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Das kleine Weihnachtslesebuch: Erzählungen

von Alfred Bekker (Autor:in) Silke Bekker (Autor:in)
©2015 100 Seiten

Zusammenfassung

Heiter-besinnliche Geschichten für die Zeit zwischen den Jahren, mal nachdenklich, mal lustig und immer mit Pfiff und Pointe.

Diese Geschichten erreichten zuvor in Zeitschriften, Illustrierten, Feuilletons großer Zeitungen und Kalendern ein Millionenpublikum: Kleine Bestseller aus der Feder von Silke und Alfred Bekker.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Ein großer Künstler

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Seine feingliedrigen Hände verrieten den Orgel-Virtuosen; zwei Hände, die zu einem Namen gehörten, der auf Dutzenden von Plattencovers zu sehen war.

Oft genug übrigens in viel größeren Lettern, als die Namen jener, die die Musik komponiert hatten!

Stets trug einen eleganten Zwirn, fast so, als müßte er jederzeit bereit dazu sein, sich auf einer Bühne vor einem tausendköpfigen Publikum zu präsentieren. Von Paris bis New York hatte ihm das Publikum Ovationen entgegengebracht und die Kritiker waren zu Lobeshymnen verführt worden, wenn er seine schnellen Finger elegant über die Tasten fliegen ließ.

Ein großer, geradezu genialer Künstler - darin war man sich sich einig. Die kleine, verwitterte Dorfkirche, in der der Orgel-Virtuose gemeinsam mit seiner Frau Platz genommen hatte, gehörte ganz bestimmt nicht zu den Orten, an denen dieser Künstler üblicherweise auftrat. Und so hatte sein Besuch in diesem Ort auch ausschließlich familiäre Gründe: Die Eltern seiner Frau stammten aus dieser Gegend und wegen seines dichtgedrängten Terminkalenders war er ihnen schon seit lan-gem einen Besuch schuldig geblieben.

Jetzt saßen sie hier in der leeren Kirche und ließen den Raum auf sich wirken. Für den Orgel-Virtuosen bedeutete dieser Raum nichts, aber seine Frau verband mit ihm alte Erinnerungen. Und deshalb waren sie hier her gekommen.

Plötzlich hörten sie ein Geräusch. Ein Rumpeln. Sie drehten sich herum.

"Was war das?" fragte die Frau.

"In diesem alten Gemäuer gibt es bestimmt Mäuse!" erwiderte ihr Mann. Aber es waren keine Mäuse, sondern ein Orgelspieler, der kräftig in die Tasten griff und offensichtlich ein paar Kirchenlieder übte.

"Schauderhaft!" murmelte der Virtuose flüsternd vor sich hin. Seine sensible Künstlerseele litt jedesmal unsagbare Qualen, wenn der Dorforganist das Tempo verschleppte und plötzlich stockte, um dann um so schneller fortzufahren. Wie man nur einen derart unbegabten Menschen an eine Orgel setzen konnte, das war dem Virtuosen schleierhaft.

Während sich sein Gesicht auf Grund der zahlreichen Mißtöne qualvoll verzog, bemerkte er plötzlich das Lächeln in den Zügen seiner Frau.

"Ich kenne den Orgelspieler!" sagte sie. "Er hat hier schon den Gottsdienst begleitet, als ich noch klein war... Das der immer noch spielt..."

Der Virtuose zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hätte er sich früher zur Ruhe setzen sollen. Hat er eigentlich immer schon so schlecht gespielt?"

In diesem Moment war es völlig still geworden. Der Orgelspieler hatte aufgehört zu üben und blickte jetzt von der Empore herab ins Kirchenschiff.

"Dann habe ich mich ja doch nicht verhört!" meinte er. Und als er die Frau erkannte, lächelte er. Der Virtuose hingegen bemerkte das Hörgerät am Ohr des Orgelspielers und dachte: Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein!

Unglücklicherweise erzählte die Frau des Virtuosen, daß ihr Mann ebenfalls Organist sei, und so kam es von der Empore herab: "Kommen Sie doch herauf! Es macht immer Freude, sich mit einem Kollegen zu unterhalten!"

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Der Virtuose und seine Frau wollten bis Sonntag nachmittag im Dorf bleiben, um sich dann auf den Heimweg zu machen.

Sie hatten am Sonntag noch nichteinmal gefrühstückt, da erreichte sie der Anruf des Orgelspielers. Er habe sich die rechte Hand verstaucht und könne unmöglich im Gottesdienst spielen. Umständlich und in aller gebotener Ehfurcht fragte er an, ob nicht der große Virtuose sich ausnahmsweise herablassen könnte, ein paar Choräle zu begleiten.

Erst wollte dieser nicht, aber seiner Frau zu Liebe sagte er schließlich doch ja.

"Ich würde Ihnen empfehlen, etwas früher in die Kirche zu gehen, damit Sie sich an die Orgel gewöhnen können!" empfahl der Alte, während der Virtuose nur ein gepreßtes "Danke!"

über die Lippen brachte. Auf einen solchen Ratschlag konnte er verzichten! Und so saß er wenig später an der Orgel. Der Gottesdienst fing an und der Virtuose griff in die Tasten.

Eine Choralbegleitung war für nichteinmal eine Fingerübung.

Aber schon nach den ersten Akkorden stockte er plötzlich -

und mit ihm die Gemeinde, die mitsang und sich wohl oder übel nach ihm richten mußte. Es fiel dem Virtuosen wie Schuppen von Augen: Eine ganze Reihe von Tasten brachte nichts weiter als ein dumpfes Ächszen hervor, andere blieben völlig stumm, wenn sie betätigt wurden. In diesem Moment, als es völlig still in der Kirche war und die Gemeinde darauf wartete, weitersingen zu können, da empfand der Virtuose tatsächlich soetwas wie professionelle Hochachtung für den alten Orgelspieler, der es Sonntag für Sonntag geschafft hatte, seine Choräle ausschließlich mit jenen Tasten zu spielen, die noch funktionierten.

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Heiße Kartoffeln

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Ein junger Pfarrer war am Tag vor seiner ersten Predigt von seinem Vorgänger abends auf einen Cognac eingeladen worden.

Die beiden Männer verstanden sich hervorragend. Der Ältere schätzte die offene, unbekümmerte Art des Jüngeren und glaubte, in diesem einen Nachfolger zu haben, dem er die Verantwortung guten Gewissens übergeben konnte. Der Abend war schon fast vorbei und der Jüngere war bereits auf dem Weg zur Tür, da hielt ihn der Ältere plötzlich am Arm Arm und sagte: "Eine Sache, wäre da noch, auf die ich Sie gerne noch hinweisen möchte, damit Sie nicht ins offene Messer laufen."

Der Jüngere lächelte. "Offene Messer in einer christlichen Gemeinde?" erwiderte er scherzhaft.

Der Ältere zuckte bedauernd die Schultern.

"Auch das gibt es! Das Messer in unserer Gemeinde, das einem neuen Pfarrer gefährlich werden könnte, heißt Lotte Berger, trägt eine strenge Knotenfrisur und und hat ebenso strenge Maßstäbe, was die Beurteilung einer Predigt angeht."

Ein Lächeln spielte um die Lippen des Älteren. "Ihre theologischen Ansichten sind dabei höchst eigenwillig. Ich kann ein Lied davon singen... Und wenn sie mit Ihnen nicht einverstanden ist, dann wird sie unbarmherzig das Urteil über Sie fällen und Sie fallenlassen wie eine heiße Kartoffel!"

Der Jüngere machte eine wegwerfende Handbewegung und blieb völlig unbekümmert. "Sonderlinge gibt es überall", meinte er leichthin.

"Aber in diesem Fall ist es jemand mit erheblichen Einfluß! Wenn man als Pfarrer die gestrenge Frau Berger nicht auf seiner Seite hat, dann sollte man zusehen, daß man in eine andere Gemeinde kommt! Sie kann Ihnen das Leben hier zur Hölle machen - Sie verzeihen den Vergleich! Sie mischt in jedem Kreis und jeder Runde hier im Dorf mit und überall, wo sie mitmischt, hat sie nach kurzer Zeit die Fäden in der Hand..."

Der Jüngere zuckte mit den Schultern. Das klang ja sehr gefährlich. "Und was kann ich tun, um dem Mißfallen dieser Frau zu entgehen?"

"Eine gute Frage!" lachte der Ältere. "Solange ich schon in dieser Gemeinde bin, rätsele ich erfolglos daran herum!"

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Als der junge Pfarrer am nächsten Tag auf der Kanzel stand, hatte er ein flaues Gefühl m Magen. Und je näher die Predigt im Ablauf des Gottesdienstes rückte, desto flauer wurde die-

ses Gefühl. Lotte Berger saß in der ersten Reihe und Ihre Frisur war ebenso streng wie ihre Gesichtszüge. Die ganze Zeit über hielt sie den jungen Pfarrer mit ihrem unerbittli-chen Blick fixiert, dem nicht der geringste Fehler entgehen konnte. Dann kam die Predigt. Der junge Pfarrer fühlte den Puls bis zum Hals schlagen, als die ersten Worte über seine Lippen kamen und dieses eine, unbestechliche Augenpaar ihn immer noch anstierte und nur auf einen Faux-pas zu warten schien.

Und dann geschah es! Die Augen der strengen Frau weiteten sich vor Entsetzen. Sie sprang mitten in der Predigt auf und lief in eiligem, fast konnte man sagen, empörten Schritt aus der Kirche.

Als der junge Pfarrer nach dem Gottesdienst die Gemeindeglieder mit Handschlag verabschiedete, war er völlig fertig. Dann sah er Lotte Bergers hagere Gestalt auf ihrem rostigen Damenrad heranklappern. Sie stieg ab und kam auf den jungen Pfarrer zu, während sich ihr unbarmherziger, fast schon stechender Blick in seine Augen zu bohren schien. Sie reichte ihm die Hand. Der junge Pfarrer nahm sie und fühlte, daß die seine schweißnaß war. "Ihre Predigt hat mir so gut gefallen wie schon seit Jahren keine mehr!" sagte sie.

"Leider konnte ich die zweite Hälfte nicht mehr mitbekommen."

Sie zuckte mit echtem Bedauern die Schultern. "Zu dumm! Ich hatte meine Kartoffeln auf dem Herd vergessen!"

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Der Papagei

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Ich hatte einen Papagei, und da die Wände meiner Wohnung so dünn wie Papier waren, hörte man dessen Geschrei manchmal im ganzen Haus. Doch das war halb so schlimm. Der Mieter in der Wohnung über mir war schon in den Achtzigern und fast völlig taub, während der Mittdreißger, der unter mir wohnte, oft wochenlang auf Montage war und seine Wohnung mehr oder weniger nur als Aufbewahrungsort für seine Sachen benutzte.

Einzig und allein der Hausverwalter machte mir zu schaffen.

Sein Name war König.Er wohnte zwar im Erdgeschoß und bekam so sicher am allerwenigsten von den Sprechversuchen meines Papageis mit, aber das hinderte ihn nicht daran, sich um so heftiger darüber aufzuregen. Zwar gehörte ihm das Haus nicht, aber er verhielt sich so und konnte recht unangenehm werden.

Er pflegte regelmäßig an meiner Tür Sturm zu klingeln und wenn ich dann öffnete, bließ er sich regelrecht auf und stemmte die kurzen, kräftigen Arme dorthin, wo vor vielen Jahren einmal seine Taille gewesen sein mußte.

"Hören Sie gut zu, junger Freund", pflegte er dann zu sagen, obwohl er mich sicher nicht im Ernst zu seinen Freunden zählte. "Ihr schreiendes Vogelvieh muß weg! Der Krach ist einfach nicht zum Aushalten! Gestern hat der Papagei den ganzen Tag 'Alle meine Entchen' gesungen! Wer soll sich das denn anhören!"

Ich wollte es auf die heitere Tour versuchen und sagte:

"'Alle meine Entchen' ist das einzige Lied, das ich so singen kann, daß man es noch wiedererkennt, wenn der Papagei es nachsingt. Aber Sie können Ihm gerne ein anderes beibringen, wenn Sie wollen!"

Er hielt mir seinen Zeigefinger drohend unter die Nase.

"Ich habe Sie gewarnt! Aber anscheinend wollen Sie unbedingt, daß wir uns vor Gericht wiedersehen! Sie werden schon merken, was Sie davon haben!"

Damit stampfte er dann davon. Ich schlug die Tür hinter ihm zu und, und murmelte vor mich hin: "König, nimm' dich nicht so wichtig!" Der Papagei stimmte mir zu und wiederholte laut-

hals: "König, nimm dich nicht so wichtig!" In den nächsten Tag hatte mein Hausverwalter diese paar Worte ziemlich oft zu hören, denn der Papagei schmetterte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit durch das Haus.

Nun war König leider in einer Rechtschutzversicherung und außerdem offenbar der Meinung, daß man diese auch in Anspruch nehmen sollte, wenn man schon die Prämien bezahlt. Der gehar-nischte Brief eines Rechtsanwalts erreichte mich, dann noch einer und schließlich die Vorladung zu einem Gerichtstermin.

Gegenstand des Verfahrens war eine Beleidungsklage. Ich hätte meinem Papagei vorsätzlich Schmähungen beigebracht, die eindeutig dem Kläger gelten würden.

Das Corpus delicti - der Papagei - sei zur Verhandlung mitzubringen. Ich konnte mir an den Fingern einer Hand ausrechnen, was das für Desaster geben würde! Laut und deutlich würde mein Papagei in den Gerichtssaal plärren:

"König, nimm dich nicht so wichtig!"

Nein, dem mußte vorgebeugt werden!

Verzweifelt hörte ich mich in meinem Bekanntenkreis nach jemandem um, der einen Papagei besaß, den ich an Stelle meines Vogels mit in den Gerichtsaal nehmen konnte. Ich hatte Glück im Unglück. Ein Bekannter kannte jemanden, der wiederum jemand anderen kannte, der einen Papagei besaß. Es war ein Pfarrer, der mir ein sehr zurückhaltendes und sanftmütiges Wesen zu haben schien, so daß ich annahm, daß sein Papagei mich vor Gericht nicht mit irgendwelchen wüsten Beleidigungen blamieren würde. Der Tag der Entscheidung kam. Ich nahm den falschen Papagei mit zum Gerichtstermin und als es dann soweit war, versuchte ein eigens herbeigeorderter Sachverständiger das Tier zum reden zu bringen.

"König, nimm dich nicht so wichtig!" schmetterte der Sachverständige.

"Der Herr erhöre deine Gebete!"erwiderte sanft der Papagei.

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Zwei Pferdeleben

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Der Krieg hatte wieder einmal grausam über das Land gefegt und nichts als Tod und Zerstörung hinterlassen, als sich ein versprengter Soldat mühsam seines Weges schleppte und schließlich den Brunnen eines niedergebrannten Hofes erreichte. Dort trank er ersteinmal ausgiebig und füllte seine leere Feldflasche.

Vor gut anderthalb Tagen hatte er den letzten Tropfen aus ihr genommen und seitdem war er ohne Wasser gewesen. Die ganze Zeit über war er einsam durch eine karge Ödnis mar-schiert.

Der Stand der Sonne und in der Nacht die Gestirne, das waren seine einzigen Orientierungspunkte. Er wußte nicht genau, wo er sich befand. Und ebensowenig wußte er, ob er seinen Feinden nicht geradewegs in die Arme lief.

Als der Soldat getrunken hatte, wischte er sich mit dem Ärmel den Mund ab und atmete tief durch. In der Ferne war das Donnern von Geschützen zu hören. Aber diese Geräusche waren nichts Ungewöhnliches für seine Ohren. Sie hatten ihn die letzten Tage über stets begleitet.

Er sah sich um, blickte über das niedergebrannte Bauernhaus, das stellenweise noch rauchte...

Es konnte nicht allzulange her sein, da war hier noch gekämpft worden. Von den Bauern, die hier gewohnt hatten, war nirgends eine Spur. Vielleicht waren sie in die Berge geflohen, vielleicht aber auch einfach erschlagen worden. Aber etwas anderes sah der Soldat, was sein Interesse weckte. Es war ein Fuhrwerk, vor das zwei große Kaltblupferde gespannt waren.

Die Tiere sahen elend aus.

Sie saßen in ihren Geschirren fest und konnten nicht davon los. Sie wieherten nicht, sie bewegten sich kaum und rissen auch nicht an ihren todbringenden Fesseln.

Sie wirkten alles in allem genommen ziemlich apathisch und wahrscheinlich waren sie nahe daran zu verhungern oder zu verdursten.

Der Soldat überlegte.

Irgendwo vor ihm, das wußte er, lag der große Strom, den er überqueren mußte. Und was sollte er da mit zwei Kaltblutpfer-den anfangen? Er hatte keine Verwendung für die Tiere, zumal sie wahrscheinlich zu schwach waren, als daß man im Augenblick auf ihnen reiten konnte. Aber ein Tierschinder bin ich auch nicht! dachte der Soldat und ging - obwohl er müde von seinem langen Weg war - zu den Tieren hin, um sie aus ihren Geschirren herauszuholen. Dann führte er sie zum Brunnen, ließ den Schöpfeimer hinab und gab ihnen Wasser. Schließlich zog der Soldat weiter, aber die beiden Pferde nahm er mit, obwohl sie zunächst seinen Marsch eher noch verzögerten, als daß sie ihm halfen, schneller vorwärts zu kommen. Wenn er etwas am Wegesrand wachsen sah, dann fütterte er sie damit. Und obwohl dies nicht allzuviel war, denn das Land war karg und unfruchtbar, kamen die Tiere bald wieder einigermaßen zu Kräften.

Am Abend erreichten sie den großen, reißenden Strom, den der Soldat zu überqueren hatte. Er band seine Sachen an den Tieren fest und zog sie hinter sich her ins Wasser. Sie schwammen ihm nach und er mußte aufpassen, nicht einen ihrer Hufe versehentlich abzubekommen. Die Tiere schnauften und schwammen mit weit ausholenden, raumgreifenden Zügen und der Soldat war froh, schließlich das andere Ufer erreicht zu haben. Aber die starke Strömung hatte sie weit flußabwärts getrieben.

Als sie die Uferböschung erklommen hatten, wurde es bereits dunkel.

"Ich glaube wir haben uns alle drei ein paar Stunden Nachtruhe verdient!" meinte der Soldat und machte die Tiere an einem Gebüsch fest.

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Am nächsten Tag wagte der Soldat es sogar, auf den Tieren zu reiten. Abwechselnd schwang er sich auf die Rücken der beiden Tiere und kam so bis zum Mittag gut voran.

Dann erreichte er ein verlassenes Dorf, dessen Bewohner wohl vor den Schrecken des Krieges geflohen waren. Er hielt geradewegs auf den Dorfbrunnen zu, wo er die Pferde ausgiebig tränkte.

Er stand mitten zwischenen ihnen, als er den Schöpfeimer hinabließ.

Irgendwo aus der Ferne waren wieder Schüsse und Geschützdonner zu hören. Der Soldat horchte auf, als diese Geräusche mehr und mehr anschwollen. Was dann geschah, ging blitzschnell.

Plötzlich krachte es ganz in seiner Nähe und er warf sich instinktiv zu Boden. Von allen Seiten schienen die Geschosse herniederzuprasseln.

Einige Augenblicke lang wagte er es nicht, den Kopf zu heben.

Aber als er es dann schließlich doch tat, sah er, daß die Pferde, zwischen deren Leibern er gestanden hatte, neben ihm hingestreckt am Boden lagen, während er selbst unversehrt geblieben war.

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Der Name

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Es war schon schon spät am Abend und eigentlich erwartete der Bürgermeister, des 500-Seelen-Dorfes um diese Zeit keinen Besuch mehr. Als er an die Tür gegangen war und geöffnet hatte, bereute er es fast schon. Ein Mann stand dort, an der Hand einen fünf- oder sechsjährigen Jungen mit blitzenden Augen. Der Bürgermeister kannte die beiden. Im Dorf kannte schließlich jeder jeden.

"Guten Abend", brummte der Bürgermeister. "Was gibt's?"

"Ich komme gerade aus der Stadt", sagte der Mann. "Meine Frau hat ihr Baby bekommen. Und ich wollte es heute noch anmelden."

"Meinen Glückwunsch. Alles in Ordnung?"

"Ja. Es ist gesund. Und meiner Frau geht's auch gut. Ein paar Tage bleibt sie noch im Krankenhaus."

Indessen bohrte der Junge mit dem Zeigefinger in der Nase und grinste den Bürgermeister dabei herausfordernd an.

"Dixileinchen, laß das!" schimpfte der Mann, als er das sah. Er riß dem Jungen die Hand vom Gesicht und dieser sah protestierend zu seinem Vater hinauf.

"Ich mache doch gar nichts!"

"Natürlich machst du 'was! Dauernd treibst du irgend welchen Unsinn!" Der Mann wandte sich schulterzuckend an den Bürgermeister. "Auf mich hört er einfach nicht. Wenn seine Mutter nicht da ist, kann man ihn kaum bändigen!" Sie gingen in das Arbeitszimmer des Bürgermeisters. Der Mann nahm in einem Sessel Platz, während 'Dixileinchen' seine Schmutz-finger an einem Stapel Formulare entlangrieb.

"Junge oder Mädchen?" fragte indessen der Bürgermeister.

"Junge", murmelte der Mann, während sein Blick in unheil-voller Erwartung den Bewegungen seines erstgeborenen folg-ten.

"Und wie soll das Kind heißen?"

"Klaus-Dieter!" kam es wie aus der Pistole geschossen. Der Bürgermeister runzelte die Stirn. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte. Eine Ahnung, eine schwache Erinnerung... Und dann ein Verdacht!

Unterdessen hatte 'Dixileinchen' sich bedrohlich einer halbvollen Teetasse genähert, die der Bürgermeister auf der neben dem Aktenschrank stehenden Kommode abgestellt hatte.

'Dixileinchen' fuhr mit der Hand über das glattlackierte Holz, sein Vater sprang blitzartig aus dem Sessel, aber es war zu spät. Die Tasse landete auf dem Boden.

"Dixileinchen! Sieh, was du gemacht hast!" Der Mann hob die Tasse auf. Sie war den Teppich gefallen und dadurch heil geblieben. Dafür würde man den Teefleck wohl kaum je wieder aus dem Teppich entfernen können. In der Zwischenzeit hatte der Bürgermeister eine Akte aus dem Schrank herausgenommen und ein wenig darin geblättert.

"Sie können Ihr Neugeborenes nicht Klaus-Dieter nennen", erklärte er dann bestimmt.

"Aber... Warum denn nicht?"

"Klaus-Dieter ist bereits als Name Ihres ersten Sohnes -

'Dixileinchen' - eingetragen. Ich wußte doch gleich, daß da etwas nicht zusammenpaßte..."

Der Mann atmete tief durch. "Das hatte ich doch tatsächlich vergessen." Er zuckte die Achseln. "Was machen wir da?"

"Sie überlegen sich einen anderen Namen."

"Aber welchen? Ich weiß keinen, der annehmbar wäre!"

Jetzt war es der Bürgermeister der tief durchatmete.

"Vielleicht ist Ihnen ja bis morgen einer eingefallen..."

"Machen Sie mir einen Vorschlag, Bürgermeister!"

"Sollten Sie das nicht besser mit Ihrer Frau besprechen?"

"Sehen Sie, wir hatten fest mit einem Mädchen gerechnet.

Für ein Mädchen hätten wir mehr als genug Namen gehabt, aber für einen Jungen ist uns außer Klaus-Dieter kein vernünfti-ger eingefallen..."

"...und der ist ja nun bereits vergeben." Der Bürgermeister warf einen verstohlenen Blick zur Uhr, während 'Dixileinchen' sich in einem der Sessel herumlümmelte.

"Wie wär's mit Thomas?" meinte der Bürgermeister. Aber sein Gegenüber schüttelte den Kopf.

"Mein Schwager heißt so und den kann ich nicht leiden.

Glauben Sie ich will jedesmal, wenn ich den Namen meines Kindes rufe, an ihn erinnert werde?"

"Natürlich nicht. Und wie klingt Christian?"

"Ich kannte mal einen Christian, der..."

"Und wie ist Jürgen?"

"Jürgen? Ich hätte nichts dagegen, aber meine Frau. Da bin ich mir sicher."

"Michael?"

"Um Gottes Willen! Das ist ja mein Name!"

"Früher kam es doch häufig vor, daß Söhne die Namen ihrer Väter bekamen!" gab der Bürgermeister zu bedenken.

"Mag sein, aber ich fand meinen Namen schon als Kind nicht schön. Warum sollte ich meinen Sohn damit strafen?"

Sie gingen noch eine ganze Reihe von Namen durch, aber jedesmal hatte der Mann einen unangenbehmen Bekannten, der diesen Namen ebenfalls trug oder irgendwelche anderen mehr oder weniger gewichtigen Einwände. "Es läuft doch am Ende alles wieder auf Klaus-Dieter hinaus!" meinte er schließlich, fast schon resignierend. "Und warum auch nicht? Daß

'Dixileinchen' eigentlich Klaus-Dieter heißt, war ja selbst mir, seinem Vater, kaum noch bewußt. Für mich und meine Frau heißt er einfach nur 'Dixileinchen' - weshalb sollte da sein Bruder nicht Klaus-Dieter heißen?"

Jetzt riß dem Bürgermeister der Geduldsfaden.Er klappte mit einer heftigen Bewegung die Akte zu und und brummte:

"Sie können doch zwei Brüdern unmöglich den selben Namen geben! Das muß doch zu begreifen sein!"

Der Mann seufzte und einen Moment lang war es ganz still im Zimmer. Selbst 'Dixileinchen' war für den Bruchteil einen Augenblicks ruhig. "Wie wäre es denn", meinte der Mann dann in die plötzliche Stille hinein, "wenn wir das Baby statt Klaus-Dieter einfach Dieter-Klaus nennen? Dann hat es doch einen anderen Namen als sein Bruder!"

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Das neue Fell

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Martin hatte einen Teddy, den er er sehr liebte, was diesem auf die Dauer nicht sehr gut bekam. Nach und nach wurde die weiche Nase kaputtgeschmust und das Fell mit der Zeit immer dünner, bis schließlich an einer Stelle schon das Stroh hindurch kam, mit dem das Innere des Teddys gefüllt war.

Doch das tat Martins Zuneigung zu seinem Teddy keinen Abbruch. Er zog ihn noch immer allen anderen Stofftieren vor, die ihm im Lauf der Jahre geschenkt worden waren - und das, obwohl diese zumeist sehr viel prächtiger und von besserer Qualität waren. Der grüne Affe zum Beispiel, den er von der Oma geschenkt bekommen hatte oder der große braune Bär, der richtig brummen konnte. Doch sie alle konnten nicht mit dem unscheinbaren Teddy konkurrieren, der noch nicht einmal ein renomiertes Markenzeichen mit den Vermerken 'pädagogisch wertvoll' oder 'zu 100% aus Naturstoffen' aufweisen konnte.

"Was sollen wir nur machen?" hörte Martin die Mutter sagen.

"Dieser Teddy, den der Junge dauernd mit sich herumschleppt ist doch schon so kaputt und verdreckt. Richtig unhygie-nisch. Da kann man sich doch alles mögliche holen!"

Der Vater zuckte mit den Schultern. "Wenn er ihn doch so mag! Es dürfte auch wenig Sinn haben, ihm einfach einen Neuen zu kaufen. Er würde ihn einfach zu den anderen stellen, die er bekommen hat, aber diesen schmuddeligen Lumpen trotzdem nicht aufgeben!"

Mit der Zeit verlor der Teddy nicht nur den Großteil seiner Haare, sondern auch nach und nach Arme und Beine, so daß schließlich nur noch ein Torso vorhanden war. Zum Schluß lö-sten sich sogar noch die Fäden, mit denen die Augen festge-näht waren, aber für Martin blieb der jetzt recht unansehnli-che Teddy immer noch der einzige Teddy, den er wirklich liebte. Er nahm ihn mit ins Bett und wenn er mit dem dreiräderigen Trecker den Bürgersteig entlangfuhr, klemmte er bei ihm unter dem Arm. Bald stand Weihnachten vor der Tür und die Mutter fragte, was er sich den wünsche. Doch ein neuer Teddy war nicht darunter. "Ich habe doch einen Teddy", sagte Martin auf eine entsprechende Frage hin. "Oder würdet ihr euch auch einfach ein neues Kind wünschen, wenn ich so schmuddelig wäre wie er, oder wenn ich bei einem Unfall Arme und Beine verlo-ren hätte?" - "Nein, natürlich nicht!" erwiderte die Mutter.

Dann hatte sie eine Idee. "Und wie wär's, wenn wir dem Teddy zu Weihnachten ein neues Fell kaufen würden?" - "Geht denn das?" - "Ich glaube schon. Du bekommst ja auch ab und zu eine neue Jacke, wenn du aus der alten herausgewachsen bist." -

"Ja, richtig!" - "Teddies haben keine Jacke, sondern ein Fell. Warum sollte man da nicht auch etwas Neues bekommen können?" Das leuchtete dem Jungen ein. "Ich bin einverstanden", erklärte er. "Aber das Fell muß genau so aussehen, wie das, was er vorher hatte." - "Ich versuche, eines zu finden, daß genau so aussieht", versprach die Mutter. "Und wenn es nun doch ein bißchen anders ist?" - "Nein!" Martin schüttelte den Kopf. "Kommt nicht in Frage!" - "Dein Teddy hätte sicher nichts dagegen. Ein Fell, daß ein bißchen anders ist, ist doch immer noch besser, als eins, das Löcher hat!" Martin überlegte kurz und nickte dann. "Gut", meinte er.

Am Heiligabend war die Spannung sehr groß. Martin hatte seiner Mutter den Teddy am Tag zuvor abgegeben, damit sie ihm das neue Fell überziehen konnte. "Es war gar nicht so einfach, einen Teddy zu finden, der dem alten auch nur annähernd gleicht!" flüsterte die Muter zum Vater. "Ich hoffe nur, daß er ihn auch akzeptiert!" Vater zuckte die Schultern. "Ansonsten werden ihn vielleicht die Eisenbahn und das Indianerzelt und all die anderen Dinge trösten!" Als es schließlich ins Weihnachtszimmer zur Bescherung ging, blieb Martin kurz stehen. Seine Augen gingen über die vielen Geschenke, schienen kaum interessiert. Dann endlich hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. "Mein Teddy!" rief er, lief hin und nahm ihn in den Arm. Und die Mutter wußte, daß spätestens nächstes Jahr wieder ein 'neues Fell' fällig war.

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Ein unvermeidlicher Besuch

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"Peter, können wir mal was besprechen?" fragte Stefanie ihren Mann, wobei sie einen Brief in der Hand hielt, den sie gerade geöffnet hatte. Peter blickte von seiner eigenen Post auf.

"Ja sicher. Worum geht's denn?"

"Du kennst doch meine Cousine Kerstin."

"Nur dem Namen nach. Du hast mir mal ihr erzählt."

"Sie will demnächst mal bei uns vorbei schauen. Sie hat das Baby noch nicht gesehen und und will sich jetzt unbedingt ein Wochenende bei uns einquartieren."

Peter zuckte die Schultern. "Nichts dagegen. Sie kann im Wohnzimmer schlafen. Aus der Couch kann man ein Bett machen."

Stefanie seufzte und schüttelte dann den Kopf. "Aber ich will gar nicht, daß sie kommt! Es ist schon Jahre her, daß wir uns zuletzt gesehen haben. Und es gab auch nie besonders viele Gemeinsamkeiten!"

"Naja, aber für ein Wochenende...", erwiderte Peter.

"Ich weiß überhaupt nicht, was ich die ganze Zeit mit ihr anfangen soll! Außerdem wird sie mir bestimmt in alles hineinreden. 'Ein paar gute Tips' nennt sie das, obwohl sie von den meisten Sachen gar keine Ahnung hat!"

"Dann sag' ihr ab, Stefanie!"

Stefanie schüttelte den Kopf. "So hart kann ich das nicht machen..." - "Dann schreib ihr, du hättest zuviel zu tun und seist einfach zu beschäftigt!" Das machte Stefanie dann auch, formulierte das Ganze sehr nett und freundlich, verpackte es in eine große Portion Bedauern und schickte den Brief schließlich ab. Eine Woche später kam dann die Antwort. Natürlich verstehe ich, daß ich bei Euch fehl am Platze bin, wenn Du im Moment soviel zu tun hast, schrieb Cousine Kerstin zurück. Trotzdem hoffe ich, daß ein Besuch bald möglich wird!

Eine Weile hörten Peter und Stefanie nichts von ihr. Dann erreichte Stefanie erneut ein Brief, in dem Kerstin sich mehr oder minder ungeniert einlud. Diesmal sogar mit konkretem Termin. "Sie fragt noch nicht einmal!"rief Stefanie wütend. "Sie kündigt ihr Kommen einfach an."

"Dann schreib ihr zurück, daß du dich grundsätzlich nicht mit ihr treffen willst!" riet ihr Peter.

Doch Stefanie schüttelte den Kopf. "Nein, das wäre zu hart! Fällt dir nicht eine andere - sanfte - Ausrede ein?"

Peter überlegte. "Berufliche Verpflichtungen!" schlug er dann vor. "Das klingt wie etwas, daß einfach nicht zu umgehen ist!" - "Am Wochenende?" fragte Stefanie zweifelnd.

Peter zuckte die Achseln. "Es könnte doch ein Fortbildungsseminar sein!" Das war die Rettung! Jedenfalls glaubte Stefanie das, aber Kerstins Antwortbrief war niederschmetternd.

Liebe Stefanie! schrieb sie zurück. Ich verstehe, daß so ein Fortbildungsseminar eine Belastung ist und Du keine Lust hast, außerdem noch Gäste zu beherbergen. Aber ich würde Euch bestimmt nicht zur Last fallen. Ich könnte mich an diesem Wo-chende zum Beispiel um das Kind kümmern.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (ePUB)
9783738901382
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
weihnachtslesebuch erzählungen

Autoren

  • Alfred Bekker (Autor:in)

  • Silke Bekker (Autor:in)

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Titel: Das kleine Weihnachtslesebuch: Erzählungen