Zusammenfassung
Drei Frauen wurden ermordet und später tätowiert aufgefunden. Doch diese Morde wurden nie aufgeklärt. Jahre später findet man erneut eine Frauenleiche mit der gleichen Tätowierung.
Hat der Mörder wieder zugeschlagen? Doch warum diese lange Pause?
Das fragen sich die beiden Kommissare Uwe Jörgensen und Roy Müller, die diese Morde aufklären und den Mörder überführen wollen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jenny Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
Folge auf Facebook:
https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Erfahre Neuigkeiten hier:
https://alfred-bekker-autor.business.site/
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
Alles rund um Belletristik!
Kommissar Jörgensen und die gezeichneten Frauen
von Alfred Bekker
1
Ich bin beruflich viel unterwegs und darum gehe ich privat nicht mehr viel weg.
Ist eigentlich verständlich, oder?
Und da ich beruflich viele Leute kennenlerne, steht mir auch nicht so sehr der Sinn danach, privat noch viele Leute kennenzulernen.
In meinem Job hat man wenig Zeit für ein Privatleben.
Das ist nunmal so. Ich habe das akzeptiert.
Es ist einfach auf Grund der Sache, mit der ich mich hauptsächlich beschäftige, schlecht anders möglich.
ich bekämpfe das Verbrechen. Und Verbrecher richten sich nunmal nicht nach irgendwelchen Bürozeiten. Da muss man an den Spuren dranbleiben oder sich mit Informanten zu ungewöhnlichen Zeiten treffen.
Vor kurzem bin ich dann doch ausnahmsweise mal losgezogen und habe mir nach dem Dienst ein richtig gutes Essen gegönnt.
Kein Fast Food.
Nichts, was man irgendwo zwischen Tür und Angel oder am Steuer seines Dienstwagens hinunterschlingt, sondern etwas Feines.
Ein bisschen Esskultur ab und zu muss ja auch sein.
Zumindest hin und wieder.
Öfter kann ich mir das zeitlich auch gar nicht leisten.
Jedenfalls saß ich hinterher noch an der Bar und da sprach mich eine Außerirdische an.
Ja, Sie haben richtig gehört: Eine Außerirdische.
Ich meine, es gibt Menschen und Geschöpfe aus aller Herren Länder in Hamburg. Da sind die vielen internationalen Firmen mit ihren internationalen Fachkräften. Die Seeleute von den Schiffen, die in den Hamburger Hafen einfahren. Da sind die Stars aus aller Welt, die in der Elbphilharmonie auftreten und die Nutten auf St. Pauli, die auch aus aller Welt kommen. Warum sollen da nicht auch ein paar Außerirdische dazwischen sein? Wir haben in Hamburg schließlich ein Institut für Tropenkrankheiten. Fremde Bakterien haben es also auch bis Hamburg geschafft. Von den exotischen Giftschlangen und dem anderen Getier im Hamburger Zoo mal ganz abgesehen.
Die Außerirdische war natürlich nicht wirklich eine Außerirdische, sie sah nur so aus.
Und wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich nicht gerade in einem Kino sitze und mir einen Science Fiction Film ansehe, dann hätte ich sie vielleicht sogar für echt gehalten.
Die Frau war über und über tätowiert.
Nicht einfach nur irgendeine Malerei auf den Armen oder ein dezentes Arschgeweih, dass aus der Kombination von Hüfthose und bauchfreiem Top herausschaute, sondern eine Ganzkörper-Tätowierung, die nur an einigen Stellen durch Kleidung unterbrochen wurde.
Es war ein Gewirr von bizarren Ornamenten, Drachenköpfen, Totenköpfen, Sternen und Schriftzeichen. Manche sahen chinesisch aus, andere wie verschlungene altdeutsche Frakturbuchstaben oder germanische Runen. Es war ein vielfältiges Potpourri, dessen Bedeutung die ‘Außerirdische’ wohl nur selbst wusste.
»Wie heißen Sie?«
»Ich heiße Uwe«, sagte ich.
Ich fragte sie nicht nach ihrem Namen.
Ich hatte keine Lust, ihn mir zu merken.
»Uwe. Das ist ein schöner Name.«
»Wie Uwe Seeler.«
»Wer ist das denn?«
»Vielleicht sind Sie einfach zu jung, um den zu kennen.«
»War das ein Sänger?«
»Ein Fußballer.«
»Ach so.«
»Beim HSV.«
»Uwe, um deine Frage gleich vorweg zu beantworten: Ich bin nicht in der Erotikbranche.«
»Das hatte ich gar nicht gefragt.«
»Das fragen aber alle früher oder später.«
»Ach, ja?«
»Wegen der Tattoos.«
»Da wäre ich jetzt nicht drauf gekommen.«
»Alle denken bei Tattoos immer gleich daran.«
»Tja, die Gedanken sind eben frei, wie es so schön heißt.«
»Nein, das sind üble Vorurteile! Wir Tätowierten werden diskriminiert und darauf reduziert.«
»Naja...«
»Man bringt uns einfach immer mit der Erotik-Branche in Verbindung. Dabei stimmt das gar nicht unbedingt.«
»In welcher Branche bist du denn?«
Sie wollte, dass ich sie das frage. Sie hatte es darauf angelegt. Und ich wollte sie nicht länger leiden lassen. Also fragte ich sie und so konnte sie mir das erzählen, was sie mir die ganz Zeit schon hatte sagen wollen.
»Ich bin in der Personalberatung tätig », sagte sie.
»Aha«, sagte ich.
Ich stellte mir vor, wie sich konservative Bankhäuser an eine Personalberatung wandten und dann dieser außerirdischen Dame gegenüber saßen. Darüber musste ich schmunzeln.
»Sag mal, gehen wir noch zu mir oder zu dir?«, fragte sie dann.
»Ich glaube, wir gehen heute nirgendwo mehr hin«, sagte ich. »War ein harter Tag heute.«
»Ach, so.«
Die Wahrheit wahr: Ich wollte mich einfach nicht erschrecken, wenn ich aufwachte.
Mein Name ist übrigens Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar und Teil einer in Hamburg angesiedelten Sonderabteilung, die den etwas umständlichen Namen ‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes’ trägt und sich vor allem mit organisierter Kriminalität, Terrorismus und Serientätern befasst.
Die schweren Fälle eben.
Fälle, die zusätzliche Ressourcen und Fähigkeiten verlangen.
Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller tue ich mein Bestes, um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu zerschlagen. »Man kann nicht immer gewinnen«, pflegt Kriminaldirektor Bock oft zu sagen. Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat er mit diesem Statement Recht.
*
Es war dunkel und hatte zu regnen begonnen. Leoni Michaelis schaltete die Scheibenwischer ihres zweitürigen Honda Civic ein. Die junge Frau folgte der Autobahn Richtung Norden. Der letzte Stopp lag noch keine zehn Meilen zurück. Sie hatte getankt, in der Autobahn-Raststätte einen Kaffee getrunken und ein Sandwich gegessen.
Aber seit diesem Stopp schien irgendetwas mit den Reifen nicht zu stimmen. Die Befürchtung wurde schließlich zur Gewissheit. Hinten links war keine Luft mehr drin.
»So ein Mist!«, schimpfte Leoni vor sich hin und fuhr an den Straßenrand. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie gleich einen Pannendienst anrufen oder sich den Schaden erst einmal selbst ansehen sollte.
Leoni ließ schließlich das Smartphone in der Handtasche und stieg aus. Eine Fehlentscheidung, denn genau damit hatte ihr Mörder gerechnet ...
Der Nieselregen sorgte dafür, dass Leoni schon nach kurzer Zeit die Haare an der Stirn klebten. Der Reifen hinten links war platt. Und hinten rechts hatte ebenfalls schon viel Luft verloren. So weiterzufahren war unmöglich.
Wie kann das sein?, fragte sie sich.
Die Reifen waren neu, die letzte Inspektion noch nicht lange her. Vielleicht bin ich in irgendetwas Spitzes hineingefahren, überlegte sie. Aber sie hatte nichts dergleichen bemerkt.
In diesem Augenblick hielt ein weiteres Fahrzeug am Straßenrand. Es war ein Geländewagen mit Kuhfänger vor dem Kühler. Auf der Haube hob sich der Schatten eines geschwungenen Stierhorns ab.
Aber all das konnte Leoni im nächsten Moment schon nicht mehr sehen. Der Fahrer des Geländewagens blendete nämlich das Licht auf. Leoni wurde so stark geblendet, dass sie für einen Augenblick mehr oder weniger blind war.
Der Fahrer des Geländewagens stieg aus. Den Motor seines Wagens ließ er laufen. Wie ein dunkler Schatten näherte er sich. Leoni wich zurück.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte eine schneidend klingende Männerstimme.
»Ich weiß nicht ... eigentlich ...«
»Ist etwas mit Ihren Reifen?«
»Einer ist platt, der andere wird es bald sein. Ich verstehe das nicht ...«
Der schattenhaft sichtbare Mann kam noch näher. Im Gegenlicht der Scheinwerfer seines Geländewagens war er nur als dunkler Schemen zu erkennen. Er zog jetzt irgendetwas unter seiner Kleidung hervor.
Leoni konnte es nicht genau sehen. Aber im nächsten Moment blitzt das Mündungsfeuer einer Waffe auf. Es war kein Schussgeräusch zu hören. Nur ein Laut, der an ein leichtes Niesen erinnert.
Die erste Kugel traf Leoni genau mitten in der Stirn. Sie stützte sich noch auf den Kotflügel ihres Wagens, ehe sie zusammenbrach und regungslos auf dem regenfeuchten Boden liegen blieb.
Der schemenhafte Killer näherte sich. Er blickte auf sie hinab und ließ die Waffe mit dem langgezogenen Schalldämpfer unter seinem dunklen Mantel verschwinden.
Er trug Latexhandschuhe. Mit einem sehr kräftigen Griff packte er die Tote unter den Armen und schleifte sie grob hinter sich her. Wenig später hob er sie in den Kofferraum seines Geländewagens. Dort war bereits alles mit Plastikfolie ausgelegt, so dass er ihren Körper jetzt leicht darin einwickeln konnte. Als er damit fertig war, stellte er fest, dass er aus der Nase blutete. Mehrere rote Tropfen waren bereits herabgefallen.
»So ein verfluchter Mist«, murmelte er. Er holte ein Taschentuch hervor, um sich die Nase abzuwischen. Es war allerdings gar nicht so einfach, die Blutung zu stoppen. Immer wieder begann die Blutung von Neuem. Immer wieder. Es hörte nicht auf. Er wandte sich zur Seite. Blut tropfte jetzt auf den Boden.
Schweinerei, dachte er.
Eine volle Minute lang musste er das Taschentuch vor die Nasenlöcher pressen, ehe es endlich aufhörte.
Es wird immer schlimmer!, ging es ihm durch den Kopf. Aber damit hatte er insgeheim gerechnet. Die Ärzte hatten es ihm nämlich vorhergesagt. Es gehörte zum normalen Verlauf seiner verfluchten Krankheit und alles in allem war das Nasenbluten noch eher eines der harmloseren Symptome. Die wirklich schlimmen Dinge würden wohl noch kommen.
Der schattenhafte Killer nahm zum Schluss dann noch eine Decke, die er über die Leiche der Frau legte. Dann schloss er den Kofferraum.
2
Später lag die Leiche auf einem Tisch in einem nur sehr spärlich beleuchteten Kellerraum. Eine Glühbirne an der kahlen Decke war die einzige Lichtquelle. Das sehr leise Surren verstummte, als die Tätowiermaschine nun abgeschaltet wurde. Der Mörder legte sie jetzt zur Seite und betrachtete sein entstandenes Kunstwerk, das er in die zarte Haut der jungen Frau gestochen hatte. Ein Schriftzug aus ziemlich verschnörkelten Fraktur-Lettern zog sich vom Gesäßansatz bis hinauf zum Schulterblatt und bildete dabei dann eine gewundene Schlangenlinie.
Ein mattes Lächeln zeichnete sich jetzt in die blassen Züge seines Gesichts.
Gut sieht das aus, fand der blasse Mann.
Etwas kitzelte in der Nase. Vorsorglich griff er nach einem Papiertaschentuch. Aber entgegen seiner Befürchtung setzte das Nasenbluten nicht wieder ein.
Eine ganze Weile stand er dann da und betrachtete den Rücken der Toten.
Es ist immer so schnell vorbei, dachte er bedauernd. Er hatte es wirklich genossen, jeden einzelnen dieser verschnörkelten Buchstaben in die Haut dieser jungen Frau zu stechen. Jetzt galt seine Aufmerksamkeit vor allem einer Frage. Wo sollte er den Leichnam hinbringen? Es musste ein Ort sein, an dem man sie auf jeden Fall schnell finden würde. Schließlich sollte die Botschaft, die er auf den Rücken dieser Frau gestochen hatte, gesehen werden.
Später fuhr er zum Ortsausgang von Bönningstedt – ein kleiner Ort am nördlichen Rand von Hamburg gelegen. Eine einzige Straße führte durch den Ort, die Kieler Straße. An ihr waren die Häuser und Geschäfte wie an einer Perlenkette aufgereiht. Ein kleines Nest abseits der großen Verkehrswege. Ein Nest, von dem bisher wohl die wenigsten etwas gehört hatten, der weiter als vierzig Kilometer von Hamburg entfernt lebte.
Aber das sollte sich nun ändern ...
3
Jahre später ...
»Leoni Michaelis war wohl das erste Opfer des sogenannten Tattoo-Killers, wie man ihn später nannte«, erläuterte uns Kriminaldirektor Bock. Der Chef unserer Abteilung hatte die Hände in den tiefen Taschen seiner Flanellhose. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt, die Krawatte hing ihm locker um den Hals.
Mein Kollege Roy Müller und ich saßen ihm in seinem Büro gegenüber. Es ging um einen so genannten Cold Case, eine kalten Fall, der nach vielen Jahren plötzlich wieder verdammt heiß geworden war. Ein Serienkiller, dessen Mordserie vor Jahren aus einem nicht ermittelbaren Grund abgebrochen hatte und jetzt mit zwei neuen Taten nach dem alten Muster wieder aktiv geworden war. Zwei grausame Morde innerhalb sehr, sehr kurzer Zeit. Und es stand zu befürchten, dass er damit noch keineswegs genug hatte.
Ein Fall, der klassischerweise wohl in unsere Zuständigkeit fiel.
Kriminaldirektor Bock deutete auf das Bild auf dem Flachbildschirm. Es zeigte eine junge Frau, so Ende zwanzig.
»Leoni Michaelis stammt, genau wie alle anderen Opfer der ersten Serie aus Bönningstedt, Schleswig-Holstein, beziehungsweise der näheren Umgebung dieses Ortes«, erläuterte Kriminaldirektor Bock. »Aufgefunden wurden die Frauen allerdings an sehr unterschiedlichen Orten rund um Hamburg. Und eines der Opfer war zwei Monate vor seiner Ermordung nach Rellingen gezogen.« Kriminaldirektor Bock machte eine Pause und wandte sich uns zu. »Jetzt hat es zwei neue Fälle innerhalb kürzester Zeit gegeben. Die Art und Weise der Tatbegehung stimmt exakt mit den Bönningstedt-Morden überein, dass es eigentlich kaum einen Zweifel darüber geben kann, dass es sich um denselben Täter handelt.«
»Aber die Frauen aus den zwei neuen Fällen stammen nicht aus diesem Ort in Schleswig-Holstein?«, vergewisserte ich mich.
Kriminaldirektor Bock schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist richtig. Allerdings legen die bisherigen Ermittlungen nahe, dass die Herkunft der Frauen auch nicht das entscheidende Kriterium war, das zu ihrer Auswahl führte. Aber lassen Sie mich zu Leoni Michaelis zurückkommen. Sie ist das erste Opfer gewesen und alle Elemente, die bei den späteren Taten eine Rolle spielten, sind bei diesem Verbrechen bereits vorhanden.« Kriminaldirektor Bock betätigte eine Fernbedienung, woraufhin wir ein weiteres Bild gezeigt bekamen. Es zeigte einen am Fahrbahnrand abgestellten Honda Civic. Es war deutlich zu sehen, dass mit den Reifen etwas nicht stimmte. Einer war vollkommen platt, der andere hatte auch bei weitem zu wenig Luft, um sich damit noch in den Verkehr trauen zu können.
»Die damaligen Ermittler nehmen folgenden Tathergang an: Der Täter hat seinem Opfer aufgelauert und es beobachtet. Vermutlich an einer nahegelegenen Tankstelle mit Raststätte hat er einen unbeobachteten Moment genutzt, um dafür zu sorgen, dass die Reifen Luft verlieren. Nach ein paar Kilometern muss Leoni Michaelis bemerkt haben, dass mit dem Reifendruck etwas nicht in Ordnung war und fuhr an den Fahrbahnrand. Wenig später muss der Täter aufgetaucht sein. Er hat sein Opfer mit einer kleinkalibrigen Waffe getötet. Er verwendete ein Teilmantelgeschoss, das den Körper nicht durchdringt. Und das hatte seinen makaberen Grund.« Kriminaldirektor Bock zeigte uns eine weitere Aufnahme. Sie zeigte den Rücken von Leoni Michaelis, wie auf der Bildunterschrift zu sehen war und war offenbar im Sektionsraum der Gerichtsmedizin aufgenommen worden.
»Vom Satan gezeichnet«, las Roy den Satz, der sich in Fraktur-Buchstaben vom Gesäß-Ansatz bis zum Schulterblatt hinaufzog.
»Die Leiche von Leoni Michaelis wurde am Ortseingang von Bönningstedt abgelegt«, berichtete Kriminaldirektor Bock. »Sie war bekleidet und war sitzend an ein Straßenschild gelehnt worden. Das war zwei Tage nachdem ihr Wagen am Rand der Autobahn gefunden wurde.«
»In der Zwischenzeit hat der Täter ihr die Tätowierung beigebracht«, murmelte ich.
Kriminaldirektor Bock nickte.
»Jedes Opfer bekam diesen Spruch auf den Rücken. Die Gestaltung wich manchmal etwas voneinander ab. Aber es gibt ein paar Eigenarten, die diesen Schriftzug unverwechselbar machen.« Kriminaldirektor Bock zoomte den Schriftzug näher heran. Ein A nahm jetzt den gesamten Bildschirm ein. »Sehen Sie die zusätzlichen Schwünge, an deren Enden ein kleiner Schlangenkopf zu sehen ist?«
»Ja«, nickte ich.
»Dieses Detail wurde in den Medien nie erwähnt. Es wäre explizites Täter-Wissen und hätte eventuell helfen können, den Täter zu überführen. Die neuen Fälle haben dieselben Schwünge, die nach Ansicht unserer Sachverständigen wirklich sehr individuell sind.«
»So besteht kein Zweifel daran, dass die zwei neuen Fälle vom selben Täter begangen wurden?«, hakte ich nach.
»Sie haben die Einzelheiten natürlich in den Dossiers. Und unser Ermittlungsteam Erkennungsdienst wird jeden Stein noch einmal umdrehen, da können Sie sicher sein. Und was die neuen Fälle angeht, sind die Untersuchungen natürlich noch nicht vollkommen abgeschlossen.« Kriminaldirektor Bock atmete tief durch und fuhr dann fort: »Aber wenn Sie mich fragen, dann kann es eigentlich keinen Zweifel daran geben, dass es derselbe Täter war.«
»Was ist mit der Waffe und den Projektilen?«, fragte Roy.
»Tja, der Tattoo-Mörder scheint eine vorsichtige Person zu sein. Er hat für jede Tat eine neue Waffe benutzt. Auch dazu finden Sie Einzelheiten in den Unterlagen. Immer dasselbe Kaliber, immer ein Teilmantelgeschoss, damit auf dem Rücken keine Austrittswunde entsteht, die ihm sein Tattoo-Kunstwerk wohl verdorben hätte und immer mit Schalldämpfer. Das haben die Untersuchungen an den Projektilen eindeutig ergeben.«
»Immer derselbe Schalldämpfer?«, fragte Roy.
Ebenso wie ein Pistolenlauf hinterlässt auch ein Schalldämpfer am Projektil ganz charakteristische, quasi individuelle Veränderungen, die wie ein Fingerabdruck verwendet werden können. Ein Schalldämpfer ist genauso eindeutig identifizierbar wie eine Waffe - und natürlich eine bestimmte Kombination aus Schalldämpfer und Waffe.
Kriminaldirektor Bock schüttelte den Kopf.
»Wie ich schon sagte, dieser Täter war sehr vorsichtig. Er hat jedes Mal einen anderen Schalldämpfer verwendet.«
»Es ist ziemlich schwierig, in Deutschland Waffen zu kaufen. Da wundert es mich ehrlich gesagt, warum der Täter eine Waffe nicht mehrfach benutzt«, sagte ich.
»Vermutlich deshalb, weil die Täter die Möglichkeiten, die unsere Labore inzwischen zur Identifikation und Zuordnung von Waffen und Projektilen haben, nicht unterschätzen«, vermutete Kriminaldirektor Bock. »Wie auch immer, der Täter macht es uns nicht leicht. Schon bei den bisherigen Ermittlungen gingen die hinzugezogenen Polizeipsychologen davon aus, dass es sich um eine sehr vorsichtige Person handelt. Möglicherweise wirkt der Täter nach außen sehr unscheinbar, was es ihm erleichtert, sich seinen Opfern zu nähern, da er von niemandem als Bedrohung wahrgenommen wird.«
»Was könnte der Grund dafür sein, dass seine Serie eine Unterbrechung erfuhr?«, fragte ich.
Kriminaldirektor Bock hob die Augenbrauen.
»Da kommen eben die üblichen Dinge infrage: Gefängnisaufenthalt, ein Aufenthalt im Ausland, veränderte Lebensumstände, die dafür gesorgt haben, dass kein subjektiver Auslöser für die Taten mehr vorhanden war.«
»Und was könnte ein solcher Auslöser in diesem Fall gewesen sein?«, fragte ich. »Ich meine, wer seinen Opfern ‘gezeichnet vom Satan’ auf den Rücken sticht, scheint wohl von einer Art morbider Mission erfüllt zu sein.«
»Ein wahnhaft veränderter Charakter liegt bei diesen Tatumständen wohl nahe«, sagte Kriminaldirektor Bock. »Die Ermittler gingen zuerst von einem satanistischen Hintergrund aus. Jemand, der sich für auserwählt hält, im Auftrag des Satans irgendwelche Dinge zu tun, die dann ein neues Zeitalter einleiten sollen oder etwas in der Art. Mir liegt allerdings jetzt ein Gutachten eines Profilers vor, der zu einem abweichenden Urteil kommt.«
»Inwiefern?«, fragte ich.
»Die Analyse ist Ihrem Datenmaterial beigefügt«, sagte Kriminaldirektor Bock. »Im Wesentlichen geht es darum, dass die Zeichnungen auf dem Rücken der Frauen beurteilt und interpretiert werden. Das Gutachten kommt zu dem gut begründeten Schluss, dass es sich um einen Täter mit sehr ausgeprägter Zwangsstörung handelt. Es könnte sein, dass er beispielsweise Büroklammern und Bleistifte abzählt, oder zwanghaft den Linien der Fugen auf dem Bürgersteig folgt oder sich zwanghaft wäscht. Seine Taten gehören demnach zu einem zwanghaften Ritual.«
»Und was haben dann die Tätowierungen damit zu tun?«, fragte Roy.
»Die große Exaktheit, mit der die Details ausgearbeitet wurden, ginge weit über gewöhnliche Pedanterie hinaus.« Kriminaldirektor Bock zuckte ratlos mit den Schultern. »Sie können davon halten, was Sie wollen, es ist eben nur ein Gutachten. Der Profiler, der es angefertigt hat, ist noch ziemlich jung und gilt als aufsteigender Stern seiner Zunft. Er lehrt jetzt in Hamburg und die Arbeit war seine Promotion.«
»Vielleicht sollten wir uns mal mit ihm unterhalten«, meinte Roy.
4
Den Rest des Tages verbrachten Roy und ich in erster Linie in unseren Büros im Polizeipräsidium. Wir telefonierten viel. Mit den Kollegen in Pinneberg, zu dessen Zuständigkeitsbereich Bönningstedt gehörte, ebenso wie mit den Kollegen aus Rellingen, wo das letzte Opfer dieser Serie gefunden worden war.
Die Frau war auf einem Spielplatz gefunden worden. Der Täter hatte sie auf eine Bank gesetzt. Ein vorbeikommender Jogger hatte sie entdeckt. Man konnte nur froh sein, dass um die Zeit noch keine Kinder dort gewesen waren. Ich fragte mich, wie krank man sein musste, umso etwas zu tun.
Ansonsten machten Roy und ich uns mit den Einzelheiten dieser Mordserie vertraut, soweit dazu Erkenntnisse vorlagen.
Es gab einen ziemlich umfangreichen Berg an Material dazu: Beweismittel, Fotos, Analysen, ballistische Berichte, gerichtsmedizinische Berichte ...
Bei Cold Cases ist das nichts Ungewöhnliches. Meistens liegt jede Menge Datenmaterial vor, nur hatten in diesem Fall all diese gesammelten Informationen nicht dazu geführt, dass man dem Täter auf die Spur gekommen war. Es gab noch nicht einmal einen Tatverdächtigen. Ein Lastwagenfahrer, der im Nebenjob ein schmuddeliges Tattoo-Studio in einem Außenbereich von Hamburg betrieb, war kurzzeitig verhaftet worden. Aber der Verdacht gegen ihn hatte sich nicht einmal ansatzweise erhärtet. Vor allem hatte er für die in Bezug auf den Mord Nummer drei der Serie, mit dem man ihn in Verbindung gebracht hatte, ein wasserdichtes Alibi. Er war nach einem Unfall mehrere Monate im Krankenhaus gewesen. Er hatte einfach keine Gelegenheit, um die Tat zu begehen.
Und wenn man nach dem ausführlichen Gutachten des jungen Profiler-Kollegen ging, dann hätte er ohnehin wohl nicht ins Profil gepasst.
5
Am nächsten Tag fuhren wir zum Erkennungsdienst.
Dr. Gerold M. Wildenbacher, der Gerichtsmediziner des Wissenschaftlichen Forschungsteams, auf dessen Dienste wir bei unseren Ermittlungen in Hamburg zurückgreifen konnten, hatte inzwischen die letzten beiden Opfer auf dem Seziertisch gehabt. Man hatte sie nach St.Pauli gebracht, weil Wildenbacher darauf bestanden hatte, die Obduktionen eigenhändig durchzuführen.
Wildenbacher empfing uns an seinem Arbeitsplatz. Sein Kittel war mit reichlich Blut befleckt. Bei ihm war Dr. Friedrich G. Förnheim, der Naturwissenschaftler des Teams, dessen hamburgisch gefärbter Akzent immer leicht ein bisschen arrogant wirkte.
Wildenbacher und Förnheim - von uns allen oft nur einfach FGF genannt - waren so etwas wie das größtmögliche Gegensatzpaar. Der hemdsärmelige Bayer und der kultivierte Norddeutsche lieferten sich oft Wortgefechte und waren auch keineswegs immer einer Meinung. Aber jeder respektierte die Fähigkeiten des anderen und wusste, dass er sie nötig brauchte.
»Guten Morgen«, begrüßte uns Wildenbacher. »Auf lange Vorreden können wir sicher verzichten. Die grundlegenden Fakten dürften Ihnen ja schon bekannt sein.«
»Uns liegt umfangreiches Material vor«, nickte ich.
Wildenbacher wischte sich die Latexhandschuhe an der blutbefleckten Plastikschürze ab.
»Ich habe versucht, die Tätowierungen unbeschädigt zu lassen - was bei dem Job, den ich zu machen habe, nicht ganz einfach ist.«
»Die Betonung dürfte wohl auf dem Wort ,versucht‘ liegen«, mischte sich Förnheim ein. »Aber wir haben ja zahlreiche Fotos von dem eintätowierten Schriftzug gemacht und verfügen über eine Software, die in der Lage ist, anhand dieser Aufnahmen jedwede Vermessung virtuell durchzuführen. Zum Glück!«
Wildenbacher wirkte wohl etwas genervt und verdrehte die Augen.
»Unser Fischkopp will einfach nicht wahrhaben, dass Tote sich nun mal verändern - selbst wenn ihnen kein neugieriger Pathologe die Organe etwas derangiert«, sagte Wildenbacher und warf Förnheim dann einen spöttischen Blick zu und äffte dessen Akzent nach. »Derangiert - so pflegt sich Ihresgleichen doch auszudrücken, oder Eure Exillenz?«
»Ich denke, den Herren ist klar geworden, was Sie zu sagen versucht haben«, sagte Förnheim etwas pikiert.
»Es entstehen unmittelbar nach Eintritt des Todes Gase im Körper. Und es kommt zu Ansammlungen von Flüssigkeiten. Nichts bleibt, wie es ist. Nicht einmal eine Tätowierung!«
»Es scheint ein paar sehr individuelle Merkmale an diesen eintätowierten Buchstaben zu geben«, stellte ich fest. »Und möglicherweise ...«
»... können uns die zum Täter führen«, nahm mir Förnheim das Wort aus dem Mund. »Oder zumindest zum Tätowierer. Es ist ja noch nicht gesagt, dass das unbedingt dieselbe Person gewesen sein muss.«
»In dem psychologischen Gutachten steht, dass der Täter jemand ist, der auf gar keinen Fall so etwas aus der Hand geben würde«, erklärte Roy.
»Meinen Sie das Gutachten von diesem begabten Nachwuchs-Profiler?«, fragte Förnheim und verzog etwas das Gesicht. »Dr. Jonas Schneidermann - begabt, aber wohl doch in erster Linie Nachwuchs, auch wenn seine Arbeit über die ersten Morde des Bönningstedt-Killers als Promotion angenommen und sehr gut bewertet wurde.«
»Man sollte allen, die offiziell mit der Untersuchung dieser Morde zu tun haben, hochoffiziell verbieten, die Serie als die Bönningstedt-Morde zu bezeichnen«, war jetzt eine Frauenstimme zu hören.
Wir drehten uns um und bemerkten, dass Dr. Lin-Tai Gansenbrink soeben in den Obduktionsraum getreten war. Lin-Tai war die Mathematikerin und IT-Spezialistin des Teams. Und da bildverarbeitende und statistische Verfahren in der Ermittlungsarbeit immer wichtiger werden und auch in der klassischen Forensik eine nicht mehr wegzudenkende Rolle spielen, war sie vermutlich schon längst dabei, die Aufnahmen der tätowierten Frauenrücken mit Spezialprogrammen zu analysieren.
»Wie man die Morde nennt, ist mir ehrlich gesagt vollkommen egal«, sagte Wildenbacher. »Hauptsache, diese furchtbare Serie wird aufgeklärt und der Täter daran gehindert, so etwas noch mal zutun.«
»Und um genau das zu gewährleisten, sollte man sich einen unabhängigen Blick bewahren«, sagte Lin-Tai.
Wildenbacher verzog das Gesicht.
»Dass Sie manchmal ihr IT-Fachchinesisch reden, daran habe ich mich gewöhnt«, erklärte er dann. »Aber wenn Sie jetzt auch noch anfangen, so geschwollen daherzureden wie unser geschätzter Kollege FGF, dann lass ich mich versetzen. Einer von der Sorte reicht mir nämlich. Mehr halte ich nicht aus.«
»Und ich hätte gedacht, dass man in Bayern etwas härter im Nehmen ist«, mischte sich Förnheim ein.
»Ich meine es völlig ernst«, sagte Lin-Tai. »Die Tatsache, dass die ersten Opfer mit Bönningstedt zu tun hatten ...«
»... dort aufgewachsen sind«, korrigierte Roy.
»Meinetwegen - dort aufgewachsen sind«, fuhr Lin-Tai zu. »Das könnte reiner Zufall sein.«
»Ich dachte, so etwas wie Zufall gibt es in Ihrem absolut berechenbaren Universum nicht, Lin-Tai«, meinte Wildenbacher.
»Es gibt ihn viel öfter, als es unsereinem lieb ist«, sagte sie. »Man nennt das eine Scheinrelation. Dinge, die in einem scheinbaren quantitativen oder zeitlichen Zusammenhang stehen.«
»Wenn Sie das sagen, klingt das jedenfalls sehr klug«, sagte Wildenbacher.
»Die bekannteste Scheinrelation dürfte die zwischen der gerade modisch angesagten Rocklänge und der konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft sein«, sagte Lin-Tai. »Je kürzer die Röcke, desto höher das wirtschaftliche Wachstum.«
»Jeder weiß, dass das Unsinn ist«, meinte Wildenbacher. »Sonst hätte man im Kommunismus doch einfach nur die Rocklänge in der Mode verordnen können und hätte eine blühende Wirtschaft gehabt.«
»Ja, bei diesem Beispiel erkennt es jeder, aber wenn mehrere Opfer einer Mordserie aus Bönningstedt in Schleswig-Holstein kommen, muss das nicht zwangsläufig etwas mit den Hintergründen des Mordes zu tun haben.«
»Obwohl ich das jetzt weit weniger hergeholt finde, als die Sache mit der Rocklänge«, meinte ich.
Lin-Tai drehte sich zu mir um.
»Das hat damit zu tun, wie unser Gehirn arbeitet, Uwe. Wir sehen immer einen Sinn, einen Zusammenhang, selbst dann, wenn keiner vorhanden ist. So entstehen Verschwörungstheorien. Es fällt schwer zu akzeptieren, dass etwas einfach nur zufällig zur selben Zeit geschieht oder die Opfer in demselben Ort geboren wurden. Das ertragen wir nicht - und dadurch werden wir dazu verleitet, jede Erklärung zu glauben, die sich scheinbar anbietet. Hauptsache, sie stellt irgendeinen Zusammenhang her. Hauptsache, es gibt ein großes Ganzes.«
»Den Plan Gottes«, sagte Wildenbacher.
»Oder den Plan eines Kriminellen«, sagte Lin-Tai. »Besser natürlich einer mächtigen Organisation.«
»Sie glauben also nicht, dass die Tatsache, dass die ersten Opfer aus Bönningstedt kommen, irgendetwas bedeutet?«, vergewisserte ich mich.
»Das will ich damit nicht gesagt haben«, schränkte Lin-Tai ein.
»Das ist typisch!«, spottete Wildenbacher. »Erst klug daherquatschen, sich aber dann nicht festlegen wollen ...«
»Also genau genommen ...«, begann Lin-Tai, aber Wildenbacher unterbrach sie.
»Wir müssen uns leider festlegen, Lin-Tai. Auf die eine oder andere Weise. Schließlich müssen wir am Ende jemanden verhaften.«
»Genau genommen würde ich Folgendes sagen«, nahm Lin-Tai dann ihren Gesprächsfaden in der ihr eigenen Unbeirrbarkeit wieder auf. »Ich denke, dass die Tatsache, dass die ersten Opfer aus Bönningstedt in Schleswig-Holstein stammen, zunächst mal gegenüber anderen Faktoren vernachlässigt werden kann.«
»Und welche Faktoren meinen Sie da genau?«, fragte ich.
»Haben Sie die Ergebnisse meiner Untersuchungen zu den Tätowierungen nicht gelesen, Uwe?«
»Doch, doch ...«
»Die sind wie ein Fingerabdruck. Wir haben es mit einem sehr speziellen Täter zu tun, der auf ganz bestimmte Elemente immer wieder besonderen Wert zu legen scheint. Damit meine ich nicht nur die kleinen Schlangenköpfe. Das ist eher ein spielerisches Element. Der letzte Buchstabe des Schriftzuges ist genau um den Faktor sechs größer als der erste Buchstabe. Die beiden Endbuchstaben der Aufschrift ‘Vom Satan gezeichnet’ bilden zusammen mit einem winzigen Punkt auf dem linken Schulterblatt ein rechtwinkliges Dreieck ...«
»Was für ein Punkt?«, fragte Roy.
Er erntete daraufhin einen tadelnden Blick von Lin-Tai. Normalerweise hatte sie ihre Mimik sehr gut unter Kontrolle, aber in diesem kurzem Augenblick waren ihre Gedanken ein offenes Buch.
Lin-Tai ging zu einem der Seziertische, auf dem eines der beiden letzten Opfer lag. Praktischerweise hatte Wildenbacher sie auf den Bauch gedreht, so dass die Tätowierungen gut zu sehen waren. Lin-Tai deutete auf einen Punkt auf dem linken Schulterblatt.
»Sieht auf Fotos leicht aus wie ein Leberfleck«, erklärte sie. »Und selbst jetzt könnte man es leicht für einen halten. Aber es ist keiner. Sehen Sie mal genau hin, Roy!«
Ich sah es auch erst auf den zweiten Blick. Es war ein kleines, hämisch lachendes Gesicht. Das eintätowierte Emoticon eines irren Killers.
»Wir hatten noch keine Zeit, uns wirklich mit allen Einzelheiten vertraut zu machen«, sagte ich. Lin-Tai ließ durch keinerlei Regung erkennen, ob diese Entschuldigung für sie in irgendeiner Weise akzeptabel klang. »Aber andererseits sind wir ja genau deswegen hier«, fügte ich noch hinzu.
»Der Killer, den wir suchen, ist ein exzellenter Tätowierer«, sagte Lin-Tai. »Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass er diese Kunst bislang nur benutzt hat, um seine wie auch immer gearteten dunklen Triebe zu befriedigen.«
»Sie meinen, er hat in einem Tattoo-Studio gearbeitet«, schloss ich.
»Er muss das irgendwo gelernt haben«, sagte Lin-Tai. »Und vor allem muss er Erfahrung haben. Man sieht, wie geschickt er die jeweiligen körperlichen Gegebenheiten des Opfers mit einbezieht. Ich bin gerade dabei, eines unserer Bilderkennungsprogramme so zu modifizieren, dass es die mathematisch Eigenheiten dieser Tattoos identifizieren kann und mit Bildern abgleicht, die ins Netz gestellt wurden.« Lin-Tai zuckte mit den Schultern. »Sie glauben ja nicht, wie viele Bilder von ihren Tattoos im Netz posten - und falls es da mathematisch relevante Übereinstimmungen gibt, kommen wir vielleicht ein entscheidendes Stück weiter.«
»Wenn Sie das sagen«, meinte Roy zweifelnd.
»Ich glaube eher, dass wir durch eine chemische Farbanalyse weiterkommen«, meldete sich Förnheim zu Wort. »Aber leider habe ich bislang noch keine Gewebeprobe bekommen, die für eine umfassende Analyse ausreichend gewesen wären.«
»Weil das die Tattoos zerstört hätte«, wandte Lin-Tai ein.
»Können Sie verstehen, dass ich mir manchmal wie in einem Irrenhaus vorkomme?«, meinte Wildenbacher unterdessen an mich gewandt. »Die eine Seite sagt: Schneid ein Stück heraus! Die andere will das auf gar keinen Fall.«
»Ich würde sagen: Eins nach dem anderen«, sagte ich.
»Die Reihenfolge ist nicht nur in diesem Fall aber durchaus entscheidend«, meinte Lin-Tai. »Die Sicherung der einen Spur kann die andere zerstören.«
»Ein bekanntes Problem«, meinte Förnheim. »Manchmal muss man sich eben entscheiden: Ist der Fingerabdruck wichtiger oder die DNA?«
»Im Augenblick suchen wir eigentlich einen Anhaltspunkt, wo wir die Ermittlungen beginnen können«, meinte ich. »Soweit wir die alten Protokolle und Ermittlungsunterlagen schon durchgearbeitet haben, sind die Kollegen, die sich bisher mit dem Fall beschäftigt haben, mehr oder minder vollständig gescheitert. Und ich gehe mal davon aus, dass die ebenfalls darauf gekommen sind, dass der Killer etwas von Tätowierungen verstanden hat.«
»Kann ich bestätigen«, meinte Roy. »Schon nach dem ersten Fall wurden sämtliche Tattoo-Studios unter die Lupe genommen, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Fall hätten stehen können.«
»Ja, die Betonung liegt auf irgendeinem«, meinte Lin-Tai. »Wahrscheinlich hat man einfach unter der falschen Prämisse gesucht.«
»Ich will ganz ehrlich sein«, meinte Wildenbacher. »Der Täter war äußerst geschickt. Die Opfer wurden erschossen. An der Todesursache ist nichts Besonderes, die Waffe wurde jedes Mal beseitigt und bei der nächsten Tat gegen eine neue ersetzt. Ich fürchte, wir stehen am Ende mit genauso leeren Händen da wie die Kollegen.«
So wenig optimistisch hatte ich Wildenbacher selten gesehen.
»Haben Sie die alten Obduktionsberichte schon gecheckt?«, fragte Roy.
Wildenbacher nickte.
»Habe ich. Aber was diesen Aspekt des Falles angeht, konnten die Kollegen nicht viel falsch machen. Und das haben sie auch nicht. Also von der Seite dürfen Sie diesmal nicht mit irgendeinem Wunder rechnen.«
»Aber es gibt da eine Sache an den chemischen Analysen, die man noch mal aufgreifen könnte«, meinte Förnheim.
Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ich meine die Blutspur, die bei Opfer Nummer 1 in die Kleidung eingezogen war.«
»Opfer Nummer 1 hieß Leoni Michaelis«, sagte Wildenbacher. »So viel Respekt sollte sein, FGF. Sonst nehmen Sie die Förmlichkeiten doch immer so wichtig.«
Förnheim hob die Augenbrauen.
»In den Berichten steht, dass nicht sicher ist, ob diese Spur tatsächlich mit dem Verbrechen in Verbindung steht«, sagte Roy. »Zumal bei keinem der anderen Verbrechen dieser Serie DNA gesichert werden konnte, die mit dieser Blutspur übereinstimmt.«
»Das ist richtig«, sagte Förnheim. »Es könnte aber auch eine Spur des Täters sein.«
In den Ermittlungsakten war nachzulesen, was alles angestellt worden war, um die DNA dieser Blutflecken mit irgendetwas vergleichen zu können.
»Das Rätselhafte daran ist, dass es keine Kampfspuren gibt«, sagte Wildenbacher. »FGF und ich haben die Angelegenheit bereits eingehend diskutiert.«
»Leider bislang ergebnislos«, erklärte Förnheim. »Wenn es zwischen Leoni Michaelis und dem Täter einen Kampf gegeben hätte, dann hätte der Spuren hinterlassen müssen - aber der Gerichtsmediziner, der die Obduktion durchführte, hat davon nichts bemerkt. Nicht einmal Hämatome - abgesehen von denen, die dadurch entstanden sind, dass die Leiche über den Boden geschleift wurde und der Täter sie offenbar unter den Achseln gefasst hast.«
Wildenbacher führte uns zu einem Computerbildschirm. Nachdem seine Finger etwas über die Tastatur gewandert waren, erschien eine schematische Darstellung, die veranschaulichte, wo an der Leiche die Blutspur gefunden worden war.
»Sehen Sie hier«, sagte Wildenbacher. »Das Blut war am Rücken und am linken Oberschenkel auf der Rückseite.«
»Verstehen Sie jetzt, was ich meine?«, mischte sich Förnheim ein. »Zu einem Kampf passt das nicht.«
»Davon abgesehen war der Schuss, den der Täter abgegeben hat, ganz sicher letal«, erklärte Wildenbacher. »Es ist auszuschließen, dass Leoni Michaelis ihm daraufhin zum Beispiel noch einen Faustschlag auf die Nase versetzen konnte ...«
»... was die Blutspritzer erklären könnte«, ergänzte Förnheim. »Übrigens war nur einer davon für einen DNA-Test geeignet. Bei den anderen markierten Stellen wissen wir streng genommen nicht, ob es sich um Blut derselben Person handelt, aber die Wahrscheinlichkeit ist natürlich angesichts der Gesamtumstände ausgesprochen groß.«
»Und wenn sie sich vor dem Schuss gewehrt hätte?«, fragte Roy.
»Wir könnten das mal simulieren«, meinte Lin-Tai. »Entsprechende Programme haben wir ja.«
»Tatsache ist, dass es für das Problem bisher keine stimmige Lösung gibt«, sagte Förnheim.