Zusammenfassung
von Hendrik M. Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 72 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende acht Erzählungen:
Der alte General
Balthasars Basar
Wissen und nicht wissen
Der Ring, der Wünsche erfüllt
Mein Freund, der Zwerg
Seelenloser Engel
Die Anhalterin
Preisnachlass wegen Geisterbefall
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Geheime Welten: Acht phantastischen Erzählungen
von Hendrik M. Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 72 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende acht Erzählungen:
Der alte General
Balthasars Basar
Wissen und nicht wissen
Der Ring, der Wünsche erfüllt
Mein Freund, der Zwerg
Seelenloser Engel
Die Anhalterin
Preisnachlass wegen Geisterbefall
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author / Cover: Silke Bekker
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Der alte General
Zehn nach halb neun. Damit ist der Chef definitiv zu spät. Mir soll es recht sein. Vermutlich hat Herr Dr. Fernh irgendwas Wichtigeres zu tun.
Ich stehe auf von der Bank in unserem provisorischen Pausenraum.
„Sollen wir?“, frage ich in die Frühstücksrunde. Eine obligatorische Reaktionssekunde passiert erst mal gar nichts. Dann ernte ich das erste langsame Nicken.
Wir haben schließlich auch ohne den Chef alle was zu tun. Wir, das meint eine bunt gemischte Truppe, die hier für die Stadtarchäologie arbeitet: Praktikanten von der Universität, die hier erste Erfahrungen sammeln, zwei Ehrenamtliche, die hier mal reinschnuppern, und die Hand voll Leute, die uns „echten“ Archäologen vom Arbeitsamt zugeteilt wurde. Deren Arbeitskraft ist nämlich preiswerter als alles von Leuten machen zu lassen, die das studiert haben.
Aber naja, auch die Stadt muss sehen, wo ihr Geld bleibt.
Ich bin nach dem Chef hier die Nummer zwei, also muss ich jetzt mal für Bewegung sorgen.
Wir schnappen uns Spaten und Eimer, Schaufeln und ein Radio.
Wir wissen alle, was zu tun ist. Da muss nicht viel erklärt werden. Auf einer Vierzig-Quadratmeter-Fläche müssen wir die ein Meter siebzig tiefe Grube nochmal um dreißig Zentimeter abtiefen. Eigentlich dachten wir, wir sind schon auf der richtigen Höhe. Aber jemand hatte sich verrechnet. Dreißig Zentimeter klingt nicht viel, ist aber eine ganze Menge bei der Fläche.
Fehler passieren, genauso wie man unvorhergesehene Dinge findet. Bomben im zweiten Weltkrieg haben manchmal Krater in die Erde gefressen, oder wir finden Rohrleitungen oder Stromkabel, die nirgendwo verzeichnet sind, manchmal noch mit Strom drauf. Alles schon vorgekommen. Aber Gott sei Dank ist das hier keine Notgrabung, wo uns Bauarbeiter und Bauherren im Nacken sitzen. Wir sondieren hier nur für einen Grundstückseigentümer, wie tief er bei seinen Baumaßnahmen gehen kann. Hier in der Innenstadt kann man dabei allerhand finden und solange kein Bauplan ansteht, hat man auch keine großen Geldverluste, weil alle warten müssen.
Dazu können wir schon mal testen, ob wir die Relikte jüngerer deutscher Geschichte finden: Bomben, meist nur die Reste, manchmal aber auch Blindgänger.
Irgendwer erzählte mal, das inoffizielle Motto der Minensucher der Bundeswehr wäre: „Wer suchet, der findet, wer drauftritt verschwindet.“
Das ist nur halb so witzig, wenn man mal die Schaufel in die Erde rammt und es ein sehr metallisches „klonk“-Geräusch gibt.
Trotzdem ist die Gefahr natürlich doch eher geringer als in den meisten Indiana Jones-Filmen dargestellt. Es ist unumgänglich, über Archäologen zu reden, ohne den Vergleich heranzuziehen. Das muss jeder Student im Verlauf seines Studiums zu ertragen lernen. Einmal ist das ja witzig, aber irgendwann ...
Ich beginne damit, die Erde, die Alex mir mit dem Spaten vorlockert, in die Eimer zu schippen. Es hat geregnet, der Boden ist lehmig und vollgesogen. Jetzt allerdings scheint die Sonne.
Gehört halt alles dazu, wenn man was finden will. Ich will nicht wissen, wie anstrengend eine Grabung in Ägypten ist.
Alex, oder Alexander Pilsner, lässt kurz den Spaten sinken.
Ich und auch alle, die hier gerade die Graberei-Arbeit machen, wissen, was jetzt kommt.
Aus seiner ausgebeulten Westentasche zieht er eine alte Holzpfeife mit kleinen Metallverzierungen.
Dann schiebt er seine Schiebermütze auf seinen nach hinten gegelten, langsam lichter werdenden Haaren zurück und stopft die Pfeife genüsslich.
Anschließend nimmt er Streichhölzer heraus und nach dem Stopfen der Pfeife wird sie erst mal genüsslich angezündet. Dass es ein Genus sein muss, zeigt sein völlig zufriedenes Lächeln.
Uns steigt dabei immer nur der süßliche Tabakrauch in die Nase. Alex ist arbeitslos und hilft hier ehrenamtlich aus. Er ist sicher so um die vierzig mit einem wettergegerbten Gesicht, das ihn älter aussehen lässt.
Dann geht die Schaufelei weiter.
Lutz, einer der Praktikanten der Uni hier, nimmt einen vollen Eimer an. Irgendwer muss heute fragen, diesmal ist Lutz dran.
„Alex, Laura ist doch neu hier. Erzählst du uns und ihr nochmal, wie du hierhergekommen bist?“
Alexander erzählt gerne Geschichten, die sich zwar nie gegenseitig widersprechen, deren Wahrheitsgehalt ich aber mal dezent anzweifeln will.
Alex pafft noch ein, zwei Mal genüsslich und lässt zwei kleine Wölkchen aufsteigen. Dann, die Pfeife noch im Mundwinkel, nimmt er seinen Spaten wieder auf und macht sich an die Arbeit.
Erst denken wir schon, er wäre heute nicht in Stimmung und würde nichts erzählen.
Doch dann beginnt er: „Es ist ja schon über hundert Jahre her, da wurde ich im schönen Staate Virginia in den jungen, Vereinigten Staaten von Amerika geboren. Aufgewachsen bin ich aber dann in Boston. Hat mich auch sehr geprägt, denk ich mal. Jedenfalls kam dann der große Krieg. Also der Krieg des Nordens gegen den Süden. Der Süden, wir, wurden da rein gezwungen.“
„Naja“, sagt Laura, die neue Praktikantin, laut. Sofort ruhen alle Blicke auf ihr. Wir mögen Alex‘ Geschichten. Gerade bei solchen Gelegenheiten helfen sie, die Arbeit schneller zu erledigen.
„Der Süden wurde doch nicht gezwungen“, merkt sie nun etwas kleinlaut an. Alexander pafft erneut ein paar Wolken, bevor er fortfährt.
„Geht so. Als Sohn Virginias war ich hin und her gerissen, für wen ich kämpfen solle“, setzt er seine Geschichte fort.
„Moment, so alt können Sie doch niemals sein“, fährt Laura dazwischen.
Entnervt schnaube ich.
„Das fällt dir erst jetzt auf?“, stelle ich fest. „Er erklärt das.“
Laura sieht mich skeptisch an.
Alexander lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Ein paar kleine Wölkchen steigen auf, bevor er fortfährt.
„Muss ja nichts erzählen", brummt Alexander, während er eine weitere Wolke aufsteigen lässt.
„Damit die Neue ins Bild kommt, fange ich mal an mit dem Grund meines Hierseins. Wir belagerten eine kleine Stadt, die vom Norden besetzt war. Die Blauröcke hatten sich verschanzt in der Schule der Stadt. Wir saßen in den Gebäuden darum herum. Die Sonne brannte und auch in den Häusern war es so warm, dass die Uniform wie eine zweite Haut anklebte. Ich war seiner Zeit bereits General, General Alexander Pilsner. Trotz allem hatte ich nur einen Revolver. Der Süden war für diesen Krieg nicht so gut gerüstet wie der industrialisierte Norden. Wir belagerten also dreißig Mann in der Stadthalle mit gerade mal zwei Dutzend Konföderierten. Das allerdings wussten die Blauröcke nicht, weil ich die Jungs angewiesen hatte, Lärm für ein Bataillon zu machen.“
„Kommt jetzt die Hexe?“, fragt Lutz mich, während er mehrere Eimer aus der Grube hochhievt. Ich nicke.
„Dann geh ich mal pissen“, entschuldigt er sich eloquent.
Alexander ignoriert ihn geflissentlich in seinem Redefluss.
„In dem Ort gab es viele Russen, die aus demselben Grund in die USA kamen, wie alle anderen auch: ein besseres Leben. Jeder der damals in die Staaten kam, ließ sich gerne bei Landsleuten nieder. So gab es immer mal Dörfer, in denen man kaum wen fand, der Englisch gut sprach. Die Hexe hieß jedenfalls Swara oder so, auf jeden Fall wurde sie mir so vorgestellt. Sie sollte uns segnen.
War, muss ich gleich sagen, nicht meine Idee. Glaubte nicht an so einen Humbug. Die Anwohner wollten, dass wir so schnell es geht gewinnen. Möglichst, so nehme ich an, ohne viel kaputt zu machen. Außerdem ist der Kampf für die Freiheit so eine Sache. Alle finden ihre Freiheit toll und wenn sie bedroht ist, wird sie für manche erst wirklich wertvoll. Nur selbst für sie kämpfen, das ist es dann doch nicht jedem wert. Außerdem nach Möglichkeit nicht vor oder eigenen Haustür, sondern weit weg. So bist du als Soldat auch meist unbeliebt.
Swara jedenfalls strich uns mit einer in irgendwas getunkten Feder über die Stirn und sprach dabei in ihrer Heimatsprache, oder wirres Zeug, ich kann kein Russisch. War schon älter, die Frau, man sah ihr aber die verblassende Schönheit an. Schwarze Augen, schwarzes Haar, und Haut, also meine ist mehr gegerbt worden durch die Sonne. Sie war sicher schon Jahre älter als ich, aber man konnte das nicht genau sagen. Sie hatte einfach irgendwas Besonderes an sich. Jedenfalls sind wir dann raus, haben uns verteilt. Jeder wusste, wo er sein sollte. Hexenwerk oder nicht, wir wollten das Ganze beenden und reinstürmen. Ich...“, so geht es eine ganze Weile voran, wie er alleine mehre Gegner tötete. Laura hängt bei der Beschreibung des kurzen aber heftigen Gefechts genauso an seinen Lippen wie wir anderen. Seine Stimme ist einfach so, dass man ihr zuhören muss.
„Ich warf ihm den leeren Revolver entgegen und duckte mich unter seinem Hieb weg. Ein fester Tritt von mir, und seine Familienplanung hatte sich erledigt. Dann war es vorbei. Keiner von denen stand mehr und wir hatten nur Steve und Peters verloren.“
„Wie aber kamst du her?“, fragt Laura jetzt spitz.
„Ich hab mich mit der Alten eingelassen“, brummt er. Er pafft mehrere Wolken.
„Eingelassen?“, fragt Laura.
„Ja, lautstark, sie war nicht so alt, wie du dir das vielleicht vorstellst“, erwidert er und grinst anzüglich. Laura bekommt rote Ohren und wendet den Blick ab.
„Dann hab ich den Fehler meines Lebens gemacht. Ich hab ihr den verdammten Ring geklaut. Ich war so fasziniert von ihm. Es war wie eine Stimme in meinem Kopf, die schrie, ich solle ihn mitnehmen. Als ich mich ein paar Tage später schlafen legte, war noch alles normal. Ich spielte mit dem Ring, hatte ihn am Finger, als ich einschlief. Als ich aufwachte, war ich hier.“
„Also ein magischer Ring?“, fragt Lutz unnötigerweise.
„Vermutlich“, stimmt ihm Alexander zu.
„Aber kannst du ihn nicht einfach anstecken und einschlafen und wieder zurückkommen?“, fragt Laura.
Alexander nickt.
„Immer wieder, immer wieder“, brummt er und pafft vor sich hin, während er mit der Schaufel Erde in den Eimer füllt.
*
Am nächsten Tag erscheint er nicht zur Arbeit. Da wir ihn lieb gewonnen haben, wundern wir uns schon am Ende der Woche. Schließlich sehen wir eine Schlagzeile in der Zeitung, die uns zu denken gibt:
Mitvierziger aus von innen verschlossener Wohnung verschwunden. Alexander P., Hartz IV-Empfänger, war mehrere Tage nicht bei seinen Bekannten in der Kneipe erschienen. Daraufhin überredeten diese den Vermieter, seine Wohnung zu öffnen, bei der sich die Post im Postfach stapelte.
Seine Wohnung war von innen verschlossen, seine Kleidung war noch da und seine Pfeife lag neben seinem Bett auf seinem Nachttisch. Er allerdings ist verschwunden.
Die Polizei ermittelt.
Von einem Verbrechen sei aber nicht auszugehen.
Vielleicht ist er in seiner Zeit wieder aufgewacht. Wir jedenfalls hoffen es.
ENDE
Balthasars Basar
Micha Jakobs rannte, so sehr wie er noch nie gerannt war in seinen fünfzehn Lebensjahren.
Er konnte hinter sich die Schritte seiner Verfolger hören. Ihr Johlen schien näher zu kommen.
„Gleich haben wir ihn“, rief Dustin hinter ihm.
Micha bog in die erste Straße ab, die sich ihm bot. Flüchtig bemerkte er das Straßenschild. Brookinger-Straße. Er fand sich in einer fast menschenleeren Gasse wieder. Ein Pärchen schlenderte an den Schaufenstern vorbei. Er wusste, dass er nur Sekunden hatte, bevor seine Verfolger in die Straße abbiegen würden. Er musste sich entscheiden.
Er wählte das erstbeste Geschäft und stürmte hinein. „Balthasars Basar“ stand in verschnörkelter, altdeutscher Schrift über dem Eingang auf einem Metallschild.
Micha ging eiligen Schrittes in den Laden hinein, um nicht vom Schaufenster aus gesehen zu werden.
Der Laden war vollgestopft mit Antiquitäten. Auf alten Regalen, Vitrinen und Kommoden stapelten sich allerlei Dinge. Micha fand eine Lücke zwischen zwei Regalen, die breit genug war, um durch sie zum Schaufenster hinaus auf die Straße zu sehen. Er konnte Dustin und seine Spießgesellen vorbeilaufen sehen. Sie waren langsamer geworden, sie rannten nicht mehr.
Dustin verprügelte mit Vorliebe Micha. Vor einer Weile hatte er sich irgendwie dazu entschieden, dass er die übliche Drangsaliererei verstärken wollte. Micha hatte keine Ahnung, wieso. Er hatte ihm nie etwas getan, und als Dustin ihm schlicht das Geld für das Essen in der Cafeteria weggenommen hatte, hatte er es aushalten können. Doch nun schlugen sie ihn.
Er versuchte nicht mit ihnen alleine zu sein. Sie trauten sich nur, wenn keiner in der Nähe war, der sie verpetzen konnte.
Als sie aus seinem Sichtfeld waren, atmete er leise auf. Er war ihnen entwischt. Dieses Mal. Er schlenderte durch den Laden. In seinen Augen schien vieles nur Gerümpel zu sein. Aber auch Schmuck lag dazwischen. Nichts davon war mit einem Preis ausgezeichnet. Ob es hieß, dass man hier nicht über so etwas zu reden brauchte ? Oder dass man darüber noch verhandeln konnte?
Sein Blick blieb an einer kleinen Schatulle hängen, die mit einem verworrenen Muster überzogen war. Einem plötzlichen Drang folgend öffnete er sie. Darin fand er eine Halskette. Irgendetwas faszinierte ihn daran. Es war ein kleiner silberner Anhänger an einer Metallkette. Der Anhänger war geformt wie eine Träne und es war ein Zeichen auf ihm eingraviert. Micha nahm die Kette und ließ sie nach einem kurzen Blick über die Schulter in die Tasche gleiten. Er schloss die Schatulle, aus der er sie genommen hatte.
„Kann ich dir helfen?“, hörte er plötzlich eine Stimme einige Meter hinter sich. Ein älterer Herr kam hinter einem Regel hervor. Er hob eine Augenbraue, als er Micha sah.
„Suchst du was Bestimmtes, Junge?“, fragte er erneut.
Micha schüttelte den Kopf. Er versuchte ganz ruhig zu wirken. Plötzlich fühlte sich die Kette schwer in seiner Tasche an.
„Nein, ich seh mich nur um, Herr...“, brachte er hervor.
Der ältere Mann nickte langsam. „Gestatten, Balthasar. Balthasar ten Dornan. Das ist mein Antiquitätenladen“, erklärte er. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nichts anfassen würdest, ohne zu fragen.“ Er nickte dabei auf ein Schild, das Micha bis dahin gar nicht aufgefallen war. Darauf stand in großen schwarzen Buchstaben: „Du packst es an, dir fällt es runter, du zahlst es.“
Micha nickte. „Verstanden.“
Er schlenderte in Richtung des Ausgangs, hier und dort stehenbleibend und etwas musternd.
Alles in ihm wollte nur nach draußen, bevor Balthasar bemerkte, dass er ihm etwas gestohlen hatte. Doch er wusste, dass er es noch nicht sofort riskieren konnte, nicht nur weil Balthasar Verdacht geschöpft hätte. Auch weil Dustin immer noch dort draußen sein konnte.
*
Nach einigen Minuten wagte er sich zur Tür und warf einen vorsichtigen Blick durch das eingelassene Fenster. Dustin und seine Spießgesellen waren nirgends zu sehen.
So traute er sich hinaus, über die Brookinger-Straße zurück auf die Große Straße und zurück zur Wohnung seines Vaters.
Während er die Große Straße entlangschlenderte, sah er sich immer wieder misstrauisch um. Micha hoffte inständig, dass Dustin ihn nicht entdecken würde. Langsam wanderten dabei seine Gedanken zu dem Antiquitätenladen zurück. Gleichzeitig wanderte seine Hand in die Jackentasche und umschloss die Kette mit dem Anhänger.
Micha wusste, dass er sich eigentlich schlecht fühlen sollte. Er müsste ein schlechtes Gewissen haben, da er jemanden bestohlen hatte. Doch jeder Zweifel schien verschwunden, wenn er den Anhänger in seiner Tasche berührte.
Es war richtig gewesen. Auf eine seltsame, verquere Art. Er konnte es nicht in Worte fassen, ähnlich wie wenn man lange Zeit auf eine Speisekarte sah und nach einer Weile der Unentschlossenheit einfach wusste, was genau das Richtige war. Es war ein tiefliegender Impuls.
Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln einen Schatten. Er wirbelte herum, doch bis auf einen menschenleeren Ladeneingang war dort nichts.
Micha schüttelte unwillkürlich den Kopf und ging weiter. Erst glaubte er, dass er sich den Schatten nur eingebildet hatte. Dann aber sah er ihn erneut. Nur kurz, aus dem Augenwinkel. Er war undeutlich. Sobald er hinsah, war er verschwunden.
Micha überlegte, ober er langsam verrückt wurde. Er steckte seine Hände wieder in die Jackentaschen und ging zügigen Schrittes weiter nach Hause.
Micha.
Micha wirbelte herum. Hatte da jemand nach ihm gerufen?
Panisch suchten seine Augen die Straße nach Dustin und seinen Spießgesellen ab. Doch er konnte sie zwischen all den Menschen nirgends sehen. Auch konnte er niemanden entdecken, den er kannte und der ihn hätte beim Namen rufen können.
Er beschleunigte seinen Schritt. Er wollte nach Hause. Heute war definitiv nicht sein Tag.
*
Zurück zu Hause öffnete er sich eine Dose Ravioli, füllte sie in einen Topf und stellte den Herd an. Er hatte den Schatten nicht noch einmal gesehen und war froh darüber. Vielleicht wurde er doch nicht verrückt, überlegte er.
Sein Vater war noch nicht zurück von der Arbeit. Er kam erst spät und wenn, dann war er meist zu erschöpft, als dass Micha mit ihm hätte reden können.
Er war die einzige Verwandtschaft, die er noch hatte. Keine Großeltern. Keine Mutter. Sie war vor Jahren nach einem Streit mit dem Vater gegangen, seitdem waren sie geschieden. Micha war damals gerade erst vier gewesen. Er konnte sich noch ein wenig an sie erinnern. Nach langem Hin und Her hatte sein Vater das Sorgerecht erstreiten können, da Michas Mutter erkannt hatte, dass das Kleinkind Arbeit bedeutet hätte.
Sein Vater arbeitete viel, damit es für sie beide reichte. Micha wusste, dass er es für ihn tat, trotzdem wünschte er sich manchmal, dass er öfter da wäre. Doch er wusste, dass das nicht möglich war. Er erinnerte sich noch gut, wie sein Vater einmal, als Micha noch klein gewesen war, zu ihm gesagt hatte, dass das Leben immer nur ein „Entweder-Oder“ war.
Meistens im Leben konnte man nicht beides haben.
Während die Ravioli warm wurden, faltete sich Micha einen Papierflieger. Dieser segelte durch die offene Balkontür hinaus und blieb auf den Fliesen liegen. Er erzitterte in der leichten Brise, doch war sie zu schwach, um ihn wirklich zu bewegen.
*
Wenig später saß Micha mit einem Teller Ravioli am Küchentisch. Während er aß, fiel ihm die Kette wieder ein. Er holte sie aus seiner Tasche und betrachtete sie. Das Licht der Küchenlampe spiegelte sich darin und brachte sie zum Funkeln. Er schlenderte zu dem großen Spiegel, der im Flur ihrer Wohnung hing, und legte die Kette um.
Plötzlich beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Micha sah sich um. Hatte er dort eben Schritte gehört? War da ein Schatten gewesen?
Micha....
Micha erschrak und schrie kurz auf. Er presste sich die Hand auf den Mund. Da war eine Stimme! In seinem Kopf, es war nicht sein Gedanke gewesen. Er sah über seine Schulter. Dort war niemand.
Nein, du bist nicht verrückt. Du bist sehr weise, um genau zu sein.
Dieses Mal fiel Micha auf, dass neben seinem Spiegelbild jemand stand. Er war nur undeutlich zu erkennen. Wie ein Schatten. Angsterfüllt sah er sich um, doch da war immer noch niemand mit ihm im Flur. Der Schatten war keinen Meter von ihm entfernt. Er griff in die Luft, doch er traf auf keinen Widerstand. Als er in den Spiegel sah, war er immer noch da. Micha hatte das Gefühl, ihn aus dem Augenwinkel neben sich zu sehen.
Ich bin da, ohne da zu sein. Hab keine Angst. Ich will dir nichts Böses.
„Wer bist du?“, fragte Micha laut, um sich zu konzentrieren. Die Stimme in seinem Kopf machte ihm immer noch panische Angst. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Ich bin ein Magier, durch ein missglücktes Experiment bin ich an dieses Stück Metall gebunden worden. Ich warte schon so lange darauf, dass jemand die Kette umlegt, damit ich endlich wieder jemanden zum Reden habe. Ich bin gebunden an sie, kann mich nicht von ihr entfernen. Nur wer sie trägt, sieht mich.
„Du bist ein Zauberer?“, fragte Micha skeptisch mit herablassendem Tonfall.
Zweifelst du etwa an meinem Wort?
„Fragte mich mein Hirngespinst“, ergänzte Micha.
Ich beweise es dir.
„Na, jetzt bin ich gespannt.“
Sieh den Papierflieger an. Konzentriere dich auf ihn. Stell dir vor, er würde brennen.
Micha sah skeptisch auf den Balkon. Dort erzitterte der Papierflieger immer noch in einer leichten Brise.
Du musst daran glauben, stell dir das Bild vor. Streng dich an. Du hast die Gabe dazu. Ich weiß es.
Tatsächlich begann der Flieger an einer Ecke zu brennen. Munter breitete sich die Flamme aus.
Siehst du? Ich hatte recht.
Michas Augen weiteten sich panisch, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Er setzte sich zurück an den Esstisch. Er starrte einen Moment auf den Herd und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Die Stimme schien zu verstehen, dass er verwirrt war und schwieg.
„Wie bist du an diese Kette gebunden worden?“, fragte er schließlich.
*
Balthasar ten Dornan saß zur gleichen Zeit nicht weit entfernt in der kleinen Wohnung über seinem Laden. Vor ihm dampfte eine Portion Linsensuppe verführerisch. Doch bevor er sich dieser widmen durfte, hatte er noch etwas zu erledigen. Er ging noch einmal nach unten in den Laden, kontrollierte, ob die Ladentür verschlossen war, und malte mit dem Finger auf der Tür ein Zeichen in die Luft, das kurz aufglimmte. Wie die Funken einer Wunderkerze glimmte das Symbol auf. Es war ein Schutzzeichen. Damit niemand in den Laden hinein konnte, ohne dass Balthasar es bemerkte. Auch konnte nichts den Laden unbemerkt verlassen.
Er überlegte, was von beidem das Schlimmere wäre.
Balthasar schlenderte ruhigen Schrittes durch seinen Laden und besah sich einige seiner neueren Stücke.
Der Junge, der heute bei ihm gewesen war, hatte ihn überrascht. Er musste eine gewisse Begabung zur Magie haben, sonst hätte er den Antiquitätenladen nicht einmal sehen können. Nein, er hätte ihn selbst dann nicht sehen dürfen. Menschen mit leichtem, ungenutztem, magischem Potenzial konnten seinen Laden auch nicht wahrnehmen. Für sie existierte er einfach nicht, genau wie für all die anderen magisch Unbegabten. Dieser Junge musste eine besonders starke Veranlagung haben. Es kam Balthasar seltsam vor, dass er nicht darin geübt schien sie zu nutzen. Er würde ihn bei nächster Gelegenheit mit einem Bannspruch belegen, der verhinderte, dass er jemandem von diesem Laden erzählte. Im besten Fall würde jemand den Jungen nur für verrückt halten, weil er ein Geschäft sah, was nicht da war. Im schlimmsten Fall würde es Balthasar Arbeit machen.
Balthasar überlegte, wo der Junge gestanden hatte, als er ihn das erste Mal gesehen hatte. Bald hatte er das Regal gefunden. Er blickte flüchtig hinein. Alles schien an seinem Platz zu sein.
Balthasar wollte sich bereits wieder abwenden, um zu seinem Essen zu gelangen, als ihn eine dunkle Ahnung beschlich. Anhand des Staubs auf dem Regal konnte man sehen, dass die Gegenstände länger nicht bewegt worden waren. Bis auf eine kleine Schatulle, die mit einem verworrenen Muster verziert war. Schriftzeichen in einer alten Sprache.
„Oh Gott, nein“, entwich es Balthasar, als er die Schatulle öffnete und sie leer vorfand. Man hatte ihn bestohlen. Er musste diesen Jungen finden!
*
Und so bannte er mich an und in das Amulett.
Die Stimme hatte Micha erzählt, wie sie einst gegen einen anderen Magier gekämpft hatte. Einen bösen und finsteren Hexer, der ihn an die Kette gebunden hatte.
„Und du erinnerst dich nicht mehr an deinen Namen?“
Es ist alles so unsagbar lange her. Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nicht einmal mehr meinen eigenen Namen.
Die Stimme schwieg einen Moment.
„Hör mal“, setzte Micha an, dessen Blick auf die Uhr gewandert war.
Du willst mich ablegen. Ich flehe dich an, tu es nicht.