zwerge „Rhagar“ genannt wurden.

„Laufdrachen sind nichts für lange Strecken“, meinte Tomli. „Für eine Reise in die Wüste sollten wir nächstes Mal ein Schiff der Sandlinger nehmen. Für unsere Laufdrachen haben wir uns eigentlich schon zu weit von der Stadt entfernt.“

„Ja, ich weiß“, stimmte Saradul ihm zu. „Aber ich möchte keines der Sandschiffe in der Nähe haben.“

„Warum nicht?“

„Deren Magie hätte dich irritiert, mein Schüler. Schließlich bist du ja noch ein Anfänger. Na ja, und zu Fuß wollte ich mich auch nicht hierher begeben. Also blieben nur die Laufdrachen.“

Beide Laufdrachen brüllten im selben Moment und voller Empörung laut auf. Dabei quollen Rauch und Flammen aus ihren Mäulern, und man mochte fast meinen, die beiden Geschöpfe hätten die Unterhaltung der Zwerge genau verstanden.

Die meisten zwergischen Gelehrten gingen sogar davon aus, dass Laufdrachen dazu in der Lage waren. Die Gelehrten der Menschen hingegen glaubten das nicht.

„Ihr wartet hier!“, befahl Meister Saradul den Laufdrachen und verstärkte seinen Befehl mit einem Zauberspruch in der alten Zwergensprache, die nur noch bei der Anwendung von Magie benutzt wurde.

Dann wandte sich Meister Saradul an seinen Schüler. „Lass uns hinter die nächste Dünenkette gehen, Tomli.“

„Aber warum denn?“

„Damit die armen Laufdrachen keinen Schaden davontragen, wenn du zum ersten Mal mit dem Zauberstab die Kraft der Magie zu konzentrieren versuchst. Dabei kann eine Menge schiefgehen, und genau deswegen haben wir uns ja so weit wie irgend möglich in die Wüste begeben.“

So überquerten Tomli und Saradul die nächste Kette der Sanddünen. Vielleicht bildete es sich Tomli nur ein, aber als er noch einmal zurückblickte, sahen die beiden Laufdrachen regelrecht erleichtert aus, dass sie in sicherer Entfernung warten durften.

Schließlich blieb Saradul stehen.

„Nun ist der Moment gekommen“, erklärte er in feierlichem Tonfall. „Der Moment, da du von einem Anfänger der Zauberkunde zu einem richtigen Zauberlehrling wirst, der mit einem Zauberstab umzugehen lernt.“ Saradul zog einen messingfarbenen Stab aus seinem Gürtel und reichte ihn Tomli. „Nimm ihn, ich habe ihn extra für dich geschmiedet. Sieh dir die Zeichen an, die ich in das Metall eingraviert habe. Das sind die Zeichen der zwergischen Magie, wie sie in unserem Volk seit Urzeiten gelehrt wird. Und darunter steht dein Name.“

„Ich danke Euch, Meister Saradul“, sagte Tomli.

Als er den Zauberstab entgegennahm, fühlte er eine Welle der Kraft, die davon ausging und zunächst durch seinen Arm und dann durch seinen ganzen Körper fuhr.

„Sei vorsichtig damit, Tomli“, mahnte Meister Saradul. „Wenn man diesen Stab unbedacht benutzt, kann man großen Schaden anrichten.“

„Das ist mir durchaus bewusst, Meister“, versicherte Tomli. In all den Unterrichtsstunden der letzten Jahre, während derer ihn der Zauberer in angewandter Magie unterwiesen hatte, hatte Tomli schon viel Grundlegendes über die Zwergenmagie gelernt. Darum wusste er, dass ein Zauberstab, wie Saradul ihn schmiedete, diese Magie noch erheblich verstärken konnte.

„Ich habe eine ganze Nacht damit verbracht, diesen Stab herzustellen“, erklärte Saradul und unterdrückte ein Gähnen. „Ohne einen Wachzauber wäre ich vermutlich zwischendurch eingeschlafen, aber die Tradition der Zwergenmagier verlangt nun einmal, dass ein Zauberstab in einer einzigen Nacht geschaffen wird und man außerdem die ganze Zeit über festgelegte Zaubersprüche murmelt. Wenn man sich dabei auch nur ein einziges Mal vertut, kann man den Stab gleich wieder einschmelzen, und dann war alles umsonst.“

„Ich weiß Eure Mühe sehr zu schätzen, Meister Saradul“, versicherte Tomli.

„Fangen wir mit einer leichten Übung an“, schlug Saradul vor. „Erschaffe eine Linse aus flimmernder Luft, durch die man weit entfernte Orte sehen kann!“

„Nichts leichter als das“, behauptete Tomli.

Er murmelte einen Spruch in der alten Zwergensprache, nahm den Zauberstab in beide Hände und streckte ihn von sich. Die Zeichen auf dem Metall leuchteten rötlich auf, und noch während Tomli die magischen Worte sprach, begann die Luft auf eine Weise zu flimmern, wie es selbst bei größter Hitze in der tiefsten Wüste von Rhagardan nur sehr selten geschah.

„Vorsicht, Vorsicht!“, rief Meister Saradul. „Weniger Kraft! Weniger Magie! Viel, viel weniger! Und konzentriere dich mehr!“

Der Luftwirbel wurde größer, und Sandfontänen sprühten in die Luft. Tomli schüttelte sich, als der Sand ihm ins Gesicht flog und es zwischen seinen Zähnen knirschte.

Eine Blase aus trüber, fast undurchsichtiger und immer stärker flimmernder Luft entstand und wurde größer und größer. Dann zog sie sich auseinander, wurde oval und überragte bald darauf die höchsten Sanddünen in der Umgebung.  .

Endlich gelang es Tomli, das Wachstum der flimmernden Blase zu stoppen. Ihr Inneres wurde klarer. Sie wirkte wie ein riesenhaftes Vergrößerungsglas, wie es vor allem von magisch unbegabten Menschen benutzt wurde, die schlechte Augen hatten.

Tomli machte einen Schritt nach vorn und streckte den Zauberstab vor, sodass er genau in die Mitte der Linse zeigte. Dort wurde daraufhin das Bild vollkommen scharf. Zwei Reiter waren zu sehen. Sie ritten über die Sanddünen.

„Zwei Reiter in dieser Wüste?“, staunte Meister Saradul. „Wer ist so verrückt, auf einem Pferd durch die Sandlande von Rhagardan zu reiten?“

„Wie weit sind sie entfernt?“, fragte Tomli.

„Noch sehr weit. Versuch, sie etwas deutlicher sichtbar zu machen, mein Schüler!“

Tomli murmelte eine Formel in der alten Zwergensprache, woraufhin die große Linse wieder zu flimmern begann. Augenblicke später sah man die beiden Reiter vergrößert.

„Habe ich es mir doch gedacht“, murmelte Meister Saradul.

„Wovon sprecht Ihr, Meister?“

Die bleichen Gesichter der beiden Reiter waren deutlich zu sehen. Spitze Ohren stachen durch das lange Haar. Bei einem der beiden war es silbergrau, bei dem anderen rötlich. Beide waren in fließende Gewänder gekleidet und mit schmalen Schwertern bewaffnet. Der Rothaarige trug zudem einen Bogen und hatte einen Köcher auf dem Rücken.

„Es sind Elben“, stellte Meister Saradul fest. „Das sieht man nicht nur an den spitzen Ohren, sondern auch daran, dass ihre Pferde keine Zügel haben. Sie lenken sie mit der Kraft ihrer Gedanken. Zumindest habe ich das so gehört. Schließlich kommen nur äußerst selten Elben in unser Land.“

„Heißt es nicht, dass die Magie der Elben der Zwergenmagie weit überlegen ist?“, fragte Tomli.

Der zwergische Zaubermeister machte eine wegwerfende Geste mit einer seiner großen Hände. „Das sind nur Gerüchte, von denen vermutlich keines wahr ist.“

„Schade“, sagte Tomli.

„Wieso findest du das schade?“, fragte Saradul.

„Weil ich sonst vielleicht etwas von den beiden lernen könnte, wenn sie hier auftauchen.“

„Ein Zwerg kann von einem Elben nichts lernen“, war Meister Saradul überzeugt. „Zumindest nichts Gutes!“

Tomli hatte natürlich davon gehört, dass vor sehr, sehr langer Zeit Zwerge und Elben erbitterte Feinde gewesen waren. Aber das war so lange her, dass sich inzwischen unmöglich sagen ließ, was an den alten Geschichten der Wahrheit entsprach und was sich spätere Erzähler ausgedacht hatten, um etwas besonders Spannendes zum Besten geben zu können.

„Irgendetwas stimmt da nicht“, murmelte Saradul.

„Was meint Ihr, Meister?“

„Sieh genau hin. Erstens hat einer der beiden Elben rötliches Haar, und ich weiß genau, dass in den alten Schriften der Zwerge niemals ein Elb erwähnt wird, der rötliches Haar gehabt hätte. Und abgesehen davon frage ich mich, wie es kommt, dass sie so ungehindert durch die Wüste ziehen können. Eigentlich müssten die Wüsten-Orks sie längst überfallen haben. Und dass die Kapitäne der Sandschiffe die beiden einfach so durch die Wüste ziehen lassen, ist auch seltsam. Die Sandlinger können es nämlich gar nicht leiden, wenn man versucht, auf eigene Faust die Wüste zu durchqueren. Viel lieber knöpfen sie einem für eine Reise mit einem ihrer Sandschiffe auch noch den letzten Taler ab.“

In diesem Augenblick begann das Bild der beiden Elbenreiter zu verschwimmen. Die ovale Linse verformte sich, begann sich zu drehen und schnellte dann als Säule aus flirrender Luft über den Sand. Eine Staubfontäne bildete sich, die bis weit in den Himmel reichte, höher als ein Wüstengeier zu fliegen vermochte.

Blitze zuckten aus der wirbelnden Säule, und Donner grollte.

„Halte sie auf!“, rief Saradul. „Du musst sie unter Kontrolle bekommen und weniger Magie anwenden, dafür gleichmäßiger und kontrollierter!“

Tomli vernahm die Worte seines Meisters wie aus weiter Ferne. Der Zauberlehrling richtete den Stab auf die davonschnellende Säule, die eine ganze Sanddüne verwirbelte.

Die magischen Kräfte hinderten den Sand daran, einfach wieder zu Boden zu rieseln. Stattdessen bildeten sich aus den Sandkörnern in der Luft plötzlich Köpfe mit fratzenhaften Gesichtern. Arme mit riesigen Pranken wuchsen aus der wirbelnden Säule und fuchtelten wild in der Gegend umher, so als suchten sie irgendwo vergeblich Halt.

Die Säule pflügte sich tiefer und tiefer in den Sand hinein und ließ ihn immer höher schießen.

Tomli versuchte mit wachsender Verzweiflung, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Er schrie die magischen Worte in altzwergischer Sprache geradezu heraus, und die Gedanken rasten nur so durch seinen Kopf. Hatte er irgendeinen Fehler gemacht? Gab es etwas, was er nicht beachtet hatte und was ihm zum Verhängnis zu werden drohte?

Tomli konzentrierte alle Kraft auf den Stab und versuchte, die störenden Gedanken zurückzudrängen. Aber aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht, die Sandsäule zum Schrumpfen zu bringen, sie wirbelte immer schneller und raste hinein in die Wüste.

Tomli hatte die Kontrolle über sie verloren. So hatte er sich seine erste Übung mit dem Zauberstab nicht vorgestellt.

Auf einmal teilte sich die Säule, und aus ihr formten sich mehrere sandfarbene Ungeheuer, die aussahen wie tanzende Schlangen – aufrecht stehende Kobras mit den Köpfen gewaltiger Hunde.

Innerhalb weniger Augenblicke entstanden erst fünf, dann zehn, dann zwanzig dieser Hundeschlangen.

Sie bissen sich gegenseitig, zerfielen dabei zu Sandkörnern und bildeten sich erneut.

Tomli schrie die Zauberworte, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Aber seine Magie blieb völlig ohne Wirkung.

Die tobenden Hundeschlangen heulten laut auf. Es klang wie eine Mischung aus dem Tosen eines Wüstensturms, der zwischen den Felsmassiven des südlichen Rhagardans hindurchpfiff, und dem Heulen von Wüstenhunden, wie man es vor allem in Vollmondnächten hörte.

Innerhalb weniger Herzschläge schwoll dieser Laut derart an, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte, so als hätte Tomli die Bestien mit seiner Magie zusätzlich gereizt.

Bisher hatte Tomli geglaubt, die Lage noch irgendwie unter Kontrolle bringen zu können. Doch nun kamen ihm ernsthafte Zweifel. Was hatte er da nur getan? Was waren das für Mächte, die er unbeabsichtigt gerufen hatte?

Er hatte doch nur einen ganz einfachen Linsenzauber zur Fernsicht angewandt. Etwas, was er schon hundertmal unter Meister Saraduls Anleitung getan hatte. Nur hatte er zuvor natürlich noch keinen Zauberstab benutzt, und die Linse aus flimmernder Luft war nie größer als seine Hand gewesen und damit etwa so brauchbar wie ein Vergrößerungsglas, das die Menschen benutzten.

„Was soll ich denn mit so etwas?“, hatte Tomli noch seine eigenen Worte im Ohr. „Das ist doch nur Spielerei!“

„Lerne es trotzdem“, war Saraduls Antwort gewesen.

Nun war es kein Spiel mehr, und gleich beim ersten Versuch schien alles schiefzugehen, was schiefgehen konnte.

„Saradul!“, rief Tomli und drehte sich um.

Aber der Zaubermeister war nicht mehr da. Er war wie vom Erdboden verschluckt – oder vom wehenden Sand verschüttet.

Die Schlangenhunde aus wirbelndem Sand brüllten noch lauter und wütender als zuvor. Sie attackierten sich nicht mehr gegenseitig, sondern kamen stattdessen auf Tomli zu und bildeten einen Halbkreis um den jungen Zwerg. Immer mehr Sand wirbelten sie auf, der sie wiederum noch weiter anwachsen ließ. Manche von ihnen waren schon höher als einige der Türme von Ara-Duun, der Stadt des Zwergenkönigs.

Die Hundeköpfe wurden größer, rissen ihre Mäuler weit auf, und manche von ihnen waren so gewaltig, dass ein ausgewachsener Zwerg aufrecht hätte in ihren Schlund hineingehen können und selbst ein Mensch oder ein Elb nur ein wenig den Kopf hätte einziehen müssen.

Verzweiflung erfasste Tomli, und er wich ängstlich zurück. „Meister, warum helft Ihr mir nicht?“

Sein Ruf verhallte im Tosen und Heulen der Ungeheuer.

Sandkörner bliesen ihm ins Gesicht.

Tomli konnte kaum noch etwas sehen.

Er wich zur Seite aus, wobei seine Füße tief in den Sand einsanken, sodass er kaum vorwärtskam. Irgendwo in der Ferne glaubte er das Brüllen der Laufdrachen zu hören, die wohl längst Reißaus genommen hatten. Sie konnten mit ihren großen Füßen sogar über Treibsand laufen.

Tomli stolperte ein paar Schritte auf die nächste Dünenkette zu. Dann blieb er stehen, drehte sich um und richtete den Zauberstab auf die ihn verfolgenden Monster.

Mit aller Kraft rief er den stärksten Abwehrzauber, den Meister Saradul ihm beigebracht hatte.

Dieser diente eigentlich dazu, Kakerlaken, Steinfraßkäfer oder gierige Schwarzmäuse aus der Wohnung zu vertreiben, was in Ara-Duun leider ständig vonnöten war. Manchmal hatte Tomli schon geglaubt, sein Meister hätte ihn nur deswegen als Lehrling angenommen, um jemanden zu haben, der diese Plagegeister für ihn aus seinen Räumen verjagte, sodass er selbst sich in der Zwischenzeit ungestört seinen magischen Experimenten widmen konnte.

Tomli schrie die Zauberworte und konzentrierte alle seine magischen Kräfte.

Der Zauberstab leuchtete rötlich auf, er glühte förmlich, dann schoss ein Feuerblitz heraus. Er verästelte sich mehrere dutzend Mal, und jede dieser Verästelungen traf eines der Hundeschlangenmonster.

Diese brüllten auf und zerfielen zu herabrieselnden Sandkörnern, formten sich aber schon im nächsten Moment neu, diesmal noch größer und furchtbarer.

Tomlis Füße sackten immer tiefer in den Sand, und als er den nächsten Schritt machen wollte, fiel er zu Boden.

Er drehte sich um, richtete noch einmal den Stab auf seine Verfolger und murmelte abermals die Worte des uralten zwergischen Abwehrzaubers, doch seine Kräfte waren erschöpft, und so glühte der Zauberstab zwar leicht auf, doch nur ein schwacher Blitz fuhr aus dem Metall und verlor sich im Nichts.

Tomli blickte geradewegs in die weit aufgerissenen Mäuler der Monster.

Der erste der gewaltigen Hundeköpfe wollte nach dem Zwergenjungen schnappen.

Doch in diesem Moment wurde das Sandmonster von einer der anderen Hundeschlangen attackiert. Die beiden magischen Monster verbissen sich ineinander und zerfielen.

Eine dritte Hundeschlange drängte durch die beiden sich auflösenden magischen Geschöpfe und senkte ihr geöffnetes Maul zu Tomli herab, während sich der Zwergenjunge über den Boden rollte, um zu entkommen.

Doch zu spät: Dunkelheit senkte sich über ihn, dann wurde er von dem Maul der riesenhaften Hundeschlange verschlungen.

Er konnte von einem Augenblick zum anderen nichts mehr sehen. Ein schweres Gewicht lastete plötzlich auf ihm, und er bekam keine Luft mehr. Außerdem war es ihm unmöglich, sich überhaupt zu rühren.

Er spürte jedoch noch immer den Zauberstab in seiner Hand, den er fest umklammert hielt. Immer wieder hatte Meister Saradul die erste Lehrstunde damit verschoben, weil sein Schüler noch nicht weit genug sei, um mit diesem mächtigen Gegenstand umzugehen.

Anscheinend hatte er damit recht gehabt, ging es Tomli durch den Kopf.

Er hatte auf ganzer Linie versagt.

In der Klemme

Tomli hatte das Gefühl, unter einer meterhohen Sandschicht begraben zu sein. Doch vielleicht bildete er sich das nur ein, und in Wahrheit war er längst im Leib der Hundeschlange verdaut worden, die in hinuntergeschlungen hatte.

Vorausgesetzt natürlich, dass diese Geschöpfe aus wirbelndem Sand überhaupt verdauen konnten.

Plötzlich jedoch kam ein kräftiger Wind auf, der die Sandschicht über Tomli abzutragen begann, und mit einem Mal wurde er von grellem Sonnenlicht geblendet, nachdem ihn vorher vollkommene Finsternis umgeben hatte.

Im ersten Augenblick konnte er nichts sehen, und er musste blinzeln.

„Nun stell dich mal nicht so an!“, hörte er laut und deutlich die Stimme seines Meisters. „Du hast ein bisschen Sand abbekommen, aber das ist auch schon alles. Ansonsten ...“

„Was?“, japste Tomli.

„Ansonsten ist nichts passiert.“

„Nichts passiert? Ihr seid gut, ich wäre beinahe ...“

„Nur nicht übertreiben, Tomli“, unterbrach ihn Meister Saradul.

Tomli blinzelte erneut und sah zunähst nur einen Schatten. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass dieser Schatten die Umrisse eines Zwerges hatte.

Meister Saradul sprach eine Formel, und der Wind ließ nach.

„Ihr habt die Elementargeister des Windes gerufen!“, stellte Tomli überrascht fest.

„Ja, ja ...“

„Diese Art der Magie erfordert sehr viel Kraft“, wusste Tomli, und in seiner Stimme schwang Bewunderung mit.

Dann erhob er sich. Den Zauberstab hatte er die ganze Zeit über fest umklammert in der Hand gehalten. Gut, dass er noch da war, sonst hätte es sicherlich richtig Ärger gegeben. Nicht auszudenken, wenn er auch noch den Zauberstab in den Sandmassen verloren hätte.

„Das war nicht besonders gut, nicht wahr, Meister?“

Saradul nickte. „Das kann man wohl sagen.“

„Was habe ich denn verkehrt gemacht? Wieso sind plötzlich diese Monster entstanden?“

„Du selbst hast sie erschaffen.“

„Ja, das mag sein. Aber ich habe es nicht gewollt. Wirklich nicht. Und trotzdem sind sie einfach aus dem Sand der Wüste entstanden, und ich konnte nichts dagegen ausrichten.“ Tomli starrte den Zauberstab in seiner Hand an. „Vielleicht war es keine gute Idee, ihn mir bereits zu übergeben, Meister. Entweder es war einfach noch zu früh, oder ...“ Er schluckte schwer.

Ja, auch wenn es schwerfiel, er musste es aussprechen, denn es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden.

„Vielleicht bin ich einfach nicht zum Zauberer geeignet, Meister Saradul. Möglicherweise bin ich einfach nicht begabt genug oder zu unvorsichtig und bringe damit nicht nur mich, sondern auch andere in Gefahr, weil ich die Kräfte, die ich beschwöre, nicht beherrschen kann.“

Tomli hielt seinem Meister den Zauberstab hin.

„Hier, nehmt ihn am besten zurück, damit ich kein Unglück damit heraufbeschwöre und vielleicht noch Schlimmeres erschaffe als Hundeschlangen aus purem Sand, obwohl ich doch eigentlich nur einen Linsenzauber durchführen wollte.“

Meister Saradul lächelte nachsichtig und legte Tomli die Hand auf die Schulter. „Behalte den Stab. Ich habe ihn für dich geschmiedet. Niemand anders kann ihn benutzen. Die magischen Zeichen, die ich mit viel Mühe in das Metall eingraviert habe, sind genau auf dich abgestimmt. Das hat sehr viel Kraft und Mühe gekostet, also komm jetzt nicht auf den Gedanken, die ganze Ausbildung hinzuschmeißen, nur weil du dich vor den Kräften fürchtest, die du doch selbst gerufen hast.“

„Aber Meister, es war eine Katastrophe!“, entfuhr es Tomli.

„Natürlich war es das“, stimmte Saradul zu. „Das ist es bei fast allen, die zum ersten Mal einen Zauberstab in der Hand halten und versuchen, die magischen Kräfte zu beherrschen, die sie damit heraufbeschwören.“

Tomli runzelte die Stirn. „Trifft das etwa auch auf Euch zu, Meister?“

Saradul nahm seinen Helm vom Kopf und kratzte sich nachdenklich. „Ich gebe es ungern zu, aber man soll seinem Schüler gegenüber ehrlich sein. Ja, es war auch bei mir nicht anders als bei dir und vielen anderen vor dir. Und weil die Gefahr so groß ist, dass dabei etwas Unvorhergesehenes geschieht, sind wir ja schließlich auch so weit wie möglich in die Wüste gezogen. Schließlich soll ja kein unnötig großer Schaden entstehen. Ich könnte dir da ein paar Geschichten erzählen ...“

„Es ist nicht nötig, dass Ihr ausführlicher werdet, Meister“, meinte Tomli. „Ich habe schon verstanden, dass ich noch viel lernen muss.“

„Wenn du das begriffen hast, dann war das Ganze doch zu etwas gut“, sagte Saradul mit einem verschmitzten Lächeln. „Doch nun sollten wir zusehen, dass wir unsere Laufdrachen zurückbekommen, sonst bleibt uns nämlich nichts anderes übrig, als zu Fuß nach Ara-Duun zurückzukehren.“

„Einen Moment noch“, bat Tomli, als sich Saradul bereits halb umgedreht hatte.

„Was ist noch?“, fragte der zwergische Zaubermeister etwas ungeduldig.

„Sagt mir bitte, was genau ich verkehrt gemacht habe, damit ich diesen Fehler in Zukunft vermeiden kann.“

„Es ist immer der gleiche Fehler“, erwiderte Meister Saradul. „Und ich habe dich auch von Anfang an darauf hingewiesen. Die Kraft, die du aufgebracht hast, war viel zu groß. Durch die Magie des Stabes wird sie verstärkt, und oft genug hat Magie die Eigenschaft, dass sie sich gegen denjenigen wendet, der sie entfesselt, aber nicht kontrollieren kann.“

„Davon solltet Ihr mir bei Gelegenheit mehr erzählen.“

„Das werde ich ganz sicher. Im Moment haben wir jedoch ein näherliegendes Problem.“

Tomli begriff nicht, worauf sein Meister hinauswollte. Allerdings hatte er dessen unruhigen Blick durchaus bemerkt. Ein Blick, mit dem er immer wieder den Horizont absuchte, ohne dass dort tatsächlich etwas zu sehen gewesen wäre.

Zumindest nicht für Tomlis Augen.

„Wir werden beobachtet, Tomli“, eröffnete ihm Meister Saradul in gedämpftem Tonfall. „Beobachtet und verfolgt.“

„Wovon redet Ihr, Meister? Da ist niemand.“

„Ich spreche von den Wüsten-Orks. Die Anwendung von Magie ist eins der Dinge, die sie anlockt. Auch wenn du sie nicht siehst und sie sich noch verbergen, sind sie überall. Und sie habe uns zweifellos eingekreist!“

Tomli sah sich um und ließ seinen Blick über die umliegenden Dünen schweifen. Hier und dort glaubte er eine Bewegung im Sand zu erkennen, aber das konnte auch eine Nachwirkung der Magie sein, die er angewendet hatte.

„Wir haben übrigens ziemlich großes Glück gehabt“, hörte er Meister Saradul sagen. „Was glaubst du, was passiert wäre, wenn ich durch die aufgewirbelten Sandmassen ebenfalls verschüttet worden wäre? Dann wäre ich gar nicht mehr in der Lage gewesen, die Winde zu rufen, um dich zu befreien, sondern hätte mich erst mal selbst mit meinen zarten Händen ausbuddeln müssen.“

Mit diesen Worten hob Saradul seine grobschlächtigen Zwergenpranken, die deutlich größer und kräftiger waren als die Hände der allermeisten Menschen und die der Elben ohnehin.

„Unglücklicherweise dürften die Winde, die ich rief, noch mehr Wüsten-Orks angelockt haben, als es schon dein missglückter Zauber getan hat“, fügte er hinzu.

Tomli achtete kaum auf die Worte seines Meisters, sondern steckte den Zauberstab in seinen Gürtel. Fürs Erste wollte er ihn lieber nicht mehr zur Hand nehmen. Zu groß erschien ihm die Gefahr.

Saradul stieß einen Pfiff aus, um die Laufdrachen zu rufen, die das Weite gesucht hatten. „Ich hoffe, dass die Viecher schlau genug waren, in Richtung Ara-Duun zu laufen, ansonsten müssen wir sie entweder unter den Sanddünen hervorgraben oder sie vor den Wüsten-Orks retten, sofern diese sie nicht schon verspeist haben.“

„Tun Wüsten-Orks denn so etwas?“, fragte Tomli erschrocken.

Meister Saradul zuckte mit den Schultern. „So genau kenne ich mich mit deren Gebräuchen nicht aus, muss ich gestehen. Abgesehen davon ist der heutige Ausflug in die Wüste beinahe die längste Reise, die ich je unternommen habe.“ Er seufzte. „Ich hätte in der sicheren Stadt bleiben sollen. Aber was tut man nicht alles, um einem mittelmäßig begabten Zauberschüler eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, damit er endlich den Zauberstab schwingen kann.“

„Also ...“, wollte Tomli aufbegehren.

Meister Saradul brachte ihn mit einem durchdringenden Blick zum Schweigen. „‚Zaubern‘ kann man das Chaos, das du veranstaltet hast, wohl kaum nennen, oder?“

Er stieß einen weiteren Pfiff aus, diesmal mit magischer Unterstützung, wofür er mit dem dicken Zeigefinger seiner rechten Hand ein zwergisches Zauberzeichen in die Luft malte, sodass der Pfiff deutlich lauter wurde. So laut, dass er Tomli schon fast in den Ohren schmerzte.

„Bist du ein empfindlicher Elb, der schon erschrickt, wenn irgendwo das Gras zu laut wächst?“, fragte Saradul spöttisch.

Aus der Ferne kam die Antwort auf seinen Pfiff in Form eines zweistimmigen Drachengebrülls.

„Das klingt doch schon mal ganz erfreulich!“, meinte der Zaubermeister und ließ gleich noch ein ähnlich durchdringendes Pfeifen folgen.

Die Laufdrachen spüren wahrscheinlich auch die Anwesenheit der Wüsten-Orks und haben Angst!, dachte Tomli. Und das aus gutem Grund!

Im nächsten Moment hob sich in einer Entfernung von einigen hundert Zwergenschritten etwas aus dem Sand.

Ein Wüsten-Ork, erkannte Tomli.

Die Gestalt war kräftig und so groß wie ein hochgewachsener Mann aus dem Volk der Rhagar. Aber die Schultern waren viel breiter, die Arme und Beine kräftiger, und der Kopf hatte ein tierhaftes Maul, aus dem vier lange Hauer ragten. Die Haut war sandfarben, genau wie das Gewand und der Brustpanzer. Auf dem Rücken trug der Wüsten-Ork ein gewaltiges Schwert.

Die Wüsten-Orks konnten sich unter dem Sand gut fortbewegen. Wie sie das genau bewerkstelligten, wusste niemand, aber wahrscheinlich wühlten sie sich einfach mit ihren schaufelartigen, krallenbewehrten Pranken voran.

Jedenfalls tauchten sie immer urplötzlich aus dem Sand auf, wenn sie in der Wüste einen ihrer gefürchteten Überfälle begingen. Von einem Moment zum anderen konnten sich Dutzende oder gar Hunderte von ihnen aus dem Sand graben. Dann fielen sie zumeist über eines der magischen Sandschiffe her, die in der Wüste von Rhagardan unterwegs waren.

Über die Wüsten-Orks erzählte man sich die schlimmsten Geschichten. Sie griffen Menschen und Sandlinger ebenso an wie Laufdrachen oder jedes andere Geschöpf, das sich weiter als ein paar Meilen in ihr Gebiet wagte. Aber ganz besonders hatten sie es auf Zwerge abgesehen. Diese Feindschaft war uralt und lag in einer lange zurückliegenden Zeit begründet. Als Zwerg tat man gut daran, ihnen nicht in die Hände zu fallen.

Überall um Tomli und Saradul häuften sich auf einmal kleine Sandhügel auf, an mindestens zwanzig oder dreißig Stellen, und Wüsten-Orks tauchten aus der Tiefe empor. Manche von ihnen knurrten drohend, fletschten die Zähne, so als würden sie sich auf eine Mahlzeit freuen, und wieder andere hatten bereits ihre Waffe gezogen. Zumeist hatten sie Streitäxte und Schwerter mit sichelförmigen Klingen bei sich, aber einige hielten auch Speere oder Steinäxte in ihren Krallenhänden, deren Klingen aus sehr scharfen Splittern bestanden, die die Wüsten-Orks aus Felsen schlugen.

Ein Mensch oder Elb hätte solch eine Steinaxt nicht einmal heben können, während ein sehr kräftiger Zwerg vielleicht gerade mal in der Lage gewesen wäre, eine dieser Waffen fünf oder sechs Herzschläge lang über der Schulter zu tragen.

Die Wüsten-Orks hingegen hantierten damit, als würden sie kaum etwas wiegen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Tomli.

„Vor allen Dingen die Ruhe bewahren“, antwortete Meister Saradul.

„Ich fürchte, das wird in diesem Fall nicht ausreichen, und ich wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr irgendeine Abwehrmaßnahme treffen würdet“, sagte Tomli aufgeregt. „Gibt es da nicht zufälligerweise irgendeinen Zauberspruch, der diese finsteren Gesellen vertreibt?“

„Nur nicht nervös werden“, mahnte sein Meister. „Die Wüsten-Orks spüren deine Angst. Sie können sie riechen, und das macht sie dann umso wilder und gefährlicher.“

„Ihr wisst keinen Zauber gegen sie?“, fragte Tomli noch einmal nach, und als Saradul seine Frage erneut nicht beantwortete, wusste der Zwergenjunge, dass sein Meister in diesem Moment ebenso ratlos war wie er.

Tomli beobachtete, wie einige der Wüsten-Orks mit der flachen Pranke auf den Boden schlugen, und das in einem ganz bestimmten Rhythmus. Dazu summten sie Laute, die so tief waren, dass ein Zwergenohr sie kaum zu hören vermochte.

„Was geschieht da, Meister Saradul?“

„Sie rufen noch mehr der Ihrigen herbei.“

In der Ferne waren wieder Bewegungen im Sand auszumachen. Einen Moment lag gab sich Tomli noch der trügerischen Hoffnung hin, dass es sich vielleicht nur um ein Flimmern in der Luft oder um eine andere Sinnestäuschung handelte. Dann aber erkannte er, dass es weitere Wüsten-Orks sein mussten, die sich unter dem Sand heranwühlten.

Ein weiteres Mal versuchte Saradul, die geflohenen Laufdrachen mit einem magisch verstärkten Pfiff herbeizurufen. Das Brüllen, mit dem die Tiere antworteten, drückte ihren ganzen Widerwillen aus. Ihr Drachenfeuer schoss hinter einer nahen Dünenkette empor, bevor sie dort auch tatsächlich zu sehen waren.

Plötzlich spürte Tomli, wie sich unter ihm der Sand anhob. Er taumelte zu Boden, während dort, wo er gerade noch gestanden hatte, ein Wüsten-Ork hervorschnellte.

Ein dröhnender Laut drang aus dem weit aufgerissenen Maul mit den vier Hauern.

Der Ork hielt eine riesige Steinaxt in den Pranken. Sie sauste herab.

Tomli drehte sich blitzschnell herum und verstärkte seine Drehung um die eigene Achse mit einem Zauber, den er von Saradul gelernt hatte. Eigentlich diente er dazu, ein Spinnrad in Bewegung zu halten, ohne andauernd treten zu müssen, aber man konnte auch andere Dinge damit in eine Drehung versetzen, den eigenen Körper eingeschlossen.

Die gewaltige Steinaxt, deren messerscharfe Klinge fast so groß war wie Tomli selbst, fuhr mit einer solchen Wucht in den Sand, dass sie bis zur Hälfte einsank.

Selbst der Wüsten-Ork schaffte es nicht, sie mit einem einfachen Schwung wieder emporzureißen.

Er brüllte vor Wut.

Tomli fühlte, wie ihn jemand an der Kleidung packte und hochriss. „Los, komm schon, Schüler! Schnell weg hier!“, drang Meister Saraduls Stimme durch das Geschrei der grausigen Wüsten-Orks.

Tomli kam wieder auf die Beine und hetzte dem Zaubermeister hinterher. Die Laufdrachen rannten ihnen entgegen und spuckten vor Angst und aus Abwehr immer wieder Feuer. Sie wollten eigentlich nicht näher kommen, aber sie konnten sich offenbar nicht gegen Meister Saraduls Magie stemmen, der nun irgendwelche Formeln vor sich hinmurmelte, von denen Tomli allerdings in dem ganzen Gebrüll und Gefauche keine einzige verstand.

Tomli und Saradul erreichten die Laufdrachen und schwangen sich auf deren Rücken.

Ein Wüsten-Ork lief heran und schwang die beiden langen Sichelschwerter, die er in den Pranken hielt. Statt der üblichen vier Hauer ragte nur noch ein einziger aus seinem Maul. Dieser Geselle hatte schon einiges hinter sich! Die drei fehlenden Hauer hatte er durch dolchartige Spitzen aus dunkel schimmerndem Metall ersetzt.

Tomli war gerade im Sattel seines Laufdrachen angekommen, als ihn der Wüsten-Ork angreifen und sich auf ihn stürzen wollte. Tomlis Laufdrache scheute zur Seite und jagte dem Ork einen Feuerstrahl entgegen.

Zwar war der Kopf des Wüsten-Orks daraufhin schwarz angerußt, und er hatte seinen Helm verloren, weil dessen Halteband weggebrannt war, aber ansonsten machte ihm das Laufdrachenfeuer nichts aus. Es ließ ihn nur noch wütender werden.

Doch bevor er ganz heran war, hatte Tomli seinen Zauberstab auf ihn gerichtet und einen Zauber gesprochen, mit dem man normalerweise nur kleine Gegenstände bewegen konnte. Doch inzwischen hatte Tomli ja erlebt, dass ein Zauberstab die Wirkung der Magie enorm verstärkte.

Ein Blitz fuhr aus dem Stab und traf den Wüsten-Ork, der fast ein Dutzend Schritt weit durch die Luft geschleudert wurde. Er landete hart auf Sand und blieb benommen sitzen, während seine drei künstlichen Dolchzähne aus dunklem Metall plötzlich schimmerten und schwarze Blitze um sie herum zuckten.

„Dunkelmetall!“, entfuhr es Tomli.

„Darüber kannst du dich später wundern!“, rief ihm Meister Saradul zu, „los jetzt!“

Tomli sah, dass auch sein Meister inzwischen seinen Zauberstab in der Hand hielt, und da begriff er, dass ihn Saradul bei der Abwehr des Wüsten-Orks magisch unterstützt hatte. Er hat meine Magie gedämpft, ging es Tomli durch den Sinn. Damit sie sich nicht wieder gegen mich richtet. Ich war wohl immer noch nicht vorsichtig genug!

Die Laufdrachen eilten los, so schnell sie konnten. Tomli und Saradul brauchten sie nicht extra anzutreiben. Die Furcht vor den Wüsten-Orks reichte völlig aus, um die letzten Kraftreserven in ihnen wachzurufen. Sie preschten so schnell dahin, dass sie eine große Sandwolke hinter sich herzogen.

Brüllend folgten ihnen die Wüsten-Orks.

Einige versuchten, ihnen unter dem Sand zu folgen und sie zu überholen, um dann plötzlich vor ihnen aus dem Boden aufzutauchen.

Aber Saradul ließ seinen Laufdrachen immer wieder Haken schlagen, und Tomli folgte ihm dichtauf. Das konnten die unterirdischen Verfolger nicht vorhersehen, und sie fanden dort, wo sie sich mit wuchtigen Sprüngen aus dem Boden katapultierten, niemanden vor.

Jedes Mal brüllten sie laut vor Wut.

Die beiden Laufdrachen überquerten eine Kette Sanddünen. Der Untergrund war so weich, dass selbst ihre großen, gespreizten Krallenfüße tief einsanken, was ihren Lauf erheblich verlangsamte.

Der weiche Sand erleichterte es indessen den Wüsten-Orks, sich unterirdisch fortzubewegen, und plötzlich wühlten sich mehr als zwanzig von ihnen in einer Entfernung von fünfzig Schritt vor Tomli und Saradul aus dem Wüstenboden.

Die beiden Zwerge zügelten ihre Laufdrachen.

Wir sind eingekreist!, durchfuhr es Tomli, nachdem er sich im Sattel herumgedreht hatte. Es schien keinen Ausweg mehr zu geben. Einzelne Wüsten-Orks ließen sich vielleicht mit Magie abwehren, aber nicht diese Masse.

Hinter einer Reihe von Felsen, die wie Säulen aus dem Wüstensand ragten, sah Tomli auf einmal eine riesige Staubwolke aufwallen. Zuerst war er sich nicht sicher, ob sie nicht von einer großen Gruppe Wüsten-Orks verursacht wurde, die über besonders feinen Sand rannte.

Dann aber erblickte er ein grünliches und bläuliches Blitzen in der Wolke, und bald darauf auch einen leuchtenden Mast mit einem Segel, das vollkommen starr war und von magischen Blitzen umflort wurde.

Ein Wüstenschiff der Sandlinger!, durchfuhr es Tomli.

Rot leuchtende Pfeile, die offenbar mit magischer Kraft aufgeladen waren, zischten in großer Zahl durch die Luft und regneten auf die Wüsten-Orks herab. Einige kamen auch Tomli und Saradul ziemlich nahe, aber für den zwergischen Zaubermeister war es kein Problem, sie durch die Anwendung einer passenden Formel zur Seite abzulenken. Dazu brauchte Meister Saradul noch nicht einmal seinen Zauberstab.

Tomli hingegen hatte seine liebe Not, seinen Laufdrachen zu beruhigen, der nun völlig panisch war und ihn abzuwerfen versuchte.

Er brüllte dem Drachen einen Beruhigungszauber ins Ohr, der sich zumindest schon einmal bei dem wild gewordenen Erdschweinchen eines seiner Zwergenkinder-Freunde bewährt hatte.

Bei dem Laufdrachen bewirkte er zumindest, dass sich Tomli im Sattel zu halten vermochte und sein Reittier nicht einfach kopflos davonrannte, womöglich direkt in die Pranken der Wüsten-Orks.

Die waren nun überall auf der Flucht. Zumeist gruben sie sich blitzschnell in den Sand ein, wobei Staubwolken aufwallten, sodass man bald in keine einzige Richtung mehr einen freien Blick hatte.

Vor den leuchtenden Pfeilen der Sandlinger hatten die Wüsten-Orks offenbar Respekt.

Tomli hatte davon gehört, dass die Sandlinger über magische Waffen verfügten, deren Zauber insbesondere auf die Wüsten-Orks abgestimmt war. Immerhin stellten die in dieser Region eine ständige Gefahr dar, sodass es den Herren der Sandschiffe ohne ihre Waffen kaum möglich gewesen wäre, die Sandlande bis zu den Siedlungen der Rhagar an der Küste des pereanischen Meeres zu durchqueren, ohne dabei andauernd ausgeraubt zu werden.

Das Wüstenschiff näherte sich und wurde nun deutlicher sichtbar. Es war sehr lang und schmal, hatte aber dennoch nur einen einzigen Mast. Der zweite war abgebrochen. Das konnte bei einem Überfall der Wüsten-Orks passiert sein oder bei der Begegnung mit einem anderen in den Sandlanden von Rhagardan beheimateten Monster – oder bei der ungeschickten Handhabung von Magie durch einen sandlingischen Steuermagier.

Das von Blitzen umflorte, schimmernde Segel diente nicht dazu, die Kraft des Windes einzufangen. Stattdessen wurden damit magische Kräfte gesammelt, die stark genug waren, das Wüstenschiff durch den Sand zu treiben.

Einer Bugwelle gleich wurde dabei der Sand aufgewirbelt, während der Schiffskörper eine tiefe Furche in den Sand grub, die der Wüstenwind allerdings schon innerhalb kurzer Zeit wieder zuwehte.

Es gab mehrere Aufbauten auf dem Schiff. Und die Tatsache, dass es sehr tief durch den Sand fuhr, sprach dafür, dass es voll beladen war.

Tomli und sein Meister ritten ihm entgegen, und Saradul benutzte wieder seinen Zauberstab und erzeugte an dessen Spitze ein grelles Leuchten, um die Schiffsbesatzung auf sich aufmerksam zu machen.

„He! Nehmt uns mit! Wir haben dasselbe Ziel, denn ich wette, ihr wollt auch nach Ara-Duun!“, rief er.

Welches andere Ziel hätten sie sonst haben können? Außer der großen Zwergenstadt gab es im Süden der Sandlande von Rhagardan nichts außer einem endlosen Meer aus Sand und Felsen.

Wer auch immer in diesem Gebiet Richtung Süden unterwegs war, wollte nach Ara-Duun – oder er war ein Wüsten-Ork.

In die Stadt der Zwerge!

An der Reling des Wüstenschiffs stand ein Sandlinger. Tücher aus fließendem Stoff waren um seinen Kopf gewickelt und bedeckten auch sein Gesicht. Nur die golden schimmernden Augen waren zu sehen.

Er trug weite Gewänder und darüber einen Harnisch aus dunklem Leder. Auf seinem Rücken steckte ein schlankes Schwert mit gerader Klinge in einer Scheide. Seine Handschuhe leuchteten so golden wie seine Augen und schmiegten sich vollkommen an, sodass es den Anschein hatte, als würden die Hände selbst aus Metall bestehen.

Auf dem Kopf hatte er einen metallenen Reif, in den ein funkelnder roter Stein eingearbeitet war, das Zeichen eines Kapitäns. Vor seiner Brust hing ein Amulett, das zeigte, welchem Admiral er diente und welchem Sandlinger-Stamm er angehörte.

„Wir werden nicht für euch anhalten!“, rief er zu den beiden Zwergen hinab und benutzte dabei ganz selbstverständlich die Zwergensprache von Ara-Duun.

Aus dem roten Stein an seinem Stirnreif schoss ein feiner Blitz, der zunächst kaum auszumachen war. Erst als er sich verästelte und mit einem Zischen an gut zwanzig Stellen zugleich auf das starre Segel traf, sah man ihn deutlicher. Das Schiff legte daraufhin ein wenig an Geschwindigkeit zu.

„Aber, Kapitän!“, rief Meister Saradul. „Ihr könnt uns doch nicht hier zurücklassen!“

Der Sand, den der Bug des Wüstenschiffs emporwarf, ließ Tomli die Hand vors Gesicht halten, um die Augen vor den Körnern zu schützen.

„Zurücklassen?“, rief der Kapitän. „Wer spricht denn von zurücklassen?“ Er fügte noch ein paar Worte hinzu, von denen Tomli aber kaum eines verstehen konnte, denn das Schiff war schon halb an ihnen vorbei.

Vom Quermast entrollten sich im nächsten Moment zwei mächtige Seilschlangen. Sie sahen auf den ersten Blick aus wie ganz gewöhnliche Taue, waren aber lebende Wesen, die mithilfe von Magie dressiert werden konnten. Die Sandlinger benutzten sie zum Be- und Entladen ihrer Schiffe.

Jeweils eine dieser Seilschlangen umfasste Tomli und Meister Saradul. Die beiden Zwerge wurden regelrecht aus dem Sattel gerissen, schwebten einige Augenblicke lang in der Luft und wurden dann sanft auf dem Deck abgesetzt. Zwei andere und noch deutlich kräftigere Seilschlangen wanden sich um die Leiber der Laufdrachen, die zwar heftig strampelten und aus Protest brüllten, aber keiner von ihnen setzte sein Drachenfeuer ein. Offenbar begriffen sie, dass sie sich an Bord des Wüstenschiffs in Sicherheit befinden würden, auch wenn die Art, wie man sie an Deck brachte, ungewohnt und damit unangenehm für sie war.

Schließlich aber standen auch sie unversehrt auf den Planken, während sich die Seilschlangen wieder aufrollten und auf die Höhen des Quermastes zurückzogen.

Meister Saradul wandte sogleich eine Formel an, die dafür sorgte, dass sich die beiden Laufdrachen beruhigten. Nicht auszudenken, wenn einer von ihnen aus purer Nervosität mit seinem Drachenfeuer einen Teil des Schiffsdecks und der Aufbauten versengt hätte.

An der Reling standen Dutzende von Bogenschützen der Sandlinger. Sobald sie in der Ferne noch vereinzelte Wüsten-Orks entdeckten, schossen sie ihre Pfeile ab, die während des Fluges rot zu leuchten begannen.

Allerdings waren kaum noch Wüsten-Orks auszumachen. Erstens hatten fast alle Reißaus genommen, und zweitens erschwerte der Wüstensand, der aufgewirbelt worden war, die Sicht.

Das lag nicht nur daran, dass das Wüstenschiff noch einmal die Geschwindigkeit erhöht hatte und mit noch größerer Kraft durch den Sand fuhr, sondern auch daran, dass sich die meisten Wüsten-Orks in die Dünen gegraben hatten, wobei noch einmal eine Menge feiner Sand emporgeschleudert worden war.

Die Laufdrachen hatten sich inzwischen einigermaßen beruhigt, aber Meister Saradul traute offenbar weder der Vernunft dieser Geschöpfe noch seiner eigenen Magie, denn er band ihre Zügel an der Reling fest, was die Reittiere auch widerstandslos geschehen ließen. Tomli half seinem Meister dabei.

Als die Zügel fest verknotet waren, stand auf einmal die Furcht einflößende Gestalt des Sandlinger-Kapitäns vor Tomli und Saradul. Das Leuchten seiner goldfarbenen Augen wurde stärker, und als sein Blick Tomli traf, hatte der Zwergenjunge das Gefühl, als würde ihn eine Laterne anstrahlen.

„Habt Dank, dass Ihr uns mitnehmt“, sagte der ältere Zwerg und verbeugte sich tief. „Mein Name ist Saradul, und ich bin ein Zaubermeister aus Ara-Duun. Dies ist mein mal mehr und mal weniger gelehriger Schüler Tomli, aus dem ich hoffentlich eines Tages einen passablen Magier machen werde, der für seine Umgebung eher einen Nutzen als eine Gefahr bedeutet.“

Der Sandlinger nickte leicht. Sein durchdringender, magisch leuchtender Blick richtete sich auf Saradul. Eine ganze Weile lang ließ er kein einziges Wort verlauten. Dann aber sagte er: „Du sprichst mit Kandra-Muul, dem Kapitän der ›Wüstenblume‹. Und ich nehme euch nicht deshalb mit, weil ich euch beiden einen Gefallen tun will, sondern weil ihr mir dafür jeder fünf ara-duunische Goldtaler geben werdet.“

„Fünf ara-duunische Taler?“, entfuhr es Saradul empört. „Das ist Wucher! Für eine so kurze Strecke!“

„Wenn die Strecke bis Ara-Duun so kurz ist, dann brauchst du mein Schiff ja nicht zu nehmen“, erwiderte Kapitän Kandra-Muul ungerührt. „Wir setzen dich und deinen Schüler gern wieder in den Wüstensand, dann könnt Ihr auf dem Rücken eurer Laufdrachen versuchen, den Orks, die noch überall in der Gegend herumlungern, zu entkommen.“

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783738901764
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (September)
Schlagworte
magie zwerge zwergenkinder

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Die Magie der Zwerge: Zwergenkinder #1