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Thriller Quartett 4041 - Vier Krimis in einem Band

von Alfred Bekker (Autor:in) Pete Hackett (Autor:in) Thomas West (Autor:in)
©2023 600 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Todesgrüße aus der Vergangenheit (Thomas West)

Ein harter Knochen für Kubinke (Alfred Bekker)

Trevellian boxt sich durch (Pete Hackett)

Kubinke und die verborgene Wahrheit (Alfred Bekker)

Manipulierte Boxkämpfe! Was zunächst „nur“ wie ein Betrug aussieht, entwickelt sich zu einem mörderischen Wettlauf. Wer im Ring nicht freiwillig verlieren will, wird eiskalt umgebracht. Als sich auch noch Trittbrettfahrer einschalten, stecken die FBI-Agenten Trevellian und Tucker in einem tödlichen Spiel, das nur einen Gewinner kennt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Thriller Quartett 4041 - Vier Krimis in einem Band

Dieser Band enthält folgende Krimis:


Todesgrüße aus der Vergangenheit (Thomas West)

Ein harter Knochen für Kubinke (Alfred Bekker)

Trevellian boxt sich durch (Pete Hackett)

Kubinke und die verborgene Wahrheit (Alfred Bekker)




Manipulierte Boxkämpfe! Was zunächst „nur“ wie ein Betrug aussieht, entwickelt sich zu einem mörderischen Wettlauf. Wer im Ring nicht freiwillig verlieren will, wird eiskalt umgebracht. Als sich auch noch Trittbrettfahrer einschalten, stecken die FBI-Agenten Trevellian und Tucker in einem tödlichen Spiel, das nur einen Gewinner kennt.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

COVER A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Todesgrüße aus der Vergangenheit

Krimi von Thomas West


Der Umfang dieses Buchs entspricht 131 Taschenbuchseiten.


Die beiden FBI-Agenten Jesse Trevellian und Milo Tucker haben es mit einer ungewöhnlichen Mordserie zu tun: Die Getöteten wurden mit einem Pfeil vergiftet, der Curare enthielt. Dieses Gift lähmt die Atmung, und die Opfer ersticken qualvoll. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass es sich bei den Ermordeten um Vietnamveteranen aus einem Trupp handelte, die seinerzeit ein vietnamesisches Dorfes überfallen und ausgemerzt hatten – allerdings waren nur drei Soldaten verantwortlich gemacht und von einem US-Kriegsgericht verurteilt worden … anscheinend will sich nach fast dreißig Jahren jemand an den übrigen rächen …


1

"Reißt ihnen die Eier ab, verflucht noch mal!" Die Chikago Bulls lagen mit drei Punkten im Rückstand, und Richie brüllte sich die Kehle heiser. In seinem dröhnenden Fernsehapparat brachen die letzten fünf Minuten des Spiels an. Die Zeit arbeitete für die Sacramento Kings. Und gegen Richie, der fünfzig Dollar auf seine Mannschaft, die Bulls, gewettet hatte.

Er stemmte seinen unglaublich fetten Körper aus dem Sessel, und ging zum Kühlschrank. Ohne den Fernsehschirm aus den Augen zu lassen, griff er in seine Bierdosengalerie. Er riss den Verschluss von der Dose und setzte sie an die Lippen. Es sollte das letzte Bier seines vierundfünfzigjährigen Lebens sein.

Die Haustürglocke übertönte den Lärm aus dem Fernsehgerät. Richie schob das Fenster neben der Außentreppe hoch. Ein Fremder stand vor der Haustür und lächelte ihn an. "Meine Kids haben den Ball in Ihren Garten gekickt."

"Holen Sie ihn sich", brummte Richie und wies auf das offen stehende Gatter. Er zog das Fenster wieder herunter und eilte zum Fernseher zurück. Vielleicht hätte er sich gewundert, dass von den Kindern des Mannes weit und breit nichts zu sehen gewesen war, aber die Bulls kämpften knapp zwei Meter vor der gegnerischen Grundlinie. "Gibt's Ihnen, Jungs! Los! Macht sie fertig!"

Einige Sekunden lang sah es verdammt nach einem Ausgleich aus, und Richie hatte absolut nicht den Kopf, über den komischen Vogel nachzudenken, der da eben vor seiner Tür gestanden hatte. Hätte er es getan, wäre er vielleicht nicht an die Terrassentür gegangen, als der Fremde vom Garten aus ans Fenster klopfte.

Fluchend und ächzend erhob er sich ein zweites Mal. Im Zeitlupentempo bewegte er sich rückwärts auf die Terrassentür zu. Die Kings wehrten den Angriff ab. Es war zum Heulen. "Scheiße!", bellte Richie und sah auf die Uhr: Noch drei Minuten. Die fünfzig Dollar konnte er abschreiben. "Scheiße!"

Das Klopfen am Fenster wurde ungeduldiger. "Ich komme ja schon!" Er hasste Leute, die ihn während eines Footballspiels störten. Normalerweise konnte man alles von ihm kriegen. Richie Perlman war die Freundlichkeit in Person, keiner Fliege hatte er je was zuleide getan, sein ganzes Leben lang nicht. Abgesehen von den Jahren in Vietnam. Klar, aber das war schon nicht mehr wahr. Nur, wenn ihm einer in ein Footballspiel platzte, noch dazu wenn die Chikago Bulls ... Er riss die Terrassentür auf. "Was'n los, Mann?!"

"Der Ball liegt in ihrem Spinatbeet, da will ich Ihnen nicht reintreten." Die grauen Augen des Fremden lächelten aus einem braungebrannten, wettergegerbten Gesicht. Sein graues Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und trotz des heißen Sommertages trug er einen langen, hellen Mantel.

"Sieht aus wie ein Apache", dachte Richie und wälzte seine hundertneunzig Pfund über den Rasen dem Spinatbeet entgegen. Unter der gewaltigen Fettschicht seines Bauches zuckte etwas: Seine innere Stimme. Wenn er ihr zugehört hätte, hätte er erfahren, dass er den Mann schon irgendwo gesehen hatte. Doch Richie konzentrierte sich auf die Stimme des Kommentators. Aus der Küche verkündete sie gerade einen Punktgewinn für die Bulls. "Yeah!" Richie schlug mit der Faust in die flache Hand. Dann blieb er wie angewurzelt stehen: Im Spinatbeet entdeckte er einen frischen Maulwurfshügel und doppelt so viel Unkraut wie gestern - aber keinen Ball.

Das Zucken in seinem Bauch schoss ihm heiß durch die Brust bis in die Kehle. Woher kannte er diesen komischen Kerl? Richie schluckte und erschrak, weil er den Kloß im Hals kaum herunterbekam. Er drehte sich um, sehr langsam, als fürchtete er sich vor der Wahrheit. Der Fremde hielt etwas Längliches vor dem Mund, eine Art Stange. Richie hatte keine Zeit mehr, das Gerät zu identifizieren: Ein brennender Stich zwang seine Aufmerksamkeit zu seiner Schulter - knapp unter dem rechten Schlüsselbein hing ein seltsames Ding, gefiedert und bunt.

Der Fremde kam auf Richie zu. Er lächelte nicht mehr. Drei Schritte vor ihm blieb er stehen. Richies Beine gaben so plötzlich nach, dass er erstaunt an sich heruntersah. Er ging in die Knie, einfach so, ohne erkennbaren Anlass und wollte sich noch mit den Armen abstützen, doch seine Knochen gehorchten ihm nicht mehr. Er kippte nach hinten weg.

Der Fremde beugte sich über ihn und zog das bunte Ding aus seinem Körper. Es tat höllisch weh, aber Richie zuckte nicht einmal mit den Nasenflügeln. Jetzt kehrte das Lächeln auf das Gesicht des Mannes zurück, aber diesmal war es ein kaltes, bitteres Lächeln. "Ich freu' mich, dich noch einmal gesehen zu haben, Richie. Ich habe lange darauf gewartet."

Auf einmal war der Name des Mannes da. Richie wollte ihn herausschreien. Mehr als ein verwaschenes Wimmern brachte er nicht zustande. Es klang ziemlich albern, und der Mann grinste breit. Dann wandte er sich ab, seine Schritte entfernten sich, und Richie hörte das Gatter knarren.

Er lag da wie ausgekippt und spürte die feuchte Kühle des Rasens in sein Unterhemd dringen. Über seine Schläfe krabbelte irgendein verdammtes Insekt. Richie hätte es gern verscheucht, aber nicht einmal seine Augenlider gehorchten ihm noch. Eingezwängt in einem Kerker aus Fett und Knochen, so kam er sich vor. Sein Mund stand offen, und obwohl alles in Richie nach Luft schrie, blieb sein Brustkorb regungslos wie ein Stein. Seine Zunge rutschte langsam nach hinten.

Aus der offenen Terrassentür dröhnte die Stimme des Kommentators und das Jubelgeschrei der Fans. Der Fans von den Chikago Bulls. Die Jungens hatten es tatsächlich geschafft, das Spiel noch zu retten. Und Richies fünfzig Dollars. Aber das bekam Richie Perlman schon nicht mehr mit. Er würde nie mehr auch nur einen einzigen Dollar brauchen.



2

Die Wohnung war völlig versifft. Der Teppichboden wies ein fast regelmäßiges Muster von Brandflecken auf, an manchen Stellen hing die Tapete von den Wänden, leere Flaschen und Dosen standen auf dem Schrank und unter dem Tisch, und in den Ecken stapelten sich alte Zeitungen. Die Tür zur Toilette hatte wohl irgendjemand auf einem Flohmarkt verhökert, und ich bekam den Geruch von Pisse nicht mehr aus der Nase, seit wir uns heute Morgen hier einquartiert hatten. Ich konnte mich an Zeiten erinnern, in denen noblere Adressen für unsere Undercover-Agents angemietet worden waren.

Aber gut - wir waren hier schließlich nicht am Central Park West, sondern in einer ziemlich miesen Gegend von Little Italy. Seit Wochen ermittelten wir hier und in China Town, und zumindest den mittleren Chargen des Drogenhandels in diesem Teil New Yorks waren wir ziemlich dicht auf den Fersen. Wenn alles gut ging, würde unser Undercover-Man uns heute die dicken Fische ins Netz treiben.

Ich stand neben dem Fenster. Von der Wohnung unseres Undercover-Agenten hatte man einen guten Überblick. Die Kreuzung lag vor mir wie ein Freilufttheater. Milo kam mit einer Kanne Kaffee vom Herd und setzte sich wieder neben das Funkgerät. "Und?", fragte er. "Alles in Ordnung da unten?"

"Kann man so nicht sagen - im Augenblick wird nämlich niemand ermordet, und Drogendealer kann ich auch nirgends entdecken."

"Ist ja alarmierend", Milo reichte mir einen Becher mit dampfendem Kaffee, "womöglich ist das Reich Gottes angebrochen, und wir haben's gar nicht gemerkt."

"Dann bräuchten wir ja keine Sorge zu haben, dass wir unseren Urlaub nächste Woche doch noch stornieren müssen." Der Mann hinter dem Eisstand auf der anderen Straßenseite stieß einen Stapel Eiswaffeln um. Er kam hinter seinem Tresen hervor, um sie einzusammeln. Kurz darauf traten zwei Männer aus einer Bar und stiegen in einen schwarzen Chevy. "Ich glaub', unser Mann ist im Anmarsch", sagte ich zu Milo. Er steckte sich den Kopfhörer ins Ohr.

Ein paar Minuten geschah nichts weiter. Außer, dass der Penner hundert Meter vor dem Eisstand von seinem Pappkarton aufgestanden war, und angefangen hatte, die Passanten anzubetteln. Unsere anderen Leute - die Maler auf dem Hausgerüst, die beiden Straßenmusiker und die Wartenden an der Bushaltestelle - verhielten sich ruhig.

"Und wohin zieht es dich nächste Woche?", wollte Milo wissen. Der Gedanke an den bevorstehenden Urlaub schien ihn zu beflügeln. Kein Wunder, die zurückliegenden Wochen waren ziemlich nervenaufreibend gewesen.

"Florida", sagte ich, "ich hab' mir schon ein paar Kilo Bücher besorgt. Mit denen werde ich am Strand liegen."

Milo brach in schallendes Gelächter aus. "Jesse wird die ganze Zeit mit Büchern am Strand liegen!"

"Was gibt's da zu lachen?" Ich musste unwillkürlich grinsen. Milos Erheiterungen wirken fast immer ansteckend auf mich.

"Wenn ich dich nach dem Urlaub nach den Büchern frage, mit denen du am Strand gelegen hast, wirst du mir wahrscheinlich sagen: >Eins war blond, das andere unglaublich spannend, was seinen Badeanzug betrifft, und das dritte ...<"

Milo unterbrach sich und drückte auf den Stöpsel in seinem Ohr. "Er kommt." Er schaltete die Akustik seines Empfängers ein. Ein schwacher Piepton war zu hören. Unser Mann bei der Mafia hatte einen Sender im Stoff versteckt. Jetzt war er mit ihm unüberhörbar im Anmarsch. Er sollte das Zeug an die Käufer ausliefern und das Geld entgegennehmen.

Ich presste mich an die Wand. "Der Eiswagen fährt vor." Mit dem Feldstecher überzeugte ich mich davon, dass unser Mann am Steuer saß. Milo gab die Informationen weiter an die Jungs auf der Straße. Der Wagen hielt vor dem Eisstand. Der getarnte G-Man packte die Eisboxen neben den Stand. Der Eismann versenkte sie gleich in seiner Theke. Mindestens eine davon enthielt die heiße Ware.

Unser Mann nahm die leeren Boxen entgegen und lud sie in seinen Kühltransporter. Er schloss den Laderaum und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an - das Zeichen. "Das Geld war wie abgemacht in den leeren Boxen", sagte ich zu Milo. Er funkte das vereinbarte Signal. Drei Männer an der Bushaltestelle entfernten sich von den Wartenden und bestiegen einen Ford. Der Eiswagen verschwand in der Seitenstraße, der schwarze Chevy hängte sich an ihn. Und der Ford mit unseren Männern. Sie würden sich direkt zum Händler führen lassen.

"Achtung Milo, unser Part beginnt." Der Eismann packte seinen Stand zusammen. Gleich würde er ihn singend oder pfeifend über den Bürgersteig schieben, wie ein harmloser, freundlicher Familienvater, der sich den ganzen Tag lang für ein paar Dollar abgerackert hat. Keiner der Passanten würde auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, dass es sich bei dem netten Kerl um einen Kriminellen handelte, auf den in irgendeiner Hofeinfahrt schon ein eiskalter Großdealer wartete.

Der Penner rollte seinen Pappkarton zusammen und torkelte hinter dem Eismann her. Die Straßenmusikanten packten ihre Gitarren und Flöten ein. "O.K., Milo, unsere Leute sind so weit."

"Dann nichts wie los, Partner!" Er warf mir mein Jackett zu und stürmte zur Tür. Ich entsicherte meinen Revolver. Gemeinsam schlenderten wir kurz darauf über die Straße.

Zwei Stunden später war alles vorbei. Es gab eine kleine Schießerei. Aber die Dealer waren so überrascht, dass sie nicht groß dazu kamen, ihre Gegenwehr zu organisieren. Wir verhafteten fünf Männer. Einer davon war ein Großdealer, dem man bisher nichts hatte nachweisen können. Der Händler wurde bei der Geldübergabe gestellt. Ein Chinese.

Zurück in der heruntergekommenen Wohnung gab Milo die Erfolgsmeldung an den Chef durch. "Danke, Sir." Ich räumte unseren Kram zusammen. Auf Milos Stirn gesellte sich eine Falte zur anderen, und er sagte lange kein Wort. Offenbar hatte der Chef ihm allerhand Neuigkeiten zu berichten. "Ist O.K., Sir", sagte Milo schließlich und steckte sein Handy weg.

"Und? Alles in Ordnung?", fragte ich.

"Alles in bester Ordnung, Partner!" Seine spöttischer Tonfall machte mich stutzig, und ich zog fragend die Augenbrauen hoch. "Morgen früh haben wir ein Date beim Chef", grinste Milo.

"Klingt ganz nach einem neuen Fall", sagte ich, "und danach, dass wir unseren Urlaub tatsächlich stornieren müssen."

"Ich sagte doch", Milo setzte seine unschuldigste Miene auf, "es ist alles in bester Ordnung."



3

"Glückwunsch, Gentlemen", Mr. McKee gönnte uns ein anerkennendes Lächeln, "der Chinese, den wir gestern verhaften konnten, scheint der Kopf des Drogenhandels von Chelsea bis zur Lower East Side zu sein." Er nickte befriedigt. "Gute Arbeit."

"Danke,Sir", sagte Milo und grinste mich an wie ein Junge, der gerade sein Weihnachtsgeschenk ausgepackt hatte. Ein zufriedener Chef gleich am frühen Morgen - da hatte auch ich nichts gegen einzuwenden. Ich schlürfte den Kaffee, den Mandy uns hingestellt hatte. Angesichts der heiteren Miene des Chefs schmeckte er noch besser als sonst. Man sollte die Frau für einen Orden vorschlagen.

"Wenn ich recht informiert bin, haben Sie für nächste Woche Urlaub angemeldet", Mr. McKee betrachtete nachdenklich seine Fingernägel. Offenbar suchte er nach passenden Worten, um uns die Kröte schmackhafter zu machen, die wir gleich schlucken sollten. "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie den noch verschieben könnten, da ist ein Fall reingekommen, für den ich Sie brauche."

Er schaute uns fragend an. Wir nickten fast gleichzeitig. Erstens war uns schon seit gestern Abend klar, dass der Urlaub flachfallen würde, und zweitens hatten wir keine andere Wahl. "Sie wissen ja, dass Ihre Kollegen mit dem Attentat auf Senator Salinger und der Mordserie in Greenwich Village befasst sind. Ich kann niemanden abziehen."

"Ist doch klar, Sir. Worum geht's denn?" Der gute Milo schien jetzt schon ganz heiß auf Arbeit zu sein. Nun - er würde mich schon irgendwann anstecken.

Mr. McKee schob uns einige Computerausdrucke über seinen Schreibtisch. "Da ist vor zwei Tagen ein Mann in Leonia ermordet worden. Richard Perlman hieß er, hat bei der Post gearbeitet. Neunundvierzig Jahre alt."

Ich nahm die Akte und blätterte sie durch. "Und die City Police gibt schon nach zwei Tagen den Fall an uns ab?" Meine Frage war nur schlecht getarnte Neugier. Es war klar, dass unser Chef noch nicht mal die Hälfte der Katze aus dem Sack gelassen hatte. Außerdem sah ich noch einen zweiten Stapel Blätter vor ihm auf dem Schreibtisch liegen.

"Vor einer Woche wurde ein Mann in Massachusetts ermordet, ein Universitätsprofessor aus Boston, vierundundfünfzig Jahre alt." Mr. McKee nahm die vor ihm liegenden Papiere und reichte sie Milo. "Beide Leichen wiesen eigenartige Einstichstellen auf: Zu groß für eine Injektionsnadel und zu klein für eine Stichwaffe. Die Untersuchungsberichte gehen von kleinen Pfeilen aus, wie man sie mit Blasrohren verschießt. Auch die Todesursache stimmt in beiden Fällen überein: Erstickung durch komplette Muskellähmung infolge einer Vergiftung mit Curare."

Milo und ich sahen uns an. Die linke Augenbraue meines Partners zuckte, und ich kannte ihn lange genug, um das richtig deuten zu können: Milo war, gelinde gesagt, überrascht. Und mir ging es genauso. Die Vorstellung, dass da jemand frei herumlief und seine Mitbürger mit dem Pfeilgift der südamerikanischen Indianer ins Jenseits beförderte, verursachte mir sogar einen leichten Schauder. Ein durchschnittlich fantasiebegabter Mensch wird aus dem Stand schätzungsweise hundertzwanzig Todesarten aufzählen können. Bei klarem Bewusstsein zu ersticken, weil einem die Atemmuskulatur nicht mehr gehorcht, gehört sicher zu den unangenehmsten. Der Kaffee schmeckte mir plötzlich nur noch halb so gut.

Milo sah es mehr von der praktischen Seite. "In jedem zweiten Haushalt gibt es mindestens eine Waffe. Und notfalls genügt ein kleiner Stadtbummel und man hat eine brauchbares Schießeisen gekauft - und hier benutzt einer ein vorsintflutliches Blasrohr!" Er schüttelte den Kopf. "Unglaublich! Was für ein Kerl mag das sein?!"

Mr. McKee deutete ein Schulterzucken an und erhob sich. "Sie werden es herausfinden, wie ich Sie kenne." Die Sitzung schien beendet. Ich leerte schnell meine Tasse. Der Chef verabschiedete uns. "Jesse, Milo - ich bin gespannt auf Ihren Bericht, viel Erfolg."



4

Der Mann pfiff einen alten Dylan-Song vor sich hin, als er die Toilette der Bar betrat. Er war klein und drahtig, und trotz seiner knapp fünfzig Jahre bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Dreißigjährigen. Er warf einen flüchtigen Blick auf die drei anderen Männer vor den Pissoirs, stellte sich dann an das freie Becken links in der Ecke und pinkelte hingebungsvoll.

Er pinkelte lange. So lange, bis zwei der Männer die Toilette verlassen hatten. Dann erst drückte er die Spüle und wandte sich dem großen Grauhaarigen in der rechten Ecke zu. "Glückwunsch, Al, ich hab's in der Zeitung gelesen - hat Richie einen Gruß an mich ausrichten lassen?"

"Ihm fehlten die Worte, er konnte nur noch gucken wie eine Kröte, die einen Truck auf sich zufahren sieht." Der Große knöpfte seinen Hosenschlitz zu und strich eine Strähne seines langen Haares aus dem braungebrannten Gesicht. Seine Stimme klang ruhig, fast kalt, und er verzog keine Miene. "Hast du den Bericht, Gino?"

Der andere zog ein Kuvert aus der Innentasche seines schwarzen Jacketts und reichte es dem Grauhaarigen. "Lies es dir durch, ich habe Russel zwei Wochen lang beobachtet, doch das Wesentliche kann ich dir in drei Sätzen sagen." Sie standen jetzt am Waschbecken. Der Graue ließ das Kuvert unter seinem hellen Sommermantel verschwinden und zog fragend die Augenbrauen hoch. "Er hat am Wochenende frei und wird zum Angeln fahren. Irgendwo in den Catskill Mountains, nicht weit von Kingston. Ich habe dir den Ort genau skizziert. Das einzige Problem - sein Hund."

"Ein Hund? Gino, du Witzbold! Hast du schon mal einem Jaguar gegenübergestanden?" Der Große lächelte kalt. "Warum hast du gerade diese Bar ausgesucht? Du hast doch früher keine Vorliebe für solche Spelunken gehabt. Bringt das die Schriftstellerei mit sich?"

Der Kleine lachte bitter auf. "Im Knast wird man bescheiden, Al. Und meine Romane verkaufen sich nicht gut, da muss man sich an billigen Whisky gewöhnen." Er ging zur Tür. "Aber es gibt noch einen anderen Grund. Folge mir in zwei Minuten, dann zeig' ich ihn dir."

Kurz darauf verließ Al die Toilette. Gino stand an einem von drei Spielautomaten, neben dem großen Fenster, das die Sicht auf die Straße freigab. Al zündete sich eine Zigarette an und stellte sich an einen der beiden freien Automaten. Sie sprachen leise und ohne sich anzusehen.

"Er ist schon da, Al, ich wollte, dass du ihn dir genau anschaust, der gute Paul hat sich ziemlich verändert." Gino fixierte die rotierenden Symbole auf seinem Apparat. "Siehst du den kleinen Laden auf der anderen Straßenseite?" Er presste die Stopptasten.

Al strich sich eine graue Strähne aus der Stirn und warf ein paar Münzen in den Spielautomaten. Dabei huschten seine Augen über die Häuserfront auf der anderen Straßenseite. "Das Anglergeschäft?"

"Er wird sich noch ein paar Köder für's Wochenende besorgen. Der rote Pick-up gehört ihm." Während sein Apparat ein gutes Dutzend Dollarstücke ausspuckte, drehte Gino sich um und nahm sein Whiskyglas von der Theke. Sein Blick wanderte über die Bargäste. Niemand schien sie zu beobachten. Er wandte sich wieder seinem Automaten zu und fütterte ihn erneut mit Dollars. "Kann aber auch sein, dass er den Wagen seiner Frau benutzt. Sie fährt einen silbergrauen Honda Civic, Baujahr '94."

Zehn Minuten später öffnete sich die Tür des Angler-Geschäftes. Ein bulliger Mann trat auf die Straße. Er trug eine US-Army Uniform, und ein Collie folgte ihm. Al spähte aus schmalen Augen zu ihm hinüber. "Ganz schön fett geworden. Und 'ne Platte wie ein Babyarsch. Was für einen Rang hat er?"

"Major, hat sich wohl im Golfkrieg ein paar Pluspunkte eingeheimst." Gino verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. "Sein Köter heißt >Saddam<."

"Wo ist er stationiert?"

"Er unterrichtet seit vier Jahren in Westpoint an der Military Acadamy."

"Die armen Jungs", sagte Al verächtlich. Der Major ließ seinen Hund in die Fahrerkabine des Pick-ups springen, stieg ein und fuhr davon.

"Kannst du aber alles nachlesen", Gino angelte die Dollars aus dem Spielautomaten. Klimpernd verschwanden sie in seiner Hosentasche. "Falls was schiefgeht, habe ich dir die Nummer meines Handys dazugelegt. Präg' sie dir ein und vernichte den Zettel, ich verlass mich auf dich." Ohne den anderen anzusehen, drehte er sich um und trank sein Glas leer. "Viel Glück, und bis nächste Woche in Baltimore." Er zahlte und schlenderte aus der Bar.

Al sah durch das Fenster, wie Gino in einen alten, braunen Kombi stieg und davonfuhr. Er bestellte einen Kaffee und setzte sich an einen Tisch. Dort überflog er Ginos Bericht. Sein Partner hatte eine gute Arbeit abgeliefert. Wie schon die beiden anderen Male. Kurz vor der Mittagspause betrat Al das Angler-Geschäft und kaufte ein paar Haken und einen Schwimmer.



5

"Clerence Gardener hieß der Mann in Boston", Milo blätterte in den Unterlagen, während wir auf den Aufzug warteten, "Professor der Medizin."

"Armer Hund", ich stellte mir vor, dass der Mann als Arzt sofort begriffen hatte, woran er starb, "hat man bei ihm auch keinen Pfeil gefunden?" Milo schüttelte den Kopf. "Dann wäre es also möglich, dass beide noch Zeit hatten, ihrem Mörder ins Gesicht zu sehen, als er die Pfeile aus ihren Körpern gezogen hat."

Wir fuhren in den 26. Stock. Ich holte mir von der State Police in Massachusetts sämtliche verfügbare Informationen über den Mord in Boston auf den Bildschirm: Tatortbeschreibung, Ergebnisse der Spurenermittlung, Obduktionsbericht und so weiter. Milo durchforstete währenddessen das NCIC nach vergleichbaren Fällen. Am späten Vormittag setzten wir uns in meine rote Karosse und steuerten Leonia an.

"Hast du was Neues unter den Daten aus Boston gefunden?", wollte Milo wissen. Wir fuhren auf dem Broadway Richtung Norden. Die Mittagshitze hing flimmernd zwischen den Türmen, und der Verkehr quälte sich schleppend durch die Straßenschluchten.

"Gardener war Internist, nicht besonders beliebt bei den Studenten." Die grünen Kronen einiger alter Bäume tauchten vor uns auf - der Union Square Park. Die Ampel sprang auf Grün, und ich bog links ab in die vierzehnte Straße. "Er wurde auf den Toiletten im Clubhaus seines Golfclubs gefunden. Perlman kriegte Besuch von seinem Mörder, während er das Spiel der Chikago Bulls gegen die Sacramento Kings in der Glotze anguckte. Seine Frau verkaufte ein paar Straßen weiter Kuchen auf einem Sommerfest ihrer Kirche."

"Dieser Blasrohrkiller scheint ja verdammt gut Bescheid zu wissen über das Privatleben seiner Opfer."

Ich nickte. "Ja, sieht ganz nach gründlicher Vorbereitung aus." Der Verkehr auf der zwölften Avenue war erstaunlich flüssig. Links, hinter den Hafenbecken, glitzerte das Sonnenlicht auf dem dunklen Band des Hudson Rivers. "Und was hat das NCIC ausgespuckt?"

"Nichts, was uns weiterhilft." Milo winkte ab. "In L.A. hat eine McKee-School-Klasse ihren Lehrer mittels Pfeil und Blasrohr umgebracht. Allerdings nicht mit Curare, sondern mit Botulin-Erregern. Der Mann starb ziemlich lange.

"Ganz schöne Schweinerei, aber nicht unsympathisch, wenn ich an meine Schulzeit denke."

"Es war übrigens der Chemielehrer", erzählte Milo, "der Prozess läuft noch. Zwei der Hauptbeteiligten sind flüchtig. Ich habe mal die Berichte angefordert."

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein paar Jugendliche von der Westküste tagelang einem Universitätsprofessor und einem Postbeamten an der Ostküste nachschnüffelten, um sie bei günstiger Gelegenheit aus dem Weg zu räumen. Aber gut - Milo und ich waren es gewohnt, vor der Arbeit an einem neuen Fall sämtliche Möglichkeiten durchzuspielen. Und unter Umständen gab es ja Parallelen, die uns weiterhalfen.

"Vielleicht haben die Studenten in Boston in der Zeitung von dem Fall gelesen und sich inspirieren lassen", gab Milo zu bedenken.

"Möglich", sagte ich, "und wie passt der Postbeamte da rein?" Milo zuckte mit den Schultern. Wir überquerten die Washington-Bridge und bogen kurz darauf in die Abfahrt nach Leonia ein. Das Perlman-Haus lag in einem kleinen Wohngebiet an der Route 95. Ein putziges Einfamilienhäuschen. Der weiße Gartenzaun glänzte frisch lackiert, das Messingschild unter dem Briefkasten schien jeden Tag mit Scheuerpulver behandelt zu werden, und der Rasen um das Haus sah aus, als wäre er mit einem Rasierapparat geschoren worden.

Eine schwarz gekleidete Frau öffnete uns, nur einen halben Kopf kleiner als Milo, blond und von beeindruckendem Körperumfang - die Perlman-Witwe. Wir zeigten unsere Dienstmarken und sprachen ihr unser Beileid aus. Sie wirkte sehr gefasst und bat uns hinein.

"Mrs. Perlman, wir wissen, dass unsere Kollegen Sie bereits mit allen erdenklichen Fragen belästigt haben, das war sicher scheußlich für Sie", ich versuchte es so taktvoll wie möglich. In unserem Job muss man sich an alles Mögliche gewöhnen - die Besuche bei Hinterbliebenen von Mordopfern gehörten zu den Dingen, an die ich mich nie gewöhnen würde. "Dürften wir Sie trotzdem noch einmal um ein paar Auskünfte bitten?"

Wir durften. Die Frau erwies sich sogar als ausgesprochen redselig. Offenbar hatte sie niemanden, bei dem sie ihrem Herzen Luft machen konnte. "Wäre er doch bloß mit zum Gemeindefest gegangen", seufzte sie, "ich hab' ihn so gebeten, aber wenn die Bulls spielten, war Richie zu nichts anderem zu gebrauchen." Als sie uns den Platz im Garten zeigte, wo sie ihn gefunden hatte, brach sie in Tränen aus. Sie hatte keine Erklärung dafür, was ihr Mann während des Footballspiels im Garten zu suchen gehabt hatte. Irgendwie musste es dem Mörder gelungen sein, Richie Perlman von seinem Heiligtum wegzulocken.

Sie führte uns im Haus herum. Die Schlafzimmerwand war mit gerahmten Fotos bepflastert: Richie als Bräutigam, Richie als Soldat, Richie als frischgebackener Großvater, Richie bierselig grinsend unter zwei Dutzend Männern. Alle um die Fünfzig und einige in Uniformen. Schien ein gemütlicher Kerl gewesen zu sein, dieser Perlman, kahlköpfig und, genau wie seine Frau, nicht eben schlank.

Milos Argusaugen saugten sich an dem Gruppenbild fest. "Was sind das für Männer?", wollte er wissen.

"Das ist der Veteranenclub", erklärte Mrs. Perlman, "Richie war doch in Vietnam. Wir waren erst zwei Jahre verheiratet. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sie trafen sich einmal im Jahr in Washington."

Mein Instinkt meldete sich. "Kannte er zufällig einen Clerence Gardener, einen Arzt in Boston?" Ich sah es Milo an, dass er dieselbe Frage auf der Zunge gehabt hatte.

"Clerence?" Die Perlman-Witwe schaute mich überrascht an. "Aber sicher - der schrieb jedes Jahr zu Richies Geburtstag eine Karte!" Sie wandte sich dem Foto zu und deutete auf einen kleinen, schnauzbärtigen Mann. "Das hier ist er. Er war in den letzten Jahren zweimal zu Besuch bei uns. Sie waren in derselben Einheit."

Später, auf der Rückfahrt, schwiegen wir ziemlich lange. Irgendwann, kurz vor Manhattan, spürte ich Milos Blicke. "Los, Partner",sagte er, "spuck's aus. Ich kenn' dich doch - wenn du so still bist, brütest du meistens einen brauchbaren Gedanken aus."

"Wir haben einen dicken, footballgeilen Postmann, und wir haben einen kleinen, unbeliebten Medizinprofessor", antwortete ich, "und beide haben etwas gemeinsam."

"Sie hatten etwas gemeinsam", korrigierte Milo.

"Eben", sagte ich.



6

Die Sonne schien warm auf die Lichtung, aus dem Wald drang das Gekreische eines Hähers, und vom dreihundert Meter flussabwärts gelegenen Wasserfall trug der Wind das Rauschen der stürzenden Wassermassen heran. Paul Russel warf die Angel aus. An dieser Stelle floss der Wildbach geradezu behäbig dahin, und Paul konnte mit Schwimmer und Würmern arbeiten.

"Ein Tag wie im Bilderbuch, was Saddy?" Er arretierte die Angelschnur und ließ sich neben seinem Hund im Gras nieder. "Weißt du noch, als wir vor zwei Wochen hier waren? Da hat's doch gekübelt auf Deibel komm raus." Er legte seine Angel ab und begann sich eine Pfeife zu stopfen. "Aber dafür haben die Biester gleich im Dutzend angebissen. Das war ein Fest, was?"

Ohne seinen Kopf von den Vorderläufen zu heben drehte der Collie seine braunen Augen zu Paul hoch, als würde er jedes Wort verstehen. "Heute werden sie sich Zeit lassen, schätze ich, bei dem Wetter beißen sie nicht so gern", Paul zündete seine Pfeife an, "aber wir haben ja Zeit", die Rauchwölkchen stiegen in das Geäst der jungen Birken hinter ihm, "ein ganzes Wochenende Zeit haben wir."

Mit niemandem sprach Paul Russel so viel wie mit seinem Hund. Nicht mal mit seiner Frau. Die hatte es aufgegeben, sich darüber zu beklagen. Immerhin hatte Paul, abgesehen davon, dass er selten zu Hause war, auch sonst noch ganz patente Seiten. Die Offiziersanwärter der Military Acadamy, bei denen er Staatsbürgerkunde und strategische Geographie unterrichtete, hielten ihn für einen verschrobenen Eigenbrötler. Und das war er auch. Sogar der Gesellschaft seiner Familie zog er die Gesellschaft seines Hundes vor. "Gegenüber meinen Kindern und meiner Frau hat Saddy zwei entscheidende Vorteile", pflegte er zu sagen, "er freut sich grundsätzlich, wenn ich nach Hause komme, und er will grundsätzlich nicht diskutieren."

Der Collie hob den Kopf von den Pfoten und spitzte die Ohren. Etwa zweihundertfünfzig Meter flussaufwärts trat ein Mann aus dem Wald. Paul beäugte ihn unwillig. Der Kerl ging ein paar Schritte am Ufer entlang, stellte dann sein Gepäck ab und zog eine Teleskoprute auseinander. "Oha, wir kriegen Konkurrenz, Saddy", Paul kramte eine Flasche aus seinem Rucksack und genehmigte sich einen Schluck Whisky, "solange er uns nicht auf die Pelle rückt, soll es uns egal sein, was Saddy?"

Der Fremde machte keinerlei Anstalten noch näher zu rücken oder gar auf ein Schwätzchen vorbeizukommen. Er saß einfach nur da, hielt sich an seiner Angel fest und starrte ins Wasser. Paul war zufrieden und gewöhnte sich an die Nähe des anderen. Bald beachtete er ihn überhaupt nicht mehr.

Fast zwei Stunden vergingen, bis der Schwimmer zum ersten Mal verdächtig zuckte. Paul griff nach der Angel und erhob sich langsam. "Achtung Saddy, ich glaube, da hat endlich einer Appetit gekriegt", flüsterte er. Der Collie hob den Kopf und spähte flussaufwärts. Der andere Angler verschwand eben im Wald. Aber das bekam Paul nicht mit. Konzentriert beobachtete er den Schwimmer. Der zuckte wieder und verschwand endlich unter der Wasseroberfläche. Paul zog an. "Ha! Wir haben ihn, Saddy, wir haben ihn, und was für einen Apparat!"

Normalerweise beantwortete der Collie Pauls Freudenschreie bei solchen Anlässen mit lautem Bellen. Heute aber schien er kein Interesse an Fischen zu haben. Er war aufgestanden und spitzte die Ohren in Richtung Waldrand.

"He, Saddy - ein Riesenkerl! Willst du mir nicht gratulieren?!" Paul lachte grölend. Die Angelrute bog sich gewaltig, und der Fisch kämpfte um sein Leben. Das waren die seltenen Augenblicke, in denen Major Paul Russel sich freuen konnte wie ein kleiner Junge. "Eine Forelle, verdammt, die hat mindestens vier Pfund!"

Der Hund lief ein paar Schritte auf den Waldrand zu und begann zu knurren. Paul runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. "Was'n los, Saddy?", krächzte er, ohne den zappelnden Fisch aus den Augen zu lassen. Das Wasser spritzte bis ans Ufer, und endlich konnte er die riesige Forelle aufs Trockene reißen. In dem Augenblick jaulte der Collie auf und warf sich auf den Rücken. Er wand sich winselnd im Gras und schnappte nach seinem eigenen Brustfell.

Paul zog den Fisch vom Ufer weg und stürzte zu seinem Hund. "Verflucht, Saddy!" Kniend beugte er sich über ihn, doch erst als die strampelnden Bewegungen des Collies erlahmten, konnte Paul sein Brustfell untersuchen. Er tastete etwas Sprödes und zog einen kleinen Pfeil mit einem roten Federschaft aus dem Hundefell. Saddys Läufe erschlafften, er streckte sich ins Gras und hörte auf zu winseln.

Fassungslos starrte Paul auf den Pfeil. Plötzlich fuhr ihm ein brennender Schmerz ins Genick. Er sprang schreiend auf und riss sich einen Pfeil aus dem Nacken. Ein trockenes Floppen drang aus dem Buschwerk am Waldrand, als hätte jemand eine Pressluftflasche kurz auf- und gleich wieder zugedreht. Der zweite Pfeil traf ihn zwischen den Rippen. Paul hatte schon keine Kraft mehr, ihn herauszuziehen. Er spürte, wie seine Knie weich wurden. Mit weit aufgerissenen Augen sah er das Gebüsch unter den Birken sich teilen. Ein Mann kam langsam auf ihn zu. Der andere Angler. In der Hand hielt er ein langes Rohr. Paul erkannte ihn sofort. "Al ..."

Paul schlug hart auf dem Boden auf. Der mit dem Blasrohr beugte sich über ihn und riss ihm den Pfeil aus der Brust. Der Major hob nicht mal die Hand, um sich zu wehren. "Mit besten Grüßen auch von Ronnie und Gino", grinste der andere und entfernte sich.

Das Letzte, was Paul Russel sah, war die Forelle. Direkt vor seinem Gesicht tanzte sie auf und ab und schnappte nach Luft. Paul starb noch vor dem Fisch.



7

Wir waren von New York City aus etwa 65 Meilen durch das Hudson Valley nach Norden geflogen. In der Gegend von Kingston zog der Pilot den Helikopter nach Westen. Vor uns lagen jetzt die sanft geschwungenen Bergkuppen der Catskill Mountains. Der Copilot mit der Karte in der Hand deutete auf den Lauf eines kleinen Flusses, der sich etwa zweihundert Meter südlich unseres Kurses durch den dichten Wald schlängelte. Der Pilot ließ die Maschine nach links wegsacken.

Immer wenn ich in diese unverschämt schöne Gegend kam - es war selten genug - fiel mir mein Geographielehrer ein. Der pflegte über die Catskills zu sagen, sie seien die schönste Gegend der Welt. >Das Paradies, in dem Milch und Honig fließt<, hatte er diese Landschaft sogar mal genannt. Nun gut - mit dem Paradies hatte ich noch nie viel im Sinn. Und wir wollten hier auch nicht Milch und Honig suchen, sondern interessierten uns für den Schauplatz eines Mordes und für eine Leiche. Aber ich musste meinem alten Pauker recht geben - einfach atemberaubend, die Catskill Mountains. Kaum zu glauben, dass nicht mal eine Flugstunde entfernt Great Babylon seine Betonkrallen in den grauen Smogdunst reckte.

Milo, neben mir im Heck der Maschine, schien sich gerade zu überlegen, ob er seinen Urlaub nicht in irgendeiner Blockhütte zwischen den Hügeln dort unten verbringen sollte. Schweigend starrte er durch das Seitenfenster auf die grandiose Wildnis herab. Schon seit einer halben Stunde hatte er kein Wort mehr gesagt.

Ich neigte mich zu ihm. "Verdammt schöne Gegend, was?!", brüllte ich, um den Rotorenlärm zu übertönen, der die Kabine erfüllte.

Milo fuhr herum und nickte geistesabwesend. Offenbar hatte ich ihn aus irgendwelchen hübschen Gedanken gerissen. "Keine noch so schöne Gegend ohne Killer!", brüllte er zurück. Da hatte ich's wieder - von wegen Paradies. Immerhin war mein gottesfürchtiger Geographielehrer widerlegt. Also gut - wir waren hier nicht, um Urlaub zu machen, sondern unseren Job. Mein Partner mit seiner trockenen Art hatte mich auf den Teppich geholt.

Der Helikopter flog nur wenige Meter über den Baumwipfeln. Wir folgten zehn Minuten lang dem Lauf des kleinen Flusses. Ein schmaler, asphaltierter Waldweg war zeitweise zwischen den Wipfeln zu erkennen. Mal verlief er ein paar hundert Meter am Fluss entlang, dann krümmte er sich wieder in den Wald hinein. Wohl eine Seitenstraße, die von der Route 28 in die Catskills hineinführte.

Eine Lichtung öffnete sich, und der Copilot deutete energisch auf sie. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe. Es war ein Waldparkplatz. Ein gutes Dutzend Fahrzeuge stand darauf. Auf einem blinkte ein rotes Licht. Ich entdeckte zwei Männer. Sie winkten zu uns herauf. Der Pilot drehte eine Runde über dem Parkplatz und setzte dann zur Landung an. Milo riss die Seitentür auf und beugte sich heraus. "Zwei Meter weiter nach links!", brüllte er dem Piloten zu. "Ein Stück zurück! Gut so!" Er lotste den Piloten zwischen eine riesige Pfütze und ein mannshohes Gebüsch, das mitten auf dem Parkplatz wucherte. Ein Ruck ging durch die Maschine, und wir setzten auf.

Ich sprang aus dem Helikopter und rannte gebückt unter den Rotoren durch auf die beiden Männer zu. Fast gleichzeitig mit Milo war ich bei ihnen. Sie drückten uns flüchtig die Hände und nannten ihre Namen, die ich wegen des Rotorenlärms nicht verstand. Egal - ich kriegte mit, dass es sich um Beamte der State Police handelte, und das reichte mir. Genau die hatte ich erwartet. Sie eilten uns voraus in den Wald.

Nach fünf Minuten kamen wir am Fluss an. Eine Menge Leute machten sich im Gras und im Gebüsch zu schaffen. Beamte der New York State Police, die meisten in Zivil. Wahrscheinlich die Spurensicherung des Bureau of Investigation. Aus einer Gruppe löste sich ein Mann in einem hellen Sommeranzug und mit tiefschwarzer Hautfarbe. Einer von diesen baumlangen, breitschultrigen Burschen, wie man sie sonst nur in Basketballmannschaften findet. Er kam auf uns zu und entblößte sein beneidenswert weißes Gebiss.

"Hello, Mr. Trevellian, Mr. Tucker! Schön, dass Sie so schnell kommen konnten!" Er begrüßte uns wie zwei alte Bekannte. So gründlich ich auch die Karteien in meinen grauen Zellen durchwühlte - mir wollte beim besten Willen nicht einfallen, wo ich dieses Prachtstück von Mann schon einmal gesehen hatte. "Schon viel von Ihnen gehört", plauderte er munter drauf los, "ich bin Captain Nelson Rockford vom BI. Hab' Sie gleich benachrichtigen lassen. Gestern erst hab' ich gehört, dass Sie sich mit Leichen wie unserer hier befassen. Kommen Sie."

Genau genommen waren es drei Leichen, zu denen er uns führte. Die des Fisches und die des Mannes lagen sich Auge in Auge gegenüber. Es war grotesk. Milo schüttelte den Kopf und seine Augenbraue zuckte. Wenige Schritte in Richtung Waldrand lag noch ein toter Collie. "Eine Pfadfindergruppe hat sie entdeckt", erklärte Rockford.

Eine blonde Frau in weißen Jeans und rotem T-Shirt hockte neben dem seltsam verkrümmten und korpulenten Körper des ermordeten Mannes. Sie nickte uns kurz zu. "Eintritt des Todes vor ca. sechs Stunden", dozierte sie, ohne uns weiter zu beachten, "Todesursache: Ersticken. Zwei kleine Einstichstellen, eine im Nacken und eine an der Brustseite, hier." Sie wies auf einen kleinen Blutflecken auf dem beigen Polohemd des Toten.

Der Captain räusperte sich. "Dr. Anderson", stellte er die Frau vor.

Vermutlich wollte er auch uns noch vorstellen, aber die Polizeiärztin unterbrach ihn. "Im Brustfell des Hundes fand sich eine ähnliche Einstichstelle. Sicher ist nur, dass er ebenfalls erstickt ist."

Die Lady schien zu der Sorte Frauen zu gehören, die dazu neigten, ihren Job zu ernst zu nehmen. Ein eisiger Hauch ging von ihr aus. Und hübsch war sie - genau der Typ Frau, auf den mein Partner abfuhr. Unwillkürlich schaute ich Milo an. Tatsächlich hing ein Leuchten in seinem Blick, und seine Augen hatten sich grinsend auf die Gestalt der jungen Ärztin geheftet. "Und woran starb der Fisch?", wollte er wissen.

Sie fuhr herum und schickte ihm einen giftigen Blick hinauf. Dann ließ sie sich zu einem Lächeln herab. "Ich schicke ihnen gern den Obduktionsbericht, Mister."

Ich war zwar gespannt, wie Milo es anstellen wollte, diesen Eisberg zu schmelzen, aber noch mehr interessierte mich der Tote. "Haben Sie schon die Identität des Mannes?", wandte ich mich an den athletischen Captain.

"Paul Russel", er winkte mit einem Führerschein, "lebt in Westpoint, arbeitet dort in der Kadettenschmiede. Er ist ... er war Major der Army." Milo riss seine Augen von der blonden Lady los. Wir sahen uns schweigend an. Mir war klar, dass er dasselbe dachte wie ich. Während Milo die Fakten notierte, packte ich mein Handy aus und verzog mich unter die Bäume.

Kurz darauf war ich mit der Perlman-Witwe verbunden. Es war genauso, wie ich es befürchtet hatte: Auch dieser Russel hatte zum Club der Vietnamveteranen gehört, er war sogar mit auf dem Männergruppenbild drauf. "Wären Sie so freundlich, uns dieses Foto vorübergehend zur Verfügung stellen, Mrs. Perlman?" Sie war so freundlich, und ich rief in der Zentrale an, damit jemand das Bild abholte.

Zurück am Tatort bekam ich gerade noch mit, wie die Ärztin und Milo Karten austauschten. Ich unterdrückte ein Grinsen - dieser Kerl! So zuverlässig er als Partner war, so genial erwies er sich auch, wenn es darum ging, unerreichbare Frauenherzen zu knacken. Ich nahm mir vor, ihm gelegentlich zu sagen, dass ich stolz auf ihn bin. "Ich wäre so weit, Jesse", er schwenkte seinen vollgeschriebenen Notizblock und wandte sich dann wieder an die Lady, die plötzlich gar nicht mehr wie ein Eisberg wirkte, "also abgemacht, ich ruf' Sie an!" Sie winkten sich zu, und wir verschwanden im Wald.

"Und?", fragte Milo. "Deute ich deinen Blick richtig?"

"Ja", antwortete ich, "der Mann ist auch auf dem Gruppenbild."

"Drei Männer - eine Todesursache, eine Generation", sagte Milo, "Russel war einundfünfzig."

"Und wenn mich nicht alles täuscht, gibt es auch nur ein Motiv", ergänzte ich. "Deute ich deinen Blick auch richtig?"

Milo grinste. "Ich denke, ich werd' sie zu einer Kanufahrt in dieser Gegend hier einladen." Triumphierend hielt er die Visitenkarte von Lady Anderson hoch. "Selbstverständlich war es ansonsten ein rein dienstliches Gespräch, das wir führten."

"Selbstverständlich!", nickte ich.

"Ehrlich", bekräftigte Milo mit unschuldigster Miene, "sie hat mir erklärt, wie man Leute retten könnte, die von einem Curare-Pfeil getroffen worden sind: Mund-zu-Mund-Beatmung, oder", er setzte sich die innere Handkante an den Hals und machte eine eindeutige Bewegung, "Luftröhrenschnitt - einen Knorpelring unter dem Kehlkopf und spätestens drei Minuten nach dem letzten Atemzug."

"Wenn's weiter nichts ist", sagte ich müde, "bitten wir den Killer also, uns mit auf die Jagd zu nehmen, damit wir innerhalb von drei Minuten zu Stelle sind."

Wir stiegen in den Hubschrauber. Der Pilot wollte wissen, wohin wir unseren Wochenendausflug fortzusetzen wünschten. Milo und ich mussten nicht lange diskutieren. Rockford hatte widerwillig den Job übernommen, Russels Familie zu besuchen. Er wollte uns noch heute einen Bericht nach New York faxen. Wir entschlossen uns, der Military Acadamy in Westpoint einen Besuch abzustatten. Irgendwie schien die Army in der ganzen Sache mit drin zu hängen.



8

Kurz vor Westpoint erfuhren wir telefonisch, dass Paul Russels direkter Vorgesetzter - ein gewisser Colonel Rice - dienstfrei hatte. Wochenende! Natürlich! Ich fasste mich an den Kopf. Der diensthabende Offizier dachte nicht daran, uns seinen Aufenthaltsort zu verraten. Erst als wir die Zentrale auf ihn ansetzten, rückte er damit heraus, dass der Colonel sich auf dem Golfplatz vergnügte. Sogar die Flugkoordinaten gab er uns durch.

"He, Jesse!", brüllte Milo gegen den Rotorenlärm an. "Ich glaub', wir haben auf's falsche Pferd gesetzt! Wenn wir bei der Army wären, würden wir jetzt Golf spielen oder angeln!"

Wir landeten in der Nähe des Clubhauses und ließen uns mit einem dieser Elektrokarren über das nicht allzu große Gelände fahren. "Das da vorne ist Colonel Rice", unserer Chauffeur deutete auf einen Golfspieler an einer Abschlagsstelle und hielt an.

Wir stiegen aus und gingen auf den kleinen, drahtigen Mann zu. Er setzte gerade zu einem Schlag an, hob und senkte das Eisen und visierte dabei einen gut zweihundert Meter entfernten Sandhügel an. Er sah nur kurz auf, als er uns kommen hörte. "Augenblick, Gentlemen, ich habe gleich Zeit für Sie!", rief er uns zu, um sofort wieder in einen meditationsähnlichen Zustand zu versinken. Plötzlich holte er energisch aus und schickte den Ball mit einem steifen Halbschwung auf den Sandhügel. "Yea!", brüllte er und kam zufrieden grinsend auf uns zu. "FBI, nehme ich an."

Verblüfft blieben wir stehen und sahen uns an. Wir hatten die Hände gerade in die Innentaschen unserer Jacketts versenkt, um unsere Dienstmarken zu zücken. Milo fiel die Kinnlade herunter. "Woher wissen Sie ...?"

Der Colonel lachte und genoss unsere Überraschung. "Keine Sorge Gentlemen, man sieht Ihnen Ihren Job nicht an. Ich allerdings hab' schon so oft mit euch zusammengearbeitet, dass ich einen Instinkt für Cops entwickelt habe. Was kann ich für Sie tun?" Das Lachen verging ihm gründlich, als er vom Tod seines Majors hörte. Er wurde blass und stützte sich schwer atmend auf seinen Schläger. "Himmel!", stöhnte er. "Ermordet ...?"

"Ja, Sir - ermordet", nickte Milo, "der Major ist das dritte Opfer in einer Mordserie. Das dritte jedenfalls, von dem wir wissen."

"Mordserie ...?"

"Todesursache und Tatwaffe sprechen dafür", bestätigte ich ohne mehr zu verraten, "und es sieht ganz so aus, als hätten es die Täter auf Vietnamveteranen abgesehen. Major Russel war auch in Vietnam. Wissen Sie etwas über seine Zeit dort?"

Rice kratzte sich nachdenklich an seinem kahlen Hinterkopf. "Tja, Gentlemen, ich weiß nur, dass Paul Schwierigkeiten mit dem Militärgericht hatte, Ende der sechziger Jahre. Er war in einen Prozess verstrickt."

"Als Angeklagter?", bohrte ich nach.

"Ja, er war angeklagt", nickte der Colonel. Das Thema schien ihm nicht zu schmecken. "Nicht nur er - seine ganze Einheit war angeklagt."

"Wissen Sie, wie die Anklage lautete?"

"Keine Ahnung", er zuckte mit den Schultern, "im Krieg passieren ständig irgendwelche Schweinereien. Sie wissen ja, wie das war damals: Irgendein superschlauer Journalist hat ein bisschen Mist breitgetreten, den unsere Jungs da unten verbockt hatten, und halb Amerika schrie >Pfui!<. Und dann mussten ein paar Sündenböcke her."

Der Mann redete viel und sagte wenig. "Irgendetwas Konkretes würde uns vielleicht weiterhelfen, Colonel Rice." Milo setzte sein unwiderstehliches Lächeln auf. Mit einem ähnlichen Gesicht hatte er vorhin die Ärztin herumgekriegt. "Es ging um Kriegsverbrechen, wenn ich Sie richtig verstehe?"

"Klar, um was sonst?", brummte Rice. "Mehr weiß ich nicht. Paul war kein besonders gesprächiger Mann, und ich interessiere mich nicht für die Vergangenheit meiner Leute. Er ist freigesprochen worden, mehr muss ich nicht wissen."

"Er wurde also nicht verurteilt?" Milo wirkte fast enttäuscht. Ich wunderte mich auch, dass der Mann die Katze nicht eher aus dem Sack gelassen hatte.

"Fast die ganze Einheit ist freigesprochen worden", sagte Rice, "nur zwei oder drei von den Jungs mussten hinter Gitter."

Mehr schien der Mann tatsächlich nicht zu wissen. Wir fuhren zurück zum Hubschrauber. "Warum hat er sich so gewunden?", überlegte ich laut.

"Niemand spricht gern über die Leichen im Keller der eigenen Firma", sagte Milo, "wie lange werden solche Prozessakten bei der Army in den Archiven gehortet?"

"Mindesten bis zum jüngsten Tag. Ich denke, wir bitten Mr. McKee, mal beim Pentagon anzuklopfen."



9

Leonard Blackwood machte es sich auf seinem Mantel bequem und lehnte sich an die Hauswand. Seinen Hut hatte er auf die unterste Treppenstufe des Appartementhauses gelegt. Mit der Öffnung nach oben. Einige der Hausbewohner ließen fast täglich ein paar Cents hineinfallen. Meistens reichte es für Zigaretten und eine Dose Bier. Manche der Leute kannten ihn schon seit Jahren und hatten sich an ihn gewöhnt. Wie Leonard sich an die Tauben gewöhnt hatte, die auf den Mauersimsen unter der Dachrinne nisteten und manchmal auf ihn herunterschissen, wenn er eng an die Hauswand gepresst auf dem Bürgersteig schlief.

Er packte einen Hamburger aus und biss gierig hinein. Der Ketchup tropfte in seinen verfilzten Graubart und von dort auf die speckige Uniformhose. Die Suppe in der Heilsarmeeküche war verdammt dünn gewesen heute Mittag, und Leonard dachte dankbar an die alte Dame, die ihm im Park den Hamburger in die Hand gedrückt hatte.

Von der hundert Meter entfernten Kreuzung her drang der Verkehrslärm der abendlichen Rushhour herüber. Zwei Blechlawinen wälzten sich vorbei - eine von Washington hierher nach Baltimore, die andere von Baltimore nach Washington. Das Geräusch hatte etwas Beruhigendes für Leonard, so wie früher das Geräusch des vierzehn Stunden am Tag laufenden Fernsehers. Früher, als er noch eine Wohnung hatte.

Eine Gestalt schlurfte von der Kreuzung her auf ihn zu. Sie winkte von Weitem. "Hi, Woody! Teufel auch, bist du wieder in der Stadt?" Leonard kniff die Augen zusammen und versuchte, den Mann zu erkennen. Seitdem er vor drei Jahren bei einer Schlägerei in Miami unten seine Brille verloren hatte, erkannte er niemanden, der ihm nicht direkt gegenüberstand.

Es war Fritz. Der Kerl wohnte unter einer Brücke am Patapsco River. Seinen wirklichen Namen kannte Leonard nicht. Unter den Stadtstreichern von Baltimore wurde er nur Fritz genannt, weil er ständig mit seinen deutschen Vorfahren prahlte. Ächzend ließ er sich neben Leonards Hut auf die Treppe fallen.

"Der alte Woody ist wieder in der Stadt", krächzte er und schlug ihm auf die Schulter. Er zerrte eine Flasche aus seiner Manteltasche. "Darauf müssen wir trinken!" Er reichte Leonard den billigen Schnaps. "Seit wann bist du wieder hier?"

"Schon 'n paar Tage", er kippte sich einen Schluck von dem Fusel in den Hals, "war den Winter über in Florida."

"Wenn ich's gewusst hätte - da hat nämlich 'n Typ nach dir gefragt. Vorgestern."

"Was für'n Typ?"

"Keine Ahnung - hat sich nicht vorgestellt. Klein, schwarze Haare, vierzig, fünfzig Jahre alt. 'N Typ eben."

"Kenn' ich nicht", brummte Leonard.

"Fuhr so 'ne Rostschüssel, 'nen braunen Kombi, Toyota glaub' ich."

Leonard stutzte. In den letzten beiden Tagen war ihm ein brauner Kombi aufgefallen, weil er ein paar Mal langsam am Haus vorbeigefahren war. Wer zum Teufel sollte ihn suchen? Er lebte schon seit fünfzehn Jahren auf den Straßen, im Frühling und im Sommer in Baltimore oder Annapolis, und den Winter über trieb er sich in Florida herum. Seine geschiedene Frau hatte es längst aufgegeben, ihm wegen Unterhaltszahlungen auf die Nerven zu gehen. "Komisch", knurrte er und nahm noch einen Schluck.

Fritz tischte die News aus der Szene auf - Todesfälle, neue Bettelplätze und so weiter, und Leonard erzählte von seinen Erlebnissen in Florida. Fritz sog die Geschichten begierig auf. Anders als Leonard verließ er Baltimore nie. Irgendwann schimpften sie mit schwerer Zunge auf die Regierung, und irgendwann war die Flasche leer, und Leonard schlief ein.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er vergessen, worüber sie gesprochen hatten. Auch den Typen, der nach ihm gefragt haben sollte, hatte er vergessen. Er zog seinen Mantel über, schnappte sich seine Tüten und machte sich auf den Weg zur Heilsarmee.

Er bog in eine Seitenstraße ein und blieb wie angewurzelt stehen: In der Kolonne der parkenden Autos am Straßenrand stand ein brauner Kombi. Fritz fiel ihm ein und der Typ, der angeblich nach ihm gefragt hatte. Leonard sah sich um: Die üblichen Passanten, niemand, der ihm auffiel. Er ging zu dem Wagen und sah ihn sich genauer an. Es war ein alter Toyota, ziemlich vergammelt. Innen, am Spiegel, hing ein Kruzifix, und auf dem Armaturenbrett über dem vollen Aschenbecher klebte ein Madonnenbild. Er beugte sich vor dem Heck zum Nummernschild herab. Der Wagen schien aus Buffalo zu kommen.

Leonard richtete sich auf und kratzte sich seine schuppigen, grauen Haare. "Komisch", murmelte er. Er kannte niemanden in Buffalo. "Wirklich komisch." In seinem ganzen dreiundfünfzigjährigen Leben war er nicht in Buffalo gewesen. Und auch sonst in keiner Stadt am Eriesee. Nicht mal in Cleveland.

Leonard war ein kranker Mann. Die Zähne faulten ihm im Mund, in letzter Zeit plagten ihn schmerzhafte Gichtanfälle, und einen guten Teil der grauen Masse unter seiner schuppigen Schädeldecke hatte er buchstäblich kaputt gesoffen. Aber sein Instinkt funktionierte mit jedem Jahr, das er im Dschungel der Straßen und Städte zubrachte, zuverlässiger. Ohne diesen Instinkt hatte man keine Chance als Berber. Und dieser Instinkt meldete sich, als Leonard hinter dem Kombi aus Buffalo stand. "Verschwinde aus der Stadt", sagte Leonards Berberinstinkt, "oder kümmere dich um den Typen, der diese Schrottlaube fährt, sonst hast du ein Problem."

Leonard hatte keine Lust, aus der Stadt zu verschwinden. Also ging er auf die andere Straßenseite und setzte sich in einen dunklen Treppenaufgang. Von dort aus hatte er den Toyota im Blickfeld, ohne selbst gesehen zu werden.

Er wartete fast zwei Stunden, und das Knurren seines Magens hatte ihn schon halb überredet, seinen Weg zur Heilsarmee fortzusetzen, als auf der anderen Straßenseite ein kleiner, drahtiger Mann vorbeiging. Er trug ein dunkles Jackett und hatte schwarze, kurze Haare.

Leonard wusste sofort, dass er den Mann kannte. Seine leicht nach hinten geneigte Haltung, seine kurzen, energischen Schritte - schon als Junge war Leonard kurzsichtig gewesen und hatte sich angewöhnt, Menschen an ihrer Haltung und ihrer Gangart zu identifizieren. Aber woher zum Teufel kannte er diesen kleinen Kerl?

Er war nicht mehr überrascht, als der Mann den Toyota aufschloss. Er verfluchte den Tag, als dieser verrückt gewordene Junkie in Miami ihm die Brille zertrümmert hatte. Woher kannte er diesen Schritt? Leonhard presste sich an die Wand des Treppenaufgangs und kniff die Augen zusammen. Die Wagentür knallte und der Kombi fuhr an. Er rollte an ihm vorbei, und in dem Augenblick als Leonard das Profil des Mannes sah, wusste er, woher er ihn kannte.

"Scheiße", flüsterte er, "gottverdammte Scheiße ..." Er schloss die Augen, und sah denselben Mann in Uniform vor sich, knapp dreißig Jahre war es her, Marihuana hatte er von ihm gekauft damals in Vietnam, durch den Dschungel waren sie zusammen marschiert, und auf der Anklagebank später war er neben ihm gesessen. "Gottverdammte Scheiße - wie hieß der Kerl gleich ...?"

Leonard rannte auf die nächste Police-Station. "He Woody, kommst du mal auf eigenen Beinen hier 'rein?", grinste ihm der Cop entgegen.

"Sie müssen mir helfen, Officer", keuchte Leonard, "da ist einer hinter mir her!" Der Beamte nahm die Aussagen des Stadtstreichers zu Protokoll. Jedenfalls soweit er sich einen Reim darauf machen konnte. Aber ein alter Kombi, der Verfolgungswahn eines versoffenen Penners, und ein namenloser Kriegskamerad - das war dem Cop zu wenig. "Was soll der schon von einem harmlosen Saufkopf wie dir wollen, Woody?", grinsend ließ er das Protokoll auf einen Stapeln Papier segeln. "Wenn was sein sollte, komm' wieder vorbei."

Mit weichen Knien wankte Leonard Blackwood zur Heilsarmee-Küche. Was hatte er von den verfluchten Cops erwartet? Personenschutz? Dass ihm auch nicht ums Verrecken der Name des Burschen einfallen wollte! Während des Mittagsessens fiel er ihm ein. Alles fiel ihm wieder ein. Und er wusste plötzlich mit schmerzhafter Klarheit, dass er in Lebensgefahr war.



10

Am Montagvormittag ließ Mr. McKee uns in sein Büro kommen. "Gentlemen, Ihre Spur scheint heiß zu sein", er schob uns einen Stoß Papier über den Schreibtisch, "gratuliere." Es waren die Gerichtsprotokolle des Prozesses, den der Colonel erwähnt hatte. Das Pentagon hatte sein Archiv also schneller geöffnet, als wir erwartet hatten.

"Um es kurz zusammenzufassen", der Chef lehnte sich in seinem Bürosessel zurück, "alle drei Opfer gehörten zu einem Stoßtrupp, der während der Rückzugsgefechte 1969 eine Brücke sprengen sollte. Die Mission misslang gründlich. Es gab hohe Verluste, und auf dem Weg zu seiner Einheit hat der Rest des Stoßtrupps ein Dorf in Schutt und Asche gelegt. Angeblich einen Stützpunkt des Vietkong. Die meisten Dorfbewohner kamen ums Leben, und der Stoßtrupp wurde vor ein Kriegsgericht gestellt. Insgesamt zwölf Männer. Drei wurden verurteilt ..."

"Hier hab ich's", unterbrach Milo, der sich schon die Papiere gegriffen hatte, "Ronald McDorsay, Gino DaCosta und Alister Cunningham. Jeweils sechs Jahre bekamen sie."

"Sie wurden aufgrund der belastenden Aussagen ihrer Kameraden schuldig gesprochen", fuhr Mr. McKee fort, "als sie die Strafe abgesessen hatten, versuchten sie, den Hauptbelastungszeugen zu ermorden. Einen gewissen Henry Morton. Der wurde damals schwer verletzt. DaCosta und McDorsay wanderten wieder ins Zuchthaus. Diesmal für vierzehn Jahre. Cunningham konnte fliehen und steht seitdem auf unseren Fahndungslisten."

"Sieht ganz nach einem Rachefeldzug aus", sagte ich.

"Mit drei möglichen Rächern", ergänzte Milo, "McDorsay und DaCosta müssten seit sechs Jahren wieder auf freiem Fuß sein. Wir sollten sie mal besuchen."

"Und die Akte Cunninghams interessiert mich."

"Die hat Mandy schon auf dem Bildschirm, Jesse", sagte Mr. McKee, "sie druckt sie gerade aus. Cunningham hat übrigens eine Tochter. Sie ist Highschool-Lehrerin und lebt in der Gegend von Cleveland. Die Kollegen dort haben sie jahrelang beobachtet, aber sie scheint keinen Kontakt zu ihrem Vater zu haben."

Ich sah mir die Namen der Männer an, die damals freigesprochen wurden. "Wenn Sie mich fragen, Sir - mit diesen neun Namen haben wir die Todesliste des Killers. Hinter drei Namen müssen wir schon ein Kreuz machen. Wenn wir die Kreuze hinter den anderen sechs Namen vermeiden wollen, sollten wir diese Männer unter Polizeischutz stellen. Was halten Sie davon, Sir?"

"Daran habe ich auch schon gedacht, Jesse. Versuchen Sie doch bitte, ihre Aufenthaltsorte ausfindig zu machen."

Später, in unserem Büro, nahmen wir uns das Foto vor, das uns Richard Perlmans Witwe überlassen hatte. Sie hatte sich sogar die Mühe gemacht, die Namen der fotografierten Männer aufzuschreiben. Bis auf drei standen sie alle auf unserer Liste.

"Wie wäre es, wenn du das Gerichtsprotokoll liest und ich mich inzwischen an Telefon und Computer hänge", Milo hielt mir die Papiere unter die Nase, als wollte er mir einen Gefallen tun.

Ich durchschaute ihn. Dass Milo Akten mit der gleichen Leidenschaft studierte, wie seine Rechnungen, wusste sogar Linda, unsere Telefonistin "Sorry, Partner, Gerichtsprotokolle machen mich genauso verrückt, wie dich." Milo hatte seinen hartnäckigen Tag, und wir mussten Streichhölzer ziehen. Er zog das kürzere und verkroch sich mit dem Protokoll hinter seinen Schreibtisch. "Dafür hast du die Visitenkarte der Ärztin erobert", tröstete ich ihn.



11

Gino bekam keinen Parkplatz mehr im City-Parkhaus. Er fuhr zweimal um das Viertel herum und fand schließlich eine Parklücke direkt vor dem Straßencafé, in dem er die nächsten zwei Stunden verbringen wollte. Es lag gegenüber der Heilsarmee-Küche. Woody würde jeden Moment kommen, um hier seine zusammengebettelten Cents für ein Mittagessen loszuwerden.

Es war gar nicht so einfach gewesen, den guten Woody zu finden. Den Friseurladen in Richmond, bei dem er früher gearbeitet hatte, gab es nicht mehr. Schließlich hatte Gino seine Frau aufgespürt. Dass es seine ehemalige Frau war, hatte er ziemlich schnell begriffen. >Leonard Blackwood existiert für mich nicht mehr!<, hatte die Frau gesagt, und zu war die Tür.

Eine ehemalige Arbeitskollegin Woodys hatte ihm wenigstens dessen Stammkneipen nennen können, und einer der Wirte erinnerte sich dann sehr gut an seinen einstmals eifrigsten Whiskykonsumenten. "Der Woody, dieser arme Teufel, hat's nicht verkraftet, dass seine Alte ihn vor die Tür gesetzt hat", hatte der Wirt erzählt, während er Ginos Bier zapfte, "hab gehört, vor Türen rumsitzen wär' jetzt sein Job. Sitzt das ganze Jahr vor irgendwelchen Türen zwischen Miami und Baltimore, wenn du kapierst, was ich meine. Der arme Teufel, seit fünfzehn Jahren nicht mehr aus seiner Army-Hose gestiegen, nicht mal zum Vögeln, hab ich gehört."

Der Tipp mit der Hose war nicht verkehrt gewesen. Die Penner in Miami kannten einen Woody in alten Uniformhosen, und so hatte Gino ihn schließlich in Baltimore aufgespürt.

Baltimore passte Gino gut in den Kram. Besser hätte es gar nicht kommen können. Seit Wochen beobachtete er in Washington den verfluchten Morton. Er hatte damit schon angefangen, bevor Russel und der fette Richie ihre Rechnung bezahlt hatten. Und von Baltimore nach Washington fuhr man nicht mal eine Stunde. Jedenfalls frühmorgens und nachts nicht.

Die Lebensgewohnheiten eines US-Generals zu recherchieren war wesentlich einfacher, als einen Penner zu beobachten. Morton, dieser Mistkerl, führte genau das Leben, das nach Ginos Ansicht typisch für einen Staatsbeamten war: Jeden Morgen zur gleichen Zeit in die Dienststelle, jeden Nachmittag um die gleiche Zeit nach Hause, jeden zweiten Freitag auf den Golfplatz, den nächsten Freitag ins Theater, zweimal die Woche Sauna - am Montagabend und am Samstagnachmittag - und jeden Sonntag in die Kirche. Nur seine seltenen Besuche bei der Nutte, die waren unregelmäßig. Hing ganz vom Terminplan seiner Frau ab. Gino hatte alles genau aufgeschrieben. Dafür ging Morton immer zur gleichen Nutte. Ihn zu töten, würde verdammt schwer sein - er hatte ständig ein oder zwei Bodyguards bei sich. Vielleicht, wenn er bei der Nutte war ... Na, ja - war Als Problem.

Gino sah auf die Uhr. Normalerweise wurde es nie später als zwölf, bis Woody bei der Heilsarmee aufkreuzte. Und jetzt war es schon halb eins. Gino wurde unruhig. Gegen eins sah er ihn die Straße herunterkommen. Gino stutzte. Woodys Schritt war schneller als sonst. Er machte einen hektischen Eindruck. Und ständig sah er sich um. War ihm jemand auf den Fersen?

Gino sah ihn in der Heilsarmee-Küche verschwinden. Er bestellte sich noch ein Bier und wartete. Fast zwei Stunden blieb der Penner bei der Heilsarmee. Viel länger als sonst. Irgendetwas stimmte nicht. Als er dann endlich wieder zögernd auf die Straße trat, sah er nervös um sich. Gino entfaltete seine Zeitung und spähte seitlich an ihr vorbei zu Woody hinüber. Wie angewurzelt stand der Penner vor dem Eingang des Hauses und starrte auf die parkenden Autos vor dem Café. Gino wurde unruhig. Was hatte der Schwachkopf entdeckt? Starrte er seinen Toyota an?

Plötzlich kam Bewegung in den Penner. Er drehte sich um und rannte los. Gino schob eine Fünfdollarnote unter sein Glas und lief über die Straße. Woody verschwand in einer Seitengasse, und Gino presste sich an die Hauswand der Straßenecke. Vorsichtig spähte er um die Ecke in die Gasse hinein. Woody stand still und sah sich nach allen Seiten um. Dann bückte er sich zwischen die parkenden Autos. Gino überquerte die Gasse und huschte in eine Telefonzelle, von der aus er die Straße gut einsehen konnte. Vor wem versteckte sich der Penner? Vor ihm? Zum ersten Mal kam Gino der Gedanke, dass Woody sich von ihm verfolgt fühlen könnte. Aber wie zum Teufel sollte er herausgefunden haben, dass er ihn beschattete?

Woody versteckte sich gar nicht. Er zerrte irgendetwas Schweres vom Straßenrand zwischen den Autos hindurch auf den Bürgersteig. Vor einem Schaufenster wuchtete er es hoch und stemmte es bis auf Brusthöhe. Es war ein Gullydeckel. Gino hielt den Atem an. Verdammt! Was hatte der Schwachkopf vor? Im nächsten Augenblick zerklirrte das Schaufenster. Gino sah Woody in die Auslagen greifen und ein paar Flaschen herausholen. Leute stürmten aus dem Laden, und der Stadtstreicher hob die Hände mit den Flaschen über den Kopf.

Gino begriff nichts. Fassungslos beobachtete er, wie sie Woody die Flaschen entrissen und ihn dann mit ein paar Faustschlägen auf den Asphalt schickten. Fünf Minuten später näherte sich das Geheul einer Sirene, und ein Streifenwagen fuhr mit quietschenden Reifen um die Ecke, vorbei an Ginos Telefonzelle. Die Leute aus dem Laden redeten auf die Cops ein, und die verpassten dem Penner Handschellen und stießen ihn in den Wagen.

Jetzt erst löste sich Gino aus seiner Erstarrung. Er spurtete zurück zu seinem Toyota und fuhr dem Polizeiwagen hinterher. Stundenlang wartete er im Auto, nicht weit von der Wache entfernt. Woody kam nicht mehr heraus. Sie hatten ihn eingebuchtet. "Scheiße!", brüllte Gino. "Scheiße, Scheiße!" Er griff nach seinem Handy und wählte Als Nummer. "Gino hier, irgendwas ist schiefgelaufen."

"Was ist passiert?" Als Stimme klang ruhig, fast monoton.

"Sie haben Woody eingelocht. Ich werd' das Gefühl nicht los, dass er es drauf angelegte hatte. Vielleicht hat er Wind davon bekommen, dass ich ihn beobachte."

"Du Idiot!", zischte Al. Ein paar Sekunden lang hörte Gino weiter nichts, als seine tiefen Atemzüge. "Wir müssen umdisponieren", sagte Al endlich, "zuerst erledige ich Woody. Morton muss noch ein paar Tage warten. Halte dich bereit, diesmal brauch ich dich."



12

Den ganzen Nachmittag hingen wir hinter unseren Schreibtischen: Telefonate mit der Army, E-Mails an unsere Dienststellen in den Bundesstaaten, Faxe an die Meldestellen der Hauptstädte. Die Antworten ließen auf sich warten.

Milo beschäftigte sich vor allem mit dem Protokoll des Militärgerichts. Nach drei Stunde begann er unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. "Diese verdammte Büroarbeit", schimpfte er, "werde nie kapieren, wie man das acht Stunden am Tag durchhalten kann."

"Kommt mir auch schon vor, als müsste ich eins von diesen kniffligen Computerspielen machen", gähnte ich, ">Finden Sie den Schlüssel zur Festung des Schwarzen Königs<, >Versuchen Sie die Goldvorräte von Mysterie Island sicher in Ihren Heimathafen zu bringen< ..."

"Da lob ich mir doch einen spontanen Helikoptertrip in die Catskills", Milo blickte sehnsüchtig aus dem Fenster. Der Himmel über dem Hochhaus auf der anderen Seite der Straßenschlucht strahlte in einem wolkenlosen Blau.

"Eine blonde Ärztin in knappem T-Shirt kann ich dir leider nicht bieten", grinste ich, "aber du kannst ja mal eine Sekretärin beim Chef beantragen."

"Alter Neidhammel", brummte Milo und zog die Visitenkarte von Lady Anderson heraus, "Ruth heißt sie mit Vornamen", sagte er, und ein genießerisches Lächeln huschte über sein Gesicht, "ich mach mal 'ne kleine Pause." Er stand auf und ging zur Tür.

"Sag ihr einen Gruß von deinem unschätzbaren Freund und Partner!", rief ich ihm nach. "Und gönne Mandy ein paar Strahlen deines Zauberlächelns, vielleicht gibt sie dir eine Kanne Kaffee mit."

Am Spätnachmittag trafen wir uns noch einmal im Büro des Chefs, um die Ergebnisse unserer Recherchen zusammenzutragen und die weitere Strategie festzulegen.

"Der Stoßtrupp muss in einen Hinterhalt des Vietkong geraten sein", begann Milo, "sie hatten keine Chance. Die Hälfte der Männer fiel, auch der Kommandant. Alister Cunningham und dieser Morton waren die ranghöchsten Überlebenden, und weil sie die gleichen Ränge hatten, kriegten sie sich in die Haare. Morton wollte das Dorf umgehen, Cunningham wollte den Vietkong jagen. Nach den Aussagen der Soldaten brannte er darauf, sich für den Hinterhalt zu rächen."

"Das passt zu dem, was ich hier in seiner Akte gelesen habe", schaltete Mr. McKee sich ein, "als Achtzehnjähriger hat er mal einen Lehrer verprügelt, der ihn durch eine Prüfung fallen gelassen hatte. Seine Mutter war übrigens Indianerin."

"Wäre eine Erklärung für seine Neigung zu Pfeilen ...", warf ich ein.

"Er muss eine ziemlich starke Persönlichkeit sein", sagte Milo, "die Jungs aus dem Stoßtrupp konnten sich seinem Einfluss nicht entziehen, und Morton stand allein da. Nur McDorsay und DaCosta - die fraßen Cunningham wohl regelrecht aus der Hand."

Jeder Job hat seine Licht- und Schattenseiten. Augenblicke wie dieser gehörten für mich zu den Lichtseiten. Ich genoss sie geradezu: Mögliche Täter bekamen Namen und Profil, das rätselhafte Geflecht von Beziehungen zwischen Jägern und Gejagten wurde langsam verständlich, und aus dem Nebel der offenen Fragen deuteten sich die Motive der Täter an und die Schritte, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach als Nächstes unternehmen würden. Diese Phase in der Arbeit an einem Fall hatte für mich schon immer etwas von einem Schachspiel. Jetzt kam alles darauf an, den richtigen Zug zu machen. "Und warum wurden Cunningham und die anderen beiden schließlich schuldig gesprochen?", wollte ich wissen.

"Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass Cunningham für den Angriff auf das Dorf verantwortlich gewesen war." Milo blätterte in seinen zerlesenen Papieren. "Und es glaubte den Aussagen der neun anderen Soldaten, wonach vor allem Cunningham, McDorsay und DaCosta ... Moment, wie heißt es hier?" Er las vor: "... mit unangemessener Brutalität gegen die Einwohner vorgegangen seien. McDorsay sitzt übrigens seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt."

"Und was haben Sie über die anderen Männer herausgefunden, Jesse?", wandte der Chef sich an mich.

Ich reichte Milo und ihm Kopien des Papiers, auf dem ich das Wesentliche zusammengefasst hatte. "Zu den oberen drei Namen mit den Kreuzen dahinter brauch ich nichts mehr sagen. Der vierte Name ziert inzwischen auch schon einen Grabstein. Der Mann kam vor einigen Jahren beim Drachenfliegen ums Leben. Die nächsten beiden, Jim Wassman und Reed Coston leben in Houston beziehungsweise L.A. Die zuständigen FBI-Distrikte sind informiert, sie werden den Personenschutz organisieren. Joseph Kaminsky, der siebte, ist Sekretär der US-Botschaft in Paraguay. Die Kollegen in Washington D.C. kümmern sich um ihn. Der achte Mann, Leonard Blackwood, war zuletzt in Richmond gemeldet. Seit seiner Scheidung vor fünfzehn Jahren ist er spurlos verschwunden. Bleibt noch Henry Morton. Der hat es inzwischen zum General der Army gebracht und ist in Washington stationiert. Ende der Durchsage."

Eine Zeitlang herrschte nachdenkliches Schweigen. Milo fing an laut zu denken: "Wenn ich der Killer auf dem Rachefeldzug wäre, würde ich als Nächstes den General erledigen."

"Weil Washington näher liegt, als die Westküste?", fragte Mr. McKee.

"Deswegen auch", Milo machte ein Gesicht als würde er gleich eine besonders exotische Katze aus dem Sack lassen, "vor allem aber, weil es Morton selbst war, der sich und seinen Stoßtrupp damals wegen Kriegsverbrechen angezeigt hat."

"Das sagst du erst jetzt?" Mein Partner genoss meine Verblüffung. Die verheißungsvolle Visitenkarte in seiner Tasche schien ihn übermütig zu machen. "Sagten Sie nicht, Sir, Morton sei derjenige gewesen, den die drei nach ihrer Entlassung aus dem Militärgefängnis töten wollten?" Mr. McKee nickte. Damit war klar, was wir als Nächstes zu tun hatten. Eine Stunde später saßen Milo und ich in einer Maschine nach Washington.



13

James F. Murphey gehörte nicht zu der Sorte Anwälte, die jeden Tag einen Großindustriellen oder einen Politiker in ihrem Büro sitzen hat. Die Kreise in Baltimore, in denen seine Kanzlei als gute Adresse galt, verkehrten und arbeiteten eher in Kokskneipen, im Rotlichtmilieu und auf Pferderennbahnen. Einen entsprechend zweifelhaften Ruf genoss Murphey in der Stadt.

Das hatte ihn noch nie gestört. Was ihn hin und wieder ganz erheblich störte, war die chronische Ebbe auf seinem Konto. Deswegen stellte er auch keine überflüssigen Fragen, als ein Unbekannter anrief und ihn beauftragte Haftverschonung auf Kaution für einen guten Freund zu erwirken. Bei seinem Kundenstamm hatte Murphey es sich abgewöhnt überflüssige Fragen zu stellen. Und die einzige Frage, die ihn interessierte, erübrigte sich: "Fünftausend Dollar sofort, fünftausend Dollar nach Erledigung des Auftrages", sagte die raue und etwas gelangweilt klingende Stimme am anderen Ende der Leitung.

Er verabredete ein weiteres Telefonat mit dem Mann und wählte die Nummer des Haftrichters. Der nannte die Summe - fünfzigtausend Dollar - und wunderte sich dann wortreich über den seltenen Umstand, dass jemand einem Penner Geld für eine Kaution vorschießt. Darüber wunderte James F. Murphey sich nicht. Wer mit einem Kundenstamm arbeitete, wie er ihn sich aufgebaut hatte, gewöhnte es sich mit der Zeit ab, sich über irgendetwas zu wundern.

Er rief den Freund des Stadtstreichers an und teilte ihm die Höhe der Kaution mit. Eine Stunde später betrat ein halbwüchsiger Latino seine Kanzlei, ein nach billigem Deo stinkender Stricher, den Murphey mal in einer Drogensache rausgehauen hatte. Der Junge legte ein Päckchen auf den Tisch und hatte es ziemlich eilig. Das Päckchen enthielt fünfundfünfzig Riesen. Murphey ging ans Fenster und sah den Jungen auf der anderen Straßenseite. Er stand an der Fahrertür eines blauen Chrysler-Vans. Ein grauhaariger Mann reichte ihm etwas heraus. Wahrscheinlich den Botenlohn. Der Fremde schien kein Profi zu sein. Über den Latino wäre es einfach gewesen, seine Identität herauszufinden. Aber daran hatte der Anwalt nicht das geringste Interesse.

Noch einmal eine halbe Stunde später legte Murphey die Fünfzigtausend auf den Tresen einer Polizei Station. "Hallo, Officer - hier ist die Kaution für diesen Blackwood."

Der Cop war ziemlich jung und schien sich noch von Zeit zu Zeit zu wundern. Jedenfalls machte er ein Gesicht, als hätte Murphey ihm eine platt gefahrene Taube auf den Tisch gelegt. Dann zuckte er mit den Schultern, griff sich einen Schlüsselbund aus einer offen stehenden Schublade und verschwand nach hinten, im Zellentrakt. "He, Woody!", hörte Murphey ihn rufen. "Hast Schwein gehabt", die Schlüssel klirrten und das Quietschen einer Metalltür drang aus dem Zellentrakt, "irgendein Verrückter stellt dir eine Kaution!"

"Verdammt! Ich will nicht raus!", schrie eine Stimme.

"Heb deinen Arsch von der Pritsche und verschwinde, Woody!" Der Cop wurde ungemütlich. "Wir sind kein Hotel und brauchen Platz!" Er führte den protestierenden Penner heraus.

Murphey achtete weder auf sein Gezeter noch hatte er Lust vor den Ohren des Cops seine Fragen zu beantworten. Er drückte ihm seine Karte in die dreckige Hand. "Kommen Sie morgen Vormittag vorbei", sagte er, ohne ihn anzusehen und verließ die Wache.

Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass er den Kerl auch verteidigen sollte. Aber nach allem, was er da eben gehört hatte, würde dieser Penner wohl nicht mehr allzu lange leben. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass jemand eine Kaution bezahlt, um einen Häftling vor die Flinte zu bekommen. Nun gut, auch über so etwas pflegte James F. Murphey sich nicht mehr zu wundern. Er zündete sich eine Chesterfield an und ging zu seinem Wagen. Wenn er gewusst hätte, dass er sich zum letzten Mal in seinem Leben hinter ein Steuer setzte, hätte er die Fahrt zu seinem Büro sicher mehr genossen.



14

Das Hauptquartier stellte uns einen Wagen zur Verfügung. Mit Fahrer sogar. Wir saßen im Fond des Fahrzeugs, und Milo versuchte den General unter seiner Privatnummer zu erreichen. Er wechselte ein paar Worte mit jemandem, aber offensichtlich nicht mit Morton persönlich. "Seine Frau", sagte Milo und ließ das Handy in der Innentasche verschwinden, "rat mal wo er steckt."

"Bosnien? Saudi-Arabien? Auf der Indepedence?"

Milo schüttelte jedes Mal den Kopf. "In der Sauna", rückte er schließlich raus.

Ich musste lachen. "An drei Tagen treffen wir drei Offiziere der Army, und was tun sie? Angeln, Golfspielen und in der Sauna schwitzten - demnach hecken sie zurzeit keinen Krieg aus. Sehr beruhigend!"

An der Rezeption der Sauna saß eine leicht bekleidete Blondine, die sich wahrscheinlich durch ihre Oberweite und ihren sicher nächtelang einstudierten Augenaufschlag für diesen Job qualifiziert hatte. Dass wir General Morton zu sprechen wünschten, kapierte sie erst, als wir zum dritten Mal unsere Dienstmarken vorzeigten und Milo ihr genau sagte, was sie zu tun hatte.

"Also, noch einmal, Jamie", ein Schild zwischen ihren beachtlichen Brüsten verriet ihren Namen, "Sie stehen jetzt auf, gehen nach hinten zu Ihrem Chef, und bitten ihn Mr. Henry Morton ausrufen zu lassen. Kapiert?" Sie nickte verstört und gehorchte.

Fünf Minuten später erschienen hinter einer Glastür zwei Männer in schwarzen Anzügen und lugten misstrauisch zu uns herüber. Die Kerle waren baumlang und füllten fast die gesamte Fläche der beiden Glastürflügel aus. "Gorillas", raunte ich meinem Partner zu, "steht das allen Offizieren zu?"

Einer der beiden Bodyguards sprach mit irgendjemandem, der sich im Hintergrund hielt, und öffnete dann die Tür. "Was wollen Sie?", brummte er unwirsch.

"Einen Mindeststandart an Höflichkeit und ein Gespräch mit General Morton", sagte ich und nannte noch einmal mit Nachdruck unsere Branche: "FBI."

Wieder der Wortwechsel mit dem immer noch unsichtbaren Mann im Hintergrund, dann kam der Kleiderschrank heraus. "Der General will ihre Dienstmarken sehen." Fordernd streckte er uns seine behaarte Pranke entgegen. Milo und ich sahen uns an. In den Augen meines Partners las ich, dass ihm ein Streit zwar Spaß machen würde, er aber den Zeitpunkt für genauso ungünstig hielt wie ich. Also rückten wir unsere Marken heraus.

"Aber nicht verlieren unterwegs, sonst gibt's auf den Popo", drohte Milo mit erhobenem Zeigefinger. Der Gorilla stutze, wurde blass um die Nase, ging dann aber anstandslos wieder zur Tür.

Er verschwand mit unseren Marken im Hintergrund. Kurz darauf erschien ein Mann in weißem Bademantel - blond, groß und breitschultrig. Er wirkte wie eine vergrößerte Ausgabe von Richard Gere in seinen besten Zeiten. Und irgendwie ähnelte er in seiner ganzen Erscheinung meinem Partner Milo. Nur dass er etwa zehn Jahre älter war.

"Sorry, Gentlemen, in meiner Stellung kann man nicht vorsichtig genug sein", er setzte ein joviales Lächeln auf und winkte uns heran, "Henry Morton", stellte er sich vor und drückte uns unsere Dienstmarken in die Hände.

Wir verrieten ihm unsere Namen und folgten ihm zu einer ledernen Sitzgarnitur. Nachdem, was ich über den Mann wusste, musste er mindestens fünfzig sein. Er sah zehn Jahre jünger aus. Wir ließen uns in den noblen Polstern nieder, und die Gorillas pflanzten sich in diskretem Abstand auf. Ich konnte regelrecht sehen, wie ihre Ohren sich spitzten.

"Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?", fragte der General und wollte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. "Es muss ja etwas unerhört Wichtiges sein, wenn das FBI mich aus der Sauna holen lässt."

Seine ständige Grinserei schien mir weiter nichts als Fassade zu sein, und ich nahm mir vor, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. "Wenn man sich Ihre beiden Begleiter so anschaut, General, möchte man schon meinen, dass Sie Ihr Leben für etwas unerhört Wichtiges halten."

Offensichtlich hatte ich den richtige Schalter erwischt - das Lächeln verschwand schlagartig von seinem Gesicht. "Wie meinen Sie das, Mr. Trevellian?"

"Wir haben verdammt viel Grund anzunehmen, dass irgendjemand Sie umbringen will."

Er wirkte weniger überrascht, als ich erwartet hatte. Seine Augen wurden schmal. "Das werden Sie mir sicher gleich ganz genau erklären, Gentlemen", sagte er mit heiserer Stimme.

"Kennen Sie einen gewissen Richard Perlman, Mr. Morton?", fragte ich ihn. "Oder sagt ihnen der Name Clerence Gardener etwas? Oder kennen Sie Major Russel von der Westpoint Acadamy?"

Seine Miene versteinerte sich. Er beugte sich vor und faltete die Hände auf seinen Knien. Vermutlich um sein Zittern zu verbergen. "Ja, die kenne ich", er flüsterte fast, "was ist mit diesen Männern?"

"Nichts mehr, General Morton, sie sind tot, ermordet."

Sein Gesicht nahm die Farbe seines Bademantels an. Auf seiner Oberlippe erschienen kleine Schweißperlen. Da er nichts sagte, ergriff Milo das Wort. "Wir dachten daran, Sie unter Polizeischutz zu stellen, General. Außerdem würden wir gerne mit Ihnen über ein paar Kriegskameraden aus Ihrer Vietnamzeit sprechen. Vielleicht können Sie uns etwas Erhellendes über sie sagen."

"Vielleicht", presste Morton hervor, "aber nicht hier. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Sie bitten, mich in mein Haus zu begleiten."



15

Ginos Atem beschleunigte sich, als er den Mann aus der Polizeiwache kommen sah. Sein ganzer Körper spannte sich an, und er drehte den Zündschlüssel herum. Der Wagen, den er erst vor einer Stunde bei AVIS gemietet hatte, rollte los, und er hing sich an die Stoßstange des Anwalts. Seinen Toyota hatte er in einem Parkhaus stehen lassen. Warum, konnte er selbst nicht sagen. Seine Intuition hatte ihm eingeflüstert, dass die plötzliche Nervosität Woodys mit seinem Auto zusammenhängen musste.

Aus den Augenwinkeln sah er noch, wie ein junger Cop Woody aus der Eingangstür der Polizeiwache schob. Dann folgte er dem Wagen des Anwalts in eine Seitenstraße. Unter den parkenden Autos erkannte er Als blauen Van. Weiß der Teufel, wo er den wieder aufgetrieben hatte. Al musste Geld wie Heu haben. Seine Geschäfte in Kolumbien schienen gut zu laufen. Gino stoppte kurz. Al saß hinter dem Steuer. Er gab ihm das verabredete Zeichen und fuhr dann weiter hinter dem Anwalt her.

Der Feierabendverkehr quälte sich zähflüssig durch die Straßen Baltimores. Obwohl der Anwalt seine Kanzlei am Rande der Innenstadt hatte, dauerte es fast eine halbe Stunde, bis sein Wagen endlich in der Einfahrt einer Tiefgarage verschwand.

Die Tiefgarage wäre kein schlechter Ort gewesen, um die Sache zu erledigen Aber ein Bus drängte sich vor ihn in den Stau und blockierte die Einfahrt zur Garage. Es dauerte zehn Minuten, bis Gino einen Parkplatz in der zweiten Reihe fand.

An der Haustür des zwanzigstöckigen Gebäudes überflog er die Firmenschilder. >James F. Murphey, Rechtsanwalt< - die Kanzlei befand sich in der zwölften Etage. Gino drückte auf den Klingelknopf. "Wer ist da?", quäkte die Stimme des Anwalts aus der Sprechanlage.

Gino sah sich kurz um, bevor er antwortete. "Fünf Riesen und jemand, der sie trägt." Der Türöffner summte fast im selben Augenblick. Im Aufzug entsicherte Gino die 44er Magnum, die er aus dem Verbandskasten seines Wagens geholt hatte. Er trug sie unter seinem Jackett in einem Schulterholster aus Hirschleder, das er erst vor Kurzem für dreißig Dollar bei einem Hehler gekauft hatte. An verschiedenen Stellen seines Wagens waren noch andere Schießeisen versteckt. Aber Gino stand auf die Magnum. "Damit hinterlässt du keine Löcher, sondern Krater in den Gesichtern, die dir nicht passen", hatte der Mann gesagt, mit dem er neun Jahre die Zuchthauszelle geteilt hatte.

Kurz darauf betrat er die Anwaltskanzlei. " N' Abend, Mr. Murphey", begrüßte er den Anwalt. Der saß gelassen hinter seinem Schreibtisch und hatte eine neue Flasche Whisky aufgemacht. "Gut gelaufen, die Sache. Unser Freund ist frei, sie haben sich ihre Dollars verdient." Murphey sah Gino erwartungsvoll an, als dieser unter sein Jackett griff. "Wir haben noch einmal gründlich nachgedacht", sagte Gino und zog die Magnum heraus, "Sie sind uns doch zu teuer. Her mit der Anzahlung!"

Murpheys Brauen zuckten nur kurz, sonst bemerkte Gino kein Anzeichen von Überraschung. "Bleiben Sie cool, Mann", sagte der Anwalt mit belegter Stimme, "war ja kaum der Rede wert, der Job, Sie kriegen ihr Geld, O.K.?" Ohne die geringste Hektik zog er eine Schublade auf.

Gino begriff augenblicklich, dass er einen Routinier vor der Kanone hatte. Trotzdem reagierte er nicht schnell genug, als die Hand des Anwalts statt mit den Dollarnoten mit einer 38er Walther wieder hinter dem Schreibtisch auftauchte. Er warf sich zur Seite und feuerte gleichzeitig seine Magnum ab. Auf der Wand hinter dem Anwalt splitterte der Glasrahmen eines Bildes, bevor es auf den Boden knallte. Die Waffe röhrte so laut, dass sie den Schuss aus der Walther übertönte. Dafür spürte Gino ein heißes Brennen auf seinen Rippen. Er schrie laut auf und ließ sich neben den Tisch einer Sitzgruppe fallen.

Der Anwalt legte schon wieder an, und Gino schleuderte den Tisch auf ihn. Flink wie ein Waschbär war er sofort wieder auf den Beinen, hatte aber seine Magnum verloren. Es blieb ihm keine Zeit, sich danach zu bücken. Er hechtete über den Schreibtisch und bekam den Arm des anderen zu fassen. Die Walther plumpste in den Papierkorb, und der Anwalt, wesentlich schwerer und größer als Gino, stieß seinen Angreifer von sich. Doch statt sich sofort auf ihn zu stürzen und ihm die Whiskyflasche über den Schädel zu schlagen, riss er die Balkontür auf, hängte sich über das Geländer und begann, laut um Hilfe zu schreien.

Das hätte er nicht tun sollen. Gino packte ihn an den Beinen und stemmte ihn über den Balkon. Der Mann brüllte wie ein Bulle an der Schlachthausrampe. Er hing an der Außenwand des Balkons und klammerte sich brüllend am Geländer fest. Erst als Gino seine Finger mit den Absätzen bearbeitete, ließ er los. Brüllend stürzte er die zwölf Stockwerke hinab auf den Bürgersteig.

Keuchend taumelte Gino in den Büroraum zurück. Er hörte erregte Stimmen auf den anderen Balkonen und Fenster, die sich scharrend öffneten. Hektisch kramte er seine Magnum aus dem Chaos vor dem Schreibtisch. Die linke Brustseite tat ihm höllisch weh. Sein Jackett war durchlöchert. Die Kugel hatte sein Holster durchbohrt und seine Haut über den Rippen aufgerissen. Verflucht! Diesen Auftritt hatte er sich anders vorgestellt!

Gino stürzte aus der Kanzlei. Ihm blieb keine Zeit, auf den Aufzug zu warten. Schon öffneten sich Türen, und Stimmen schienen sich zu nähern. Er hielt seine Waffe mit beiden Händen umklammert und huschte ins Treppenhaus.



16

Wir saßen im Wohnzimmer der Mortons. Schweigend hörte der General sich unseren Bericht an. Er hockte mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf auf seinem Sessel und machte ganz den Eindruck eines Mannes, der gerade sein eigenes Todesurteil hörte.

Seine Frau stand hinter ihm. Mandy Morton war mir auf Anhieb sympathisch. Nicht nur, weil sie den gleichen Vornamen hatte, wie unsere gute Mandy am Federal Plaza. Sie hatte etwas Edles in der Art, wie sie sich bewegte und wie sie sprach. Und sie sah verdammt gut aus für eine knapp fünfzigjährige Frau. Sie hatte ein feines Gesicht, das von dichten dunkelgrauen Locken umrahmt war. Ein asiatischen Zug lag um ihre grünen Mandelaugen. Das kleine Muttermal unter ihrer linken Schläfe gab ihr etwas Exotisches. Früher musste sie sogar atemberaubend schön gewesen sein. Auch sie sprach kein Wort. Regungslos lauschte sie unserem Bericht.

Als wir fertig waren, herrschte eine Zeit lang bedrücktes Schweigen. "Das war Cunningham", sagte Morton irgendwann mit gepresster Stimme. Es klang sehr überzeugt.

"Warum sind Sie da so sicher?", fragte ich vorsichtig.

"Weil ich ihn kenne", Morton stand auf und begann langsam im Raum auf und ab zu laufen, "ich habe nie jemanden mit einer solchen Rachgier kennengelernt. Wissen Sie, dass er ein halber Indianer ist? Er wird zum Tier, wenn ihm jemand ans Bein pinkelt."

"Wer hat ihm denn ans Bein gepinkelt?" Ich war froh, dass der Mann so schnell auf den Punkt kam.

"Die Jungs haben zusammengehalten wie Pech und Schwefel, damals vor dem Militärgericht. Am Schluss sah es so aus, als hätten nur Cunningham und seine beiden Hunde die Dorfbewohner ...", er verstummte, "... Sie wissen schon."

"War es denn nicht so?"

"Mr. Trevellian, ich bitte Sie! Cunningham hatte das Kommando an sich gerissen! Was glauben Sie, was er mit einem GI angestellt hätte, der sich seinem Befehl widersetzt hätte? Niemand von uns kam da mit reiner Weste raus!"

"Und warum haben Sie das vor dem Gericht nicht erzählt?", wollte ich wissen.

"Verdammt noch mal! Ich saß im Dschungel und hab die ganze Scheiße von Weitem mitgekriegt! Ich wollte mich raushalten, ich wollte niemanden ans Messer liefern. >Die sollen das unter sich ausmachen<, dachte ich. Außerdem waren die drei wirklich die Hauptschuldigen."

"Cunningham und seine beiden Hunde, wie sie sagten?" Der General nickte.

"Wieso Hunde?", schaltete Milo sich ein.

"McDorsay war ein labiler Psychopath. Der kroch Cunningham vierundzwanzig Stunden am Tag in den Arsch. Und DaCosta war gewissermaßen geschäftlich mit ihm verbunden. Cunningham machte unter den GIs Drogengeschäfte im großen Stil, und DaCosta war sein Hauptdealer."

"Sie müssen ihm ja besonders heftig ans Bein gepinkelt haben", sagte ich, "immerhin hatte er in den siebziger Jahren nach seiner Entlassung aus dem Militärgefängnis nichts Besseres zu tun, als Sie zu überfallen." Ich sah genau wie Mandy Morton zusammenzuckte.

Ihr Mann wich meinem Blick aus und räusperte sich. "Natürlich hatte er es auf mich abgesehen. Ich habe bei dem Überfall auf das Dorf nicht mitgemacht, und hab mich trotzdem wie ein Schwein gefühlt, weil ich ihn nicht verhindert habe. Erst als ich uns angezeigt hatte, konnte ich wieder in den Spiegel gucken."

Ich wunderte mich, dass der General überhaupt noch am Leben war. Kein Zweifel - er musste das Zentrum in der Zielscheibe unseres Killers sein! Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass Morton nicht die ganze Wahrheit auf den Tisch gelegt hatte.

"Einige Ihrer Kameraden treffen sich noch regelmäßig im Veteranenclub", schaltete Milo sich ein, "Sie gehören zu den wenigen Ausnahmen, die da nicht zu finden sind."

"Was glauben Sie, wie viele schlaflose Nächte mich die Sache gekostet hatte. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Außerdem waren manche der Jungs nicht gut zu sprechen auf mich, wie Sie sich vorstellen können."

"Haben Sie überhaupt nochmal mit jemandem von der Truppe Kontakt gehabt?", fragte ich.

"Natürlich, als sie mich umlegen wollten", Morton grinste bitter, "und vor ein paar Jahren haben wir mal ein Buch von DaCosta in der Buchhandlung gefunden. Der hat im Gefängnis angefangen zu schreiben. Horrorromane - fürchterliches Zeug."

"Und Woody", rief seine Frau dazwischen.

"Leonard Blackwood - na klar", sagte der General, "der lebt jetzt auf der Straße und kommt einmal im Monat zum Essen, wenn er nebenan in Baltimore ist. War erst vor ein paar Tagen hier. Komische Freundschaft ..."

"Blackwood?" Milo und ich riefen den Namen fast gleichzeitig aus. "Den konnten wir nirgends ausfindig machen", erklärte ich dem verblüfften Morton unsere Überraschung. Er gab uns ein paar Hinweise über Blackwoods Aufenthaltsorte, und zwei Minuten später telefonierte ich mit der Polizei in Baltimore. Meine innere Stimme sagte mir, dass der ganze Zauber jetzt erst richtig losging. Sie sollte recht behalten.



17

"Er muss aus dem elften oder zwölften Stock gestürzt sein, irgendjemand hat Schüsse gehört!" Die Stimmen hallten im Treppenhaus wider. Sie hörten sich schon verdammt nahe an. Gino beugte sich über das Geländer. Drei, vier Etagen unter sich sah er eine Gruppe von Männern die Stufen hochhasten. Zwei davon in Uniform - Cops!

Gino wagte kaum zu atmen, sein Herz hämmerte ihm in den Schläfen. Fieberhaft rechnete er seine Chancen durch. Bei einer Schießerei mit den Bullen wäre der Überraschungsmoment auf seiner Seite. Einen würde er sicher erledigen. Den anderen mit ein bisschen Glück auch. Aber die Schüsse würden ihm gleich den nächsten Trupp auf den Hals locken. Verflucht!

Er drehte sich um und schlich in den fünfzehnten Stock. Als er aus dem Treppenhaus in den Flur trat, schob sich eben die Aufzugtür zu, und ein junges Pärchen klingelte gerade an einem Apartment. Entsetzt starrten sie auf die große Kanone in Ginos Hand. Im gleichen Augenblick wurde die Tür des Apartments aufgerissen. Musik drang aus der Wohnung, und ein strahlendes Frauengesicht erschien im Türrahmen. Die Frau hatte ihren großen Mund weit aufgerissen, aber das >Hi< blieb ihr buchstäblich im Halse stecken. Mit drei Schritten war Gino bei den Leuten. Er drückte sie in die Wohnung, schloss hinter sich ab und begann zu brüllen.

"Überfall! Auf den Boden mit euch! Musik aus!" Ein knappes Dutzend Männer und Frauen, alle zwischen zwanzig und dreißig, befanden sich in dem Apartment. Die meisten tanzten und kapierten nicht gleich, was los war. Ein kahl geschorener Junge, der es sofort kapierte, stürzte durch die offene Balkontür nach draußen und schrie um Hilfe. Ginos Magnum donnerte los, als hätte der Blitz eingeschlagen. Ein Riesenloch klaffte plötzlich im Rücken des Jungen auf dem Balkon. Die Wucht des Schusses riss ihn zur Seite weg. Röchelnd rutschte er am Geländer entlang auf den Boden. Jetzt wurde auch auf der Brustseite seines gelben Muskelshirts ein feucht roter Fleck sichtbar.

Mit dem nächsten Schuss zerfetzte Gino die Musikanlage. Jetzt hatte auch der letzte Partygast kapiert, was die Stunde geschlagen hatte. Für eine Sekunde herrschte bleiernes Schweigen. Dann schrie eines der Mädchen laut auf und wollte auf den Balkon zu dem röchelnden Jungen stürzen. "Du bleibst stehen, oder ich knall dich ab!", brüllte Gino. Eine andere Frau nahm das schreiende Mädchen in die Arme. "Halt die Fresse, sonst stopf ich dir das Maul!" Gino war wie von Sinnen. Das Mädchen barg ihr Gesicht an der Brust der Frau. Ihr ganzer Körper bebte vor Schluchzen.

"O.K.", keuchte Gino, "die Party ist vorbei!" Er fuchtelte mit der Magnum herum. "Los, auf den Boden mit euch!" Er fuchtelte und schrie, bis sich auch der Letzte bäuchlings auf den Teppichboden warf. Eng aneinandergepresst wie Sardinen in der Dose lagen die jungen Leute in der Mitte des großen Zimmers. "So ist gut. Wenn ihr still seid passiert euch nichts. Wer sich rührt, dem spreng ich ein Loch in den Rücken. Gino warf einen kurzen Blick auf den Balkon. Der Junge hatte aufgehört nach Luft zu schnappen. Das Blut staute sich vor seiner Brust auf dem Estrich des Balkons und sickerte nach hinten weg. Scheiße! Es würde den Balkon heruntertropfen. Jeder, der es wissen wollte, würde in kürzester Zeit begreifen, in welcher Wohnung er sich aufhielt. Und die Bullen wollten es wissen. Gino ließ sich schwer atmend auf einem Sessel nieder. Er überlegte.



18

Leonard Blackwood war es gewohnt sich mit Cops herumzustreiten. Entweder vertrieben sie ihn von irgendwelchen günstigen Bettelplätzen, oder sie lochten ihn ein, weil er stinkbesoffen vor einem Supermarkt lag oder irgendetwas geklaut hatte - ein paar Bananen, ein Sandwich oder eine Flasche Schnaps. Meistens schimpfte er dann wie ein altes Weib. Auch nur eine Nacht in einer engen Zelle zuzubringen war für den Vagabunden so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Und jetzt stritt er mit dem jungen Cop vor der Polizeiwache herum, weil er nicht ums Verrecken seine Zelle aufgeben wollte.

Es war zum Haareausreißen! Da zertrümmerte er eine Schaufensterscheibe und schnappte sich zwei Pullen Eierlikör, von dem er schon in seinen bürgerlichen Tagen einen Brechreiz bekommen hatte, nur um in den Knast zu kommen, und jetzt setzten sie ihn vor die Tür! "Ich will meine gerechte Strafe!", zeterte er. "Ich hab ein Recht auf eine Verhandlung!"

"Kriegst du, Woody, kriegst du", versuchte der Cop ihn zu beruhigen, "aber alles zu seiner Zeit, wir sagen dir dann Bescheid!" Er schob ihn sanft zur Tür hinaus.

"Fick dich ins Knie, Bulle! Ich will zurück in meine Zelle kapiert?!"

"Kaution ist Kaution! Und jetzt hau ab!"

"Die sind hinter mir her! Die legen mich um!"

"Klar, Woody, so'n wichtiger Mann wie du, hat natürlich 'ne Menge Feinde - geht dem Präsidenten genauso", der Cop gab Leonard einen Stoß gegen die Schulter, und der Penner taumelte auf die Straße.

Leonards Unterlippe bebte vor Wut, als die Tür zur Police-Station sich schloss - und vor Angst. Keine Chance, die Sicherheit der Zelle konnte er vergessen! Und diese bescheuerten Cops auch! Sie glaubten ihm nicht, basta!

Er sah sich um. Keine Spur von dem alten Toyota. Er hetzte über die Straße. Was sollte er tun, verdammt? Er kratzte den Rest seines Verstandes zusammen. Verstecken musste er sich, so schnell wie möglich. Gino war ein scharfer Hund. Wenn der seine Spur aufgenommen hatte - und das hatte er, da war Leonard sich sicher - dann würde er ihn finden. Und dann ... Leonard fröstelte. Die Erinnerung an Ginos Blutrausch damals in dem vietnamesischen Dorf überfiel ihn wie ein Alpdruck.

Und wenn nun Cunningham auch hinter ihm her war? Ein heißer Schreck durchzuckte ihn. Cunningham hatte sich noch viehischer als Gino aufgeführt. Sogar kleine Jungs hatte er abgeknallt, ohne mit der Wimper zu zucken. Und hatten diese Schweine nicht vor zwanzig Jahren versucht, Henry zu töten ...?

Panik verkrampfte seine Beine. Er zwang sich, seinen Schritt zu beschleunigen und hastete an den parkenden Autos vorbei. Den blauen Van nahm er nicht wahr.

Henry! Natürlich! Er würde den General in Baltimore anrufen! Dem waren sie sicher auch auf den Fersen! Er taste nach den Münzen in seiner Tasche. Für ein Telefongespräch nach Baltimore würde es noch reichen. Einem General der Army würden die Bullen glauben. Und vielleicht würde Henry ihn sogar nach Washington holen! Bei Gott, das würde er sicher tun! Und solange konnte er sich bei Fritz unter der Brücke verstecken.

Der Gedanke an Henry Morton gab Leonard wieder ein Gefühl von Hoffnung. Er rannte in die nächste Seitenstraße und steuerte den Patapsco River an. Hinter ihm scherte der blaue Van aus der Parkreihe und rollte langsam auf die Seitenstraße zu.



19

Wir kamen zu spät. Blackwood war vor etwas weniger als einer Stunde gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. "Und Sie haben keine Ahnung, wo er sich herumtreiben könnte?" Der junge Beamte schien mir etwas verunsichert zu sein. Zwei FBI-Agenten vor seinem Tresen stehen zu haben, die sich ausgerechnet nach einem Obdachlosen erkundigten, passte wohl nicht ganz in seinen Tagesablauf.

"Nein, wirklich nicht, Sir", beteuerte er zum dritten Mal, "es gibt hunderte von Schlupfwinkeln in dieser Stadt, wo sich dieses Gesindel verkriechen kann." Der Mann gefiel mir immer weniger. Sein Kollege hockte am Schreibtisch über irgendwelchen Papieren und hielt sich zurück.

"Verdammt, jetzt schalten sie mal den Apparat unter ihrer Mütze ein!", herrschte Milo ihn an. "Der Mann macht einen aussichtslosen Bruch, um Eierlikör zu klauen, wartet dann auf die Polizei, und irgendein mildtätiger Mensch spendiert ihm fünfzigtausend Dollar für eine Kaution! Da ist doch was oberfaul!" Milo schien kurz davor zu stehen, dem Cop an die Gurgel zu gehen. Der am Schreibtisch sah gelangweilt zu uns herüber.

Unser junger Freund aber war so beeindruckt von Milos Temperament, dass er prompt die Karten auf den Tisch legte. "Ehrlich gesagt - Woody hat sich verfolgt gefühlt, aber wir haben ihm nicht geglaubt", räumte er kleinlaut ein. Das also war der Grund seiner Unsicherheit. Hilfesuchend schaute er sich nach seinem Partner um. Der tat so, als hätte er sich wieder in seine Papiere vertieft.

"Was jetzt?" Milo sah mich an. Man konnte fast hören, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

"Vielleicht weiß der Anwalt mehr", sagte ich. Ich bat den Officer uns die Adresse heraussuchen. Er war froh, sich irgendwie nützlich machen zu können und erklärte uns wortreich den Weg zur Kanzlei des Anwalts.

Wir rissen gerade die Tür auf, um nach draußen zu spurten, als das Handy in meiner Tasche vibrierte. Der Anruf kam von Henry Morton.

"Mr. Trevellian?", rief seine aufgeregte Stimme. "Blackwood hat eben bei mir angerufen. Er war schrecklich durcheinander. So ganz habe ich nicht kapiert, was los ist. Er glaubt, dass DaCosta ihn verfolgt. Ich soll ihn am Patapsco River abholen. Er versteckt sich dort bei einem Kumpel unter einer Brücke."

"Danke, General", ich steckte das Handy zurück in die Tasche, "O.K., Partner", sagte ich zu Milo, "wenn mich mein Instinkt nicht gewaltig trügt, stecken Cunningham und DaCosta hinter der Kaution für Blackwood."

"Sieht ganz so aus", nickte Milo, "hier bei der Polizei mit einem Blasrohr aufzukreuzen, hätte komisch ausgesehen." Die beiden Cops guckten sich verständnislos an.

"Der Anwalt muss also Kontakt mit ihnen gehabt haben", dachte ich laut, "wir müssen uns den Mann so schnell wie möglich kaufen. Andererseits scheint der Penner in der Tinte zu sitzen. Schlage vor, wir trennen uns. Einer fährt zum Anwalt, der andere lädt die freundlichen Kollegen hier zu einem Ausflug an den Fluss ein. Nimmst du den Anwalt oder Blackwood?"

Milo zog Streichhölzer heraus. "Greifen wir auf eine bewährte Methode zurück, wer das kürzere zieht, geht zu Blackwood." Er brach ein Stück von einem der beiden Hölzer ab, ordnete sie hinter seinem Rücken und hielt sie mir unter die Nase. Ich zog das kürzere. Es sollte keine halbe Stunde mehr vergehen, bis wir uns beide wünschen würden, das andere Streichholz gezogen zu haben. Aber das ahnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.



20

Al hielt immer wieder am Straßenrand an und wartete, bis der Penner in eine Seitenstraße abbog. Den Stadtplan von Baltimore hatte er neben sich auf dem Beifahrersitz ausgebreitet. Es sah ganz so aus, als würde Blackwood sich Richtung Hafen bewegen.

Nach einer halben Stunde überquerte er einen großen Parkplatz, der dem Hafengelände vorgelagert war. Al stellte den Chrysler ab und setzte die Verfolgung zu Fuß fort. Irgendwo hier mündete der Patapsco in die Hafengewässer. Und irgendwo hier gab es ein paar Brücken, unter denen Kollegen von Blackwood hausten. Das jedenfalls hatte Gino behauptet.

Blackwood hatte es eilig. Immer wieder sah er sich nach allen Seiten um. Al vermied es, auf der gleichen Straßenseite wie er zu gehen. Trotzdem musste er sich ständig in Hauseingänge verkriechen oder hinter parkenden Wagen Deckung suchen. Doch er hatte lange genug im Dschungel gelebt, um zu wissen, wie man ein Wild anschleicht, oder einem Jaguar auf der Spur bleibt. Die Indianer, die er auf ihren Wanderungen durch de n kolumbianischen Urwald begleitet hatte, hatten einen perfekten Jäger aus ihm gemacht. Ja, das war er mit jeder Faser seines Körpers - ein Jäger.

Seine Vermutung bestätigte sich: Blackwood überquerte eine stark befahrene Straße und folgte dann der Flusspromenade flussaufwärts. Al tastete unter seinen hellen Trenchcoat nach den vier Teilen seines Blasrohrs. Bei einem Schneider in Bogota hatte er sich extra eine tiefe Innentasche ins Mantelfutter nähen lassen, um das Rohr zu transportieren. Die Pfeile trug er in einem alten Feldstecherfutteral aus schwarzem, speckigem Leder an seinem Hosengürtel. Erst vorhin, als er auf Gino wartete, hatte er sie im Auto präpariert. Auch das hatten ihm die Indianer in den Jahren beigebracht, in denen er bei ihnen untergetaucht war.

Al überquerte die Straße und setzte sich auf eine Parkbank unter einen Ginkobaum. Aus den Augenwinkeln spähte er nach Blackwood. Etwa dreihundert Meter entfernt sah er ihn unter einer Brücke verschwinden. Jetzt erst kam die Erregung über ihn. Es war immer der gleiche Kick. Als hätte er eine Kanne Kaffee auf einmal getrunken. Er brannte darauf, Blackwood den Pfeil ins Fleisch zu jagen. Er fieberte danach, ihn vergeblich nach Luft schnappen zu sehen, ihn endlich bezahlen zu lassen für die Jahre im Knast. Ja, es war wie ein Fieber. Al war jedes Mal aufs Neue erstaunt, wie sehr diese Erregung dem Gefühl glich, das er empfand, wenn er eine Frau begehrte.

Diesmal allerdings ging es noch um mehr als nur um die Gier, es einem von diesen Mistkerlen heimzuzahlen. Diesmal ging es auch darum, Blackwood so schnell wie möglich zum Schweigen zu bringen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass er Gino erkannt hatte. Und Al wollte den Rücken frei haben, um in aller Ruhe Morton zu jagen. Seinen Tod wollte er besonders genießen.

Al stand auf und schlenderte auf die Brücke zu. Darunter, an der Flussböschung, erkannte er Blackwood mit einem anderen Stadtstreicher. Al schätzte die Entfernung zwischen dem Flussufer und den beiden Männern auf höchstens sechs Meter.

Mit einem Taxi fuhr er flussabwärts bis zum Hafen. Dort mietete er ein Motorboot. Zwanzig Minuten später tuckerte er auf die Brücke zu. Die beiden Männer kauerten immer noch an der Flussböschung. Al öffnete das Futteral an seinem Gürtel und zog ein paar Lederhandschuhe heraus. Er hatte sie mit einem Speziallack überzogen, um das Leder widerstandsfähiger zu machen. In den Jahren bei den Indianern hatte er einmal erlebt, wie ein Jäger sich an seinem eigenen Giftpfeil verletzt hatte.

Vorsichtig angelte er zwei Pfeile aus dem Behälter und legte sie neben den Fahrersitz in den Fußraum des Bootes. Schade - diesmal würde er sie nicht wiederbekommen. Dann begann er, sein Blasrohr zusammenzuschrauben.



21

Die Polizei hatte die Straße gesperrt und die Umgebung des Hauses großräumig abgeriegelt. Mit blinkendem Rotlicht bohrten sich Milo und sein Chauffeur durch den Stau. Mehrere Streifenwagen und zwei Ambulanzen standen vor dem Haus. Milo schwante nichts Gutes.

Mit seiner Dienstmarke verschaffte er sich Zutritt in den abgesperrten Bereich. Auf der Straße, nicht weit vom Eingang des Hauses, entdeckte er etwas, das er schon viel zu oft in seinem Leben gesehen hatte: Unter einer Plastikplane wölbte sich ein lebloser Körper. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn. "Milo Tucker, FBI", sprach er einen zivilen Beamten an, "wie heißt der Tote?"

"Woher wissen Sie, dass es ein Mann ist?" Der Beamte zückte ebenfalls eine FBI-Dienstmarke. "Er heißt Murphey, war Anwalt. Der FBI-Distrikt Baltimore befasst sich schon seit Monaten mit ihm. Freut mich übrigens, Sie mal kennenzulernen, Mr. Tucker. Ich bin Curd Sheridon."

"Freut mich. Was mich nicht freut, ist dieser Anblick", er deutete auf die Plastikplane, "ich wollte dem Mann eigentlich ein paar Fragen stellen."

"Da kommen Sie eine halbe Stunde zu spät. Welche Fragen hätten Sie ihm denn gestellt?" Milo berichtete. "Kann sein, dass der Mann, den Sie suchen, noch da oben ist." Sheridon reichte Milo einen Feldstecher. "Schauen Sie sich den Balkon im zwölften Stock mal genau an."

Milo spähte durch den Feldstecher. Unter der Brüstung des Balkons tropfte eine dunkle Flüssigkeit in die Tiefe. Die Brüstung darunter im elften Stock war mit roten Spritzern übersät. "Blut?", fragte Milo.

"Ja, er hat wohl schon eine Geisel erschossen." An einem benachbarten Fenster im zwölften Stock erkannte Milo einige Männer. Das Fenster war offen, und die Männer riefen etwas zu dem Balkon hinüber, was von der Straße aus nicht zu verstehen war. "Unser Psychologe", erklärte Sheridon, "wir versuchen seit zehn Minuten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er hat eine Geisel mit einer Botschaft freigelassen. Spätestens um 21.30 Uhr will er einen Hubschrauber auf dem Dach landen sehen. Sonst erschießt er alle halbe Stunde eine Geisel."

Milo sah auf seine Armbanduhr: Kurz vor neun. "Vermutlich will er noch vor Anbruch der Dunkelheit verschwinden", überlegte er laut, "Was sagt die Zentrale?"

Sheridon zuckte mit den Schultern. "Die überlegen noch."

"Wir sollten zum Schein drauf eingehen", Milo betrachtete durch den Feldstecher die Balkone im dreizehnten und elften Stock. "Von unten könnte man mit einer Leiter hochsteigen. Von oben müsste sich jemand abseilen. In dem Augenblick, wenn der Hubschrauber auftaucht, könnte man ihn mit einer Blendgranate kampfunfähig machen." Er reichte Sheridon den Feldstecher. Wir müssten gleichzeitig von drei Seiten angreifen: Von oben, von unten und von der Wohnungstür aus."

"Und wenn er durchdreht?" Sheridon runzelte zweifelnd die Stirn. "Die freigelassene Geisel berichtet von mindestens zehn weiteren Geiseln."

"Geben Sie den Vorschlag doch mal an die Zentrale durch." Sheridon ging zu einem der Wagen und griff sich ein Funkgerät. Nach einer Viertelstunde kam das O.K. der Zentrale. Milo ließ sich eine schusssichere Weste geben. Während er mit einem Team in den dreizehnten Stock hochfuhr, verschafften sich vier FBI-Beamten Einlass in eine Wohnung im elften Stock, die direkt unter dem Apartment lag, in dem der Geiselnehmer sich verschanzt hatte. Sie waren mit Aluminiumleitern und Blendgranaten ausgerüstet. Es war 21.20 Uhr.



22

Wir streiften das Hafengebiet und bogen in eine Straße ein, die zum Fluss führte. Die beiden Cops waren ziemlich schweigsam. Die Panne mit Leonard Blackwood schien ihnen schwerer im Magen zu liegen als sie zugeben wollten.

Mit Sirene und Rotlicht schoben wir uns durch den dichten Verkehr. Der Inner Harbor von Baltimore zog mal wieder tausende von Touristen und Nachtschwärmern an. Es war schon nach neun, als wir endlich den Fluss erreichten. Ich spürte es an meinen aufgerichteten Nackenhaaren, dass wir gar nicht früh genug zu Blackwood kommen konnten. Entsprechend unruhig rutschte ich auf der hinteren Sitzbank des Streifenwagens herum.

"Es gibt hier drei Brücken, unter denen sich Penner aufhalten Sir", sagte der jüngere der beiden Cops. Der andere saß hinter dem Steuer. Er hatte noch kein Wort mit mir gesprochen.

Ich überlegte nicht lange. "Lassen Sie mich an der ersten heraus und fahren Sie zur nächsten, dort steigen Sie aus. Und Sie", wandte ich mich an den Schweiger, "nehmen sich die dritten Brücke vor." Ich kritzelte eine Zahl auf einen Zettel. "Hier ist die Nummer meines Handys. Wer Blackwood als Erster entdeckt, informiert die anderen." Ich ließ mir den Berber genau beschreiben. Dann setzten sie mich an einer Kreuzung ab.

Ich sah mich um. Die kreuzende Straße führte nach rechts über die Brücke. Ich überquerte den Bürgersteig und sah den Fluss vor mir liegen. Still wälzte sich das Wasser in Richtung Hafen. Ausgerechnet jetzt fiel mir wieder mein Geographielehrer ein. Nach seiner Auskunft verdankte Baltimore seine Gründung diesem Fluss und seiner Mündung in die Chesepeake-Bucht. Sogar daran, dass die Stadt ursprünglich als Tabakhafen gegründet worden war, erinnerte ich mich plötzlich, als ich auf einer Treppe zur Uferpromenade hinunterlief. Manchmal muss ich doch aufgepasst haben in der Penne.

Von der Brücke her hörte ich das Geräusch eines sich entfernenden Motors. Ich nahm die letzten vier Stufen auf einmal und rannte auf die Brücke zu. Eine kleine Motoryacht entfernte sich eben flussabwärts. Unter dem Brückengewölbe sah ich zwei Gestalten liegen. Die eine fuchtelte kraftlos mit beiden Armen in der Luft herum. Die andere rührte sich überhaupt nicht. In dem Augenblick begriff ich, dass ich zu spät gekommen war. Fluchend spurtete ich los.

Die beiden Berber sahen sich zum Verwechseln ähnlich: Lange graue Haare, weiße Rauschebärte wie Weihnachtsmänner. Zum Glück hatte der Cop Blackwoods alte Uniformhosen erwähnt. An ihnen erkannte ich den Mann. Er lag auf der Seite. Ich drehte ihn um. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Blankes Entsetzen brannte in seinem Blick. Er zuckte rhythmisch mit beiden Schultern, als würde er versuchen nach Luft zu schnappen. Aus seiner Brust ragte ein kurzer, buntgefiederter Pfeil. Ich riss ihn heraus. Einen zweiten fand ich in seinem Oberschenkel.

Dem anderen Berber steckte der Pfeil in der Halsschlagader und vibrierte bei jedem Pulsschlag. Ihn zu entfernen, hätte ihm allenfalls noch eine zweite Todesursache beschert. "Ich hab' sie!", bellte ich in mein Handy. "Der Killer muss sie von einem Boot aus angegriffen haben! Alarmieren Sie die Ambulanz und kommen Sie so schnell wie möglich her!"

Ohne zu überlegen, presste ich meine Lippen auf Blackwoods bärtigen Mund und blies meinen Atem in ihn hinein. Das Mädchen, das ich zuletzt geküsst hatte, kam mir in den Sinn. Wenn die Situation nicht so verdammt ernst gewesen wäre, hätte ich gelacht.

Während ich versuchte, die Lungen des Mannes aufzublasen, erinnerte ich mich an mein medizinisches Seminar auf der FBI-Akadamie: Zwei bis drei Minuten konnte es ein Gehirn ohne Sauerstoff durchhalten. Eine knappe Minute war es her, dass ich die beiden entdeckte und das Boot davonfahren sah. Wie viele Sekunden oder Minuten zuvor mochten sie von den Pfeilen getroffen worden sein? Zwecklos, sich darüber Gedanken zu machen. Die Chance für Blackwood war lächerlich klein. Aber immerhin war es eine Chance. Ich blies in ihn hinein, was das Zeug hielt. Er stank entsetzlich nach Schnaps.

Ich merkte schnell, dass es keinen Sinn hatte. Sein Brustkorb wollte und wollte sich nicht heben. Ich klappte seine Kiefer auseinander: Die Zunge war ihm so weit in den Schlund gerutscht, dass sie wie ein Korken auf dem Kehlkopf saß. Verdammt - ich war FBI-Agent und kein Arzt! Milos Small Talk mit seiner kühlen Ärztin fiel mir ein - Luftröhrenschnitt. Ich tastete nach meinem Taschenmesser. "Schön, Dr. Trevellian - und was dann?", schimpfte ich mit mir selbst.

Ich sprang auf, hechtete die Treppe hoch und rannte zurück zur Kreuzung. Die Ampel stand auf rot, und ich riss die Beifahrertür des nächstbesten Wagens auf. "FBI!", brüllte ich den Fahrer an. "Öffnen Sie die Motorhaube!" Ich muss einen ungeheuer überzeugenden Eindruck auf den Mann gemacht haben. Er gehorchte augenblicklich. Ich stemmte die Kühlerhaube hoch, riss den Schlauch heraus, der vom Flüssigkeitsbehälter zur Scheibenwischanlage führte, und spurtete zurück ans Flussufer. Noch im Laufen zog ich das Taschenmesser heraus und stutzte den Schlauch auf etwa zwanzig Zentimeter zurecht.

Blackwood hatte die Augen inzwischen geschlossen. Sein Puls war kaum noch zu fühlen. Der Pfeil im Hals des zweiten Berbers hatte aufgehört zu vibrieren. Ich versuchte, nicht hinzuschauen und wühlte hektisch in Blackwoods verfilztem Bart herum, bis ich endlich knapp unter dem Kehlkopf die Luftröhre tastete. Das Taschenmesser in meiner Hand zitterte, merkwürdig - wahrscheinlich vibrierte die Erde ... Ich holte tief Luft, konzentrierte mich, und dann: Ein kräftiger Schnitt, das Blut spritzte, und ich schob den Schlauch in die klaffende Wunde. Zum Teufel - für so etwas musste es doch einen Orden geben! Dann blies ich ihm die Luft in die Lungen. Jetzt endlich hob und senkte sich sein Brustkorb.

Ich dachte an Milo. Wenn ich ihm das erzählen würde, würde er sich beglückwünschen, das längere Streichholz gezogen zu haben. Mein Hemd klebte mir schweißnass am Körper. Ich blies und blies, und nahm mir vor, mich von Blackwood zum Bier einladen zu lassen, falls er das überlebte. Und wenn es ihn seine letzten zusammengebettelten Cents kosten würde! Von Weitem näherte sich die Sirene des Ambulanzwagens.



23

Gino sah auf die Uhr. 21.20 Uhr. In zehn Minuten würde sein Ultimatum ablaufen. Er betrachtete seine elf Geiseln. Regungslos lagen sie dicht zusammengedrängt auf dem Teppich. Manche hielten sich an den Händen fest, manche zitterten, einige schluchzten. Verdammte Scheiße! Er hatte keinen Bock noch jemanden abzuknallen! Aber er würde es tun - ja das würde er, so wahr er DaCosta hieß und fast zwanzig Jahre hinter Gittern gesessen hatte - er würde es tun, denn zwanzig Jahre waren weiß Gott genug!

Er stand auf und stieß das Mädchen, deren Strumpfhose er sich über den Kopf gezogen hatte, mit der Schuhspitze in die Rippen. "Aufstehen!" Er hatte sich die Maske übergezogen, bevor er die Geisel mit seinem Ultimatum losgeschickt hatte. Diese Leute hatten schon viel zu viel von seinem Gesicht gesehen. Aber durch den Schrecken sicher noch nicht genug, um eine brauchbare Beschreibung von ihm abgeben zu können.

Er zwang das Mädchen, sich in den Türrahmen der Balkontür zu stellen. "Du rührst dich nicht vom Fleck, verstanden?", zischte er ihr ins Ohr. Er wollte vermeiden, dass die Scharfschützen, die in den Häusern auf der anderen Straßenseite vermutete, in das Zimmer hineinschießen konnten.

Er sah sich die jungen Männer unter seinen Gefangenen genauer an. Einer mit einem bunten Tuch auf dem Kopf hatte ungefähr seine Größe und Statur. Er befahl ihm, sich auszuziehen und riss sich selbst ebenfalls Jacke, Hemd und Hose vom Leib. Die Geisel musste die Sachen anziehen, und Gino schlüpfte in das T-Shirt und die zerrissenen Jeans des jungen Mannes. Auch dessen große Sonnenbrille setzte er auf. Das Tuch band er sich so um den Kopf, das sein Gesicht weitgehend verborgen blieb. Dann stülpte er dem zitternden Jungen die Strumpfhose über den Schädel. "Scheiß dir nicht die Hosen, Mann!", herrschte Gino ihn an.

Er zwang ihn, sich vor die Wohnungstür zu knien. "Wenn du Quatsch machst, töte ich dich, glaub mir das, ich töte dich." Der Junge nickte hastig. Gino fesselte drei der Geiseln die Hände auf den Rücken und ließ sie ebenfalls zu Tür gehen.

Dann stieß er das wimmernde Mädchen zur Balkontür hinaus. "Raus mit dir!" Er wartete, bis sie ganz vorne an der Balkonbrüstung stand und den Metallgriff umklammerte. Sie schaute krampfhaft nach links, um die Leiche rechts unter sich nicht angucken zu müssen. Gino schlich geduckt bis unter den Türrahmen der Balkontür. "Hören Sie, Mann!", rief eine Stimme von links. "Lassen Sie uns einen vernünftigen Kompromiss finden, Sie kriegen Ihren Hubschrauber!"

Irgendwo da draußen, wahrscheinlich im Nachbarapartment, hingen irgendwelche Bullen an einem Fenster, und versuchten seit über einer halben Stunde, ihn in ein Gespräch hineinzuziehen. Jetzt reagierte Gino zum ersten Mal auf sie. "Hört zu, ihr Labersäcke - es ist zwei Minuten vor halb zehn. In genau hundertzwanzig Sekunden höre ich einen Hubschrauber oder ihr hört einen Schuss!"

Das Mädchen heulte laut los, die Stimmen links am Fenster verstummten. Gino kniete sich hinter die Heizung und umklammerte das Griffstück seiner Magnum mit beiden Händen. Er legte auf das heulende Mädchen an und wartete.



24

"Sheridon an Tucker, wir sind vor der Tür in Stellung gegangen", sagte die Stimme in Milos Ohr.

"Verstanden", Milo klickte den Karabinerhaken des Seils in den Stützgurt um seine Hüften. "Was ist mit den Blendgranaten?", fragte er in das Mikro seines Walkie-Talkie.

"Es kann losgehen, wir stehen auf den Leitern", gaben die Männer durch, die vom Balkon des elften Stockes aus angreifen wollten.

"Ist der Mann zu erkennen?" Die Frage galt den Scharfschützen im Bürohaus gegenüber.

"Im Augenblick können wir ihn nicht sehen. Er muss irgendwo im Zimmer hocken, wahrscheinlich neben der Balkontür", quäkte eine Stimme in Milos Ohr, "ich könnte schwören, dass er auf das Mädchen angelegt hat."

"Haben Sie ihn schon mal im Zielfernrohr gehabt?", fragte Milo.

"Ja", antwortete die Stimme, "mittelgroß bis klein, schlank, dunkles Jackett. Er hat sich eine Strumpfmaske übergezogen."

Unter sich hörte Milo eine Frau weinen. Er schaute auf die Uhr: 21.29 Uhr. "Wenn der Hubschrauber nicht bald kommt, sehe ich schwarz", flüsterte er.

"Wir können den Helikopter schon hören", kam die Antwort von der anderen Seite der Straße. Milo lauschte in den Abendhimmel. Das dumpfe Donnern von Rotoren näherte sich und übertönte bald die verzweifelt heulende Frauenstimme auf dem Balkon unter ihm. Er nickte den beiden Männern zu, die das Seil hielten, an dem er befestigt war. Dann stieg er auf die Balkonbrüstung. "Ich bin so weit", flüsterte er in sein Walkie-Talkie, "von mir aus kann es losgehen." Behutsam begann er sich abzuseilen.



25

Befriedigt ließ Gino den Lauf seiner Magnum sinken. Die Bullen schienen sein Ultimatum ernst zu nehmen. Der Rotorenlärm wurde immer lauter. Jetzt konnte er die Maschine als kleinen Punkt über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser ausmachen.

Das Mädchen hatte aufgehört zu heulen. Ihr Körper schien wie erstarrt. Sie fixierte einen Punkt irgendwo links unter dem Balkon und schien den Atem anzuhalten. Was zum Teufel sah sie da?! Irgendetwas war faul! Gino warf sich herum und schlug auf einen Schalter an der Innenseite des Fensterrahmens. Die Jalousien begannen sich quälend langsam herabzusenken. Das Donnern der Helikopterrotoren dröhnte jetzt direkt über dem Haus.

Gino Nerven vibrierten. Er stieß die Balkontür zu und stürzte zu den vier Geiseln an der Tür. Eine zog er als Schutzschild vor seinen Körper. Die anderen zerrte er an seine Seite. "Ich knall euch ab, wenn ihr nicht spurt!" Etwas schlug hart an die Jalousien, dann eine eine dumpfe Explosion draußen auf dem Balkon. Die Fugen der Jalousie leuchteten grell auf, die Geiseln auf dem Teppich schrien.

Gino riss die Tür auf. Ein halbes Dutzend Männer lag oder kniete davor, Pistolen im Anschlag. "Den Aufzug!", brüllte Gino und bückte sich hinter die Körper der Geiseln. Einer der Männer holte den Lift. "Auf den zwanzigsten Stock stellen", keuchte Gino. Der Mann drückte den Knopf und gab die Aufzugtür frei. Gino zerrte und stieß die Geiseln zum Aufzug. Die Tür schob sich zu, der Lift fuhr an.

Gino drückte auf die neunzehnte Etage. Dort sprang er mit einer der Geiseln heraus, einer jungen Frau. "Ihr fahrt ganz nach oben!", sagte er zu den anderen. Die Tür schloss sich, Gino hastete ins Treppenhaus.

Wenn seine Rechnung aufging, würden die Bullen im Moment an zwei Geiselnehmer glauben und im zwanzigsten Stock auf den Aufzug warten. Wenn er großes Glück hatte, hielten sie den Jungen mit seinen Klamotten für den Geiselnehmer. Ein paar Sekunden würde er in jedem Fall gewinnen. Sekunden, die entscheidend sein konnten. Von unten hörte er Schritte die Treppen hochspurten. Natürlich hatten die Bullen geschnallt, dass der Lift im neunzehnten Stock gehalten hatte.

Er rannte die Stufen hoch und zerrte die gefesselte Frau hinter sich her. Als er die Tür zum zwanzigsten Stock passierte, hörte er Schüsse. Ein paar Sekunden später war er auf dem Dach.



26

Das Geräusch war nicht vorgesehen. Milo hörte es erst, als der Helikopter hinter der Dachkante des Hauses verschwunden war. Es hörte sich so ähnlich an, wie die elektrische Saftpresse, mit der Milo sich morgens seine Orangen auspresste.

"Lasst mich runter, schnell!", flüsterte er in das Mikro. Die Männer oben ließen ihn herunter. Jetzt fiel es Milo auf, dass die Frau aufgehört hatte zu weinen. Steif wie eine Schaufensterpuppe stand sie an der Balkonbrüstung. Die Jalousien vor der Fensterfront wanderten langsam nach unten und berührten schon fast den Boden.

"Mist!", stieß Milo hervor. "Lasst um Himmels Willen die Blendgranaten aus dem Spiel!", rief er. Gleichzeitig zog er sich ein Stück hoch und presste das Gesicht an die obere Balkonbrüstung. Im selben Augenblick hörte er die Granate krachend auf dem Plastik der Jalousie aufschlagen. Trotzdem Milo seine Augenlider zusammenkniff, hatte er das Gefühl im Zentrum einer Flutlichtanlage zu stehen.

Die Frau unter ihm schrie kreischend auf. Milos Schuhspitzen suchten das Geländer über der Brüstung, und er kletterte zu dem Mädchen auf den Balkon. Sie war außer sich vor Angst. "Es ist gut, Mädchen, es ist alles gut!" Wie aus dem Unsichtbaren tauchten die zwei Beamten von unten neben ihm auf. Wie Milo trugen sie kugelsichere Westen.

Das Mädchen verstummte erst, als Milo ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Sie presste beide Hände vor ihre geblendeten Augen. "Sorry, Miss - war nicht so gemeint", er nahm sie tröstend in den Arm.

"Sheridon an Tucker", quäkte es in Milos Ohr.

"Höre."

"Sie sind mit den Geiseln unterwegs in den zwanzigsten Stock", Sheridons Stimme klang atemlos, als würde er gerade einen Kurzstreckensprint hinlegen.

"Wieso >sie<?", rief Milo.

"Sieht ganz so aus, als wären es zwei", hechelte Sheridons Stimme.

Zu dritt traten sie die Jalousie ein. Im dunklen Zimmer erkannte Milo ein Menschenknäuel. Dicht zusammengedrängt kauerte es in einer Zimmerecke. "Das Gröbste haben Sie überstanden", rief Milo ihnen zu und rannte auf die offene Wohnungstür zu, "es kommt gleich jemand, der sich um Sie kümmern wird!"

Er stürmte ins Treppenhaus. Von oben hallten Schüsse. Milo schaffte die acht Stockwerke in nicht mal einer Minute. Als er auf dem Dach ankam, hatte er weder Zeit noch Lust, sich zu seiner Kondition zu beglückwünschen. Erstens kam er zu spät, zweitens spritzte ihm Blei um die Ohren. Er warf sich auf den Boden, brachte seine Smith & Wesson in Anschlag und versuchte zu erkennen, was etwa zwanzig Meter vor ihm, am offenen Seitenschott des Helikopters vor sich ging.

Ein Mann mit Sonnenbrille und verhülltem Kopf schoss wild um sich und hielt dabei eine Frau vor sich fest. Er zerrte sie hinter sich her in den Hubschrauber. Milo zielte, sein Finger krümmte sich um den Abzug - und er ließ den Revolver sinken. Es war einfach unverantwortlich abzudrücken. Fifty-fifty, dass er die Frau traf. Der Kerl schob die Tür zu, und der Helikopter hob ab.

Milo erhob sich ächzend. Er verfluchte seinen Plan, er verfluchte diesen verdammten Killer, er verfluchte die Tatsache, dass er das längere der beiden Streichhölzer gezogen hatte. Die Maschine entfernte sich nordöstlich in Richtung Küste. Die Enttäuschung kroch Milo wie bittere Galle den Hals herauf. "Scheiße!", brüllte er und stampfte wütend auf.

Aus verschiedenen Ecken des Daches tauchten nach und nach Männer mit Waffen und in kugelsicheren Westen auf. Sie vermieden es, sich anzuschauen und versammelten sich um den leblosen Körper eines etwa dreißigjährigen Mannes. Er lag in einer Blutlache, die aus einem riesigen Loch in seiner Schädeldecke gespeist wurde und schaute ebenfalls niemanden an. Seine gebrochenen Augen starrten erstaunt in den Himmel. An seiner Schulter färbte sich der Stoff seiner kugelsichere Weste langsam dunkelrot. "Scheiße!", brüllte Milo noch einmal.



27

Ich stützte mich auf das Dach des Streifenwagens und beobachtete, wie die Sanitäter die Trage mit Blackwood in den Ambulanzwagen schoben. Eine Ärztin stand neben ihm. Im Dreisekundentakt presste sie mit beiden Händen einen schwarzen Plastikball zusammen, der mit einem Schlauch in Blackwoods Hals verbunden war. Nicht mit dem Schlauch der Scheibenwaschanlage, den ich benutzt hatte. Der lag jetzt irgendwo unter der Brücke.

Wenn ich der Ärztin glauben durfte - und sie machte ganz den Eindruck einer ehrlichen Frau - hatte ich mit meinem Taschenmesser und diesem lächerlichen Schlauch Blackwoods Leben gerettet. Ich betrachtete meine blutverschmierten Hände und schüttelte ungläubig den Kopf. Völlig unbegreiflich, wie ich das zustande gebracht hatte.

Der Cop, der immer noch kein Wort mit mir gesprochen hatte, zündete sich eine Zigarette an. Eine Zigarette, das war genau das, was mir jetzt guttun würde. "Haben Sie mal eine für mich, Kollege?", fragte ich ihn. Wenn er den FBI schon nicht mochte, sollte er ihm wenigstens eine Zigarette spendieren. Wortlos hielt er mir die Schachtel hin. Ich griff schnell zu, damit er das Zittern meiner Finger nicht sehen konnte.

Nach dem zweiten Zug kriegte ich eine Wut auf den Burschen, der mir das eingebrockt hatte. Ich schwor mir, ihm das heimzuzahlen. In dem Augenblick dachte ich zum ersten Mal seit einer halben Stunde wieder an meinen Partner. Milo wusste vielleicht schon mehr über diesen verfluchten Killer.

"Fahren Sie mich bitte zu der Adresse dieses Anwalts", bat ich die Cops und stieg ein.

Es dämmerte bereits, als wir vor dem Haus hielten, in dem er wohnte. Der Eingang stand offen, und eine Menge Leute gingen ein und aus. Streifenwagen, Leichenautos und zwei Ambulanzen standen vor dem Haus. Ich erkannte zivile Männer vom FBI und Mitarbeiter der Gerichtsmedizin. Ich begann zu ahnen, dass Milo ähnlich aufregende Stunden hinter sich hatte wie ich. Ein zweiter, viel zu langer Blick auf die Leichenwagen ließ meinen Magen aufheulen. Hoffentlich hatte Milo noch viele aufregende Stunden vor sich!

Ich spurtete ins Haus und sprach den Erstbesten an, der mir entgegenkam. Das war ausgerechnet ein Mann in schwarzer Uniform - ein Bestatter. Zusammen mit einem uniformierten Polizisten trug er eine Bahre mit einer Leiche aus dem Haus. "Haben Sie einen Mr. Tucker vom FBI gesehen?" Die Frage fiel mir nicht leicht.

"Oben im zwanzigsten steht einer, den sie so angesprochen haben", schnarrte der Kerl, ohne mich anzuschauen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Wesentlich entspannter wartete ich auf den Aufzug.

Als die Aufzugtür sich im zwanzigsten Stock auseinanderschob, sah ich als Erstes zwei Männer in weiß, die sich am leblosen Körper eines jungen Mannes zu schaffen machten. Auf der entblößten Brust des Jungen klebten Elektroden, aus seinem Mund ragte ein grünlicher, steifer Schlauch. Seufzend wandte ich mich ab. Mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht gar nicht so schlecht bedient gewesen war mit dem erstickenden Berber.

"Hi, Jesse", Milo stand bei einem Mann, der rauchend an der Tür zum Treppenhaus stand und seine Schuhspitzen anstarrte. Später erfuhr ich, dass er Sheridon hieß und eine Geisel angeschossen hatte, weil er sie für den Geiselnehmer gehalten hatte. Milo klopfte ihm auf die Schulter und kam zu mir. Er schob mich in den Aufzug zurück und drückte auf >Erdgeschoss<. Meinen fragenden Blick quittierte er mit einem müden Winken. Er sah aus wie ein Mann, der zehntausend Dollar beim Pferderennen verloren, und die Tage danach in einer Bar, statt im Bett verbracht hatte.

"Nichts wie weg hier", stöhnte er.

"Sag bloß, du hast eine Niete gezogen", ich zog mein abgebrochenes Streichholz aus der Hosentasche und steckte es mir zwischen die Zähne.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2023
ISBN (ePUB)
9783738974669
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (April)
Schlagworte
thriller quartett vier krimis band

Autoren

  • Alfred Bekker (Autor:in)

  • Pete Hackett (Autor:in)

  • Thomas West (Autor:in)

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Titel: Thriller Quartett 4041 - Vier Krimis in einem Band