Zusammenfassung
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Als Tim und Marrela die Seattle erreichen, wird ihnen PROTO gestohlen. Um ihn wiederzubekommen, müssen sie in der Manege der Freaks etwas besonderes darstellen. Nur dann kommen sie ins Nih'wana, wo sich das Gefährt nun befindet. Tim kann mit Schießkünsten überzeugen, aber Marrela als Clown weckt seine Skepsis.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Lennox und die Manege der Freaks: Das Zeitalter des Kometen #54
von Lloyd Cooper
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Als Tim und Marrela die Seattle erreichen, wird ihnen PROTO gestohlen. Um ihn wiederzubekommen, müssen sie in der Manege der Freaks etwas besonderes darstellen. Nur dann kommen sie ins Nih'wana, wo sich das Gefährt nun befindet. Tim kann mit Schießkünsten überzeugen, aber Marrela als Clown weckt seine Skepsis.
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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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1
Hoch flogen die Messer in die Luft. Ihre scharfen Klingen blitzten im Sonnenlicht. Die Jongleurin fing sie geschickt auf und verneigte sich.
Der Mann auf dem Thron wuchtete seinen massigen Körper in die Höhe. „Fantastisch! Was für eine Darbietung!“ Er stieg die Stufen herab und umarmte die Jongleurin herzlich. „Großartig.“ Dabei zog er mit einer plumpen, aber geübt wirkenden Bewegung ein Messer aus den Falten seiner Toga und rammte es ihr ins Genick. Die junge Frau sackte lautlos in seinen Armen zusammen.
„Wundervoll“, flüsterte der Mann, während er sie sanft zu Boden sinken ließ. „Ganz wundervoll.“
*
Ende Oktober 2545
„Come as you are, as you were …“ Tim sang leise vor sich hin. Marrela saß mit geschlossenen Augen neben ihm und döste. Im Rückspiegel hing eine blassgelbe Sonne tief über dem Horizont. Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Am Morgen hatte es angefangen zu schneien. Die grauen Wolken, die dem Tag das Licht raubten, kündigten noch mehr Schnee an.
Willkommen in Washington State, dachte Tim. Dem Regenloch Amerikas.
Sein Großvater hatte eine Jagdhütte in den Regenwäldern südlich von Seattle besessen. Die Hütte gab es wohl seit Jahrhunderten nicht mehr und auch die Wälder waren verschwunden. Tim steuerte PROTO durch eine hügelige, karge Landschaft: gelbes hartes Gras, grauer Fels und Nadelbäume. An einigen geschützten Stellen lag Schnee.
Sie fuhren nach Norden, Richtung Kanada. Von den Schwarzen Philosophen hatten sie seit Hunderten von Kilometern nichts mehr gesehen. Sie durften also hoffen, dass ihr Täuschungsmanöver mit dem Klon funktioniert hatte und sie ihn für tot hielten. Jetzt ging es darum, möglichst rasch über die Land- und Eisbrücke von Alaska nach Russland zu gelangen und dann weiter nach Nepal. Dort hatten sie sich mit Fanjur verabredet, Fanlurs Sohn, der nach dem Hauptquartier der Philosophen forschen wollte. Anhand des Symbionten, den er stets bei sich trug, würden sie ihn punktgenau lokalisieren können. Denn das lebende, formbare Gewebe war als Artefakt gekennzeichnet und wurde vom Scanner angezeigt.
Ob er inzwischen erfolgreich gewesen war? Immerhin lag es schon ein halbes Jahr zurück, dass sie sich in Marseille getrennt hatten. Hoffentlich nicht zu erfolgreich; Tim wusste um Fanjurs ungestümen Charakter und hoffte, dass sich der Junge nicht zu weit vorgewagt hatte, sondern – wie versprochen – beobachtete und abwartete, bis er und Marrela zu ihm stießen.
Das Wetter war während der letzten Tage beständig schlechter geworden, die Siedlungen seltener. Doch nun sah Timothy Anzeichen einer größeren Stadt. Sie rollten ab und zu an Menschen vorbei, die Karren hinter sich herzogen oder erlegtes Wild auf den Schultern trugen. Manche sprangen beim Anblick des Amphibienpanzers erschreckt zur Seite oder fielen auf die Knie, aber die meisten blieben nur kurz stehen und gingen dann weiter. Die Menschen lebten in einer seltsamen Welt und hatten sich an seltsame Dinge gewöhnt.
„Come as you are, as you were …“
PROTO fuhr einen steilen Hügel hinauf. Durch die Cockpitscheibe sah Tim einen Mann, der unter einem Felsvorsprung hockte und auf Dörrfleisch herumkaute. Er trug einen rotweiß gestreiften Plastikkegel auf dem Kopf, an dem kleine Glöckchen hingen. Als er PROTO sah, stand er auf, nahm den Kegel ab und verbeugte sich tief. Auf seine Glatze hatte er mit Asche einen Smiley gemalt. Tim schüttelte den Kopf. Leute gibt’s …
„Come as you are, as you were …“ Seit Stunden versuchte Tim, sich an die nächste Textzeile zu erinnern. Er war mit dem Song im Ohr aufgewacht; kein Wunder, wenn er daran dachte, welcher Stadt sie sich näherten. Umso unverzeihlicher war es, dass ihm die Zeile nicht einfiel.
Sie erreichten die Hügelkuppe. Tim bremste PROTO scharf ab und richtete sich im Fahrersitz auf. Vor ihm erstreckte sich ein Tal zwischen einem halb zugefrorenen See und dem grauen Meer. Hütten lehnten an den Ruinen ausgebrannter, moosüberzogener Hochhäuser. Rauch stieg von Hunderten Feuerstellen auf und verschwand im grauen Himmel.
Zwischen den Hütten erhob sich die Space Needle, das Wahrzeichen der Stadt. Der elegant geschwungene, fast schon filigran wirkende schmale Turm ragte fast zweihundert Meter hoch in den Himmel und endete in einer untertassenähnlichen Plattform, in der sich einmal ein Restaurant befunden hatte. Die Metallspitze, die auf ihr saß, war abgeknickt, aber sonst hatte die Space Needle die Jahrhunderte erstaunlich gut überdauert.
Schlingpflanzen und Moos wuchsen auf den Metallverstrebungen, und der Rauch der Feuerstellen hatte den einst weißen Turm schmutzig-grau gefärbt. Tims Blick blieb am unteren Teil der Space Needle hängen, der von einem riesigen Zelt verdeckt wurde. Bunte Fahnen flatterten im Wind. Tim war zu weit weg, um Menschen erkennen zu können, aber nach der Anzahl der Rauchsäulen zu urteilen, war dies das Zentrum der Stadt.
„Seattle“, sagte er leise. „Was haben sie nur mit dir gemacht?“
Marrela gähnte und öffnete die Augen. „Sind wir schon da?“
„Fast.“ Tim sah an der Stadt vorbei zu der Ursache seines Bremsmanövers. Ein gewaltiger Gletscher erhob sich hinter Seattle. Seine Ausläufer ragten weit ins Land hinein, und er war so hoch, dass er mit den Wolken zu verschmelzen schien. Er musste Hunderte Kilometer breit sein. „Die Frage ist nur“, sagte Tim, „wie kommen wir hier weiter?“
2
Marrela betrachtete die Eiswand durch PROTOs Scheiben. Sie sah aus wie eine gewaltige Welle, die die Siedlung unter sich hatte begraben wollen, aber mitten in der Bewegung eingefroren worden war.
Vielleicht hat Wudan dafür gesorgt, dass die Stadt verschont blieb, dachte Marrela, ohne es auszusprechen. Sie wusste, dass Tinnox Probleme mit Göttern hatte. Er hätte ihr nur erklärt, wie ein Gletscher entstand.
„Seattle war eine der besten Städte Amerikas“, sagte er gerade, während PROTO langsam den Hügel herunterfuhr. „Ich habe damals versucht, mich hier stationieren zu lassen, aber es hat nicht geklappt.“
Marrela betrachtete die Ruinen und die kleinen ärmlichen Hütten, die sich an sie lehnten. Im Schneegestöber wirkte alles grau.
„Wieso wolltest du hierher?“
Tinnox hob die Schultern. „Es war eine Stadt, die neue Impulse hervorbrachte, in der viel passierte. Grunge, Kurt Cobain … ich weiß noch genau, wo ich war, als ich von seinem Tod erfuhr.“
„Wer war er?“, fragte Marrela. Sie ahnte, dass sie nach der Antwort nicht schlauer sein würde als vorher, aber sie bemühte sich auch nach all der Zeit noch, die Welt, die er hinter sich gelassen hatte, zu verstehen. Ihre Vorfahren hatten schließlich in ihr gelebt. Es war auch ihre Vergangenheit, irgendwie.
„Ein Sänger“, sagte Tinnox. Er lenkte PROTO auf die schmale Straße, die gerade wie ein Pfeil auf die Stadt zuführte. Karren hatten tiefe Spuren in den halbgefrorenen Lehm gegraben. „Er sang in einer Band … in einer Musikantentruppe namens Nirvana. Ihre Musik drückte das Lebensgefühl einer ganzen Generation aus.“
„Wie ist er gestorben?“ Marrela entdeckte einen großen, von einer Androne gezogenen Karren, der in einiger Entfernung neben der Straße stand. Einige Männer hielten sich in seiner Nähe auf.
„Er hat sich erschossen“, sagte Tinnox.
„Wenn er so gesungen hat wie du, kann ich das verstehen.“ Es war nicht als Scherz gemeint, nur als Feststellung, aber Tinnox lachte trotzdem leise.
„Nein, hat er nicht.“
Marrela hörte die Traurigkeit hinter dem Lachen. Er würde seine Welt immer vermissen, egal, wie lange er in ihrer lebte.
Schweigend fuhren sie weiter. Marrela strich sich über die Haare. Es war eine unbewusste Geste, die ihr erst bewusst wurde, als ihre Finger die Haut ihres Nackens berührten. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, wie kurz ihr Haar jetzt war. Ihr Kopf fühlte sich leichter an, seit sie es geopfert hatte, um Tinnox zu retten, und es kitzelte nicht mehr auf ihren nackten Schultern, wenn sie sich nachts zum Schlafen hinlegte.
Es wird nachwachsen, dachte sie. Der Gedanke tröstete sie.
„Was ist denn da los?“ Tinnox zeigte auf den Karren, dem sie nun deutlich näher gekommen waren. Marrela sah, wie hoch er beladen war, aber nicht, was sich unter der mit groben Stricken festgezurrten Plane befand. Vier Männer standen ein paar Schritte von dem Karren entfernt im Gras. Drei von ihnen umringten einen vierten. Der hatte die Hände erhoben.
„Der Typ scheint Ärger zu haben“, sagte Tinnox und stoppte PROTO.
„Er hat Ärger, nicht wir.“ Marrela legte ihm die Hand auf den Arm. „Du weißt nicht, worum es geht. Die drei Männer könnten Gesetzeshüter sein, die einen Dieb gefangen haben.“
„Oder es sind Diebe, die einen Gesetzeshüter gefangen haben.“ Tinnox lächelte. „Das werden wir erst herausfinden, wenn wir mit ihnen reden.“
Er fuhr PROTO rückwärts in eine Senke neben dem Weg. Die Männer waren nun nicht mehr zu sehen, aber dafür konnten sie den Amphibienpanzer auch nicht sehen. Marrela glaubte nicht, dass sie ihn bereits bemerkt hatten. Das Schneegestöber war dicht, der Wind heulte und die Männer waren abgelenkt.
„Du willst dich ihnen stellen?“, fragte sie.
„Warum nicht?“ Tinnox klopfte auf den Griff seiner Laserpistole. „Ist ja nicht so, als wäre ich wehrlos.“ Er zuckte die Schultern und fügte hinzu: „Außerdem ist das eine gute Gelegenheit, mehr über die Stadt und ihre Bewohner zu erfahren.“
Er ließ die Rampe herunter und stand auf, bevor Marrela einen weiteren Einwand vorbringen konnte. Seufzend nahm sie ihr Schwert, das wie immer neben ihrem Sitz lag, und folgte ihm nach draußen. Sie wusste, dass sie Tinnox nicht von seinem Plan abbringen würde. Er hatte ein für ihre Welt äußerst ungesundes Gerechtigkeitsempfinden, das ihn immer wieder in Schwierigkeiten brachte. Und sie mit ihm.
Ein Teil von ihr liebte ihn dafür, dass er nicht bereit war, sich der allgegenwärtigen Barbarei anzupassen, ein anderer wünschte sich, er würde wenigstens ab und zu einfach nur den Blick abwenden.
Es war kalt. Eiskristalle knirschten unter Marrelas Stiefelsohlen, als sie in das gelbe Gras trat. In der Luft hing eine unangenehme Feuchtigkeit, die ihre Kehle zum Husten reizte. Marrela zog sich den Umhang enger um ihren Körper.
„Das Wetter war hier schon vor fünfhundert Jahren scheiße“, sagte Tinnox. Marrela verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass es nicht ihre Idee gewesen war, auszusteigen.
Mit gesenktem Kopf kletterte sie neben ihm die Senke hinauf. Der Wind klatschte ihr Schneeflocken ins Gesicht. Sie waren so feucht, dass sie an ihrer Haut kleben blieben. Sie spürte, wie die Kälte ihr vom Nacken über den Rücken kroch, und vermisste ihr langes Haar noch mehr.
Als sie die Senke hinter sich ließen, konnte Marrela den Karren und die Männer wieder sehen. Die Szene hatte sich verändert. Der kleine Mann hockte nun am Boden. Er hatte stark gelocktes, braunes Haar, das seinen Kopf wie einen Helm umschloss, und trug einen dicken Pelzumhang. Die anderen drei Männer beugten sich einschüchternd über ihn. Zwei von ihnen trugen Kurzschwerter, der dritte – bei Wudan, ist der groß! – einen Kriegshammer mit langem Holzstiel.
Marrela konnte kaum den Blick von ihm nehmen, so imposant war seine Erscheinung. Selbst Tinnox stockte einen Moment, bevor er weiterging. Der Mann war einen Kopf größer als er und doppelt so breit. Der Kriegshammer wirkte in seinen Fäusten wie ein Spielzeug, die Männer neben ihm wie Kinder.
„Je größer, desto blöder, richtig?“, sagte Tinnox über das Heulen des Windes hinweg, aber er klang nicht mehr so selbstsicher wie zuvor.
Sie kamen bis auf einen Steinwurf heran, bevor die Männer sie bemerkten. Der Riese hob den Kopf und musterte sie aus blassblauen Augen. Marrela sah die Intelligenz darin funkeln. Er war nicht blöd, ganz und gar nicht. Und noch etwas anderes fiel ihr auf. Seine Hände waren zwar vernarbt, aber sein Gesicht und der rasierte Schädel waren makellos. Niemand hatte ihn je ernsthaft verletzt.
Im Gegensatz zu ihm sah man den anderen beiden Männern die Kämpfe an, die sie ausgefochten hatten. Der Schlankere von beiden hatte nur noch ein Auge und eine Handvoll Zähne. Die Nase des Dickeren, dessen Bauch unter einer schlecht sitzenden Brustplatte hervorquoll, war so oft gebrochen worden, dass sie wie ein roter Fleischklumpen in der Mitte seines Gesichts saß. Eine lange Narbe zog sich über Stirn und Wange.
Der am Boden hockende Mann drehte den Kopf, als er den Blick des Riesen bemerkte. Seine Augen waren sanft und freundlich, seine Haut glatt. Er war kein Mann der Gewalt, das sah Marrela sofort. Er würde sich gegen den Riesen und seine Begleiter nicht durchsetzen können.
„Oh, hallo“, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Blut verklebte seinen Vollbart. Seine Unterlippe war aufgesprungen. Jemand hatte ihn geschlagen.
„Hallo.“ Tinnox erwiderte das Lächeln. „Gibt es hier irgendein Problem?“
Er sprach mit dem Mann am Boden, aber er ließ den Riesen nicht aus den Augen. Marrela schlug den Umhang zurück, damit sich ihre Arme nicht darin verfangen konnten, sollte sie ihr Schwert benutzen müssen.
„Nein, alles in Ordnung“, sagte der Mann am Boden. Marrela spürte seine Angst, auch wenn er sie nach außen hin gut verbarg. „Wir reden nur ein wenig.“
„Ja? Worüber denn?“
„Dies und das.“ Der Mann hob die Schultern. „Das Wetter ist scheiße, die Steuern sind zu hoch, so was in der Art.“
„Wäre es nicht angenehmer, darüber an einem Feuer zu reden?“, fragte Tinnox. Marrela verstand, weshalb er die Unterhaltung in die Länge zog. Er versuchte, den Riesen einzuschätzen. Die anderen beiden Männer spielten keine Rolle. Es ging nur um ihn. Aber der Hüne beobachtete gleichzeitig ihn und Marrela. Sie fragte sich, was er sah.
„Es ist schön, mal rauszukommen“, sagte der Mann am Boden. „Die frische Luft tut …“
„Verpisst euch!“ Nicht der Riese unterbrach ihn, sondern Einauge. Er hatte eine unangenehme Stimme, die wie Eisen klang, von dem man den Rost kratzte.
Er hob sein Kurzschwert. Narbengesicht trat neben ihn. Den Mann am Boden beachteten beide nicht mehr. Von ihm ging keine Gefahr aus.
Tinnox legte die Hand auf den Griff seiner Laserpistole. „Und wenn nicht?“
Einauge und Narbengesicht warfen einen Blick auf den Hünen, der ruhig hinter ihnen stand und sich nicht regte.
Sie wollen wissen, ob er dabei ist, dachte Marrela.
Der Riese nickte.
Einauge stieß einen wilden Schrei aus, riss sein Kurzschwert hoch und stürmte auf Tinnox zu. Marrela hob ihren Anderthalbhänder. Es ging los.
3
Einauge und Narbengesicht rannten los. Tim hatte gehofft, dass sich der Riese ihnen anschließen würde, aber er blieb stehen und sah dem Angriff nur zu. Narbengesicht bemerkte das im gleichen Moment. Er wurde langsamer, noch bevor er Tim erreicht hatte, und sah sich unsicher um. Sein Begleiter lief weiter. Das fehlende Auge verhinderte, dass er das Gleiche sah wie Narbengesicht.
Tim taten die beiden Männer fast schon leid. Sie waren zu alt und kaputt für diese Arbeit. Sie taugten nur noch für Drohgebärden und als Kanonenfutter. Und genau als das setzte der Riese sie in dieser Situation ein.
Einauge täuschte einen Schwertschlag von oben an, drehte aber im letzten Moment das Schwert in seiner Hand und stieß von unten zu. Die Finte überraschte Tim. Alt und kaputt, aber auch erfahren, dachte er, während er dem Stoß auswich und herumfuhr. Einauge wurde von seinem eigenen Schwung nach vorn getragen. Tim hämmerte ihm die Fäuste in den Rücken und hörte ihn aufschreien.
Er wartete nicht ab, ob Einauge zu Boden ging. Marrela würde sich um ihn kümmern.
„Bring ihn nicht um!“, rief er, als er sich Narbengesicht zuwandte. Der war stehen geblieben und zog ein schartiges Messer aus dem Gürtel. Tim hätte ihn mit einem Schuss niederstrecken können, aber er wollte niemanden töten. Es würde auch so gehen.
Narbengesicht sah sich erneut zu dem Hünen um, eine unausgesprochene Frage im Blick. Warum hilfst du uns nicht?, schien er sagen zu wollen. Der Riese reagierte nicht.
Tim nutzte Narbengesichts Unsicherheit für sich aus. Mit einem Satz war er bei ihm, tauchte unter dessen wilden Schwertschlägen und Messerstößen hinweg und rammte ihm die Schulter unterhalb der Brustplatte in den Bauch. Narbengesicht keuchte und taumelte rückwärts. Tim brachte ihn mit einem Tritt zu Fall. Zwei Faustschläge später lag er still.
Aus den Augenwinkeln sah Tim, wie Marrela Einauge ihren Schwertknauf gegen die Stirn hämmerte. Der Mann verdrehte das Auge und brach zusammen. Tim richtete sich auf.
Der Riese musterte ihn ruhig. Dass seine beiden Begleiter bewusstlos im Gras lagen, schien ihn nicht zu stören. Sein Blick glitt zu der Laserpistole an Tims Hüfte. „Was kann diese Waffe?“, fragte er mit tiefer, sonorer Stimme.
„Komm näher, dann zeig ich’s dir“, sagte Tim.
Der Riese lachte, drehte sich um und verschwand mit langen Schritten im Schneegestöber.
Deshalb hat er sie angreifen lassen, dachte Tim. Der Riese hatte die Laserpistole als Waffe erkannt und herausfinden wollen, zu was sie in der Lage war. Damit war er zwar gescheitert, aber es bewies, dass er nicht der tumbe Schläger war, für den ihn Tim gehalten hatte.
„Ich weiß nicht, warum ihr das getan habt …“ Die Stimme des Mannes am Boden riss ihn aus seinen Gedanken. „Aber danke. Vielen, vielen Dank.“ Der Mann stand auf und streckte die Hand aus. „Mein Name ist Bhobross.“
„Ich heiße Tinnox, das ist Marrela.“
Bhobross schüttelte zuerst ihm, dann Marrela enthusiastisch die Hand. Tim fiel auf, dass er nur wenige Schwielen an den Fingern hatte. In dieser Welt, in der fast jeder körperlich arbeitete, war das ungewöhnlich.
„Was wollten diese Männer von dir?“, fragte Marrela. Wie immer kam sie gleich zum Thema.
Bhobross fuhr sich durch das krause Haar. Das Zittern seiner Hand verriet, wie sehr ihn die Begegnung aufgewühlt hatte. „Mich zwingen, ihrer Künstlergilde beizutreten.“
Tim runzelte die Stirn. „Das waren Künstler?“
„Nein, das waren Schläger“, sagte Bhobross mit einem Tonfall, der erkennen ließ, dass er an Tims Intelligenz zweifelte. „Die Künstler sind diejenigen, für die sie arbeiten.“
Tim wollte ihm im ersten Moment erklären, dass ihm das schon klar gewesen sei, aber dann ließ er das Missverständnis auf sich beruhen. „Also kennst du diese Typen nicht.“
„Nein.“ Bhobross schüttelte den Kopf. Er hatte eine angenehme, sanfte Stimme. „Aber ich weiß, dass sie für die Auserwählten arbeiten. Die Gilde hat die letzten acht Talennshos gewonnen. Ihre Mitglieder feiern sich selbst als Lieblinge der Götter, deshalb der hochtrabende Name. Alle reißen sich um einen Platz in dieser Gilde.“
„Aber dich wollten sie zwingen, ihr beizutreten?“, fragte Marrela.
Bhobross lächelte. „Ich nehme an, dass sie die Konkurrenz fürchten, ob zu Recht, werden wir wohl noch erfahren.“
Tim hatte den Begriff Talennsho noch nie gehört, aber er nahm an, dass es sich um einen künstlerischen Wettbewerb handelte. Als er die entsprechende Frage stellte, nickte Bhobross. „Ihr müsst von weither kommen, wenn ihr das nicht wisst. Die Talennsho findet einmal im Jahr statt. Sie ist das bedeutendste Ereignis in Sjettle, wichtiger noch als das Kobeenfest.“
Das was?, dachte Tim, wurde aber von einer Bewegung am Boden abgelenkt. Einauge rührte sich nicht, aber Narbengesicht war aufgewacht, auch wenn er das zu verbergen suchte, indem er die Augen fest zusammenkniff und flach atmete.
„Lasst uns woanders weiterreden“, sagte Tim. „Hier ist es doch ziemlich ungemütlich.“
„Ich kenne eine gute Taverne in der Stadt, in die ich euch gern zum Dank einladen würde.“ Bhobross zeigte auf das Schwert, das Marrela immer noch in der Hand hielt. „Aber damit darfst du Sjettle nicht betreten. Nur die Herren der Stadt und ihre Soldaten haben das Recht, tödliche Waffen zu tragen.“
Marrela verzog das Gesicht. „Ich soll mich unbewaffnet unter Fremden bewegen?“
„Unter größtenteils ebenfalls unbewaffneten Fremden“, sagte Bhobross lächelnd. „Ich kann euch versichern, dass es dort wirklich recht sicher ist.“
Größtenteils unbewaffnet. Recht sicher. Das klang nicht gerade überzeugend. Doch Tims Neugier war geweckt. Er wollte mehr über die Stadt und ihre Talennsho erfahren – und herausfinden, wie er und Marrela den Gletscher überwinden konnten. Die Menschen lebten wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten mit der gigantischen Eiswand in ihrem Rücken. Wenn sie nicht wussten, wie man sie überwand, wer sonst?
„Lass das Schwert ruhig in PROTO“, sagte Tim. Er berührte kurz die Laserpistole an seiner Hüfte. „Wir haben immer noch die hier.“
Marrela zögerte einen Moment. Er konnte sehen, dass es ihr nicht passte, sich fremden Regeln unterzuordnen. Darum ging es ihr mehr als um das Schwert. Doch schließlich nickte sie. „Also gut.“
Tim lächelte und rieb sich die kalten Hände. „Sehr schön. Wenn wir erst mal am Feuer sitzen, essen und Ale trinken, wirst du das nicht mehr bereuen.“ Er wandte sich Bhobross zu. „Hast diese Taverne irgendeine Spezialität?“
„Snäkkenpastete“, sagte Bhobross. „Etwas anderes wird dort nicht serviert.“
Tim erstarb das Lächeln auf dem Gesicht. Marrela grinste breit.
4
„Das ist ein … sehr großer Karren.“
Mehr sagte Bhobross nicht, als er PROTO entdeckte. Die Senke, in der Tim den Amphibienpanzer geparkt hatte, war so tief, dass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Der Schnee, der dank der stetig kälter werdenden Luft mittlerweile liegenblieb, würde ihn schon bald völlig einhüllen. Selbst vom Hügel aus würde man ihn dann nicht mehr entdecken können.
Marrela brachte ihr Schwert in den Panzer, dann stiegen sie gemeinsam aus der Senke und schlossen sich Bhobross an. Der führte seine Androne am Zügel. Der Karren rumpelte hinter ihm her über den halbgefrorenen Boden.
Narbengesicht und Einauge waren verschwunden, als sie an die Stelle kamen, an der die beiden gelegen hatten. Ihre Fußspuren führten in Richtung Sjettle. Tim hatte das ungute Gefühl, dass er die Männer und den Riesen nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
Bhobross erklärte ihnen, wie die Talennsho funktionierte. Es gab mehrere Kategorien, in denen die Teilnehmer gegeneinander antraten. Eine Jury oder Juree, die aus drei von den Herren der Stadt bestimmten Experten bestand, entschied in drei aufeinanderfolgenden Runden über Sieger und Verlierer. Am Ende blieb in jeder Kategorie nur noch ein Teilnehmer übrig.
Tim kam das Prinzip sehr bekannt vor. Nun wusste er um den Ursprung des Namens: Talentshow. Ein zu seiner Zeit weit verbreitetes Übel.
„Und was passiert dann mit dem Gewinner?“, fragte er.
Bhobross’ Gesicht wirkte auf einmal verträumt. „Er darf ins Nih'wana reisen“, sagte er. „Dort scheint immer die Sonne und es wird niemals kalt.“
„Nih'wana?“ Tim lächelte unwillkürlich. Nach dem Kobeenfest war das der zweite Hinweis darauf, dass nicht nur die Space Needle die Jahrhunderte überdauert hatte.
„Es liegt tief im Gletscher verborgen“, fuhr Bhobross fort, während er den Kragen seines Pelzumhangs aufstellte, um sich vor der Kälte zu schützen. Schneeflocken hingen in seinem Bart. „In Nih'wana ist es so warm, dass man keine Schuhe tragen muss und keine Pelze. Man muss in der Nacht nicht mal ein Feuer anzünden.“
„Das Paradies“, sagte Tim. Er versuchte sein Misstrauen zu verbergen, aber er hatte schon zu viele ähnliche Geschichten gehört, um daran zu glauben. Das Prinzip war immer dasselbe: Jemand erfand eine solche Legende, damit er andere übervorteilen und seine Macht über sie ausbauen konnte. Tim vermutete, dass es sich in Sjettle bei diesem Jemand um die Herren der Stadt handelte.
„Kommen Leute je aus Nih'wana zurück und erzählen von ihren Erlebnissen?“, fragte er.
Bhobross schüttelte den Kopf, so wie er es erwartet hatte. „Warum sollten sie? Dort ist es wunderschön. Hier dagegen …“ Er machte eine Geste, die die gesamte graue Landschaft, den grauen Himmel und die graue Stadt mit einschloss. „Ihr seht ja selbst.“
Marrela hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber nun runzelte sie die Stirn. „Es dürfen also nur die Sieger der Talennsho nach Nih'wana? Wieso keine anderen Menschen? Sollten nicht die belohnt werden, die von gutem Charakter sind?“
„In der Welt, in der wir alle gern leben würden, wäre es so“, sagte Bhobross. „Aber ihr wisst ja, wie die Götter sind: eigennützig und nur an ihrem Vergnügen interessiert. Sie möchten unterhalten werden, deshalb schicken die Herren der Stadt ihnen unsere besten Künstler.“
„Die Götter leben in Nih'wana?“, hakte Tim nach.
Bhobross sah ihn mit einem an Tims Intelligenz zweifelnden Blick an. „Wo sollten sie sonst leben? Etwa in diesem snäkkenverseuchten, nassen Schlammloch?“
„Wohl eher nicht“, murmelte Tim. Er sah Marrela kurz an und bemerkte, wie sie nickte. Sie hatte die gleichen Schlussfolgerungen gezogen wie er. Hinter der Talennsho steckten Betrüger. Nih'wana existierte nicht, und die einzigen Götter, denen die Sieger begegnen würden, waren die, die sie nach ihrem Tod erwarteten.
„Wir werden uns da nicht einmischen“, sagte Marrela leise, aber bestimmt. „Nicht schon wieder.“
Tim schwieg und folgte Bhobross in die Stadt.
5
Sein Name war Hafpor, aber alle nannten ihn den Schmied, weil er früher einmal als solcher gearbeitet hatte und weil er einen selbstgeschmiedeten Kriegshammer als Waffe benutzte. Es störte ihn nicht, dass niemand seinen richtigen Namen kannte. Solange sie taten, was er sagte, konnten sie ihn nennen, wie sie wollten.
Hafpor ging an ärmlichen Hütten vorbei nach Sjettle hinein. Eis knirschte unter den Sohlen seiner gefütterten, weichen Lederstiefel. Menschen mit rußgeschwärzten Gesichtern, in Lumpen gehüllt, eilten an ihm vorbei durch das Schneegestöber. Sie senkten den Kopf, wenn sie ihn sahen. Als Schmied hatte er wie sie auch am Rande der Stadt gelebt, in einem Verhau, den er sich mit drei anderen Lehrlingen teilen musste. Nun gehörte ihm ein Haus, so nahe der Spees'Nhidl, dass er auf das Zelt hätte spucken können. Die hübschesten Frauen und Männer teilten sich das Bett mit ihm und manchmal musste er nicht einmal dafür bezahlen. Die Arbeit für die Auserwählten hatte ihm Reichtum und Macht verliehen.
Er würde nie wieder an den Rand der Stadt zurückkehren.