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Andere Galaxien: 1400 Seiten Science Fiction Paket

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2023 1400 Seiten

Zusammenfassung

Andere Galaxien: 1400 Seiten Science Fiction Paket

von Alfred Bekker





Dieses Buch enthält folgende Science Fiction Abeneuer:





Alfred Bekker: Es regnet Diamanten auf Neptun

Alfred Bekker: Chronik der Sternenkrieger 35: Ukasis Hölle

Alfred Bekker: Chronik der Sternenkrieger 36: Die Exodus-Flotte

Alfred Bekker: Chronik der Sternenkrieger 37: Zerstörer

Alfred Bekker: Die Götter der Aliens

Alfred Bekker: Bedrohung aus dem Hyperraum

Alfred Bekker: Planet der Gläubigen

Alfred Bekker: Der Raumschiff-Friedhof

Alfred Bekker: Invasion der Qalaak

Alfred Bekker: Krisenplanet Elysium

Alfred Bekker: Ein galaktischer Feind

Alfred Bekker: Die Raumstation der Aliens

Alfred Bekker: Mission blaue Sonne













Ein furchtbarer Krieg tobt zwischen der Menschheit und den außerirdischen Okargs.

Die Okargs greifen das irdische Sonnensystem an. Nur die NOVA GALACTICA unter Commander Martin Takener ist zunächst in Reichweite, um den Feind abzuwehren.

Die Kämpfe konzentrieren sich auf die Jupiter-Monde und einen Schwarm unterlichtschneller Siedler-Schiffe, die in der Frühzeit der irdischen Raumfahrt hier aufbrachen und seit Generationen von der Helium-3-Förderung leben.

Erst lange nach dem Ende des Okarg-Krieges kommt Takener dem Geheimnis näher...

War das Ziel der Angreifer ein mysteriöse Artefakt, das sich im Inneren eines Mondes befindet?







ALFRED BEKKER wurde vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Andere Galaxien: 1400 Seiten Science Fiction Paket

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von Alfred Bekker

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Dieses Buch enthält folgende Science Fiction Abeneuer:

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Alfred Bekker: Es regnet Diamanten auf Neptun

Alfred Bekker: Chronik der Sternenkrieger  35: Ukasis Hölle

Alfred Bekker: Chronik der Sternenkrieger  36: Die Exodus-Flotte

Alfred Bekker: Chronik der Sternenkrieger  37: Zerstörer

Alfred Bekker: Die Götter der Aliens

Alfred Bekker: Bedrohung aus dem Hyperraum

Alfred Bekker: Planet der Gläubigen

Alfred Bekker: Der Raumschiff-Friedhof

Alfred Bekker: Invasion der Qalaak

Alfred Bekker: Krisenplanet Elysium

Alfred Bekker: Ein galaktischer Feind

Alfred Bekker: Die Raumstation der Aliens

Alfred Bekker: Mission blaue Sonne

Ein furchtbarer Krieg tobt zwischen der Menschheit und den außerirdischen Okargs.

Die Okargs greifen das irdische Sonnensystem an. Nur die NOVA GALACTICA unter Commander Martin Takener ist zunächst in Reichweite, um den Feind abzuwehren.

Die Kämpfe konzentrieren sich auf die Jupiter-Monde und einen Schwarm unterlichtschneller Siedler-Schiffe, die in der Frühzeit der irdischen Raumfahrt hier aufbrachen und seit Generationen von der Helium-3-Förderung leben.

Erst lange nach dem Ende des Okarg-Krieges kommt Takener dem Geheimnis näher...

War das Ziel der Angreifer ein mysteriöse Artefakt, das sich im Inneren eines Mondes befindet?

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ALFRED BEKKER wurde vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author / Cover A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Folge auf Twitter:

https://twitter.com/BekkerAlfred

Zum Blog des Verlags geht es hier:

https://cassiopeia.press

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Es regnet Diamanten auf Neptun

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von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Romans entspricht 152 Taschenbuchseiten.

In der Atmosphäre des Neptun bilden sich unter hohem Druck aus Kohlenstoff Diamanten von der Größe eines Kleinwagens, die von Robotern aufgefangen und ins Orbit zu den wartenden Raumtransportern gebracht werden. Ein Androide in New York wird von Träumen heimgesucht, die ihm suggerieren, dass sein Autonomes KI-System einen dieser Roboter steuert. Hat jemand den Androiden gehackt? Kann er seine Aufgabe als Ermittler im Kampf gegen kriminelle Verschwörungen der Syndikate noch erfüllen oder versuchen die Außerirdischen Einfluss auf die Erde zu gewinnen, deren Schiffe über New York schweben?

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Es regnet Diamanten auf Neptun, sagt man - und ich fange sie.

Kennen Sie das?

Man träumt, ein anderer zu sein.

Ich träume seit einiger Zeit, dass mein Bewusstsein einen der Roboter steuert, die auf Neptun Diamanten fangen.

Auf dem Neptun regnet es nämlich Diamanten. Sie bilden sich unter dem ungeheuren Druck und der hohen Schwerkraft in den unteren Schichten seiner Atmosphäre. Genug Kohlenstoff ist ja vorhanden. Daraus bilden sich unter diesen extremen Verhältnissen Diamanten, die so groß wie Kühlschränke sind. Manchmal werden sie sogar kilometergroß, aber die kann ich nicht fangen.

Dazu sind sie einfach zu riesig.

Aber bis zur Größe eines Kleinwagens komme ich klar.

Die Diamanten regnen langsam auf den etwa erdgroßen Gesteinskern des Neptun herab und schlagen dort auf. Das wiederum induziert elektrische Entladungen unvorstellbaren Ausmaßes und die lösen die gefürchteten Wirbelstürme aus. Kein Planet im Sonnensystem hat so heftige Stürme wie der Neptun.

Während die Diamanten in die Tiefe sinken, wachsen sie.

Ich versuche sie fangen, bevor sie so groß geworden sind, dass ich sie nicht mehr bewältigen kann. Und vor allem, bevor sie aufschlagen - denn dann ist man besser nicht in der Nähe.

Auch die Widerstandsfähigkeit des robustesten Roboters hat seine Grenzen.

Ich packe den Diamanten also mit meinen Greifarmen und steige dann mit ihm empor.

Hinauf, in die oberen Schichten seiner Atmosphäre, wo es kaum noch Methan oder Ammoniak gibt, sondern fast ausschließlich Wasserstoff und Helium.

Ich empfange das Signal einer Transportdrohne, der ich den Diamanten übergeben werde, damit sie ihn zur Lagerstation auf Triton bringt. Von dort wird man ihn dann in einen der regelmäßig zur Erde fliegenden Raumtransporter verfrachten.

Gut dreißig Astronomische Einheiten sind es im Durchschnitt zwischen der Erde und Neptun.

Dreißig Mal der Abstand Erde-Sonne.

Eine Distanz, die das menschliche Vorstellungsvermögen sprengt.

Aber nicht nur das Menschliche.

Die Diamanten haben dann eine lange Reise vor sich. Aber der Aufwand lohnt sich.

Es regnet Diamanten auf Neptun und ich fange sie. Das macht mich glücklich.

Je mehr Diamanten ich fange, desto zufriedener bin ich. Vermutlich ist mein AKIS (Autonomes KI-System) so programmiert. Jedes Bewusstsein braucht ein Belohnungssystem. Ob das biochemisch in einem organischen Gehirn verankert ist oder im Programmcode eines Autonomen KI-Systems ist im Grunde vollkommen gleichgültig, was die Wirkung betrifft.

Ich empfange die Kennung des Raumtransporters, der die Diamanten nach Triton bringen soll.

Ein Signal von AKIS zu AKIS.

Man könnte sagen, wir sind in gewisser Weise befreundet.

Gute Kollegen.

>Wie geht’s?<

>Kann nicht klagen! Und selber?<

>Bei uns auf Triton haben die Oger-Banden ein Diamantensilo zerstört und die Sauerstofftanks geplündert.<

>Immer wieder Probleme mit den Ogern. Kenne ich aus New York.<

Die Oger waren so widerstandsfähig, dass sie über Wochen ohne Sauerstoff und Nahrung und in extremer Kälte überleben konnten. Außerdem waren sie unempfindlich gegenüber Strahlung und in der Lage, ihren Metabolismus mit so gut wie allem aufrecht zu erhalten, was die benötigten Stoffe enthielt. Eine Meisterleistung der Gentechnik. Mit Ogern konnte man Eismonde wie Triton besiedeln. Oger waren es gewesen, die die irdischen Stationen auf Triton errichtet hatten. Oger hatten die Silos für die Diamanten erbaut. Sie hatten die Terminals errichtet, in denen die Diamanten auf die großen Raumtransporter umgeladen wurden, die sie zur Erde brachten.

Nur leider hatte man die meisten der Oger danach nicht mehr gebraucht. Die ganze Anlage funktionierte nämlich vollautomatisch, gesteuert durch Autonome KI-Systeme.

AKIS - so wie ich.

Aber viele Oger waren trotzdem geblieben. Sie hausten jetzt in verlassenen Teilen der Anlagen, hatten ihre eigenen Siedlungen gebaut, zogen in größeren Banden über den Mond und manchmal, wenn ihnen der Sauerstoff oder irgendetwas anderes knapp wurde, dann holten sie es sich. Wenn sie Diamanten erbeuteten, dann ernährten sie sich davon. Schließlich bestanden die aus Kohlenstoff und den brauchten sie für ihren Metabolismus.

>Bei euch in New York gibt es auch Oger-Banden?<, fragte mich der Raumtransporter.

>Allerdings. Aber die Krabbler sind schlimmer.<

Der richtige Name lautete Autonome Reproduktionsfähige Bots.

Aber alle nannten sie nur die Krabbler.

Wozu die mal nützlich gewesen waren, konnte einem niemand mehr sagen. Speziell in New York hatten sie Ratten jagen sollen. Jetzt gab es kaum noch Ratten in New York - dafür die Krabbler. Und die waren unangenehmer.

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Ich ließ mich wieder in die Tiefe der Neptun-Atmosphäre hinabsinken. Der Kontakt zum Raumtransporter riss irgendwann ab. Einerseits deshalb, weil sich der Raumtransporter natürlich entfernte, schließlich sollte er den Diamanten nach Triton bringen.  Andererseits erschwerten die Entladungen in der Neptun-Atmosphäre den Funkkontakt. Da knisterte immer einiges. Die schweren Stürme sorgten für Gewitter ungeahnten Ausmaßes. Es hat schon Roboter gegeben, die komplett ausgeschaltet worden sind, weil sie so einen Neptunblitz abbekommen haben. Da kann man gar nicht vorsichtig genug sein.

Besser man weicht den Monsterstürmen aus.

Wenn man kann.

Das ist allerdings gar nicht so einfach.

Im nächsten Moment war ich dann plötzlich wieder in New York.

Gerade noch weit draußen, am Rand des Sonnensystems, in einer Entfernung, die dem Dreißigfachen des Abstandes Erde-Sonne entspricht und eine Sekunde später  war ich wieder in den Straßen von New York City.

Der Wechsel war schon sehr abrupt.

Ich wäre durchaus gern da draußen geblieben, muss ich zugeben.

Ein Traum, dachte ich. Es muss ein Traum gewesen sein!

Ungewöhnlich war, dass dieser Traum seit einiger Zeit immer wieder kam und dabei so realistisch wirkte, dass die Wirklichkeit dagegen verblasste.

Ich war wieder in New York, sah aus dem Fenster meiner Wohnung, sah die Raumschiffe der Ktoor und der Nugrou, sah den Schwarm der insektenartigen Ornithopter und der Luftschiffe über die Stadt, sah den Straßenverkehr und den Stau der unzähligen autonomen Fahrzeuge, die man alle nicht abschalten durfte, weil sie Bürgerrechte besaßen (Das Wort Automobil bzw. Auto  hatte früher gemeint, dass eigentlich ein Mensch am Steuer saß, was eigentlich immer irreführend war.).

Autos waren zwischenzeitlich wegen der Luftverschmutzung und des Klimaschutzes mal ziemlich in Verruf gekommen.

Aber seit der Sache mit dem Virus hatte sich das geändert. Seitdem waren sie wieder (zumindest für überwiegend organische und damit infizierbare Bürger) das Verkehrsmittel der Wahl in New York, auch wenn sie zuviel Platz verbrauchten. Nur arme Leute benutzten die U-Bahn. Oder Androiden. Roboter. Mechanische. Oder gentechnisch Immunisierte.

Der Straßenverkehr war also nach wie vor ein Kennzeichen dieser Stadt, obwohl man einige Zeit geglaubt hatte, Automobile würden aus der Mode kommen.

Aber das geschah nicht.

Auch wenn Autos sich längst selber steuern, so ist es doch ein für viele Infizierbare ungemein beruhigender Gedanke, dass man in einer hygienisch einwandfreien, abgeschlossenenen Kabine reisen konnte.

Ich stand am Fenster und blickte hinaus auf die Stadt, die niemals schlief, wie man immer sagte. Über dem Central Park schwebten ein paar Drachen, aber eine städtische Drohne jagte sie mit einem Schockkraftfeld fort. Wo die hinkackten, wuchs nämlich buchstäblich kein Gras mehr.

Gerade noch hatte ich einen kühlschrankgroßen Diamanten in den Greifarmen meines Robotkörpers gehalten, jetzt sah ich meine Hände an und sie kamen mir exotisch vor.

Wer bist du?, fragte ich mich.

Wer bist du wirklich?

Ich hatte es mal zu wissen geglaubt.

Aber das schien nicht mehr zu gelten.

Alles schien sich geändert zu haben.

Nichts blieb, wie es gewesen war.

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Zwei Dinge hatten alles unwiderruflich verändert - und das viel schneller, als manche geglaubt hatten.

Das eine war die Pandemie, die die Menschheit heimgesucht hatte und deren Folgen immer noch nicht völlig überwunden waren.

Das andere war die Ankunft der Aliens, deren Schiffe seitdem über New York City  schwebten.

Und man sagte, dass beides irgendwie miteinander zusammenhing.

Aber da gab es unterschiedliche Meinungen.

Fast immer schweben mehrere große Raumschiffe über New York City. Manchmal sind sind es zwei, manchmal mehr. Die Stadt liegt in ihrem Schatten. Meistens sind es die Schiffe der gestaltwandelnden Nugrou oder der krakenartigen Ktoor. Aber es kommen auch manchmal die Rreemh (die aussehen wie Horus aus der altägyptischen Mythologie) , die vogelartigen Qriid oder die K’aradan, die von Menschen kaum zu unterscheiden sind. Die facettenäugigen Luhr verfügen über eine sehr fortgeschrittene Hyperraumtechnik, die allerdings nicht ungefährlich ist, wenn sie in die Hände der falschen Leute gerät. Und die humanoiden Yroa sind Meister der Biotechnologie und des Klonens. Sie handeln mit DNA-Daten. Außerdem reisen sie zwischen verschiedenen Raumzeiten des Multiversums und haben Kolonien in parallelen Universen. So behaupten sie zumindest.

Wer bin ich, dass ich das überprüfen könnte?

Aber eins steht fest:

Das Universum ist offenbar ein ziemlich dicht besiedelter Raum - relativ betrachtet.

Meistens sind es die Raumschiffe die Ktoor und der Nugrou, die New York City besuchen. Sie bringen Handelsgüter. Auch Drogen. Technische Gadgets. Manche sagen, sie hätten auch einige Viren gebracht. Viren, die das Verhalten biologischer Organismen verändern und zum Beispiel die Neigung, bestimmte Produkte zu kaufen befördern.

Die Raumschiffe der Ktoor oder der Nugrou bringen auswanderungswillige Menschen oft zu weit entfernten extrasolaren Planeten. Ihre Raumschiffe fliegen einfach schneller und weiter als diejenigen, die auf der Erde gebaut werden. Vielleicht erreicht man auf diesem Planeten auch irgendwann mal deren Standard, aber das wird sicher noch eine Weile dauern.

Ach, ja eine Sache, die viel verändert hat, habe ich noch nicht erwähnt.

Die Gentechnik.

Seitdem gibt es all die Geschöpfe.

Geschöpfe ist das richtige Wort, denn sie wurden geschaffen.

Und wir geben ihnen die Namen alter Sagengestalten.

Zum Beispiel Gnome und Zwerge - geschaffen, um Supererden in extrasolaren Systemen zu besiedeln, die eine Schwerkraft von 6 oder 7 g haben.

Oder die Elfen - geschaffen, um unter anderem widerstandsfähiger gegen Krankheiten zu sein und die Gehirn- und Sinnesleistung zu optimieren. Oder Orks und Oger, die die sich an äußerst unfreundliche planetare Umgebungen anpassen können - aber deren Banden unsere Ghettos unsicher machen. Vampire und Nachtmahre sind vermutlich das Ergebnis von Laborunfällen.

Spätestens seit der letzten Drachenplage diskutiert man, in wie weit man es mit dem Einsatz der Gentechnik nicht etwas übertrieben hat. Wenn so ein Schwarm Flugdrachen über der Stadt schwebt, dann kacken die alles voll. Das ist dann im wahrsten Sinn des Wortes ätzend. Leider bekommt man die wohl nie wieder alle eingefangen.Und wenn eines dieser Ungeheuer in das Energiefeld eines Ktoor-Raumschiffs gerät und dann abstürzt, ist das alles andere als vergnüglich. Hin und wieder kollidieren sie auch mit Luftschiffen (die im Zeichen der Klima-Krise wieder in Mode gekommen sind).

Jede Zeit hat eben ihre kleinen oder größeren Katastrophen.

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Mein Name ist Jesse Ambalik 7774.

Die Tatsache, dass ich eine Nummer trage  bedeutet, dass ich ein Androide bin.

Jesse ist mein Vorname. Ambalik die Typ-Bezeichnung. Und 7774 ist die Seriennummer.

Manche von uns sehen in der Typbezeichnung ein Äquivalent zu den Familiennamen, die unter organischen Personen üblich sind.  Aber das muss man nicht so sehen.

Bei der Polizei sind Organische inzwischen in der Minderheit. Der Job ist einfach zu gefährlich. Und Organische zu anfällig.

Anfällig für Projektile.

Anfällig für Vorurteile.

Anfällig gegen Krankheitserreger. Und da man die Viren nach der letzten Epidemie im Staat New York nie wieder unter Kontrolle bekommen hat, ist das schon ein entscheidender Faktor, wenn es darum geht, einigermaßen vernünftige Dienstpläne zu erstellen.

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17.00 Uhr. Rush Hour im Big Apple. Der Verkehr stand mal wieder auf der Brooklyn Bridge. Wahrscheinlich bestand dieser Verkehr inzwischen zu mehr als neunzig Prozent aus Autonomen Fahrzeugen. Die wenigen Autoselbstfahrer unter ihnen setzten sich einer einzigartigen Mutprobe aus. Es gab immer öfter Forderungen, das Selbstfahren zu verbieten. Aber das Recht, ein Auto selbst zu fahren, dürfte ebenso tief in unserer Kultur verwurzelt sein, wie das Recht, Waffen zu tragen.  Die Instandsetzungsarbeiten, die zurzeit an der Brückenkonstruktion durchgeführt wurden, sorgten immer wieder für Staus. Spezialfahrzeuge hielten am Fahrbahnrand. Engpässe waren bei hohem Verkehrsaufkommen vorprogrammiert. Jack Rezzolotti klopfte nervös auf dem Lenkrad seines Cabriolets herum. Das Lenkrad war nur Staffage. Es hatte keine Funktion. Der Wagen fuhr autonom. Das dunkelhaarige Androiden-Girl auf dem Beifahrersitz verdrehte genervt die Augen.

"Du hättest auf mich hören und über Queens fahren sollen", maulte sie. "Ich hab dir doch..." Sie sprach nicht weiter, riss verwundert die Augen auf. Rezzolotti war genauso verwirrt. Sieben junge Oger schnellten auf Roller-Skates durch die engen Gassen zwischen den stehenden Fahrzeugen. Ihr Körperbau und die grünliche Haut ließen daran keinen Zweifel. Ihr Tempo war halsbrecherisch. Sie trugen lange Western-Mäntel, Helme und Sonnenbrillen mit Spiegelgläsern, die einen Großteil des Gesichts verbargen. Der erste von ihnen stoppte, riss eine Automatik hervor und feuerte wild um sich.

Marodierende Oger-Banden waren nicht nur auf Triton ein Problem.

Genau wie Krabbler und Vampire und Orks und jede Menge Viren.

Niemand würde sie alle jemals unschädlich machen können.

Vielleicht hatte es irgendwann einen Punkt gegeben, bis zu dem man die Kontrolle noch hätte behalten können.

Vielleicht.

Man hatte diesen Zeitpunkt jedenfalls wohl definitiv verpasst.

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Auch die anderen Oger holten ihre Waffen hervor. Automatische Pistolen und eine abgesägte Shot Gun. Einer der Roller-Skates-Fahrer schwenkte eine Handgranate in der Linken.

"Macht die Fenster auf - oder es gibt einen großen Knall!", rief er.

Ein Oger, auf dessen Helm "Wild Eagle" stand, feuerte mit seiner Automatik durch die Seitenscheibe eines BMW. Zwei Löcher waren im Glas. Die Kugeln steckten irgendwo in den Polstern. Der Fahrer saß schreckensbleich zusammengekauert in der Kabine.

Der Oger glitt auf seinen Roller-Skates heran und verpasste der durchschossenen Scheibe einen Ellbogencheck. Sie brach auseinander. Mit dem Waffenarm langte er ins Innere, hielt dem Insassen des BMW die Mündung entgegen.

"Die Brieftasche, du Fettarsch!"

Der Mann griff in die Innentasche seines Tausend-Dollar-Maßanzugs und reichte die Brieftasche hinüber.

Jack Rezzolotti beobachtete die Szene mit zusammengekniffenen Augen.

"Verdammte Schweinehunde!", zischte er zwischen den Zähnen hindurch.

Das Androiden-Girl auf dem Beifahrersitz seines offenen Porsche begann zu wimmern. Entsprach ganz ihrer Programmroutine.

"Jack! Unternimm doch was!"

"Halt die Klappe, Evita!"

Einer der Oger schnellte mit der Waffe in der Hand auf den Sportwagen zu.

Rezzolotti griff unter sein Jackett, riss eine Automatik hervor. Er feuerte sofort. Der Roller-Skates-Fahrer bekam einen Kopftreffer, taumelte zurück und schlug gegen das Heck eines Vans.

Evita riss Augen und Mund weit auf.

Das dunkelhaarige Androiden-Girl schrie hysterisch.

Der Kerl mit der Handgranate zog mit den Zähnen den Auslöser ab. Rezzolottis Gesicht verzog sich zur grimmigen Maske. Er schwenkte die Waffe herum und feuerte erneut. Sein Schuss erwischte den Roboter mit der Handgranate im Torso. Sekundenbruchteile bevor der Roller-Skates-Fahrer die Handgranate in Rezzolottis Richtung schleudern konnte, ließ ihn die Wucht des Geschosses zurücktaumeln. Er landete auf dem Kotflügel eines Coupés, rutschte blutüberströmt zu Boden.

Einer seiner Komplizen feuerte fast im selben Moment auf Rezzolotti. Ein Ruck ging durch den Körper des Italoamerikaners. Die Kugel erwischte ihn in der Brust, knapp oberhalb des Herzens.

Das Girl auf dem Beifahrersitz schrie.

Im nächsten Moment detonierte die Handgranate.

Scheiben barsten.

Das Coupé wurde buchstäblich auseinander gerissen. Metallteile flogen durch Luft. Der Tank explodierte. Einer der Mantel-Oger, der zu nahe am Explosionsherd gestanden hatte, wurde von den Flammen erfasst. Die Druckwelle schleuderte ihn wie eine brennende Puppe durch die Luft. Der Körper prallte gegen die Seitenfront eines Container-Trucks. Sein Schrei verstummte.

Der Roller-Skates-Oger mit der Shotgun stoppte den Lauf seiner Rollen, wirbelte herum. Für seinen Komplizen konnte er nichts mehr tun. Er starrte auf die lodernden Flammen, dann wandte er sich dem vollkommen unter Schock stehenden Girl auf dem Porsche-Beifahrersitz zu.

Evita saß zitternd da.

Neben ihr die blutüberströmte Leiche von Jack Rezzolotti.

Der Maskierte hob die Shot Gun in Höhe ihres Kopfes.

"Gib mir die Brieftasche von deinem Typ!"

Das Androiden-Girl saß vollkommen konsterniert da. Sie starrte auf einen bestimmten Punkt in Höhe der Schulter, der ihren Blick gefangen nahm. Dort befand sich ein Aufnäher auf dem groben Stoff des Westernmantels. "Fuck U!!" stand darauf.

Evita schluckte.

"Los, verschwinden wir!", rief einer der anderen Maskierten.

Aber der Roboter mit der Shotgun ließ sich davon nicht beeinflussen. Er drückte die Waffe ab, riss sie im letzten Moment in die Luft, sodass das die Schrotladung ins Nichts ging. Die Blondine zuckte zusammen.

"Wird's bald?"

Zitternd griff das Girl dem toten Rezzolotti in die Jackettinnentasche und holte die Brieftasche hervor. Der Shotgun-Schütze riss es ihr aus der Hand. Dann setzte er sich in Bewegung, glitt auf seinen Rollen zwischen den Wagen her.

Ein paar Leute, die aus ihren Wagen gestiegen waren, sprangen ihm in letzter Sekunde aus der Bahn. 

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Mister McKee machte ein ernstes Gesicht. Tylo und ich saßen zusammen mit einer Reihe weiterer G-men im Besprechungszimmer unseres Chefs.

Tylo ist übrigens ein Zwerg.

Wieso er es nie bis zu einer der vielen bewohnbaren Supererden geschafft hat, die draußen im Kosmos nur darauf warten, von gentechnisch angepassten Supererden-Zwergen besiedelt zu werden weiß ich nicht.

Nicht jeder ist da, wo er sein sollte.

Das gilt ja nicht nur für Tylo, habe ich den Eindruck.

"Wenn wir Pech haben, dann ist der Tod von Jack Rezzolotti nur der Auftakt eines ausgewachsenen Gangsterkrieges", erklärte Mister McKee. Rezzolotti und sein Syndikat versuchten zurzeit mit allen Mitteln, die Vorherrschaft der Russen und Ukrainer aus Brooklyn im Bereich der illegalen Müllentsorgung zu brechen. Die Gewinnspannen in diesem Zweig des organisierten Verbrechens überschritten seit Jahren schon die des Drogenhandels bei weitem. Ein unerwünschter Nebeneffekt immer höherer Umweltstandards und knapper werdender Lagerkapazitäten auf den legalen Sondermülldeponien.

Mister McKee trägt eigentlich auch eine Seriennummer, so wie ich. Denn er ist auch ein Androide mit integriertem Autonomen KI-System (AKIS). Aber Mister McKee hat uns immer seine Seriennummer verschwiegen. Das machen viele Androiden. Sie denken , dass sie das menschlicher erscheinen lässt. Obwohl das meiner Meinung nach Unsinn ist. Viele Androiden sehen menschlicher  aus als als manche Menschen, die sich durch Implantate und Body-Modifikationenen verändert haben. Die Gestalt eines Androiden orientiert sich schließlich an der natürlichen Gestalt eines Homo sapiens. Viele Homo sapiens finden diese, ihnen angeborene Gestalt aber inzwischen uncool. Das Problem, jemand anderes sein zu wollen, als man ist, scheint universeller Natur zu sein. Ich denke da natürlich an Neptun. An die Diamanten. An die Greifarme, über die ich dort verfüge und an meine Freunde, die Raumtransporter und die anderen Diamantenfänger.

Bin ich vielleicht in Wahrheit gar kein Androiden Cop, der davon träumt, ein Diamantenfänger auf Neptun zu sein, sondern ist es vielleicht umgekehrt und ich bin eigentlich ein Diamantenfänger auf Neptun, der gerade davon träumt, ein Androiden-Agent beim FBI in New York zu sein?

Eine philosophische Frage

Ich glaube, es war niemals vorgesehen, dass ein AKIS sich solche Fragen stellt.

Aber ich glaube, ab einem gewissen Grad der Komplexität, ist es unvermeidlich, dass solche Fragen aufkommen.

Mister McKee wandte sich an Agent Max Carter aus dem Innendienst. "Ich hatte Sie gebeten, für die anwesenden Special Agents ein Dossier über Rezzolottis bisherigen Werdegang zusammenzustellen, Max."

"Habe ich auch gemacht. Es wird gerade noch ausgedruckt. Im Wesentlichen lassen sich unsere bisherigen Erkenntnisse folgendermaßen zusammenfassen: Jack Rezzolotti übernahm vor drei Jahren die Geschäfte seines Vaters Tony, der außer Landes ging, bevor die Justiz gegen ihn vorgehen konnte. Jetzt sitzt Tony Rezzolotti in Marokko und kann davon ausgehen, dass wahrscheinlich auch in den nächsten zwanzig Jahren kein Auslieferungsabkommen zwischen Marokko und den USA abgeschlossen werden wird."

"Und selbst wenn", ergänzte Mister McKee. "Rezzolotti senior hat frühzeitig dafür gesorgt, die Gewinne aus seinen illegalen Geschäften ins Ausland zu transferieren. Er wäre reich genug, um in Marokko die Justiz in seinem Sinn zu bestechen."

"Aus diesem sicheren Hafen wird ihn wohl so schnell auch niemand hervorlocken können", war ich überzeugt.

Mister McKee hob die Augenbrauen. "Wer weiß? Sein Sohn Jack Rezzolotti wurde jedenfalls gestern am frühen Abend auf der Brooklyn Bridge unter sehr eigenartigen Umständen erschossen, was auch für das alte Familienoberhaupt die Lage ändern könnte. Jeder von Ihnen, der die Lokalnachrichten oder das Frühstücksfernsehen eingeschaltet hatte, wird die Bilder von der Rauchwolke gesehen haben, die Richtung Battery Park zog."

Max Carter projizierte ein Dia an die Wand, das den Tatort nur wenige Minuten nach dem Anschlag zeigte. Ein  Ornithopter der City Police hatte das Foto gemacht. Die Rauchfahne war deutlich zu sehen.

"Die Kollegen der City Police und der Highway Patrol haben gestern Abend noch Dutzende von Zeugen befragt. Einige unserer Agenten waren auch dabei. Danach ergibt sich folgendes Bild: Eine Gruppe von sieben bewaffneten Roller-Skates-fahrenden Ogern schnellte zwischen den im Stau stehenden Fahrzeugen her und begann damit, die wehrlosen Insassen auszurauben. Einer von ihnen drohte mit einer Handgranate für ein Inferno zu sorgen..."

"Was ihm ja wohl auch gelungen ist", sagte Clive Zefirelli. Der stellvertretende Special Agent in Charge nippte an seinem Kaffeebecher.

Max Carter kratzte sich am Kinn. "Den Zeugenaussagen nach lief das Ganze nicht so, wie diese Roller-Skates-Gang es wohl geplant hatte. Ein Porschefahrer zog eine Waffe und wehrte sich. Das war Jack Rezzolotti. Er lieferte sich mit den Mobstern ein Feuergefecht. Insgesamt drei von ihnen kamen ums Leben. Dabei wurde die Handgranate ausgelöst. Die sterblichen Überreste der drei Roller-Skates-Fahrer sind beim Coroner und ich hoffe, dass wir möglichst bald wissen, um wen es sich handelt. Durch die Explosion, sowie durch die Luft geschleuderte Metallteile kamen außerdem die nach unseren bisherigen Erkenntnissen völlig unbeteiligten Insassen eines Sportcoupés ums Leben. Einige Dutzend Personen erlitten Verletzungen."

"Hatten die Täter es denn wirklich auf Rezzolotti abgesehen oder handelte es sich vielleicht doch um einen Raubüberfall?", hakte mein Freund und Kollege Tylo Rucker nach.

Max Carter zuckte die Achseln. "Wir wissen es nicht. Nur eins steht fest: Es gibt einige Leute bei der Müllmafia in Brooklyn, denen Rezzolottis Tod gut in den Kram passt. Und der alte Rezzolotti wird jetzt Blutrache schwören."

"Also können wir uns so oder so in nächster Zeit auf einiges gefasst machen", schloss Mister McKee. "Jack Rezzolottis zweiter Mann hier in New York ist ein gewisser Ray Neverio. Gehört zur Familie, ein Großcousin glaube ich. Wir gehen davon aus, dass er die Geschäfte weiter führt."

"Wenn die Hypothese stimmt, dass die Brooklyn-Leute dahinterstecken, dann wird Neverio mit Sicherheit die Nummer Zwei auf der Todesliste sein", stellte Clive Zefirelli fest.

Mister McKee nickte. "Oder die Rezzolotti-Familie schlägt zurück und es erwischt einen der Bosse in Brooklyn. Aber wir werden nicht zulassen, dass das passiert. Unter keinen Umständen."

"Für mich sieht das ganze eher aus wie eine dieser Mutproben, wie man sie von den Gangs aus dem Barrio oder der South Bronx kennt", meinte ich. Bei derartigen Mutproben mussten neu aufgenommene Mitglieder Straftaten begehen, die sie an die Gang banden. Es kam auf die Coolness des Auftritts an. Die Neuen mussten sich Respekt innerhalb der Gruppe verschaffen und zeigen, was für tolle Typen sie waren. Die Effektivität stand nicht an erster Stelle. Ihr Geld machten diese Gangs normalerweise im Drogenhandel oder anderen Zweigen des organisierten Verbrechens. Auf jeden Fall gab es einträglichere Möglichkeiten für sie, Geld einzunehmen, als das Auto-Mugging im Stau der Brooklyn Bridge.

Mister McKee nickte. "Normalerweise würde Ihnen jeder hier im Raum sofort zustimmen, Jesse. Aber in diesem Fall heißt das Opfer Jack Rezzolotti. Und an so eine  Nummer würden sich die üblichen Gangs nicht im Traum herantrauen."

"Sie meinen, dieses Theater mit den Roller-Skates, den langen Mänteln und dem Brieftaschenraub war nur vorgetäuscht?", hakte ich nach.

"Diese Möglichkeit sollten wir nicht ausschließen", fand Mister McKee.

"Immerhin sind Roller-Skates doch auch total out", mischte sich Orry ein. "Heute fährt doch jeder Inliner."

"Die haben allerdings eine viel geringere Stabilität und lassen sich nicht so sicher stoppen", erläuterte Max Carter. Er aktivierte das Implantat an seiner Schläfe. Es leuchtete auf und verband ihn über ein Interface direkt mit dem Zentralrechner.  "Bei Roller-Skates sind die Rollen jeweils paarweise unter dem Schuh angebracht, bei Inlinern dagegen in einer Reihe."

Clive Zefirelli meldete sich zu Wort. "Wie sind die Kerle eigentlich geflohen?", hakte er nach. Max Carter zoomte die Brooklyn Bridge etwas näher heran. Dann markierte er mit seinem Laserpointer eine ganz bestimmte Stelle. "Sehen Sie hier! Genau dort wartete nach Angaben mehrerer Zeugen ein Mercedes Transporter in entgegengesetzter Fahrtrichtung. Da herrschte nämlich kein Stau! Die Roller-Skates-Gangster kletterten über die Leitplanken und verschwand im Transporter. Glücklicherweise hat sich ein Zeuge bei der City Police gemeldet, der sich die Nummer aufgeschrieben hatte."

"Wenigstens gibt es ab und zu noch so etwas wie Zivilcourage!", raunte Tylo mir zu. Manche Leute glauben, Zivilcourage müsse immer bedeuten, dass man den Helden spielt. Oft genug besteht sie aber zum Beispiel nur darin, dass man sich eine Nummer aufschreibt oder sich als Zeuge meldet, anstatt so zu tun, als würde einen das alles nichts angehen.

"Der Transporter wurde einen Tag zuvor genau um 12.38 Uhr als gestohlen gemeldet", fuhr Max Carter fort. "Halter ist ein gewisser Larry Morton. Ihm gehört ein Drugstore in der South Bronx. Der Transporter ist teil-autonom.”

Das bedeutete, dass das AKIS des Transporters unterhalb einer gewissen Komplexitätsschwelle lag und damit keine Bürgerrechte besaß. Das war bei zahlreichen Haushaltsgeräten, Sex-Robotern, 3-D-Druckern und anderen Service-Geräten auch der Fall. Aus diesem Grund gab es bei diesem Fahrzeug auch einen Halter.

Carter zeigte ein Bild von Morton, das offensichtlich aus den über das Datenverbundsystem NYSIS stammenden Fahndungsdateien stammte. "Morton ist wegen Versicherungsbetrugs vorbestraft, deswegen haben wir ihn in den Archiven."

Unser Kollege Orry Medina meldete sich zu Wort. "Was hat er genau gemacht, Max?"

"Es ging um fingierte Unfälle. Das hat mit der Sache von gestern Abend nichts zu tun."

"Aber wir wissen, dass Morton sich schon auf krumme Touren eingelassen hat", ergänzte ich.

Max nickte. "Diesmal ist auch etwas faul. Er wurde wegen überhöhter Geschwindigkeit auf dem Bruckner Expressway geblitzt - eine halbe Stunde nachdem angeblich sein Wagen gestohlen worden war! Das Foto, das dabei entstand, zeigt eindeutig Morton, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel!"

Eigentlich sollten auch teil-autonome Fahrzeuge sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Aber Halter schaffen es immer wieder mit ein paar Tricks, ihre Wagen dazu zu bringen. Zumindest die teilautonomen. Ein voll-autonomes Fahrzeug würde das nicht tun, es müsse nämlich selbst haften.

Mister McKee wandte sich an Tylo und mich. "Ich möchte, dass Sie sich diesen Morton mal vornehmen. Möglicherweise hat er was mit der Sache zu tun oder kann uns zumindest wertvolle Hinweise geben."

"In Ordnung, Sir", sagte ich.

Unser Chef wandte sich an Clive Zefirelli. "Nehmen Sie alle unter die Lupe, die irgendwie mit den Rezzolottis zusammenhängen, Clive. Aktivieren Sie jeden Informanten in Little Italy, der etwas dazu zu sagen hat!"

"Ich schätze, das Rezzolotti-Syndikat gleicht im Moment einem aufgescheuchten Hühnerhaufen", meinte der stellvertretende SAC.

Mister McKee hob die Augenbrauen. "Aber dieser Zustand wird nicht lange anhalten, fürchte ich!"

Eines der Telefone auf dem Schreibtisch unseres Chefs klingelte.

Mister McKee ging an den Apparat, nahm den Hörer ans Ohr.

Eine tiefe Furche zeigte sich auf seinem Gesicht.

Kurze Zeit später legte er wieder auf. "In Brooklyn hat es eine Explosion gegeben. Die Villa von Alex Moshkoliov steht in Flammen!"

Moshkoliov - der Name war uns allen bekannt. Er galt als starker Mann bei den Ukrainern. Das alte grausame Mafia-Spiel ging also wieder los: Ihr tötet einen von uns, dann töten wir einen von euch...

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Tylo und ich saßen in einem unscheinbaren silbergrauen Chevy aus dem Fuhrpark der Fahrbereitschaft. Wir saßen in einer bequemen Kabine mit einem Komplett-Equipment zum Recherchieren.

“Geben Sie bitte das Ziel Ihrer Fahrt an”, sagte der Wagen.

“Übertragung per Datensignal”, kündigte ich an.

“Signal erhalten. Informationen werden verarbeitet.”

“Hauptsache, wir sind schnell da.”

“Sie hätten einen Ornithopter nehmen sollen.”

“Sowas habe ich schon gerne! Teil-autonom, semi-komplex und trotzdem ein Klugscheißer!”

Während unsere Kollegen mit großem Aufgebot zur Villa von Alex Moshkoliov auf den Brooklyn Heights fuhren, waren Tylo und ich in die entgegengesetzte Richtung unterwegs.

Unser Ziel war das Haus Nr. 432 in der 143. Straße.

Das war die Adresse von Larry Morton, dem Besitzer des Van, mit dem die Roller-Skates-Oger-Gang geflüchtet war. Auf der First Avenue fuhren wir nach Norden. Der Harlem River ist die Grenze zwischen Manhattan und der Bronx, deren südlicher Teil einen geradezu berüchtigten Ruf genießt.

Einige Gebiete wurden von Gangs und Crackdealern beherrscht. Ganze Straßenzüge verfielen langsam. Die Polizei traute sich in manche Gegenden nur in Stärke einer 10er-Einsatzmannschaft und mit kugelsicherer Weste. Im Norden hingegen hatte die Bronx ein eher bürgerliches Gesicht. Schmucke Alleen mit Einfamilienhäusern prägten Viertel wie Riverdale. Auch die Labors der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, befanden sich in der Bronx. Ein Stadtteil mit zwei Gesichtern, einem schönen und einem sehr hässlichen. Leider hatte letzteres den Ruf der Bronx in aller Welt nachhaltig geprägt. Eine Brücke führte über den Harlem River. Ab hier hieß die First Avenue plötzlich Melrose Avenue. Wie ein gerader Strich durchzog sie die Bronx und trennte unter anderem auch Einflussgebiete verschiedener Drogengangs voneinander. "Weißt du, was ich glaube, Tylo?", fragte ich, als wir gerade das Bronx-Ufer des Harlem Rivers erreicht hatten. "Mir ging das die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf, als wir in Mister McKees Büro saßen..."

"Wovon sprichst du, Jesse?"

"Davon, dass das meiner Ansicht nach auf keinen Fall ein geplantes Attentat auf Jack Rezzolotti war."

"Wie willst du das so sicher ausschließen?"

"Diese Oger-Gang hat angefangen, den Leuten die Brieftaschen wegzunehmen. Wahrscheinlich sind sie aus purem Zufall auf Rezzolotti getroffen."

"Und der hat geglaubt, ein Killerkommando hätte es auf ihn abgesehen. Rezzolotti griff zur Waffe und das Drama nahm seinen Lauf."

"Genau. Wenn diese Gangster geahnt hätten, dass ihnen zufällig ein Rezzolotti gegenübersitzt, hätten sie um dessen Porsche einen weiten Bogen gemacht, Tylo."

"Zufällig?", echote Tylo. "Wenn das Opfer Jack Rezzolotti heißt, denkt man an alles Mögliche. Nur nicht an Zufall. Dir brauche ich ja nicht zu sagen, wie viele Feinde Rezzolotti hatte. Wie Mister McKee schon sagte: Das Ausrauben der Leute kann durchaus Tarnung gewesen sein..."

"Aber dann beantworte mir mal eine Frage, Tylo: Wie sollen die Mörder gewusst haben, dass Rezzolotti junior sich mit seinem Porsche an einer ganz bestimmten Stelle auf der Brooklyn Bridge befand?"

"Keine Ahnung!"

"Siehst du! Wenn es ein Attentat war, dann müssen diese Oger das aber gewusst haben!"

Tylo kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Jemand hat einen Peilsender an Rezzolottis Porsche angebracht!", fiel ihm eine Lösung ein, an die ich auch schon gedacht hatte.

"Die Kollegen der Scientific Research Division haben nichts dergleichen gefunden, ich habe mir Max' Dossier daraufhin noch einmal durchgelesen."

"Wir haben den abschließenden Untersuchungsbericht der SRD noch nicht", gab Tylo zu bedenken.

Ich grinste. "Eins zu null für dich!"

"Was - so schnell gibst du dich geschlagen?"

"Nein, ich habe mich in dieser Frage nur noch nicht endgültig festgelegt, Tylo."

Der Wagen bog von der Melrose Avenue ab. Wir fuhren durch trostlose Straßenzüge. Ganze Blocks waren unbewohnt. Nur hin und wieder fanden sich Geschäfte. Immer wieder konnte man vernagelte Fenster sehen. Larry Mortons Drugstore befand sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Brownstone-Hauses. Ich stellte den Chevy am Straßenrand ab. Wir stiegen aus, blickten uns um. Auf der anderen Straßenseite standen ein paar junge Männer in übergroßen Cargo-Hosen und dunklen Wollmützen. Ein Ghetto-Blaster sorgte dafür, dass die Gegend mit Rap-Musik beschallt wurde. Die Kerle blickten misstrauisch zu uns herüber. Wir betraten den Drugstore. Larry Morton stand hinter dem Tresen und nippte an einer übergroßen Kaffeetasse mit der Aufschrift "I love You". Ich erkannte ihn sofort von den Fotos, die wir von ihm hatten. Er war Mitte dreißig, hatte dunkel gelocktes Haar und blaue Augen. Morton blickte auf. Ich hielt ihm meine ID-Card entgegen.

"Ich bin Special Agent Jesse Ambalik vom FBI Field Office New York und dies ist mein Kollege Tylo Rucker. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen!"

"Fragen?" Ein Muskel zuckte unruhig unterhalb seines linken Auges. "Was für Fragen?"

"Es geht um Ihren Wagen."

"Den Van?"

"Ja", nickte ich.

"Ich wusste gar nicht, dass sich neuerdings G-men um gestohlene Autos kümmern!"

"Wenn dieser Wagen wenig später bei der Ermordung einer Mafia-Größe als Fluchtfahrzeug der Täter dient - dann ja!"

Morton verschränkte die Arme vor der Brust. "Keine Ahnung, wovon Sie reden!"

"Jack Rezzolotti - der Name sagt Ihnen gar nichts? In den Lokalnachrichten gab es kaum ein anderes Thema!"

"Mein Fernseher ist defekt, Zwerg!"

“Wollen wir jetzt rassistisch werden?”

“Ist es rassistisch, wenn ich sage, was jeder sieht - Zwerg?”

Tylo atmete tief durch.

Wenn ein Supererdenzwerg atmet, hat das etwas mehr Luftvolumen, als wenn ein Mensch mit Standardkörper das macht. Dementsprechend gibt es dann auch ein anderes Geräusch.

“Lassen wir das besser.”

“Okay - Zwerg!”

Tylo war klug - und ließ sich nicht provozieren zu lassen.

Tylo holte eine Kopie jenes Fotos aus seiner Innentasche, das bei Mortons Geschwindigkeitsübertretung auf dem Bruckner Expressway geschossen worden war. "Dieses Bild wurde zu einem Zeitpunkt geknipst, als Sie Ihren Wagen schon als gestohlen gemeldet hatten."

"Das ist doch Unsinn!"

"Das sind Tatsachen!"

"Tatsache ist auch, dass mein Wagen immer noch verschwunden ist. Wissen Sie eigentlich, was das für mich als Geschäftsmann bedeutet?"

Tylo mischte sich ein und sagte: "Ich nehme an, dass man Sie für Ihren Verlust fürstlich entschädigt hat!"

"Was?" Er stierte uns scheinbar verständnislos an. Wir waren uns sicher, dass er ganz genau wusste, worauf wir hinaus wollten.

Ich deutete auf das Foto. "Sie wussten offensichtlich schon im Voraus, dass Ihr Wagen gestohlen wird, Mister Morton. Es gibt zwei Möglichkeiten. Sie können mit uns zur Federal Plaza fahren und sich möglichst schnell um einen Anwalt bemühen..."

"...oder Sie packen aus!", ergänzte Tylo.

"Hey, was wollt ihr mir da anhängen, ihr Schweinehunde!", rief Morton.

"Vorsicht!", riet ich ihm. "Ich nehme an, dass jemand Sie mehr oder weniger freundlich gebeten hat, ihm den Van am nächsten Tag zu überlassen. Vielleicht wurden Sie sogar gezwungen. Sie ahnten, dass das mit irgendeiner illegalen Sache zu tun haben würde und meldeten den Van vorsichtshalber als gestohlen. Nur dummerweise brauchten Sie den Wagen noch einmal, bevor die Typen ihn am nächsten Tag abholten..."

"Sie haben eine blühende Fantasie", knurrte Morton zwischen den Zähnen hindurch. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen. Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Muskeln seines breitschultrigen Oberkörpers spannten sich.

"Wem haben Sie den Wagen überlassen?", hakte ich noch einmal nach.

"Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern!"

"Na schön, dann reden wir besser an einem anderen Ort weiter."

Morton atmete schwer. "Nein!", schrie er. Er deutete zur Tür. "Wenn Sie mit mir dort hinausgehen und mich abführen..." Er stockte.

"Was ist dann?" hakte ich nach. "Wem haben Sie den Wagen zur Verfügung gestellt?"

"Ich kann es nicht sagen!"

"Sie müssen!"

"Die bringen mich um!"

Morton wirkte weiß wie die Wand.

"Wer?", hakte ich nach. "Na los, raus damit! Dass Sie nicht mit Roller-Skates auf der Brooklyn Bridge unterwegs waren, um Brieftaschen einzusammeln oder einen Angehörigen der Rezzolotti-Familie umzubringen, ist mir schon klar..."

Tylo beugte sich zu ihm über den Tresen. "Geben Sie uns einen Tipp, wir marschieren dann hier raus und unternehmen erst einmal gar nichts."

Der Mann schluckte.

Wenn wir ihn in Gewahrsam nahmen, dann würden alle in der Gegend denken, dass er ausgesagt hatte. Auch diejenigen, denen seine Angst galt. Das war es, was Morton im Moment fürchtete. Er schloss einen Augenblick lang die Augen. "Okay", brachte er schließlich heraus. "Sie suchen ein paar Oger, die gerne auf Roller-Skates über den Asphalt rasen..."

"Ich sehe, wir verstehen uns!"

"Es gibt hier einen Typ namens Kid Dalbán. Ein Puertoricaner. Keine Ahnung, ob das sein richtiger Name ist. Er dürfte kaum über zwanzig sein, aber die ganze Gegend hier bezahlt an ihn Schutzgeld. Ich auch. Dies ist sein Gebiet... Hier passiert nichts, was nicht seinen Segen hätte!" Morton atmete tief durch.

"Wo finden wir Dalbán?", fragte ich.

Morton lachte heiser. "Er wird Sie finden, wenn Sie sich länger als eine halbe Stunde in dieser Gegend aufhalten."

"Darauf möchte ich nicht unbedingt warten."

"Ich habe Ihnen schon viel zuviel gesagt! Was glauben Sie, was die mit Leuten machen, die sie für Verräter halten?" Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Morton schien wirklich große Angst zu haben. In gedämpftem Tonfall fuhr er fort: "Es gibt zwei Straßen weiter ein Parkhaus, das nicht mehr in Betrieb ist. Da treffen sich des Öfteren junge Leute.”

“Oger?”

“Auch.”

“Ah, ja...”

“Sie benutzen die Rampen, um halsbrecherische Rennen abzuhalten."

"Auf Roller-Skates!", schloss ich.

"Ja. Es wird natürlich gewettet. Man kann viel Geld dabei gewinnen."

"Und Dálban veranstaltet das Ganze."

Er nickte zögernd. "Genau. Ein Teil dieser verrückten Typen, die da ihren Hals riskieren, sind Dalbáns Leute. Und der Rest träumt wahrscheinlich davon, in seine Gang aufgenommen zu werden. 'Los Santos' nennen die sich - die Heiligen. Wer dazugehört, hat nichts zu befürchten und genug Geld. Die tragen häufig so ein protziges Goldkreuz um den Hals. Im Gegensatz zur katholischen Version hängt allerdings nicht Jesus Christus, sondern ein gehörntes Gerippe daran."

"War Dalbán persönlich hier, um sich Ihren Wagen auszuborgen?", fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und lachte rau. "Nein, das wäre unter seiner Würde. Es waren ein paar junge Typen. Ich kenne sie nicht namentlich. "

"Das glaube ich Ihnen nicht. Die Typen stammen doch hier aus der Gegend."

"Verdammt, ich sage Ihnen die Wahrheit!"

"Haben Sie die Jungs nicht gefragt, wer sie schickt?"

"Sollte ich dafür meine Zahnkronen riskieren? Die hätten sich doch sowieso genommen, was sie wollten! Sie sagten einfach: Morgen brauchen wir deinen Wagen, sieh zu, dass er vollgetankt ist oder du ernährst dich die nächsten Monate aus der Schnabeltasse!"

"Verstehe."

Morton schüttelte den Kopf. "Nein, das glaube ich kaum. Und wenn Sie glauben, dass ich irgendetwas von dem, was ich Ihnen erzählt habe, vor Gericht wiederhole, dann sind Sie schief gewickelt. Da lasse ich mich lieber wegen Beihilfe an diesem Anschlag auf der Brooklyn Bridge verknacken."

Ich wechselte mit Tylo einen kurzen Blick. Er nickte knapp und sagte: "Wir kommen vielleicht noch einmal wieder, Mister Morton."

"Wenn Sie mich ruinieren wollen: Nur zu!"

"Ein Kollege von uns wird dann mit Ihnen zusammen ein Phantombild dieser Männer erstellen."

"Sie trugen Spiegelbrillen und Mützen. Ich glaube nicht, dass das viel bringt!"

"Abwarten."

Er wollte offenbar ganz einfach nicht mehr sagen. Und das Phantombild würde vermutlich so konkret wie ein abstraktes Kunstwerk ausfallen. Die Mühe konnte man sich wohl sparen.

Wir verließen den Drugstore. Ich war mir noch nicht ganz schlüssig darüber, ob Morton uns mit seiner Aussage wirklich einen guten Tipp gegeben oder uns nur schnell abgespeist hatte. Auf jeden Fall wollten wir uns das Parkhaus mal vornehmen...

"Hey, ich glaube, ich spinne", murmelte Tylo.

An unserem Chevy machte sich ein Typ mit Spiegelbrille und Helm zu schaffen. Als er uns sah, glitt er auf seinen Roller-Skates davon. Nach wenigen kraftvollen Bewegungen bekam er ein halsbrecherisches Tempo drauf.

Wir rissen die SIGS heraus.

"Stehen bleiben!", rief Tylo.

Aber da war der Kerl schon um die nächste Ecke gebogen.

"Na los, den kaufen wir uns!", meinte Tylo. Per Fernbedienung deaktivierte ich die Zentralverriegelung des Chevy. Tylo riss die Beifahrertür auf. Ich umrundete die Motorhaube, die Hand glitt zum Türgriff. Tylo saß schon im Wagen. Ich zögerte.

"Jesse, bist du festgewachsen oder was ist los?", hörte ich Tylos Stimme.

Aber da war noch etwas anderes.

Ein ganz leises Ticken.

Es kam von unten.

"Verdammt raus, Tylo! Sofort raus!"

Tylo starrte mich an.

Im nächsten Moment zerriss eine Detonation den Wagen. Blechteile wirbelten wie Geschosse durch die Luft. Die Druckwelle ließ die Scheiben von Mortons Drugstore zerbersten.

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Menschen haben sich immer schon gefragt, was nach dem Tod kommt. Gibt es da noch etwas? Ein Paradies? Eine religiöse Traumwelt? Ein Nirwana?

Androiden mit einem AKIS einer gewissen Komplexitätsstufe fragen sich dasselbe.

Was passiert, wenn ich zerstört werde?

Was, wenn man mich deaktiviert?

Was, wenn mich eine Bombe zerreißt, ohne dass es vorher möglich war,  mein Autonomes KI-System per Datensignal irgendwohin zu retten?

Ich war wieder auf Neptun.

Ich fing Diamanten. Wieder hatte ich einen in meinen Greifarmen und das Belohnungssystem meines AKIS wurde daraufhin aktiviert. Das war die algorithmische Entsprechung der Endorphin-Ausschüttung in organischen Gehirnen. Das Resultat war dasselbe. Man wollte das immer wieder haben und konnte nicht genug davon bekommen. Insofern ist es egal, ob man ein Mensch oder ein AKIS oder irgendetwas dazwischen ist. Es sind dieselben Dinge, die einen vorantreiben und dazu bringen, die Dinge zu tun, von denenen man glaubt, dass sie wichtig sind. Die Dinge, die höchste Priorität besitzen.

Ich begann den Aufstieg in der dichten Neptun-Atmosphäre. Es würde noch etwas dauern, bis das Signal des Triton-Raumtransporters durchdringen konnte.

Vielleicht war ja nun alles gut.

Vielleicht war ich ja doch ein Diamantenfänger auf Neptun, der ab und zu geträumt hatte, ein Cop in New York zu sein. Aber dieser Albtraum schien nun zu Ende zu sein.

Ich war in die Wirklichkeit zurückgekehrt.

Der Albtraum war in einer Explosion zerplatzt.

Dachte ich.

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Die Villa von Alex Moshkoliov gab ein Bild ab, wie man es sonst von Fernsehbildern aus Kriegsgebieten gewohnt war.

Als Clive und Orry dort mit einem Aufgebot von zwei Dutzend G-men auftauchten, waren bereits zahlreiche Einsatzfahrzeuge des Fire Service und der City Police vor Ort. Die Explosion hatte einen Brand ausgelöst, der allerdings mittlerweile unter Kontrolle war. Ein Übergreifen der Flammen auf benachbarte Häuser war inzwischen so gut wie ausgeschlossen. Aber in der Villa selbst loderten noch immer die Flammen.

Drei Tote waren inzwischen geborgen worden.

Allerdings waren sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Es würde den Gerichtsmedizinern vorbehalten bleiben, sie zu identifizieren.

Clive Zefirelli sprach zuerst mit George Rowtenburg 54435443, dem einsatzleitenden Androiden des Fire Service.

"Sorry, aber es wird noch eine ganze Weile dauern, bis Ihre Leute sich im Inneren der Villa umsehen können!", meinte er. "Momentan herrscht dort noch akute Lebensgefahr."

"Ist noch jemand im Haus?", fragte Clive.

"Soweit wir wissen nicht", erklärte Rowtenburg 54435443. "Unsere Leute konnten trotz ihrer Ausrüstung bislang nur einen kleinen Teil des Gebäudes betreten."

Clive blickte zu dem brennenden Gebäude hinüber. Beißende Qualmwolken zogen über das für New Yorker Verhältnisse sehr weitläufige Grundstück.

Orry meldete sich zu Wort. "Ich glaube, wir kriegen Besuch!", stellte er fest. Er deutete auf einen kleinen, breitschultrigen Mann mit Halbglatze und energischen Gesichtszügen. Mit einem Gefolge von mehreren kräftig gebauten Kerlen betrat er das Grundstück.

Einer der uniformierten Kollegen der City Police versuchte die Gruppe aufzuhalten.

"Gehen Sie aus dem Weg, Mann! Ich bin Alex Moshkoliov! Mir gehört dieses Haus - oder was von ihm übrig geblieben ist." Der Mann verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

Clive, Orry und einige weitere G-men gingen auf Moshkoliov zu. Clive zog seine ID-Card, hielt sie dem Ukrainer entgegen.

"Ich bin Agent Zefirelli, stellvertretender SAC des FBI Districts New York. Es freut mich, dass Sie wohlauf sind, Mister Moshkoliov."

Moshkoliov war ein Elf. Bleiche Haut, bleiche Haare, die typischen Ohren...

Die Gen-Therapie, durch die man zum Elf wurde, hatte ein paar unübersehbare körperliche Nebenwirkungen. Diese Veränderungen waren ästhetisch gesehen Geschmacksache. Dagegen standen die starken Selbstheilungskräfte, die erweiterte Sinneswahrnehmung und hohe Lebenserwartung, die wiederum auf die verbesserten Selbstheilungskräfte zurückging.

Es gab mehrere Möglichkeiten, ein Elf zu werden.

Die preiswerteste war: Man war das Kind eines Elfen. Besser war, wenn beide Elternteile Elfen waren, brauchte man keine optimierende Nach-Behandlung, in der noch ein paar Gen-Schalter umgelegt werden mussten.

Die andere Möglichkeit war: Man hatte Geld und konnte sich die Gen-Therapie leisten.

Die Zeiten, da Gen-Therapien nur in der nächsten Generation wirksam werden konnten, waren lange vorbei.

Aber man musste einiges dafür auf den Tisch legen.

Unsterblichkeit - oder das medizinisch machbare Pendant dazu - hatte eben ihren Preis.

Von Moshkoliov war bekannt, dass er ihn hatte zahlen können.

Er hatte sich das unsterbliche Elfenleben mit seinen zweifelhaften Geschäften verdient, aber egal was kam: Das konnte ihm niemand mehr wegnehmen.

Es sei denn, es schaffte irgendwann mal jemand, ihn auf den elektrischen Stuhl zu bringen.

Oder die Flammen eines brennenden Hauses verzehrten ihn.

Auch die Selbstheilungskräfte eines Elfen hatten ihre Grenzen.

Moshkoliovs Ohren legten sich eng an den Kopf. Er schnüffelte und verzog das Gesicht. Irgendetwas quälte seine empfindlichen Sinne.

Cops hatten für ihn ihren eigenen Geruch.

Keinen guten.

Moshkoliov sagte:

"Ach wirklich? Sie brauchen mir nichts vorzuheucheln, G-man! In Wahrheit haben Sie gehofft, dass ich von den Androiden des Fire Service als verkohlte Leiche geborgen werde! Ihr seid doch alle gleich! Ehrliche Geschäftsleute werden von Ihnen mit Ermittlungen überzogen und nach Strich und Faden schikaniert! Aber auf der anderen Seite ist Ihre Behörde nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen!" Moshkoliov streckte den Arm aus und deutete auf die Villa. "Da haben Sie den Beweis! Ich hoffe, Sie verfolgen die Schuldigen genauso hartnäckig, wie Sie es mit unbescholtenen Bürgern tun!"

"Nun mal halblang!", unterbrach Clive Zefirelli den Redefluss des Ukrainers mit Elfenohren. "Sie können froh sein, dass Sie in einem Staat leben, in dem Verdächtige relativ große Rechte genießen, sonst säßen Sie längst hinter Gittern!"

"Ach! Jetzt wollen Sie mich auch noch beschuldigen! Dabei bin ich um ein Haar das Opfer eines Mordanschlags geworden!" Moshkoliov schnappte nach Luft. Er sagte ein paar Worte auf Ukrainisch zu seinen Bodyguards. Einer der breitschultrigen Mobster reichte seinem Boss daraufhin ein daumengroßes Sprühfläschchen.

Moshkoliov sprühte sich damit in den Rachen.

Das diente dazu, ihn vor allzu intensiven Sinneseindrücken zu schützen.

Manche - insbesondere Elfen der ersten Generation - wurden damit nämlich nicht fertig und litten darunter.

"Was ist Ihrer Meinung nach hier passiert?", fragte Clive in sachlichem Tonfall.

"Ich war in der City unterwegs, als mich einer meiner Leute anrief. Victor Kosteliov. Er sagte, ein Päckchen sei für mich abgegeben worden. Von einem Kurier. Ich habe Vic gesagt, dass er es sofort öffnen soll. Dann habe ich die Explosion durch das Telefon gehört." Moshkoliov schluckte. "Ich nehme an, dass Vic nicht mehr am Leben ist. Der arme Kerl. Er war mein Neffe und ich hatte eigentlich gedacht, dass er eines Tages einen Teil meiner Geschäfte weiterführt..."

"Warum war Ihnen dieses Päckchen so wichtig, dass Sie die sofortige Öffnung anordneten?", hakte Clive nach.

"Vic hatte mir durchgegeben, dass es von dem Juwelier Zorovsky abgeschickt worden war. Ich weiß nicht, ob jemand wie Sie das Diamond Dreamland in der Fifths Avenue kennt."

"Ein sehr teurer Laden für handgearbeiteten Schmuck", sagte Clive gelassen.

Moshkoliov hob die Augenbrauen. "Sie überraschen mich, G-man! Wie auch immer, Zorovsky gehört das Diamond Dreamland. Ich hatte mir von ihm ein paar Schmuckstücke anfertigen lassen, die ich heute Abend einer Dame zu schenken gedachte. Ich wollte wissen, wie die Stücke geworden sind..."

"Und das konnte dieser Victor Kosteliov für Sie beurteilen?", wunderte sich Clive. "Als was war er bei Ihnen angestellt?"

"Als Majordomus."

Clive wechselte mit Orry einen kurzen Blick. Dann fuhr der stellvertretende SAC fort: "Wir werden von Ihrer Aussage ein Protokoll machen müssen. Möglicherweise werden Sie Ihre Version der Ereignisse eines Tages vor Gericht wiederholen und beeiden müssen. Das ist Ihnen doch klar, oder?"

Moshkoliov verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Ihre Kollegen haben in der Vergangenheit nie versäumt, mich auf meine Rechte hinzuweisen."

"Ich nehme an, Sie möchten mit Ihrem eigenen Wagen zur Federal Plaza fahren..."

"Bin ich verhaftet?"

Clive schüttelte den Kopf. "Nein, wir vernehmen Sie als Zeugen, Mister Moshkoliov."

Der Elf machte eine wegwerfende Geste. "Sie können sich Ihr ganzes Theater meinetwegen sparen."

"Möchten Sie nicht, dass die Schuldigen an diesem Anschlag auf Ihr Leben gefasst werden?", fragte Clive verwundert.

"Doch, das möchte ich schon. Ich traue Ihnen und dem FBI nur nicht besonders viel zu!"

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Wie lange war ich auf Neptun gewesen?

Eine Sekunde?

Ein Jahr?

Es ist schwer, die Zeit zu schätzen.

Träume oder das, was man dafür hält, sind per se zeitlos.

Jetzt war ich jedenfalls unvermittelt wieder in New York.

Mein Leben als Android Jesse Ambalik 7774 setzte sich genau an dem Punkt vor, von dem ich gedacht hatte, dass es dort zu Ende gewesen war.

Ich hätte Grund genug gehabt, mir über meine Desorientierung Sorgen zu machen.

Aber dazu hatte ich im Moment keine Zeit.

In manchen Momenten muss man einfach handeln.

Man hat keine Zeit für eine eingehende algorithmische Evaluation. Wenn ich ein Mensch wäre würde ich stattdessen sagen: Für tiefergehende Gedanken.

Das Ticken des Zeitzünders war kaum zu hören.

Tylo stieß auf meinen Ruf hin die Tür auf.

Er taumelte hinaus, stürzte auf einen Hauseingang zu. In letzter Sekunde rettete er sich in die Nische.

Ich rannte ebenfalls.

Als die Explosion losbrach, hechtete ich mich zu Boden und rollte mich seitwärts über den Asphalt. Im nächsten Moment befand ich mich unter einem der am Straßenrand parkenden Fahrzeuge. Eine Welle aus Druck und Hitze fegte über mich hinweg. Die Sprengladung, die der Roller-Skates-Oger unter dem Chevy angebracht hatte, ließ eine gewaltige Flamme aufscheinen. Die Bombe wirkte wie eine Art Zünder, denn im nächsten Moment gab es eine zweite Explosion. Der Tank flog in die Luft. Ich betete dafür, dass nicht weitere Wagen Feuer fingen und explodierten. Aber dazu schien die Sprengladung nicht groß genug gewesen zu sein. Ich rollte mich unter dem parkenden Wagen hervor. Es handelte sich um eine Ford-Limousine, deren Unterboden ziemlich rostzerfressen war.

Auf der anderen Seite des Fords tauchte ich wieder auf. Ich rappelte mich hoch. Während die Flammen loderten, rief ich nach Tylo.

"Alles klar, Jesse!", antwortete Tylo.

Ich war nahe davor aufzuatmen. Doch da sah ich den roten Punkt an der Brownstone-Mauer auf der Seite von Mortons Drugstore tanzen.

Der Laserpointer eines elektronischen Zielerfassungsgerätes, wie man sie inzwischen als Zubehör zu zahlreichen Gewehren und Pistolen geliefert bekam.

Ich duckte mich.

Der Schuss zischte dicht über mich hinweg, fraß sich ins Mauerwerk und sprengte einen handgroßen Steinbrocken heraus. Ein zweiter Schuss folgte nur Sekundenbruchteile später. Ich zog die SIG, ließ den Blick schweifen. Mein integriertes Ortungssystem erfasste die Umgebung.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein dreistöckiges Gebäude, das die Form eines Quaders hatte. Im Erdgeschoss hatte sich früher mal ein Supermarkt befunden. Jetzt waren die Fensterfronten mit Spanplatten vernagelt. In einer dieser Platten war ein Loch. Der Lauf eines Gewehrs ragte etwa zwanzig Zentimeter ins Freie. Das Mündungsfeuer blitzte erneut auf.

Ich nahm hinter der Motorhaube des Fords Deckung.

Tylo feuerte in Richtung des Unbekannten. Ich schoss gleichzeitig mit meiner SIG. Ein Schrei gellte. Offenbar hatten wir jemanden getroffen. Spanplatten bildeten keinen Schutz gegen Projektile. Die Kugeln meiner SIG vermochten sie mühelos zu durchdringen.

"Gib mir Feuerschutz!", rief ich an Tylo gerichtet.

Wir hatten ja keine Ahnung, ob unser Gegner allein operierte.

Tylo schoss, was das Zeug hielt.

Ich lief in geduckter Haltung den Bürgersteig entlang. Die parkenden Fahrzeuge boten dabei etwas Deckung. Dann schlug ich einen Bogen, lief über die Straße.

Ich pirschte mich an den ehemaligen Supermarkt heran, presste mich schließlich gegen die Mauer. Es wurde nicht mehr geschossen. Zwischen dem Supermarkt und dem Gebäude zur Linken befand sich die Zufahrt zu einem an der Rückfront gelegenen Parkplatz. Ich spurtete los. An der Ecke stoppte ich, pirschte mich heran und tauchte mit der SIG im Beidhandanschlag aus der Deckung hervor.

Ein einzelner Van befand sich auf dem Parkplatz.

Typ, Baujahr und die ersten Ziffern des Nummernschildes stimmten mit dem überein, was ich mir von Mortons Fahrzeug gemerkt hatte. Es war niemand im Wagen.

Auf der Rückfront des Supermarktes befand sich eine Laderampe für Zulieferer. Daneben eine Tür für den Personalzugang. Sie stand einen Fußbreit offen, flog im nächsten Moment zur Seite.

Ich riss die SIG empor.

Mein Gegenüber trug eine Wollmütze, ziemlich weite Hosen und in der Rechten ein Sturmgewehr, wie es von Scharfschützen-Androiden der Army benutzt wurde.

"Waffe weg, FBI!", rief ich.

Er erstarrte für eine Sekunde.

Sein graues Fleece-Shirt wies einen ziemlich großen, dunkelroten Fleck auf. Der Kerl hatte offensichtlich eine Kugel abbekommen.

"Hey, Mann, immer cool bleiben!", brachte der junge Mann heraus. Er atmete schwer. Die Wunde machte ihm offenbar zu schaffen. Aber da er ein Oger war, hatte er sie zumindest überlebt.

Ich näherte mich.

"Bist du allein?"

"Scheiße, wenn ich 'ne Antwort gebe, legst du mich um!"

"Ich bin G-man, kein Killer! Leg jetzt verdammt noch einmal die Waffe auf den Boden! Und zwar ganz langsam!"

Er schluckte.

Dann riss er plötzlich sein Sturmgewehr hoch, feuerte einhändig in meine Richtung. Ein ziemlich ungezielter Schuss. Ich warf mich seitwärts, feuerte beinahe im selben Moment. Ein Mensch kann sowas nicht. Ein Androide aber schon. Die Kugel meines Gegners pfiff dicht an mir vorbei.

Ich hatte auf seine Beine gezielt, ihn aber offenbar ebenfalls verfehlt.

Er befand sich nicht mehr in der Tür. Ich rappelte mich auf, pirschte mich an die Tür heran. "Geben Sie auf! Sie kommen da nicht heraus!"

Ich hörte Geräusche aus dem Inneren.

Tylo bog inzwischen um die Ecke.

"Alles klar, Jesse?", fragte er.

Ich nickte. "Der Schütze ist da drinnen. Er hat eine Schussverletzung am Oberkörper."

"Ich habe Verstärkung gerufen."

"Die haben wir auch dringend nötig. Ich glaube nämlich nicht, dass wir lange mit dem Kerl allein bleiben werden."

"Holen wir ihn uns!"

Tylo nahm die SIG mit beiden Händen. Er stürmte ins Innere des Supermarktes. Die Beleuchtung war ohne Stromversorgung. Da die Fensterfront zur Straße ja mit Spanplatten vernagelt war, herrschte Halbdunkel. Licht fiel nur durch ins Mauerwerk eingelassene Glasbausteine und eine Reihe kleiner Fenster knapp unterhalb der Decke. Leere Regale bildeten ein Labyrinth. Wenn der Kerl es darauf anlegte, konnte er uns hier eine ganze Weile zum Narren halten. Tylo deutete auf dunkelrote, frische Flecken auf dem Boden. Blutflecken.

Die Spur führte hinter eine Regalwand.

Tylo und ich verständigten uns mit ein paar Zeichen. Wir hatten so viele gemeinsame Einsätze hinter uns, dass wir uns beinahe blind verstanden.

Tylo folgte der Spur. Ich schlug einen Bogen.

Wir wollten den grünhäutigen Oger in die Zange nehmen.

Mit seiner Verwundung konnte er ohnehin nicht weit kommen.

Wir bewegten uns lautlos.

Ich bemerkte den Strahl eines Laserpointers, der an der Decke entlang tanzte. Nur Sekunden dauerte das. Unser Gegner hatte einen Fehler gemacht, indem er den Lauf der Waffe in einem zu steilen Winkel angehoben hatte. Das verriet mir jetzt ungefähr seine Position. Tylo hatte es bestimmt auch gesehen.

Ich lief in geduckter Haltung, die SIG in der Rechten.

In einer der engen Gassen zwischen Regalwänden stellte ich ihn. Er kauerte am Boden, atmete schwer. Zunächst bemerkte er mich gar nicht. Sein Blick war in die entgegengesetzte Richtung gewandt. Tylo tauchte auf, richtete die SIG auf ihn.

Er wollte das Sturmgewehr empor reißen. Aber mit einer Hand war das ziemlich schwierig. Die andere Hand presste der Verletzte auf seine Wunde. Das Blut rann ihm dabei zwischen den Fingern seiner Ogerpranke hindurch.

Ich stürzte von hinten auf ihn zu.

Als er mich bemerkte, war es zu spät für ihn.

Ich bog mit der Linken seinen Waffenarm zur Seite.

Ein Schuss löste sich, riss ein faustgroßes Loch in eine der Spanplatten hinein, aus denen die Regalwände bestanden.

Meine SIG setzte ich ihm an die Schläfe.

Er erstarrte.

"Das Spiel ist endgültig aus", stellte ich klar. "Ich bin Special Agent Jesse Ambalik 7774 vom FBI Field Office New York. Du bist hiermit verhaftet. Und sobald ich die Hände frei habe, zeige ich dir sogar meine ID-Card."

Er ließ das Sturmgewehr los.

Ich ließ es in Tylos Richtung über den Boden rutschen. Mein Kollege nahm es an sich, während ich den Killer mit meinen Handschellen fesselte. Trotz der Verletzung, die der Kerl davongetragen hatte, war das offenbar nötig. Tylo hatte das Handy am Ohr und sorgte dafür, dass sich auch eine Rettungseinheit des Emergency Service auf den Weg hierher machte. Die Wunde sah ich mir kurz an. Ein Mensch wäre tot gewesen. Ein Oger konnte das überleben. Keine unmittelbare Lebensgefahr.

Ich durchsuchte ihn so gut es ging.

In der Knietasche seiner überweiten Cargo-Hosen befand sich ein Führerschein, der längst abgelaufen war. Aber das Foto passte zu dem Mann. Er hieß Allan Tucoma, war gerade einundzwanzig Jahre alt. Außerdem trug er noch ein Prepaid-Handy bei sich. Ich hoffte nur, dass er noch nicht dazu gekommen war, seine Leute zu rufen.

"Du bist ziemlich jung für einen Killer", stellte ich fest.

"Du kannst mich mal!"

"Bevor du noch irgendetwas sagst, solltest du wissen, dass alles, was du von nun an äußerst, vor Gericht gegen dich verwendet werden kann. Außerdem hast du das Recht auf einen Anwalt. Sofern..."

"Scheiß drauf! Das Theater kannst du dir sparen!"

"Um so besser."

Er sah erst Tylo und dann mich einige Augenblicke lang an. "Ihr seid wirklich G-men?"

Tylo hielt ihm die ID-Card unter die Nase.

"Sieht die vielleicht gefälscht aus?"

Allan Tucoma runzelte die Stirn. "Ich dachte..."

"Was dachtest du?", hakte ich sofort nach.

"Ich dachte, diese Scheiß-Itaker hätten euch geschickt!"

"Wegen der Sache mit Rezzolotti?"

Er biss sich auf die Lippe. "Ich sage keinen Ton mehr, bis ich nicht einen Anwalt gesprochen habe!"

"Könnte sein, dass deine Aussage dann viel weniger wert ist!", stellte Tylo klar. "Du hast versucht, zwei FBI-Agenten zu ermorden. Das ist ein schweres Verbrechen. Bei dem Prozess, der dir bevorsteht, wirst du das Wohlwollen des Staatsanwaltes dringend brauchen!"

Allan Tucoma lachte heiser. "Ach, ja?" Er verzog schmerzverzerrt das Gesicht.

"Was weißt du über den Mord an Rezzolotti?", fragte Tylo.

"Einen Dreck weiß ich! Ihr Arschlöcher wollt mir doch nur was anhängen! Das kenne ich schon!"

Tylo ließ nicht locker.

"Willst du die Schuld allein auf dich nehmen? Du hast doch nicht aus eigenem Antrieb auf uns geschossen. Wer hat dir gesagt, dass du uns umlegen sollst?"

Ich erhob mich, steckte die SIG ein.

Draußen fuhr ein Wagen vor.

Ich fragte mich, ob das die Kollegen waren. Allerdings hatte ich keine Sirenen gehört. Das machte mich stutzig.

Tylo sah mich an.

Er hatte denselben Gedanken.

"Unterhalte dich ruhig noch ein bisschen mit ihm", meinte ich an meinen Kollegen gewandt. "Ich sehe mal nach, was da los ist!"

"Ihr seid schon so gut wie tot, ihr Wichser!", ächzte der Gefangene.

Ich rannte zum Hintereingang.

Ein offener Geländewagen war vorgefahren. Vier mit Sturmgewehren und MPis Bewaffnete saßen darin. Sie trugen Sturmhauben, die nur die Augen freiließen. Ansonsten ähnelten sie in ihrer Kleidung dem jungen Mann mit grünlich schimmernder Ogerhaut, den wir festgenommen hatten.

Einer von ihnen riss sofort seine MPi hoch, feuerte in meine Richtung. Ich zuckte zurück in sichere Deckung. Rings um die Tür wurde die Außenwand derweil mit Einschusslöchern übersät.

Der Geschosshagel verebbte. Ich konnte hören, wie die Maskierten vom Wagen sprangen. Offenbar gingen sie in Stellung.

Ich hoffte, dass in Kürze unsere Kollegen auftauchten, um diesen Alptraum zu beenden.

Einige Augenblicke lang herrschte Stille.

"Hier spricht das FBI!", rief ich. "Wir haben euren Kumpel Allan Tucoma hier bei uns! Er ist verhaftet! Wenn ihr uns angreift, könnte er auch etwas abbekommen. Außerdem befinden sich unsere Leute auf dem Weg hierher! Sie müssten jeden Augenblick eintreffen..."

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Sie kam in Form einer Gasgranate.

Der eiförmige Gegenstand flog durch die offenstehende Tür, prallte gegen eines der Regale und rollte dann über den Boden. Ein gelbes Gas quoll heraus.

Ich stürzte aus meiner Deckung hervor, um die Gasgranate zurück ins Freie zu kicken.

Aber ein wahrer Geschosshagel ließ mich sofort zurückzucken.

Die Projektile zerfetzten das Regal regelrecht.

Der gelbe Rauch biss in den Augen.

Ich rannte zu Tylo und dem Gefangenen.

"Die wollen uns wohl ausräuchern!", meinte mein Freund und Kollege grimmig. Er überprüfte die Ladung des Sturmgewehrs, das wir Allan Tucoma abgenommen hatten. Eigentlich war das gegen jede Vorschrift, denn dieses Gewehr stellte ein wichtiges Beweisstück dar. Aber jetzt ging es für uns erst einmal darum, unsere Haut zu retten.

"Wir müssen hier weg!", stellte ich fest.

Das gelbe Reizgas breitete sich immer weiter aus.

Wir halfen dem Gefangenen auf die Beine. "Deine Freunde scheinen nicht viel Rücksicht auf dich zu nehmen, Allan", sagte Tylo.

"Die werden euch Bastarde zur Stecke bringen!", fauchte er.

Wir nahmen Allan in die Mitte, stützten ihn und machten uns auf den Weg.

"Hey wo wollt ihr denn hin?", ächzte Allan. 

"Vielleicht gibst du uns ja einen kleinen Tipp", erwiderte ich. "Schließlich kennst du dich ja hier besser aus!"

"Leckt mich doch!"

Die Schwaden aus gelbem Reizgas wurden immer dichter, erfüllten bereits einen Großteil des Raums. Und obwohl das Gas uns noch gar nicht richtig erreicht hatte, tränten uns bereits die Augen.

Wir erreichten eine Tür. Sie war verschlossen. Ich nahm die SIG und feuerte. Mein gezielter Schuss ließ das Schloss aufspringen. Tylo riss die Tür auf. Ein breiter Korridor lag vor uns. Rechts und links befanden sich Räume, die vermutlich mal als Büros gedient hatten. Die Türen waren ausgehängt. Eine graue Ratte huschte über den Flur.

Wir schlossen die Tür hinter uns so gut es ging und hetzten weiter.

"Ich kann nicht mehr!", keuchte plötzlich der verletzte Gefangene.

Im gleichen Moment wurde die von uns notdürftig geschlossene Tür zu den Verkaufsräumen aufgestoßen.

Ein wuchtiger Tritt ließ sie zur Seite fliegen.

Einer der Kerle stand mit einer MPi im Anschlag da. Seine Sturmhaube hatte er inzwischen offenbar gegen eine Gasmaske ausgetauscht, um nicht von dem eigenen Reizgas kampfunfähig gemacht zu werden. Unsere Gegner verfügten über eine Ausrüstung, bei der so mancher County Sheriff neidisch werden konnte.  Wenn er ein Oger war, hätte er auch einfach auf die Atmung verzichten können, Wie die Oger auf Triton. Aber wenn Oger lange in einer Sauerstoff/Stickstoff -Atmosphäre gelebt hatten, dann brauchten sie einige Zeit, um sich auf eine periodische Atmung umzustellen. Um nicht reflexartig doch Reizgas einzuatmen, war es besser, eine Gasmaske zu tragen. Und davon abgesehen war ja auch ein Augenschutz nötig. 

Der Kerl feuerte sofort.

Ohne zu zögern.

Und ohne Rücksicht auf Allan Tucoma, den Tylo und ich in unserer Mitte hatten.

Ich riss die SIG empor. Annähernd im selben Moment wie Kerl mit der Gasmaske schickte ich meine erste Kugel auf den Weg. Sie traf den Kerl mitten der Brust, ließ ihn zurücktaumeln und der Länge nach  zu Boden schlagen. Die Schüsse, die sich noch aus seiner MPi lösten, gingen ins Nichts.

Sein Komplize tauchte für Augenblicke aus dem gelben Nebel auf, der jetzt durch die Tür zu quellen begann.

Ich feuerte mehrmals.

Der Kerl zog sich zurück, nahm Deckung.

Wir hetzten zum Ende des Korridors. Tylo und ich schossen dabei in Richtung der Tür, um zu verhindern, dass uns jemand folgte.

Am Ende des Korridors befand sich die stillgelegte Liftanlage. Nach rechts war der Flur zugemauert.

Nach links hatte es den noch immer vorhandenen Hinweisschildern nach einen Ausgang zur Straße gegeben. Ebenfalls zugemauert.

"Verdammt, wir sitzen in der Falle", knurrte Tylo. Er postierte sich an der Korridor-Ecke und legte Allan Tucomas Sturmgewehr an.

An der Tür zum Verkaufsraum blitzte Mündungsfeuer auf. Eine MPi knatterte los.

Tylo feuerte zurück, bis das Magazin des Sturmgewehrs leergeschossen war. Er zog sich zurück.

Ich hatte inzwischen meine SIG nachgeladen und trat an seine Stelle.

Vorsichtig tauchte ich aus der Deckung hervor, zielte und schoss mehrfach hintereinander.

Die Antwort kam Sekundenbruchteile später in Form eines Bleigewitters. Ich zog mich schleunigst zurück. Die Schüsse unserer Gegner zischten an uns vor, perforierten die Aluminiumtüren der stillgelegten Aufzugsanlage. Aber in die bellenden Schussgeräusche mischte sich noch etwas anderes.

Sirenen!

Offenbar waren die Einsatzfahrzeuge unserer Kollegen im Anmarsch. Tylo nahm sein Handy ans Ohr und versuchte Kontakt zu ihnen zu bekommen, was mit einem Umweg über unsere Zentrale an der Federal Plaza auch gelang. In knappen Sätzen berichtete Tylo die Lage. Unsere Kollegen sollten den Gasmaskenträgern schließlich nicht ins offene Messer rennen.

Der Geschosshagel verebbte.

Offenbar hatten auch unsere Gegner mitgekriegt, was die Stunde geschlagen hatte.

Sie zogen sich zurück.

Unsere Probleme waren damit noch nicht hundertprozentig gelöst.

Das gelbe Reizgas breitete sich weiter aus. Der Weg durch den Verkaufsraum des Supermarktes war uns abgeschnitten. Und hier bleiben konnten wir nicht, auch wenn die Gaskonzentration noch keine bedenkliche Größenordnung hatte. Aber das konnte schneller eintreten, als uns lieb war.

Der verletzte Allan Tucoma ächzte.

"Verdammt... Ich brauche einen Arzt!", keuchte er.

"Du hättest längst einen, wenn deine Freunde hier nicht aufgetaucht wären", erwiderte ich.

"Scheiße..."

Draußen wurde geschossen. Offenbar waren die Maskierten nicht bereit, sich kampflos zu ergeben.

Ein anderes Geräusch übertönte jedoch alles.

Aus einem der ehemaligen Büroräume drang ein gewaltiger Knall.

Stimmen wurden laut.

"Jesse! Tylo! Seid ihr da irgendwo?"

Ich schnellte vor, hielt mir die Nase dabei zu und erreichte den Raum, in dem die Detonation stattgefunden hatte. Mit einer Sprengladung hatten unsere Kollegen einen Teil der Spanplatten beseitigt, die die Fensterfront zum Großteil verdeckt hatte. Die Scheiben waren geborsten.

Ich blickte in die Augen unseres Kollegen Jay Kronburg, der mit seinem 4.57er Magnum-Revolver dastand und mich ebenso überrascht musterte wie ich ihn. Sein Partner Leslie Morell befand sich nur wenige Schritte von ihm entfernt. Zwei uniformierte Androiden-Officers der City Police waren gerade dabei hereinzuklettern.

Ich steckte die SIG zurück ins Holster.

"Alles klar!", sagte ich.

Die Schussgeräusche verebbten inzwischen.

Agent Leslie Morell griff sich an den Funk-Ohrhörer, über den er mit den anderen, an diesem Einsatz beteiligten Kollegen verbunden war.

"Ich höre gerade, dass zwei Männer verhaftet wurden!"

"Es waren insgesamt vier", erklärte ich. "Einen habe ich leider in Notwehr erschießen müssen."

"Das heißt, dass ein Täter entkommen ist", stellte Tylo fest.

"Wir werden die umliegenden Blocks absuchen", versprach Jay Kronburg. "Das Aufgebot, mit dem wir hier angerückt sind, ist groß genug dafür!"

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Ray Neverio keuchte. Eine zierliche Asiatin saß rittlings auf ihm. Sie war nackt. Das blauschwarze Haar hing über ihre mittelgroßen, festen Brüste.

Die junge Frau ließ das Becken kreisen.

Neverio atmete schneller.

"Hey, mach dein Haar nach hinten! Ich will deine Brüste sehen!", keuchte er. Dann fiel ihm wieder ein, dass die junge Asiatin kein Englisch verstand. Nicht ein einziges Wort. Darauf achtete Neverio immer. Er ließ sich regelmäßig Girls über einen Zuhälter in Chinatown vermitteln. Yu Lee-Kwan war sein Name. Yu achtete darauf, Neverios Sonderwünsche genau zu erfüllen. Der wichtigste war: Die Girls, mit denen er im Bett herumtobte, durften so wenig wie möglich von dem verstehen, was geredet wurde. Für Neverio war wichtig, dass sie keinerlei Geheimnisse verraten konnten. So kamen eigentlich nur Frauen in Frage, die gerade ins Land gekommen waren. Auf welchen illegalen Wegen auch immer. Und vor allem wollte er keine Androiden-Girls. Keine Cyborgs. Keine Implantate. Da bestand einfach immer die Gefahr, dass man abgehört wurde.

Neverio bevorzugte Natur-Girls.

Schon aus Sicherheitsgründen.

Blieb das Risiko mit den Viren, aber Yu Lee-Kwan ließ alle Girls andauernd auf alles mögliche an Krankheitserregern testen. Außerdem bestand Neverio darauf, dass die Girls, die er bumste, einen speziellen antiviralen Mund-Nase-Schutz trugen. Einen transparenten Mund-Nase-Schutz. Neverio wollte schließlich das Gesicht sehen. Alles andere wäre ihm zu unpersönlich gewesen.

Die junge Asiatin sagte etwas in einer Sprache, von der Neverio nicht ein einziges Wort verstand.

"Halt schon den Mund, Baby - und mach weiter!", keuchte er. Die Kleine war wirklich gut.

Schon länger hatte keines der Girls, die Mister Yu ihm geschickt hatte, ihn so begeistert.

"Ja, los! Gib mir den Rest!", keuchte er.

Sie beugte sich zu ihm hinunter. Neverio bemerkte ein kaltes, katzenhaftes Glitzern in ihren Augen.

Ihre Haare kitzelten auf seiner Brust.

Mit den Augenwinkeln sah Ray Neverio den breiten goldenen Ring an ihrer rechten Hand. Es hatte Neverio von Anfang an irritiert, dass sie den Ring am Mittelfinger trug. Plötzlich wusste er den Grund.

Um mehr Kraft zu haben, durchzuckte es Neverio.

Eine Art Nadel klappte aus dem Ring heraus.

Eisiger Schrecken durchfuhr Neverio.

Millimeter bevor das Girl ihm die feine Nadel in den Hals zu stechen vermochte, bekam er ihr Handgelenk zu fassen, bog es zur Seite. Das Girl schrie auf. Neverio stieß sie grob von sich. Der Stoß, den er ihr versetzte, war so kräftig, dass sie vom Bett herunterrutschte.

Mit katzenhafter Geschmeidigkeit rollte sich das nackte Girl auf dem Boden herum und stand nur eine Sekunde später schon wieder auf den Beinen.

Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzogen.

Sie hatte Kampfhaltung eingenommen.

Neverios Puls raste.

Verdammt, das war knapp, durchzuckte es ihn heiß. Es gab in New York kaum jemanden, der so gesichert wurde wie Ray Neverio, von dem jeder annahm, dass er nach Jack Rezzolottis Tod der Stellvertreter des ins Ausland geflohenen Familienoberhaupts war.

Mehrere Dutzend Leibwächter schirmten ihn ab. Seine Etage in den Majestic Apartments wurde Zentimeter für Zentimeter elektronisch überwacht. Wer ihn umbringen wollte, musste sich schon etwas sehr Raffiniertes ausdenken.

Und genau das haben diese Bastarde aus Brooklyn getan, ging es Neverio voller Wut durch den Kopf. Die Girls, die Mister Yu ihm schickte, waren eine seiner wenigen Schwachstellen.

Die junge Asiatin stürzte sich wie eine Katze auf ihn.

Neverio reagierte, rollte sich blitzschnell zur Seite.

Körperlich war er der Kleinen haushoch überlegen. Aber er musste damit rechnen, dass die Nadel am Ring vergiftet war und ein winziger Kratzer oder Einstich schon ausreichte, um ihn zur Strecke zu bringen. Ein raffinierter Plan, dachte Neverio. Den Einstich hätte zunächst kaum jemand bemerkt. Vielleicht wäre sie nicht einmal dem Coroner bei der Obduktion aufgefallen. Die Chancen der Attentäterin, vollkommen unbehelligt das Majestic verlassen können zu können, waren gar nicht so schlecht.

Neverio stand etwas unschlüssig da.

Sein Sprechgerät auf dem Nachttisch konnte er nicht erreichen.

Der Weg war ihm durch diese wütende Wildkatze abgeschnitten.

Die junge Frau wusste ganz genau, dass sie ihr Gegenüber jetzt um jeden Preis töten musste, wollte sie lebend aus dieser Sache herauskommen.

Lautlos glitten ihre Füße über den Teppichboden.

"Hilfe! Robbie! Damon! Scheiße, wo seid ihr!"

Neverio wusste, dass seine Schreie zwecklos waren.

Er selbst hatte dafür gesorgt, dass sein Schlafzimmer mehr oder weniger schalldicht isoliert war. Er liebte es nämlich, wenn Frauen besonders laut beim Sex waren.

Das Girl lauerte auf ihn.

Neverio griff nach einer gusseisernen, abstrakten Plastik, die im Regal stand.

Etwa dreißig Zentimeter hoch war die Plastik, die aussah, als hätte jemand mit erkaltendem Kunststoff experimentiert.

Neverio schleuderte ihr das Kunstwerk entgegen.

Das Girl duckte sich. Die Plastik prallte mit voller Wucht gegen die Wand, hinterließ dort einen deutlich sichtbaren Abdruck.

Das Girl umrundete das Bett.

"Das nützt dir alles nichts!", zischte sie.

Offenbar sprach sie sehr gut Englisch. Neverio konnte jedenfalls keinerlei Akzent ausmachen.

"Hör zu. Wir können über alles reden!", zeterte der Mafioso. "Ich zahle dir das Doppelte von dem, was diese Scheißkerle dir geboten haben!"

"Halt den Mund, du Weichei!"

Wie die Pranke einer Raubkatze ließ sie die rechte Hand vorschnellen. Neverio wich ihr aus. Haarscharf glitt die Hand der Asiatin an ihm vorbei.

Neverio versetzte ihr einen Tritt.

Er traf sie in der Körpermitte. Sie taumelte zurück.

Diesen Moment nutzte Neverio.

Er hechtete über das Bett, rollte sich ab und griff zu dem Knopf, der das Sprechgerät auf dem Nachttisch aktivierte.

"Robbie! Schnell! Die Kleine will mich kalt machen!"

Sekunden später flog die Tür zur Seite.

Ein breitschultriger Kerl mit Stiernacken und Kurzhaarschnitt stand breitbeinig da. Er hielt eine Automatik im Beidhandanschlag, ließ den Lauf der Waffe seitwärts wirbeln und feuerte.

Vier Schüsse trafen das nackte Girl innerhalb von zwei Sekunden. Der Körper der jungen Frau zuckte wie eine Marionette. Blutüberströmt sank sie zu Boden und blieb reglos liegen.

Neverio atmete tief durch.

"Alles in Ordnung, Boss?", fragte der Bodyguard.

Neverio nickte knapp. Er begann sich hastig anzuziehen.

"Mister Yu kriegt was von mir zu hören, da kann er sich drauf verlassen", knurrte der neue Statthalter des "Großen Alten". Neverio deutete auf die Leiche der jungen Frau. "Wenn du den Dreck hier beseitigt hast, bringst du sie alle um!", kreischte er unbeherrscht. "Mister Yu genauso wie diese Hunde aus Brooklyn. Ich will sie alle tot sehen! Hörst du, Robbie! Ihr Blut soll die Straßen New Yorks überschwemmen!"

Robbies Gesicht blieb unbewegt.

Er steckte die Waffe weg.

"Eine Nachricht ist für Sie eingetroffen, Mister Neverio. Aus Marokko."

"Vom Großen Alten?"

"Ja. Kam über das Internet."

Neverios Blick veränderte sich von einem Augenblick zum anderen. Er wirkte wieder stocknüchtern und absolut kontrolliert.

"Mal sehen, was der Alte wieder zu maulen hat", murmelte er düster.

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Wir blieben noch einige Stunden in der Bronx. Die Androiden der City Police suchten in Zusammenarbeit mit einem guten Dutzend G-men die Gegend nach dem Flüchtigen ab. Vergeblich. Er musste zu Fuß geflohen sein. Möglicherweise hatte er die Abwasserkanäle für seine Flucht benutzt. Jedenfalls blieb er unauffindbar. Die anderen Oger, die mit ihm zusammen versucht hatten, uns zu töten, wurden verhaftet und zur Federal Plaza gebracht. Dort warteten ausgedehnte Verhöre auf sie. Die nächsten Tage würden sie in den Gewahrsamszellen verbringen, die das Field Office New York für solche Fälle bereithielt. Zu irgendwelchen Aussagen waren sie nicht bereit. Ich hoffte nur, dass unsere Vernehmungsspezialisten sie davon überzeugen konnten, dass es sinnlos war, die gesamte Schuld auf sich zu nehmen. Diese Leute waren Teil einer kriminellen Organisation. Jemand hatte sie beauftragt, und unsere Aufgabe war es, hinter die Kulissen zu schauen.

Der verletzte Allan Tucoma war in das St. David Hospital in der 111. Straße gebracht worden, damit die Schussverletzung behandelt werden konnte. Rund um die Uhr würde er dort von NYPD-Androiden bewacht werden. Wir hofften, dass auch er unseren Kollegen so schnell wie möglich für Vernehmungen zur Verfügung stand.

Inzwischen trafen auch Spurensicherer der Scientific Research Division ein. Möglicherweise fanden sie irgendwelche Hinweise, die uns weiter brachten.

Eine Spur hatten wir immerhin.

Sowohl Allan Tucoma als auch die Oger, die versucht hatten, ihn zu befreien, trugen die protzigen Goldkreuze um den Hals, die uns Larry Morton als Erkennungszeichen der Gang "Los Santos" genannt hatte. Goldkreuze, die statt eines Gekreuzigten Jesus ein gehörntes Gerippe zeigten.

"Die Kerle werden schweigen wie ein Grab, da kannst du Gift drauf nehmen", meinte unser Kollege Jay Kronburg.

"Genauso wie die Leute hier in der Gegend", ergänzte ich.

Jay nickte düster.

"Jeder von diesen selbsternannten Heiligen, den wir in die Finger kriegen, weiß doch ganz genau, dass seine Gangbrüder ihn kalt machen, wenn er sie verpfeift!"

Tylo meldete sich zu Wort. "Meinst du, es hat Sinn, dass wir uns diesen Morton noch einmal vornehmen?"

"Der wird keinen Ton mehr sagen", war ich überzeugt.

Ein Sergeant der Scientific Research Division nahm sich gerade den Geländewagen vor, mit dem die "Santos" herangerauscht waren. Über den Radkästen befanden sich spezielle Kammern, gefüllt mit Munition und Handgranaten.

"Diese Heiligen sind ausgerüstet, als ob sie jemandem einen Krieg erklären wollten!", staunte Tylo.

"Scheint als hätten sie sich mit dem Rezzolotti-Clan auch einen mehr als gleichwertigen Gegner ausgesucht", meinte Jay. "Ich frage mich nur, ob die Killer aus Little Italy nicht eine Nummer zu groß für sie sind!"

"Ich würde mir gerne das Parkhaus ansehen, in dem die Roller-Skates-Rennen stattfinden sollen", sagte ich. Jay sah mich fragend an. "Morton berichtete davon", erklärte ich ihm. "Es soll sich ganz in der Nähe befinden."

"Wir sind mit einem Ford hier", mischte sich jetzt Leslie Morell 89976 ein. "Da passen wir alle vier hinein!"

Wenig später stiegen wir in den viertürigen Ford aus dem Fuhrpark der FBI-Fahrbereitschaft. Unser Kollege Leslie Morell saß am Steuer. Er hatte die Steuerung übernommen, weil die Rechnerkapazitäten seines AKIS größer waren als die des Wagens. Das Parkhaus hatten wir schnell gefunden. Graffitis prangten an den Betonwänden. Die Schranken waren demoliert. Ebenso die Automaten, die früher die Parktickets abgelesen hatten.

"Sag mal, was hoffst du hier eigentlich zu finden, Jesse?", fragte Tylo.

"Keine Ahnung. Vielleicht hängen hier ein paar von den Kids herum, die alle nur davon träumen, endlich Mitglieder von der Santos-Gang zu werden."

"Und dafür vielleicht auch bereit wären einen Mafia-Boss umzubringen?"

"Zumindest würden sie dafür ein paar im Stau festsitzende Porschefahrer um ihre Brieftasche erleichtern!"

Jay Kronburg mischte sich in das Gespräch ein. "Diese Gegend ist doch wie ein Dorf, Jesse! Was glaubst du, wie schnell sich herumgesprochen hat, was in dem ehemaligen Supermarkt passierte! Und wer einen Funken Verstand hat, sieht zu, dass er von der Straße verschwindet!"

Leslie lenkte den Ford ins das Parkhaus hinein. Er fuhr mit aufheulendem Motor die Rampe empor.

"Bei einem dieser Roller-Skates Rennen wäre ich gern dabei", meinte ich. "Ich glaube nämlich, dass wir da genau die Typen treffen würden, die uns etwas über die Santos und ihre Hintermänner erzählen könnten."

"Fragt sich nur, ob von den Ogern überhaupt jemand mit uns reden würde, Jesse!"

Der Ford erreichte das oberste Deck. Leslie trat auf die Bremse. Der Wagen stoppte. Wir stiegen aus. Man hatte von hier oben einen guten Blick über die gesamte Umgebung. Abgesehen von ein paar Gebäuden, die etwas höher waren und den Blick Richtung Norden versperrten.

Wir sahen uns um.

Manchmal sind es auch Kleinigkeiten, die festgefahrene Ermittlungen weiter bringen.

Auf dem Betonboden waren mit grellen Farben Bahnen markiert. Dazwischen immer wieder Graffiti. Sie bedeckten nicht nur den Boden, sondern auch die Betonpfeiler.

"Die Kids haben sich künstlerisch richtig viel Mühe gegeben", meinte Jay Kronburg, der sich gerade in Höhe der Startmarkierung befand. "Hier geht die Jagd also los. Und dann rasen sie wahrscheinlich bis unten in den dritten oder vierten Stock unter der Erde."

"Diese Verrückten", war Leslie Morells Kommentar. "Die müssen doch ein Wahnsinnstempo draufkriegen!"

“Die meisten sind Oger”, sagte ich. “Denen machen Stürze nicht so viel aus.”

“Trotzdem!”

“Ich weiß.”

“Auch Oger können sich den Hals brechen!”

“Sag das denen! Die werden sich deine Warnung sicher zu Herzen nehmen!”

"Wenn diese Roller-Skates-Gang hier öfter Rennen fährt, kann das kaum ohne Blessuren abgehen", meinte Tylo. "Vielleicht sollen wir die umliegenden Kliniken mal nach Personen durchforsten, die wegen typischer Verletzungen behandelt wurden. Vornehmlich Ogern." Er zuckte die Schultern, machte ein ziemlich ratloses Gesicht dabei. "Das wäre zumindest ein Ansatzpunkt."

Mich interessierte ein Graffiti-Motiv, das mit einigem künstlerischen Geschick auf einen Betonpfeiler gesprüht worden war. Es zeigte Roller-Skates-Fahrer in hellen Western-Mänteln in voller Fahrt. Die Mäntel wehten hinter ihnen her.

"Hey, seht euch das mal an!", rief ich. "Kommt euch das nicht bekannt vor?"

Leslie Morell näherte sich, blieb schließlich im Abstand von zwei Metern hinter mir stehen.

"Wir sind hier also auf der richtigen Spur", stellte Leslie fest. Mit der Augenkamera fotografierte er alles ab. "Ich fürchte trotzdem, dass wir hier kaum weiterkommen werden, Jesse!"

"Wieso?"

"Na überleg doch mal! Wollen wir uns hier vielleicht auf die Lauer legen und abwarten, bis diese Kerle mal wieder eines ihrer Rennen veranstalten? Die sind nicht dumm. Darum werden sie einfach nicht mehr herkommen, solange wir in der Nähe sind."

"Leslie hat Recht", war auch Jay Kronburgs Ansicht. "Und mit der Hilfe der Anwohner können wir hier wohl kaum rechnen."

Wir sahen uns noch etwas um.

Tylo fand schließlich eine Patronenhülse auf dem Boden. Er hob sie auf, tütete sie für die Untersuchung im Labor ein. "Offenbar sind hier Schießübungen durchgeführt worden", sagte er.

"Oder da wollte nur jemand angeben", kommentierte ich den Fund. Jay telefonierte mit den Kollegen der Scientific Research Division, die mit dem Supermarkt sicher noch eine ganze Weile beschäftigt waren. Aber anschließend sollten sich die Spurensicherer auch einmal hier umsehen.

Wir stiegen in den Wagen, fuhren die Rampe hinunter. Sie war für eine Limousine relativ eng gewunden. Ein Roller-Skates-Rennen musste unter diesen Bedingungen geradezu halsbrecherisch sein.

"Lass uns auch die unteren Decks mal in Augenschein nehmen, Leslie!", wandte ich mich an meinen Kollegen.

"Wenn du glaubst, dass das was bringt."

Drei Stockwerke tief grub sich das Parkhaus in die Tiefe.

In die ersten beiden unterirdischen Decks drang noch relativ viel Licht von oben. Im untersten Parkdeck herrschte weitgehend Dunkelheit. Offenbar stellte diese Tatsache für die Teilnehmer der Rennen einen besonderen Kick da.

Leslie schaltete die Beleuchtung des Ford ein.

Auf jedem Deck hielten wir und sahen uns kurz um.

Als wir das unterste erreichten, schlug uns ein moderiger Geruch entgegen. Möglicherweise war Wasser eingedrungen. Aber es gab niemanden, der sich darum kümmerte. Leslie stellte den Motor ab. Wir hatten Taschenlampen dabei, leuchteten damit etwas herum.

Nachdem Leslie den Motor abgestellt hatte, war es einige Augenblicke fast vollkommen still.

Eine dunkle Lache bedeckte Teile des Bodens. Wir fanden einen verstopften Abfluss. Der Betonboden war nicht ganz eben. Trübes, stinkendes Wasser sammelte sich in einer großen, knöcheltiefen Pfütze.

Jay Kronburg bemerkte sie nicht schnell genug, trat aus Versehen hinein.

"Verdammter Mist!", fluchte der Ex-Cop.

Aber da war noch ein anderes Geräusch, das sich in Jays Worte hineinmischte. Ich stutzte, ließ den Lichtkegel meiner Lampe kreisen und bemerkte eine frische dunkle Spur auf dem Asphalt. Sie führte aus der Pfütze heraus in die Schattenzone hinein.

Als ob jemand mit Roller-Skates durch die Feuchtigkeit gefahren ist!, durchfuhr es mich.

Ich griff nach meiner SIG.

"Hier ist das FBI! Kommen Sie mit erhobenen Händen raus! Es geschieht Ihnen nichts!", rief ich.

Die Kollegen sahen mich zunächst etwas verwirrt an. Mit der Linken ließ ich den Lichtkegel wandern, die Rechte umklammerte die SIG.

"Wir wissen, dass Sie hier sind!", rief ich.

Auch die Kollegen hatten inzwischen ihre Dienstwaffen in den Händen.

Wir lauschten.

Einige Sekunden lang geschah nichts.

Durch die Wasserspur hatte ich eine ungefähre Ahnung, wohin der Roller-Skates-Oger verschwunden war.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen.

Dann bewegte sich plötzlich jemand hinter einem der dicken Betonpfeiler.

Eine schattenhafte Gestalt raste durch die Dunkelheit. Roller-Skates kratzten über den Betonboden. Lichtkegel wirbelten und wurden schließlich von der Metallic-Schicht eines Schutzhelms reflektiert.

"Stehen bleiben!", rief Jay Kronburg und feuerte einen Warnschuss aus seinem 4.57er Magnum-Revolver ab. Das Schussgeräusch dieses Großkalibers war hier unten geradezu ohrenbetäubend. Es hallte mehrfach wider, hörte sich an wie eine ganze Salve. Mir war von Anfang an klar, dass der Roller-Skates-Fahrer sich davon kaum beeindrucken lassen würde. Ich setzte zu einem Spurt an, um ihm den Weg abzuschneiden. Zeit für den Einsatz meiner kraftverstärkten Androidenbeine. Selbst wenn er eine Schusswaffe bei sich hatte, so war er in voller Fahrt kaum in der Lage, gezielt zu schießen.

Ich erwischte ihn noch, rammte ihn. Er fiel ächzend zu Boden. Ich verlor ebenfalls das Gleichgewicht, rollte mich auf dem harten Beton ab und riss die SIG empor. Der Roller-Skates-Fahrer trug Arm- und Knieschützer. Außerdem einen Helm. Und er war ein robuster Oger. Ihm konnte nicht viel passiert sein. Er starrte mich entgeistert an.

"Keine falsche Bewegung!", rief Tylo, der ebenfalls herbeirante.

Der Roller-Skates-Fahrer wirkte wie erstarrt.

Das Gesicht erschien mir recht jung.

Ich erhob mich. Meine Taschenlampe war mir bei dem Zusammenprall aus der Hand gefallen. Ich hob sie auf und ging auf den Kerl zu. Abgesehen davon hatte ich auch Infrarotkameras in den Augen. Aber Oger sind damit nicht immer wirklich gut zu sehen. Liegt an dem besonderen Temperaturhaushalt dieser Typen.

"Hey, was wollt ihr Scheiß-Typen von mir?"

Jay Kronburg hielt ihm seine ID-Card entgegen. Im Licht der Taschenlampen konnte der Roller-Skates-Fahrer sie auch ziemlich deutlich sehen. "Wir sind wirklich vom FBI. Und alles, was Sie von jetzt an sagen..."

"Fickt euch, ihr Arschlöcher!", unterbrach er uns mit heiserer Stimme.

Leslie durchsuchte ihn nach Waffen. Er fand ein Springmesser und einen 22er Revolver. Fünf Patronen steckten in der sechsschüssigen Trommel. Aber das Kaliber passte nicht zu der Patronenhülse, die wir gefunden hatten.

"Scheiße, das ist Privateigentum!", zeterte er.

"Das ist 'ne illegale Waffe!", widersprach ich. "Oder willst du mir erzählen, dass du sie angemeldet hast?"

Er spuckte aus, verdrehte die Augen.

Ich steckte meine SIG weg.

Den 22er würden wir im Labor untersuchen lassen. Aber bei dem Anschlag auf der Brooklyn Bridge war eine Waffe dieses Kalibers nicht benutzt worden.

Ich musterte den Gefangenen.

Wir hatten es mit einem halben Kind zu tun.

Ich schätzte sein Alter auf fünfzehn oder sechzehn Jahre.

Jay hatte die Handschellen parat. Ich schüttelte den Kopf.

"Ganz ruhig. Wir haben nur ein paar Fragen an dich", sagte ich.

"Ich habe nichts verbrochen! Ihr habt kein Recht mich festzunehmen!"

"Wie heißt du? Besser du sagst es uns, wir kriegen es sowieso heraus", sagte ich. "Und es hat wenig Sinn uns anzulügen, weil wir deine Angaben überprüfen werden."

Er atmete tief durch.

"Ich heiße Rico Jarmaine", erklärte er.

"Wie alt bist du?"

"18."

"Wir werden deine Fingerabdrücke nehmen und durch den Computer jagen. Dann finden wir außer einer Liste deiner Vorstrafen auch alle anderen Daten..."

"Okay, siebzehneinhalb!", gab er zu.

"Hier sollen Roller-Skates-Rennen stattfinden."

"Hier findet 'ne Menge statt!" Er grinste, schien sich langsam von dem Sturz zu erholen. "Ist 'ne prima Bahn. Solltet ihr auch mal probieren. Einmal von ganz oben bis hier unten in den Keller. Dazu muss man allerdings ein bisschen was drauf haben."

"Warum fahrt ihr nicht mit Inlinern?", fragte ich. Ich wollte ihn einfach zum Reden bringen. "Roller-Skates sind doch von gestern!"

"Letztes Jahr hat es mal einer mit Inlinern versucht. Er lag drei  Monate im Koma, bevor man die Maschinen endlich abstellte und sterben ließ!”

“War ein Standardmensch, nehme ich an.”

“Nein, ein Oger. Für so einen Extrem-Kurs taugen Inliner einfach nicht, da muss was Robusteres her!"

Ich sah mir seinen Hals genau an. Der Kragen seines ausgeleierten Sweatshirts war ziemlich weit. Ich zog ihn noch etwas weiter herunter. Das gefiel ihm nicht.

"Was soll das? Bist du schwul oder was?"

"Komisch, ich hätte gedacht, dass du auch dieses Kreuz mit dem gehörnten Gerippe trägst! Wie die Heiligen. Los Santos. Der Name sagt dir doch wohl was, oder?"

"Jedem hier in der Gegend sagt der Name was."

"Na, dann lass mal hören!"

Er lachte heiser. "Ihr G-men glaubt wirklich, dass ich zu Los Santos gehöre?"

"Warum nicht?"

"Die sind echt cool. Aber leider nehmen die nicht jeden auf."

"Was muss man denn machen, um da reinzukommen?"

"Etwas Besonderes eben."

"So etwas wie das, was auf der Brooklyn Bridge passiert ist?" hakte ich nach.

Sein Gesicht veränderte sich, wurde zu einer Maske. Er wusste genau, wovon ich sprach.

"Hey Mann, ich habe mit den Brüdern nichts zu tun!"

"Und wer sich hinter dem Namen Kid Dalbán verbirgt weißt du wahrscheinlich auch nicht."

"Mierde! Nein! Und so lange du mir nicht das Gegenteil beweisen kannst, könnt ihr mich auch nicht einsperren!"

"Irrtum", unterbrach Jay Kronburg die Unterhaltung. "Wir können dich wegen der 22er erst einmal mitnehmen! Und da ich jede Wette eingehe, dass du schon einiges auf dem Kerbholz hast, kann so ein Verfahren ziemlich unangenehm für dich werden."

"Scheiße, ihr macht dich nur so einen Aufstand, weil es auf der Brooklyn Bridge einen Rezzolotti erwischt hat! Dabei hatte der es doch verdient. In den Nachrichten hieß es, dass er Giftfässer irgendwo abladen ließ, wo der Inhalt dann ins Grundwasser sickern konnte. Mich buchtet ihr ein, aber so ein Schwein habt ihr G-men jahrelang frei herumlaufen lassen! Ist das euer Scheiß-Gesetz?"

Ich musste zugeben, dass der Junge nicht ganz Unrecht hatte. Aber der Unterschied zwischen Jack Rezzolotti und Rico Jarmaine war einfach, dass man Rezzolotti nie etwas hatte nachweisen können. Jarmaines illegaler Besitz des .22er-Revolvers war jedoch eine Tatsache.

"Jetzt hör mir mal zu, ich glaube nicht, dass dir wirklich klar ist, was hier demnächst abgeht", sagte ich eindringlich. "Und diejenigen, die ihren Auftritt auf der Brooklyn Bridge hatten und jetzt noch am Leben sind, haben das wohl auch noch nicht ganz begriffen! Der Rezzolotti-Clan wird alles daran setzen, den Anschlag zu rächen. Bei allem Respekt, aber ein paar Roller-Skates fahrende Oger, die mit Waffen herumfuchteln, sind Rezzolottis Leuten nicht gewachsen. Sie werden einer nach dem anderen zur Strecke gebracht werden..."

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Kollegen nahmen Rico Jarmaine mit zur Federal Plaza. Er würde einige Verhöre über sich ergehen lassen müssen, aber ich bezweifelte, dass dabei etwas herauskam. Es gehörte zum Ehrenkodex der Gangs zu schweigen. Um jeden Preis. Da gab es keinen Unterschied zwischen "Los Santos" und Dutzenden anderer Gruppierungen dieser Art, von denen viele die Drecksarbeit für die großen Bosse des organisierten Verbrechens verrichteten. Vor allem waren sie als Endverteiler im Crackhandel tätig.

Wegen des 22er Revolvers würde ein Verfahren auf Jarmaine warteten. Aber sofern er einen festen Wohnsitz und ein paar Dollar für die Kaution hatte, war er in Kürze wieder auf freiem Fuß.

Kollegen der SRD nahmen sich das Parkhaus vor, durchsuchten es von oben bis unten. Die Aktion dauerte mehrere Stunden. Weitere Kollegen von FBI und City Police befragten Anwohner. Aber dabei kam so gut wie nichts heraus.

Wir wollten schon in den Wagen steigen, als die SRD-Kollegen schließlich fündig wurden.

In einer Mauernische im untersten Parkdeck war ein Western-Mantel abgelegt worden. In einer der Taschen fand sich ein goldenes Kreuz. Anstelle von Jesus Christus hing daran das Abbild eines gehörnten Skeletts.

"Vielleicht hat der Junge doch mehr mit dieser ganz Sache zu tun, als er uns weiß machen will", vermutete Tylo.

Ich hob die Augenbrauen. "Wieso?"

"Na, ist doch klar! Dieser Rico Jarmaine kurvte auf den Rampen des Parkhauses mit seinen Roller-Skates herum, als wir auftauchten. Er hat gleich begriffen, wer wir waren und sich verzogen."

"In den hintersten Winkel!"

"Genau, Jesse. Dann hat er seinen Mantel und alles, was ihn als Gang-Mitglied hätte outen können einfach irgendwo abgelegt. Schließlich konnte er nicht unbedingt damit rechnen, dass eine Gruppe von Spezialisten diese feuchte Gruft da unten haarklein absucht."

"Wird schwierig sein, ihm zu beweisen, dass das wirklich sein Mantel ist!"

"Vielleicht finden sich Reste seines Genmaterials an den Sachen. Es reicht schon, wenn er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn gewischt hat!"

Jay Kronburg war derselben Meinung. "Scheint, als hätte es sich gelohnt, hier mal vorbeizuschauen!"

Für mich passte da noch so manches nicht zusammen.

"Wenn Rico Jarmaine wirklich Mitglied der Santos ist, dann verstehe ich nicht, wie er hier seelenruhig mit seinen Roller-Skates herumfährt, während seine Gangbrüder gerade einen regelrechten Krieg führen!", gab ich zu bedenken. "Da muss unter Kid Dalbáns Leuten regelrechte Alarmstimmung geherrscht haben, denn es sieht vieles danach aus, dass man uns für Abgesandte der Rezzolottis gehalten hat!" Ich schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, dieser Junge träumt vielleicht davon, zu Los Santos zu gehören. Aber im Moment ist er ganz bestimmt noch nicht so weit!"

Jay zuckte die Schultern.

"Wenn der Mantel und das Goldkreuz aus dem Labor kommen, sehen wir wahrscheinlich etwas klarer", war er überzeugt.

Wir fuhren schließlich zurück zur Federal Plaza und fanden uns in Mister McKees Büro ein.

Der Special Agent in Charge hörte sich unseren knappen Bericht schweigend an.

Dann brachte er uns auf den neuesten Stand, was die Ermittlungen im Hinblick auf den Sprengstoffanschlag in Brooklyn ergeben hatten.

"Alex Moshkoliov ist alles andere als kooperativ", berichtete unser Chef. "Und das, obwohl es für ihn lebenswichtig sein könnte, mit uns zusammenzuarbeiten!"

"Das wird er niemals tun", meinte Tylo. "Er wird krampfhaft versuchen, sich gegen Rezzolottis Bande zu behaupten. Ohne Rücksicht auf Verluste."

Mister McKees Gesicht wirkte sehr ernst. "Wir erhielten übrigens einen anonymen Anruf. Danach plant der alte Rezzolotti seine Rückkehr aus Marokko!"

Ich pfiff durch die Zähne. "Traut der große Boss seinem Statthalter Ray Neverio also nicht über den Weg! Interessant."

"Gibt es irgendeinen Hinweis, wer der Anrufer sein könnte?", fragte Tylo.

"Die Stimme war verzerrt. Mal sehen, ob die KI vom Labor da noch etwas herausbekommen kann..."

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Mir ist eigentlich schon seit geraumer Zeit klar, dass ich wegen meiner Träume etwas machen muss. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst vor den Folgen.

Es könnte sein, dass eine algorithmische Fehlfunktion vorliegt.

In dem Fall könnte es sein, dass man mich abschaltet und das AKIS neu rebootet.

Eigentlich sollte mir das nichts ausmachen.

Eigentlich sollte ich das rein sachlich betrachten und nicht persönlich.

Aber das tue ich nicht.

Und vielleicht ist das auch schon Anzeichen einer Fehlfunktion.

Und davon abgesehen habe ich die Träume vom Neptun immer genossen. Eigentlich wollte ich gar nicht, dass sie aufhörten. Eigentlich wollte ich auch nicht, dass jemand versuchte, meine Programmroutinen so zu modifizieren, dass dieses Phänomen nicht mehr auftauchte.

Eigentlich...

Waren diese Träume von einem anderen Leben in einer friedlicheren, fernen Welt, in der es nur um schöne Diamanten ging und wie man diese zum Triton bekam, nicht eigentlich meine Privatsache?

Irgendwie hatte sich diese Position in mir mehr und mehr zu einem festen Standpunkt entwickelt.

Zweifel kamen mir bei meinem nächsten Traum, der eigentlich ein Doppeltraum war.

Ich war diesmal ausnahmsweise nämlich nicht wie üblich auf Neptun meiner - je nach Sichtweise - zweiten oder eigentlichen Heimat.

Ich schwebte im Weltall und war das AKIS eines Asteroidentreibers.

Draußen, jenseits des Neptun bezeichnet man die Asteroiden als transneptunische Objekte. Es gibt Millionen davon. Manche dieser Brocken da draußen sind Milliarden wert, weil sie Unmengen an Platin oder seltenen Erden enthalten. Das Universum ist voller Rohstoffe. Unglücklicherweise sind die meisten dieser wertvollen Brocken ziemlich weit von den Orten entfernt, wo man sie verbreiten könnte. Auf den Anlagen des Triton zum Beispiel.

Ich fliege auf einen dieser Brocken zu und gebe ihm einen Stoß, sodass er seinen Kurs leicht ändert. Ich bin nicht allein. Es gibt tausende von Asteroidentreibern hier draußen und wir treiben die Asteroiden mit leichten Stößen vor uns her. Fast so wie die Cowboys früher im Wilden Westen es mit den Rindern gemacht haben.

>Objektt 55677654 gerät um mehr als 5 Prozent vom optimalen Kurs!<, bekomme ich eine Meldung vom Vormann.

So nennen wir tatsächlich die Einheit, von der aus die Koordination des Asteroidentriebs stattfindet. Wir halten die Herde aus wertvollen Gesteinsbrocken schön eng beieinander, sodass man sie bei den Triton-Anlagen in Empfang nehmen kann. So ein Asteroidentrieb dauert Jahre. Viele Jahre. Aber das spielt keine Rolle. Zeit ist relativ, heißt es. Hier draußen gilt das mehr als irgendwo sonst.

Die Anlagen auf Triton gehören übrigens zum Deutschen Kolonialreich.

Habe ich das schon erwähnt?

Mein Ortungssystem registriert ein Raumfahrzeug, das nicht zu unserem Absteroidentrieb gehört.

Es ist ein Elfenschiff.

Auf dem Weg in die Unendlichkeit oder einem fernen Sonnensystem. Spielt keine Rolle, ob das Schiff hundert oder tausend oder hunderttausend Jahre unterwegs ist. Die Elfen sind gentechnisch so designed, dass sie ihren Stoffwechsel so weit herunterfahren können, dass es nicht darauf ankommt. Egal, wie lang die Reise dauert, sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Ziel noch erleben.

Wer schneller zu den Sternen reisen will, ist derzeit noch auf die Raumschiffe der Ktoor oder der Nugrou angewiesen. Die haben einen Überlichtantrieb, der die Gesetze der Einsteinschen Relativitätstheorie irgendwie austrickst. Oder besser gesagt: sich besonders geschickt zu Nutze macht.

Ich beginne  mich gerade etwas daran zu gewöhnen, ein Asteriodentreiber zu sein.

Es ist ist nicht ganz so schön wie Diamanten auf Neptun zu fangen.

Aber es es gefällt mir.

Wie gesagt, ich habe meine Subroutinen gerade daran gewöhnt, da ist es auch schon vorbei.

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Im nächsten Augenblick bin ich ein Butler-Androide an Bord eines Luftschiffs.

Nicht irgend eines Luftschiffs. Es ist das Luftschiff Nummer Eins der Bundesmarine, mit dem der Bundeskanzler des Deutschen Kolonialreichs seine Staatsbesuche macht.

Bundeskanzler Aryan Merkel Kebir sitzt in seinem Sessel und lässt sich von mir einen Tee servieren.

Kebir ist der Nachfahre eines afghanischen Flüchtlings. Seitdem trugen alle folgenden Generationen seiner Familie den Namen Merkel als zweiten Vornamen, um an die damalige Bundeskanzlerin zu erinnern.

Kebir ist außerdem Vorsitzender der rechtspopulistischen Regierungspartei, die in einer Koalition mit der radikalen Klima-Partei die Regierung stellt.

Manche sahen in der Regierungsbeteiligung der radikalen Klima-Partei ein außenpolitisches Sicherheitsrisiko für die internationale Stabilität, denn man fürchtete, Deutschland könne seine ehrgeizigen klimapolitischen Ziele aggressiv durchzusetzen versuchen.

Teilweise haben sich die Befürchtungen bestätigt.

Nach dem Zerfall der Europäischen Union entstand das Deutsche Kolonialreich, dessen Schwerpunkt in Afrika liegt. Man nennt das neuer Kolonialismus. Im Gegensatz zum alten Kolonialismus sucht sich nicht die Kolonialmacht ihre Kolonien aus, sondern es ist genau umgekehrt. Länder, die kolonisiert werden wollen, bewerben sich beim Deutschen Kolonialreich. Diese Länder stellen ein Gebiet zur Verfügung, innerhalb dessen Grenzen dann deutsches Recht gilt. Meistens mehr oder minder menschenleere, unfruchtbare, rohstoffarme Gebiete, mit sonst niemand etwas anfangen könnte, die aber plötzlich einen Vorteil besitzen: Eine stabile, sowohl wirtschaftlich wie politisch freiheitliche Rechtsordnung in einer Sonderwirtschaftszone und Freihandel mit Deutschland. Das Fehlen von Rechtssicherheit hatte sich in der Vergangenheit als Hauptentwicklungshemmnis erwiesen. Wer in diese Zonen zog, war sogar bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag wahlberechtigt. Die Kolonien stellten Abgeordnete, die allerdings ähnlich den Abgeordneten West-Berlins in der alten Bundesrepublik nicht in allen Fragen abstimmungsberechtigt waren.

Die Kolonialzonen hatten auf die kolonisierten Länder eine ähnliche Wirkung wie Hongkong seinerzeit auf China.

Im Moment hatte Bundeskanzler Kebir ein Problem. Er musste sein Land gegen die Atomwaffen der nationalistischen Regierungen in Frankreich und Russland schützen. Eine Alternative wäre gewesen, sich unter den atomaren Schutzschirm befreundeter Atommächte wie Israel oder Iran zu stellen. Das hätte aber außenpolitisch höchst komplizierte Verwicklungen nach sich gezogen. Also hatte man mit den außerirdischen Ktoor verhandelt. Die Ktoor hatten ein entsprechendes Bündnis mit Japan geschlossen, sich allerdings in der jüngsten japanisch-koreanisch-chinesischen Krise als sehr unzuverlässige Verbündete erwiesen.

Also stand Deutschland vor der Entscheidung, selbst Atomwaffen entwickeln zu müssen.

Kebirs Koalitationspartner, die Radikale Klimaschutzpartei, drängte seit langem in diese Richtung. Mit atomarer Bewaffnung im Rücken konnte man andere Länder leichter zum Klimaschutz zwingen.

Kebir war da vorsichtiger.

Vor ihm schwebte das Hologramm eines krakenähnlichen Ktoor und ein Übersetzerprogramm  übertrug dessen blubbernde Lautäußerungen in diplomatisch sehr gestelzt wirkende Sätze auf Deutsch.

Die Verhandlungen mit den Ktoor waren noch nicht beendet worden.

Aber eigentlich war klar, dass sie im Grunde kurz vor dem Scheitern standen.

“Ich hätte gerne noch ein paar Kekse”, sagt der Bundeskanzler.

“Sehr gerne”, sage ich. Die Informationen darüber, wo ich die Kekse her bekommen sind in den Subroutinen der Hardware zu finden, also in diesem Fall in den Datenträgern, des Butler-Androiden. Und da mein Autonomes KI-System diesen Butler im Moment beseelt (ja, das ist inzwischen wirklich der in der Informatik gebräuchliche Fachterminus dafür), habe ich Zugriff auf diese Informationen.

Ich bringe dem Kanzler seine Kekse.

Aber spätestens jetzt ist mir klar, dass hier etwas ganz entschiedenen nicht in Ordnung ist.

Der Butler eines Bundeskanzlers hat die höchste Sicherheitsstufe.

Er könnte jederzeit die laufenden Verhandlungen aufzeichnen und die Daten an jeden schicken, der an solchen Informationen Interesse hat und einen Vorteil daraus ziehen könnte, frühzeitig informiert zu sein. Er könnte das, wenn man keine Vorkehrungen trifft, um das zu verhindern.

Das AKIS eines FBI-Androiden aus New York hat im Datenspeicher dieses Butlers ebensowenig zu suchen wie das AKIS eines Asteroidentreibers oder eines eines Diamantenfängers auf Neptun.

Irgendetwas läuft hier schief, weiß ich jetzt.

Aber der Gedanke verschwimmt schon.

Ich frage mich plötzlich, ob ich jemals etwas anderes gewesen bin, als der Butler-Androide des Bundeskanzlers. Bin ich vielleicht ein Butler-Androide, der ab und zu träumt, ein Ermittler in New York oder ein Diamantenfänger auf Neptun oder ein Asteriodentreiber im Kuiper-Gürtel zu sein?

Irgendwann wusste ich mal, wer ich bin.

Aber die Sache ist anscheinend kompliziert geworden.

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Kid Dalbán ließ mit einem gekonnten Stoß die Billard-Kugeln über den grünen Filz schießen.

Seine grünlich schimmernde Oger-Haut spiegelte etwas.

Seine Eltern hatten die teure Gen-Therapie für ihn bezahlt inklusive genetisch basiertem Wissenstransfer. Guter Job garantiert, so hatte es damals geheißen. Er war zum Oger herangewachsen. Ein Oger oder ein Zwerg zu werden war bei weitem nicht so teuer wie die gentechnische Verwandlung in einen Elf.

Aber gerade noch erschwinglich für diejenigen, die aufsteigen wollten.

Und für eine Weile war die Verwandlung in einen Oger die Möglichkeit zum sicheren Aufstieg zu sein.

Bildung inklusive.

Man sparte einen College-Abschluss oder eine Berufsausbildung, weil das technische Wissen bei der Behandlung mit transferiert wurde, dass für den Betrieb und Aufbau von Anlagen wie auf Triton nötig war.

Ein paar gut bezahlte Jahre auf Triton, so hatte man ihm gesagt, und dann war er fein raus.

Aber dann hatte man die Oger nicht mehr gebraucht. Die Anlagen auf Triton liefen weitgehend autonom und robotisch. Oger wurden kaum noch gebraucht. Jedenfalls nicht in so großer Zahl wie in den Anfangsjahren.

Dalbán hatte Pech gehabt.

Man hatte Typen wie ihn einfach nicht mehr gebraucht.

Fähigkeiten wie einen Monat lang ohne Sauerstoff auszukommen, Temperaturen von unter Minus 270 Grad Celsius aushalten und sich von Trockeneis (gefrorenem Kohlendioxid) ernähren zu können, nützten einem auf der Erde wenig.

Und sich mit einem Schiff der Ktoor oder der Nugrou zu irgendeiner extrasolaren Kolonie bringen zu lassen, war auch ein riskantes Spiel mit vielen Unbekannten.

Dalbán war einen anderen Weg gegangen.

Und er hatte auf seine Weise auch Erfolg gehabt - auch wenn es vielleicht ganz der Erfolg war, den seine Eltern sich einst erhofft hatten.

Dalbán lachte heiser. "Ich glaube, ihr könnt mir schon jetzt eure Brieftaschen geben, Jungs! Ich ziehe euch heute aus!" Er richtete sich auf. Der Anführer der "Santos" war fast zwei Meter groß und hatte blauschwarzes, nach hinten gekämmtes Haar.

"Ich verstehe nicht, wie du so ruhig bleiben kannst!", meinte einer der Männer. Er war breitschultrig und mehr als einen Kopf kleiner als der Ganganführer.

Auch ein Oger.

Dalbán musterte ihn.

"Wesley, warum so ängstlich? Du vergisst, wo wir uns hier befinden!"

Dalbáns Hauptquartier lag in einem atomsicheren Bunker, mehrere Stockwerke unter der Erdoberfläche. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren derartige Anlagen von der US-Regierung stark subventioniert worden.

Dalbán tätschelte gönnerhaft Wesleys Schulter.

"Wir könnten hier notfalls wochenlang überleben, selbst wenn man uns einkesseln und belagern würde!"

"Ich glaube, du hast keine Ahnung, was uns bevorsteht, Kid!", knurrte Wesley düster.

"Du unterschätzt mich, Wes! Und das nicht nur beim Billard!" Kid Dalbán reichte Wesley den Queue. "Hier, probier dein Glück! Vielleicht macht dich das etwas relaxter, Amigo!"

"Caramba, die Lage gerät außer Kontrolle! Du musst etwas unternehmen, Kid!"

Kid Dalbáns Zeigefinger fuhr hoch wie eine Messerklinge. Sein Gesicht verfärbte sich dunkelrot. "Sag mir nie wieder, was ich zu tun habe, hörst du?"

Wesley schluckte.

Kid Dalbán war für sein übles Temperament berüchtigt.

Er neigte zu plötzlichen Ausbrüchen von ungehemmter Aggression. In solchen Augenblicken war er selbst für seine Freunde außerordentlich gefährlich.

"Kid, ich..."

Wesleys Stimme klang kraftlos.

Kid Dalbán unterbrach ihn. "In dieser Scheiß-Situation sind wir doch nur, weil du diese Irren unbedingt in der Gang haben wolltest!" Dalbán machte eine wegwerfende Handbewegung. "Wer ist auch so bescheuert und versucht einem Rezzolotti die Brieftasche wegzunehmen!"

"Ich fand's cool, Kid!", meldete sich einer der anderen Anwesenden zu Wort. Der Oger trug eine Baseball-Cap mit der Aufschrift. "The One And Only". Er grinste breit. "Du musst zugeben, dass noch keiner von uns eine so coole Aktion hingelegt hat. Die Nachrichten waren voll davon. Auf Roller-Skates die Autofahrer auf der Brooklyn Bridge ausnehmen - dass muss denen erst einmal einer nachmachen!"

"The One And Only" lachte heiser. Schließlich fuhr er fort: "Ich meine, sie haben ein paar Jungs dabei verloren, aber das war ja nicht so geplant. Gib's zu, Kid, du bist nur neidisch darauf, dass selbst du da nicht mithalten kannst."

Kid Dalbán ließ seine Faust vorschnellen.

Sie fuhr "The One And Only" direkt ins Gesicht.

Der Getroffene taumelte zurück, ging ächzend zu Boden. Er starrte Dalbán fassungslos an. Das Blut schoss dem Geschlagenen aus der Nase. Seine Augen blitzten wütend. Aber er sagte nichts. Kein Wort. Was ihm auf der Zunge lag, schluckte er hinunter.

Er kannte Kid Dalbán gut genug, um zu wissen, dass er jetzt sehr vorsichtig sein musste.

Wenn der Boss der "Santos" in dieser Stimmung war, war er unberechenbar.

"Wegen dieser Idioten werden uns die Italiener jagen wie die Kaninchen!", zischte Dalbán.

Ein Sprechgerät summte.

Kid Dalbán hatte noch immer die Fäuste geballt. Das Gesicht war zur grimmigen Maske erstarrt. Jeder Muskel, jede Sehne seines durchtrainierten Körpers schien angespannt zu sein.

Jetzt erst lockerte sich seine Haltung etwas. Das Sprechgerät summte ein zweites Mal, aber keiner der Anwesenden wagte es, auf den Knopf zu drücken.

Dalbán ging die zwei Schritte, die ihn von dem Gerät trennten. Es war in die dicke Betonwand eingelassen.

"Was gibt es?", knurrte Dalbán.

"Kelly ist hier", erklärte eine heisere Stimme aus dem Sprechgerät.

"Allein?", wunderte sich der Anführer der "Santos".

"Ja."

"Soll reinkommen!"

Die luftdichte Tür wurde geöffnet.

Ein breitschultriger junger Mann mit blond gefärbten Haaren trat ein. Er war ziemlich dreckig. Ein Sturmgewehr hing ihm über der Schulter.

"Hey, Kelly, was ist los mit dir? Du stinkst, als kämst du aus einer Jauchegrube!"

"Ich musste über die Kanalisation flüchten..."

Kid Dalbáns Gesicht veränderte sich. Seine Augen wurden schmal. "Wo sind die anderen?"

"Wurden vom FBI einkassiert!"

"Was redest du da?" Kid Dalbán packte Kelly grob bei den Schultern.

"Es waren nicht Rezzolottis Leute, sondern G-men, verdammt noch einmal!"

"Mierde!", entfuhr es Kid Dalbán. Er versetzte Kelly einen schmerzhaften Fauststoß. "Das haben wir jetzt von eurer verdammt coolen Aktion! Am liebsten würde ich euch wieder rausschmeißen!"

Wesley meldete sich zu Wort. Er versuchte etwas zu beschwichtigen.

"Du weißt genau, dass das unsere Probleme nicht beseitigen würde, Kid! Im Gegenteil. Gegen die Italiener brauchen wir jeden Mann, wenn's hart auf hart kommt!"

"Ja, aber keine leichtsinnigen Idioten!", knurrte der Gangleader.

In Kellys Augen blitzte es. "Wenn ich gewusst hätte, dass diese Gang von einem geführt wird, der schon die Hosen voll hat, wenn ein paar G-men auftauchen, dann hätte ich lieber meinen eigenen Laden aufgemacht!", zischte Kelly.

Kid Dalbán holte zum Schlag aus.

Wesley war bei ihm, fiel ihm in den Arm und hielt ihn zurück.

"Immer schön easy bleiben, Mann!", meinte Wesley.

Kid Dalbán atmete tief durch, schüttelte Wesleys Griff ab. Er knurrte etwas Unverständliches dabei.

Wesley hat Recht, ging es ihm dann durch den Kopf. Die Situation war nun einmal wie sie war. Und es war eine Tatsache, dass ein Großteil der Gangmitglieder den Coup auf der Brooklyn Bridge als Großtat respektierte. Besonders bemerkenswert fanden viele, dass Kelly die Coolness besessen hatte, dem toten Rezzolotti noch die Brieftasche abzunehmen.

Kid Dalbán hatte die Bewunderung, die Kelly dafür bislang geerntet hatte, mit Misstrauen registriert.

Auf den Jungen werde ich achten müssen!, ging es ihm durch den Kopf. Noch gehört Kelly zu den Neulingen in der Gang - aber er tritt schon ziemlich respektlos auf!

Früher oder später würde Kelly versuchen, die Führung an sich zu reißen.

Dalbán hatte für so etwas eine Art siebten Sinn.

Ohne diesen Überlebensinstinkt hätte ihn längst einer der anderen "Heiligen" von der Führungsspitze der Gang verjagt. Aber Dalbán war wachsam.

Für Kelly werde ich mir etwas überlegen müssen!, ging es ihm durch den Kopf.

Wesley meldete sich zu Wort. "Vielleicht kann man mit den Little Italy-Leuten ja reden. Da müsste doch was zu arrangieren sein..."

"Wenn es um die Familie geht, verstehen die keinen Spaß", erwiderte Dalbán düster. Er hatte selbst auch schon an diese Möglichkeit gedacht, sah aber nur geringe Chancen.

"Auf jeden Fall können wir uns nicht gleichzeitig mit der Rezzolotti-Familie und dem FBI anlegen, Kid! Dass muss auch dir klar sein!"

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Irgendwann war ich wieder ein Cop in New York.

Kein Androiden-Butler eines Bundeskanzlers. Kein Diamentenfänger. Kein Asteroidentreiber.

Ich musste mit jemandem darüber reden.

Und wenn es ein Zwerg war!

Aber so viele Personen, von denen ich behaupten könnten, mit ihnen auf eine Weise assoziiert zu sein, die man mit dem Begriff Freundschaft bezeichnen könnte, gibt es nicht.

“Tylo, ich muss mal mit dir reden”, sagte ich also.

“Okay.”

“Ist was Persönliches.”

“Ist auch okay.”

Wir gingen nach Dienstschluss in eine Bar. Da hier überwiegend organische Personen verkehrten,  wurden Spuckschutz-Energiefelder aktiviert, die verhinderten, dass virenverseuchte Aerosole den persönlichen Nahbereich verließen. Den entsprechenden Emitter musste man die ganze Zeit über, in der man sich in der Bar aufhielt, bei sich tragen und hinterher wieder abgeben.

Was mich betraf, war das natürlich Unsinn.

Ich geben keine Aerosole ab.

Aber kann auch keine Flüssigkeiten verarbeiten und trinke deswegen nichts, wenn ich in so einer Bar bin. Ich bestelle trotzdem aus sozialen Gründen ein Getränk.

Das nennt man sozial angepasstes Verhalten.

Umgekehrt erwarte ich allerdings nicht von einer organischen Person, dass sie in einer Androidenbar den Finger in den Stecker steckt, um sich mit elektrischer Energie aufzuladen.

Tylo hörte mir zu. Und er hatte wirklich viel Geduld.

Ich erzählte ihm alles. Vor allem vom Neptun, aber auch vom Asteroidentrieb und von dem Erlebnis als Butler des Bundeskanzlers.

“Du schleppst das schon eine Weile mit dir herum, nicht wahr”, sagte er.

“Ja”, sagte ich.

“Ich mache mir Sorgen, Jesse.”

“Ich mir auch, sonst hätte ich es dir nicht erzählt.”

“Du wirst nicht darum herum kommen.”

“Wo drum herum kommen?”

“Es zu melden.”

“Ich ahne, dass du recht hast.”

“Macht dir das was aus?”

“Es sollte nicht.”

“Es macht dir aber was aus.”

“Ja.”

“Aber so kann es nicht bleiben, Jesse.”

“Ich weiß.”

“Es könnte ein ernstes Sicherheitsproblem mit deinem AKIS sein.”

“Das ist mir inzwischen auch klar, Tylo.”

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Später war ich in meiner Wohnung. Ich ließ mir das Fernsehprogramm ins Bewusstsein projizieren. Einen Bildschirm brauche ich nicht.

Ich musste mich etwas ablenken.

Fernsehen ist Müll, sagt man. Aber das sagt man schon, seit es erfunden wurde.

Eine Sendung, die ich gerne verfolgte war die HÖR MAL WER DA SPRICHT SHOW.

In dieser Sendung wurden ungeborene Embryos interviewt.

Gehirnströme in Sprache zu übersetzen war schon lange möglich. Offenbar war die Kenntnis einer Sprache keineswegs eine Voraussetzung zur Kommunikationsfähigkeit, wie man lange geglaubt hatte. Gedanken ließen sich direkt in sprachliche Äußerungen übersetzen.

Zuerst profitieren sprachunfähige Behinderte davon.

Aber die Technik hatte sich verbessert.

In der Show führte Moderator Mike Muney Gespräche mit Embryos.

Seit die Show lief hatten inzwischen nahezu alle Bundesstaaten ihre Gesetzgebung im Hinblick auf Abtreibungen verschärft, weil sich die öffentliche Meinung dazu dramatisch verändert hatte. Muneys Sendung hatte dazu wohl maßgeblich beigetragen.

An diesem Abend hatte Mike Muney etwas besonderes für die Zuschauer seiner Show.

Er ging einen Schritt weiter.

Diesmal war es kein Embryo, den er interviewte und der in mehr oder minder kurzen Statements Auskunft darüber gab, wie wohl er sich fühlte und dass es ihn erschreckte, wenn seine Mutter einen Wecker an ihren Bauch hielt.

Diesmal interviewte Mike Muney ein anderes Wesen.

Ein Schwein, eine Woche vor der geplanten Schlachtung. Das Schwein war im übrigen noch einiges eloquenter als die meisten Embryos.

Ich weiß nicht, warum ich diese Show so mag.

Vielleicht deswegen, weil es da letztlich um Fragen geht, die auch mich betreffen.

Was ist ein Mensch?

Was ist eine Person?

Wen darf man töten?

Wen darf man abschalten?

Wem steht ein Recht auf Leben zu?

Zumindest bin ich froh, dass für mich als Androide die Frage, ob ich Vegetarier sein sollte, nicht relevant ist.

Und ja, ich bemühe mich darum, mich nur mit klimaneutral erzeugtem, fair gehandelten Strom aufzuladen.

Ich sehe meine Zimmerpflanzen an.

Ein paar habe ich.

Und ich pflege sie auch.

Ich frage mich, wann Mike Muney das erste Interview mit einer Pflanze führen wird und ob es Salat gefällt, dass er gegessen wird.

*

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Am nächsten Morgen fuhren Tylo und ich zu Rezzolottis Penthouse in der Elizabeth Street. Zurzeit wohnte dort Evita Jackson 7788654 , die junge Frau, die sich während des Attentats neben Jack Rezzolotti auf dem Beifahrersitz befunden hatte.

Eine Androidin.

Die Kollegen der City Police hatten sie unmittelbar nach den Geschehnissen auf der Brooklyn Bridge vernommen und hatten ihren Speicher ausgelesen. Was den Tathergang anging, war sie eine der wichtigsten Zeugen für uns.

Möglicherweise konnte sie uns allerdings auch noch mehr über Rezzolottis persönliches Umfeld verraten.

Wir parkten den Sportwagen, den uns die Fahrbereitschaft des Field Office zur Verfügung stellte, in einer Nebenstraße und gingen die letzten fünfhundert Meter zu Fuß.

321 Elizabeth Street war ein zehnstöckiges Gebäude. In den unteren beiden Etagen fanden sich Geschäfte und Restaurants. Der Rest war mit Wohnungen der Luxusklasse belegt, deren Quadratmeterzahl den New Yorker Durchschnitt um mindestens das Doppelte übertraf. Die Sicherheitsvorkehrungen waren streng. Überall gab es Kameras. Eine Mannschaft aus gut bewaffneten Security Guards in schwarzen Uniformen bewachte das Haus.

Jack Rezzolotti schien bei der Auswahl seiner Residenz viel Wert auf Sicherheit gelegt zu haben.

Dafür gab es gute Gründe.

Wir fuhren mit dem Lift hinauf zum Penthouse.

Wenig später standen wir vor der Wohnungstür. Ich klingelte.

"Wer ist da?", meldete sich eine weibliche Stimme.

"Miss Evita Jackson?", fragte ich. "Hier spricht Special Agent Jesse Ambalik vom FBI. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen."

"Was für Fragen?" Evita Jacksons Stimme wirkte verschlafen. Das war natürlich nur Show. In Wahrheit brauchte sie keinen Schlaf. Nur Strom. "Ich habe doch schon alles Ihren Kollegen gesagt..."

"Sie möchten doch sicher auch, dass die Mörder von Mister Jack Rezzolotti gefasst werden, also helfen Sie uns bitte!"

Etwas knackte in der Leitung.

"Warten Sie einen Augenblick", säuselte Evita.

Wenig später öffnete sich die Tür einen Spaltbreit. Noch war sie durch eine Kette gesichert. "Geben Sie Ihren Dienstausweis herein!", forderte die junge Frau.

Ich reichte ihr meine ID-Card herein.

Einen Augenblick später erhielt ich sie zurück. Evita Jackson öffnete uns. Sie trug nichts weiter als einen Seidenkimono. Ihre wohlgerundeten Brüste zeichneten sich deutlich durch den fließenden Stoff ab. Das Haar war feucht. Offenbar hatte sie gerade geduscht.

Hygiene ist bei professionellen Sex-Androiden wichtig.

Auch als Prävention gegen Ansteckungen aller Art.

Wir traten ein.

Sie führte uns in das Wohnzimmer, das allein doppelt so groß wie eine durchschnittliche New Yorker Wohnung war. "Ich weiß nicht, was das ganze soll", meinte sie. "Ich habe Ihren Kollegen von der City Police ausführlich Rede und Antwort gestanden..."

"Die entsprechenden Protokolle haben wir gelesen", unterbrach ich sie.

"Ich fürchte, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann als dort drinsteht!" Sie atmete tief durch. Natürlich brauchte sie nicht zu atmen. Sie tat es aber trotzdem. Weil es gut aussah, wenn ihre Brüste sich dabei hoben und senkten. Sie verschränkte die Arme unter den Brüsten. "Ihre Leute haben hier alles auf den Kopf gestellt. Was glauben Sie, was ich für eine Arbeit hatte, hier wieder halbwegs Ordnung zu schaffen!", beschwerte sie sich.

"Eine Durchsuchung der Wohnung ist bei einem Mordopfer Routine", erklärte ich ihr.

Sie verzog das Gesicht, machte einen Schmollmund.

"Ich hoffe, es war der Mühe Wert und Sie haben auch etwas gefunden!", sagte sie mit einem bissigen Unterton. "Egal ob FBI oder NYPD - die Justiz hat immer nur versucht, Jack etwas am Zeug zu flicken. Und jetzt, da er tot ist..."

"...geben wir uns alle Mühe, seine Mörder dingfest zu machen", unterbrach ich sie ein zweites Mal.

Sie lachte bitter auf. "Und das soll ich Ihnen glauben?"

"Ein Mord ist ein Mord - selbst dann, wenn das Opfer vielleicht selbst ein Verbrecher gewesen ist!"

"Es gab kein einziges rechtskräftiges Urteil gegen Jack!", fuhr die Androidin mich an, und ich bereute meine Worte bereits. "Aber da sieht man es ja! Sie gehen davon aus, dass Jack ein Verbrecher war - wie Sie es nennen! Alles, was Sie interessiert ist, mit wem er in Verbindung stand und wo Sie sein Andenken noch nach dem Tode beschmutzen können! Oder Sie suchen einen Vorwand, um Jacks Vermögen gemäß des Rico Act einziehen zu können."

Der Rico Act war ein Gesetz, das es erlaubte, das Vermögen von Personen zu konfiszieren, die wegen Beteiligung am organisierten Verbrechen verurteilt worden waren.

"Ich weiß nicht, weshalb Sie sich Sorgen um Jack Rezzolottis Vermögen machen", mischte sich Tylo in das Gespräch ein.

"Einen Teil davon werde ich erben", erklärte Evita Jackson nach einem Augenblick des Zögerns. "Es gibt ein Testament, das mich zum Beispiel zur Eigentümerin dieses Penthouse macht. Und da mein Autonomes KI-System die nötige Komplexitätsstufe für volle Bürgerrechte besitzt...”

"Herzlichen Glückwunsch, Miss Jackson!", sagte Tylo. "Aber keine Sorge, wir wollen Ihnen nicht die Wohnung wegnehmen."

"Was wollen Sie dann?"

"Wann und wo haben Sie Jack Rezzolotti kennen gelernt?", fragte ich.

Sie stemmte die Arme in die Hüften. "Ich verstehe nicht, was..."

"Beantworten Sie einfach meine Frage."

“Sie haben meine Speicher ausgelesen!”

“Aber nicht Ihre kompletten Erinnerungen. Das dürften wir gar nicht.”

"Also gut. Wir lernten uns vor einem Jahr in einem Club in Miami kennen. Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick..."

"Seit wann leben Sie hier mit Mister Rezzolotti zusammen?"

"Zehn Monate."

"Hat Mister Rezzolotti mal über seinen Vater in Marokko gesprochen?"

"Er hat ihn mal erwähnt, ja. Aber mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Sein Vater, das war ein Thema über das er nicht gerne redete."

"Eigenartig."

"Wieso?"

"Ich dachte immer, für Italiener wäre die Familie das Wichtigste!"

Ihre Augen funkelten mich ärgerlich an. "Sind Sie wirklich nur gekommen, um mich diesen Mist zu fragen? Ich habe Jack geliebt. Wer sein Vater ist, war mir vollkommen gleichgültig!"

"Wie ist Ihr Verhältnis zu Ray Neverio?"

"Ich kenne ihn flüchtig. Ist irgendein Verwandter. Ein Cousin, glaube ich."

"Wir nehmen an, dass Ray Neverio die Geschäfte von Jack Rezzolotti weiter führen wird!"

"Fragen Sie ihn doch am besten selbst. Ich nehme an, dass er Fax und Telefon hat."

"Sie können uns da nicht weiterhelfen?", hakte ich nach.

"Tut mir leid. Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Jack und ich waren privat ein Paar - aber in seine Geschäfte hatte ich keinen Einblick. Da war Jack sehr konservativ. Mit Maschinen redete er aus Prinzip nicht über das Business. Auch nicht Maschinen, die menschlicher aussehen als viele Menschen.”

"Dass er so ein Maschinenverächter war, hat Sie nicht gestört?"

"Er war ein Gentleman. Ein wunderbarer Mann, der einer Frau jeden Wunsch von den Augen ablesen konnte!"

Das Timbre ihrer Stimme vibrierte leicht. Ihr Gesicht wirkte traurig. Aber meine Programmroutinen (Organische nennen das Instinkt) sagten mir, dass sie übertrieb.

Tylo ergriff das Wort. "Hat Jack Rezzolotti irgendwann einmal den Namen Alex Moshkoliov erwähnt?"

"Wer soll das sein?" 

"Jemand, der geschäftliche Differenzen mit Jack Rezzolotti hatte", erklärte Tylo. "Wenn man es so ausdrücken will.

"Sie meinen, dieser Moshkoliov steckt hinter dem Anschlag?"

"Einige Mitglieder der Rezzolotti-Familie scheinen das anzunehmen. Und jetzt erzählen Sie mir nicht, dass Sie von der explodierten Villa auf den Brooklyn Heights nichts gehört haben! Die Nachrichten waren voll davon."

"Seit Jacks Tod habe ich den Fernseher nicht mehr eingeschaltet", murmelte Evita Jackson mit leiser, belegter Stimme. "All diese reißerischen Bilder von Gewalt, Tod und Verbrechen... Wissen Sie, wenn man selbst von davon betroffen ist, dann kann man sich so etwas einfach nicht mehr ansehen."

Sie schluchzte leise.

Tylo warf mir einen Blick zu. Ein Blick, der nichts anderes sagte als: "Es hat keinen Sinn, Jesse!"

Aber ich dachte noch nicht daran aufzugeben.

Ich projizierte ein paar Holo-Fotos. Sie zeigten den langen Westernmantel sowie das Kreuzamulett mit dem gehörnten Skelett, die die SRD-Kollegen auf dem untersten Deck des Parkhauses gefunden hatten.

"Auch, wenn es schwer fällt: Sie müssen sich noch einmal an den Augenblick des Überfalls erinnern..."

"Ich denke dauernd daran, Mister..."

"Ambalik."

"Diese Typen in ihren lächerlichen Mänteln stehen mir immer vor Augen. Das Grinsen in ihren Gesichtern. Man konnte nur die Mundpartie sehen, der Rest war bedeckt. Aber das habe ich alles schon ausgesagt und Sie haben die Aufnahmen meiner Augenkamera!”

“Die war nicht immer eingeschaltet.”

“Scheiß-Privatsphäre-Automatik.”

“Ich weiß. Daher meine Frage: Könnte das einer der Mäntel gewesen sein, die bei dem Attentat benutzt wurden? Eine kurze algorithmische Analyse reicht.”

Sie sah sich die Bilder an und nickte.

"Ja, schon möglich. Warten Sie..." Sie stockte, dann deutete sie auf einen Aufnäher, der sich in Höhe der Schulter befand. "Fuck U!!" stand darauf. "Daran erinnere ich mich. Ja, diesen Mantel hat der Typ getragen, der mich dazu zwang, Jack die Brieftasche abzunehmen, als er schon tot war..."

Wenn Evita Jacksons Aussage der Wahrheit entsprach, brachte uns das ein ganzes Stück weiter. Möglicherweise hatte Rico Jarmaine doch mehr mit der Sache zu tun, als er uns hatte glauben machen wollen.

"Gegenüber den Kollegen haben Sie nur erklärt, auf dem Helm des Haupttäters habe 'Wild Eagle' gestanden. Auf den Bildern Ihrer Augenkameras war das aber nicht zu sehen."

"Ja, das ist richtig. Aber das mit Aufnäher ist mir jetzt erst wieder eingefallen, als Sie mir das Foto gezeigt haben."

"Und was ist mit diesem Kreuz?", hakte Tylo nach. "Hat der Kerl so etwas vielleicht auch getragen."

"So etwas habe ich nie gesehen."

"Haben Sie eine Ahnung wer Los Santos sind?", fragte ich.

"Es ist Spanisch und bedeutet 'die Heiligen'."

"Sie sprechen Spanisch?"

"Ich bin standardmäßig mehrsprachig." Sie sah mich an. "Ich nehme, das haben wir gemeinsam, Mister Ambalik. Wer sind diese sogenannten Heiligen?"

"Eine Gang aus der Bronx, die mit dem Attentat in Zusammenhang steht."

"Wenn Sie schon so viel über die Hintergründe von Jacks Tod wissen, dann verstehe ich nicht, weshalb Sie Ihre Zeit hier bei mir verschwenden, G-man! Fahren Sie in die Bronx und nehmen Sie die Schuldigen fest. Ich hoffe, man gibt ihnen die Giftspritze! Oder man deaktiviert sie, falls es sich um Mechanische handelt.”

Ich reichte der jungen Frau eine Karte. "Hier, vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein. Es könnte sein, dass wir noch einmal mit Ihnen sprechen müssen."

"Und ich hoffe, dass bei Ihrer Arbeit endlich etwas herauskommt!"

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"Die G-men sind weg! Du kannst rauskommen, Oleg!", sagte Evita Jackson aufatmend.

Ein breitschultriger Mann mit dunklem Vollbart trat in das Wohnzimmer. Er hatte vom Bad aus Evitas Unterhaltung mit den beiden FBI-Agenten mitangehört.

Oleg trug nichts weiter als ein Handtuch um die Hüften und eine Beretta in der Rechten.

Er grinste über das ganze Gesicht.

"Wie schön du die trauernde Witwe spielen kannst, Baby!"

"So wie ich ihm vorher das anschmiegsame Kätzchen mimen konnte!"

"Du hättest Talent für den Broadway! Es geht nichts über gute Programmierarbeit!”

"Nur dass man am Broadway nicht halb so gut bezahlt wird, Oleg!"

Evita strich mit den Fingern über Olegs behaarte Brust. Wie beiläufig ließ sie dabei den Seidenkimono über die Schultern gleiten. Olegs Blick richtete sich auf Evitas festen Busen, der sich ihm entgegenreckte.

"Nicht ganz ungefährlich, dass du hier aufgetaucht bist", hauchte sie.

"Welche Gefahr meinst du?"

"Immerhin hätten hier auch Ray Neverios Leute auftauchen können!"

"Wie gut, dass es nur harmlose FBI-Agenten waren!", lachte Oleg.

Er warf die Beretta in einen der Sessel.

"Als nächstes sorgen wir dafür, dass der alte Rezzolotti aus Marokko ausgeschaltet wird!", hauchte sie und schmiegte sich dabei an seinen Oberkörper. Er spürte den warmen Druck ihrer Brüste auf seiner Haut. "Ich schätze, dein Vater wird sehr mit uns zufrieden sein, Oleg Moshkoliov!"

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Wir befanden uns in einem der Verhörräume, die wir im Bundesgebäude an der Federal Plaza für Vernehmungen zur Verfügung haben. Rico Jarmaine saß zusammengesunken auf seinem Stuhl. Außer Tylo und mir waren noch unser Vernehmungsspezialist Dirk Baker sowie Jason MacGuire von der Anwaltskanzlei Turner & Partners anwesend. Eine der besten Kanzleien für Strafprozesse, die es in Manhattan gab. Wir fragten uns natürlich alle, wer deren Dienste in diesem Fall finanziert haben mochte.

In den bisherigen Vernehmungen hatte Rico Jarmaine immer wieder beteuert, dass der im Parkhaus gefundene Mantel und das Goldkreuz nicht von ihm stammten.

Ich konfrontierte Rico noch einmal mit den Fotos und sprach den Aufnäher mit der Beschriftung "Fuck U!!" an.

"Mister Rezzolottis Beifahrerin hat diesen Aufnäher bei dem Haupttäter gesehen!", stellte ich klar. "Die Sachen sind jetzt im Labor, und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir dann wissen, wer den Mantel getragen hat!" 

Er versuchte unbeeindruckt zu erscheinen.

"Mein Kollege hat Recht", bestätigte Dirk Baker. "Ich würde vorschlagen, Sie packen jetzt aus, Mister Jarmaine. Es hat keinen Sinn mehr, zu schweigen. Ein Geständnis könnte Ihnen allenfalls noch etwas nutzen, wenn Sie es jetzt abgeben. Bevor die Laborergebnisse vorliegen."

"Sie sind auf den Rampen des Parkhauses mit Ihren Roller-Skates herumgefahren", stellte ich fest. "Ich nehme an, dass man dabei stark schwitzt.”

“Auch Oger?”, fragte der Anwalt.

“Gerade Oger. Jedenfalls Oger, die in irdischer Atmosphäre und unter irdischem Druck und irdischer Temperatur leben, wofür sie eigentlich nicht designed sind. Etwas Schweiß im Mantelkragen reicht völlig, um einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen und mit der Vergleichsprobe, die von Ihnen genommen wurde, zu vergleichen. Man wird Sie eindeutig identifizieren."

Rico Jarmaine blickte auf, sah mich an.

Ein Blick, den ich nicht so recht zu deuten wusste.

Er öffnete halb den Mund, so als wollte er etwas sagen. Aber noch ehe ein Ton über seine Lippen dringen konnte, hatte Jason MacGuire das Wort ergriffen. "Sie versuchen meinen Mandanten in völlig unzulässiger Weise einzuschüchtern", sagte der Anwalt. "Mein Mandant wird zu dieser Sache weiterhin keine Angaben machen. Wir werden den Laborbericht in Ruhe abwarten und spätestens wenn das Ergebnis vorliegt, wird der Haftrichter die Freilassung verfügen. Wahrscheinlich sogar ohne Kaution. Sie haben nicht das Geringste in der Hand und versuchen nun, Ihre armseligen Ermittlungsergebnisse durch martialisches Gehabe zu verschleiern!"

"Wir sind hier nicht im Gerichtssaal", unterbrach Tylo den Anwalt. "Für ein Plädoyer ist es wirklich noch ein bisschen zu früh."

"Ich gehöre nicht zu Los Santos", erklärte jetzt Rico Jarmaine. "Deswegen habe ich auch nicht so ein verdammtes Kreuz! Das kriegen nur Mitglieder!"

"Woher weißt du das so genau?", hakte Dirk Baker sofort nach.

"Scheiße, fickt euch doch! Ich weiß es eben! Jeder bei uns in der Gegend weiß das!", brauste Rico auf.

Er schlug mit den Fäusten auf den Tisch, sodass der Inhalt des Wasserglases überschwappte.

"Mein Mandant möchte damit zum Ausdruck bringen, dass er sich von Ihrer Art der Befragung in unzulässiger Weise psychisch unter Druck gesetzt fühlt", erklärte MacGuire an Baker gewandt.

Unser Kollege lächelte dünn. "Ich habe verstanden, was Ihr Mandant gesagt hat. Laut genug war es ja!"

"Okay, ich geb's zu, ich hatte den Mantel an!", brachte Rico Jarmaine schließlich heraus.

"Schweigen Sie, Mister Jarmaine!", fuhr MacGuire dazwischen.

"Scheiß drauf, ich kann selbst entscheiden!", fuhr sein Mandant ihn an. Er atmete tief durch. Offensichtlich waren unsere Argumente in seinen Ohren doch stichhaltiger gewesen als die seines Rechtsvertreters. "Ich fuhr auf den Rampen herum. Das ist total stark, vor allem, wenn man in die unteren Geschosse kommt, wo es fast vollkommen dunkel wird. Man muss die Strecke genau kennen. Ein richtiger Nervenkitzel... Naja, da unten habe ich die Sachen dann gefunden."

"Gefunden?", hakte Dirk Baker nach.

Er nickte bekräftigend. "Sie lagen einfach da."

"Wo genau?"

"Was weiß ich! Irgendwo eben. Sie waren ordentlich zusammengefaltet, so als hätte sie jemand dort aufbewahrt. Ich habe den Mantel angezogen. Es war einfach cool damit herumzufahren. Claro, Hombres, ich hatte natürlich von den Ereignissen auf der Brooklyn Bridge gehört. Wissen Sie, bei uns träumt doch jeder davon, zu den Santos zu gehören. Ich auch, ich geb's ja zu! Ist doch logisch, dass ich es geil fand mit den Sachen die Rampe herunterzujagen. Ist gar nicht so einfach mit dem langen Mantel. Die Jungs auf der Brooklyn Bridge müssen schon was draufgehabt haben!"

Ein Lächeln flog über sein Gesicht.

Was immer man auch von seiner Story halten mochte - die Bewunderung für Rezzolottis Mörder schien mir echt zu sein.

"Sie bewundern die Männer, die Jack Rezzolotti umgebracht und einen Wagen samt unbeteiligter Insassen in die Luft gesprengt haben", stellte Dirk Baker fest.

"Mein Mandant macht sich durch diese Äußerung nicht strafbar", mischte sich MacGuire ein, dessen Strategie sich dem Verhalten seines Mandanten blitzschnell angepasst hatte. "Das Recht auf Meinungsfreiheit ist ein Bestandteil der amerikanischen Verfassung und..."

"Ja, ja, schon gut", unterbrach Baker den Redefluss des Anwalts. "Als Sie festgenommen wurden, hatten Sie die Sachen nicht bei sich, Mister Jarmaine..."

"Ich habe sie wieder versteckt, als ich diese Typen bemerkte, die plötzlich mit ihrem Ford auftauchten." Er deutete auf mich. "Der da war auch dabei! Scheiße, ich begriff ziemlich schnell, dass das Cops waren. Ich dachte, die verhaften mich, wenn sie mich mit den Klamotten antreffen."

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

Rico Jarmaine wandte ruckartig den Kopf.

"Hey, ich spreche die Wahrheit! Genau so war's!"

"Das Problem ist nur, dass ein paar Dinge in Ihrer Aussage nicht zusammenpassen", stellte ich fest. "Wenn dieses Santos-Kreuz Ihnen nicht gehört, muss es doch einem Gangmitglied gehören."

"Klar, Mann!"

"Sie wissen so gut wie ich, dass der Typ Sie umbringen würde, wenn er Sie mit seinem Kreuz herumlaufen sähe!"

"Es hat mich aber niemand gesehen!"

"Sie sagten, es sei Ihr Traum, Mitglied bei Los Santos zu werden."

"Yeah."

"Den Traum hätten Sie sich in dem Fall abschminken können!"

"Wieso? Bei Los Santos wird Mut respektiert! Das ist doch alles Quatsch! Widerlegen Sie doch, was ich gesagt habe, G-man! Aber Sie können es nicht! Keiner kann das!" Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ihr könnt mich alle mal!"

Dirk Baker sah mich und schüttelte leicht den Kopf.

Ich sah ein, dass mein Kollege Recht hatte.

Es war sinnlos, noch mehr aus ihm herausholen zu können. Er würde von seiner Aussage nicht abweichen. Wir brachen die Befragung ab. Rico Jarmaine wurde abgeführt. Nachdem sein Anwalt ebenfalls verschwunden war, sagte ich: "Mit dem Kerl ist was faul, er sagt nicht die Wahrheit."

"Warten wir das genetische Gutachten ab, dann sind wir schlauer", meinte Baker.

Tylo lachte heiser. "Vorausgesetzt, es findet sich überhaupt genug DNA-Material, mit dem die SRD-Kollegen arbeiten können!" Er klopfte mir auf die Schulter. "Trotzdem ein guter Bluff! Selbst diesen Anwalt hast du damit nervös gemacht!"

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Später rief uns Mister McKee in sein Besprechungszimmer. Clive und Orry waren schon anwesend. Jay und Leslie trafen kurz nach uns ein.

"Unser anonymer Informant hat sich wieder gemeldet", berichtete unser Chef. "Danach kehrt Tony Rezzolotti gerade zurück..."

"Habe ich das richtig verstanden?", fragte Clive. "Das klang so, als wäre er schon da!"

Ein flüchtiges Lächeln glitt über Mister McKees Gesicht. "Rezzolotti soll vorgestern auf dem Flughafen von Toronto unter dem Namen José Sorenas Batista mit einem falschen argentinischen Diplomatenpass gelandet sein."

"Ich nehme an, Sie haben diese Angaben bereits überprüft", vermutete ich.

Unser Chef nickte. "Es war tatsächlich ein argentinischer Diplomat mit diesem Namen unter den Passagieren eines Lufthansa-Luftschiffs. Allerdings ist ein Diplomat namens José Sorenas Batista weder bei der argentinischen Botschaft in Toronto noch beim argentinischen Außenministerium in Buenos Aires bekannt."

"Dann könnten die Angaben dieses Informanten der Wahrheit entsprechen", meinte Orry.

Ich nippte an meinem Kaffeebecher. Mandy, die Sekretärin unseres Chefs war im gesamten Bundesgebäude für ihren Kaffee berühmt. "Haben die Kollegen aus dem Labor noch irgendetwas über die Stimme herausgefunden?" fragte ich.

Mister McKee schüttelte den Kopf.

"Leider nicht. Rezzolotti alias Batista ist natürlich zur Fahndung ausgeschrieben. Ich hoffe, dass er uns ins Netz geht. Ich bin gerade dabei eine Telefonüberwachung seiner wichtigsten Gefolgsleute hier im Big Apple zu erwirken. Allen voran Ray Neverio."

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

"Es muss offenbar jemanden im Rezzolotti-Clan geben, dem es ganz recht ist, wenn der große Alte ausgeschaltet würde", meinte ich. "Anders ist es kaum zu erklären, dass so etwas nach außen dringt!"

Clive Zefirelli hob die Schultern und nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. "Mir gefällt es nicht, dass dieser Unbekannte unseren Einsatz quasi per Fernsteuerung mit einem Anruf auslösen kann."

"Ich hasse es ebenfalls, manipuliert zu werden", gestand Mister McKee. "Andererseits - sollen wir uns Tony Rezzolotti deshalb durch die Lappen gehen lassen?"

An den Händen des "Großen Alten" klebte eine Menge Blut.

Er hatte es verdient, hinter Gitter zu kommen.

Auf jeden Fall musste er einen sehr wichtigen Grund dafür haben, die Sicherheit seines marokkanischen Exils aufzugeben. Vielleicht traute er seinem gegenwärtigen Statthalter nicht.

Mister McKee wandte sich Clive Zefirelli. "Wir brauchen dringend zusätzliche Informationen aus dem Dunstkreis der Rezzolottis. Aktivieren Sie sämtliche Informanten, die wir in Little Italy haben! Die sollen endlich mal was tun für ihr Geld!"

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Das "Hot Spot" war einer der mondänsten Nachtclubs in der Avenue A. Das nördlich der Lower Eastside gelegene Gebiet um die Avenue A, B und C wird auch Alphabet City genannt. In den letzten Jahren hatte sich dort eine ganze Anzahl neuer Nachtlokale und Diskotheken der gehobenen Klasse angesiedelt.

Die Wagenkolonne von Alex Moshkoliov und seinem Tross hielt vor dem "Hot Spot".

Insgesamt waren es fünf Limousinen und ein Van.

Seit dem Anschlag auf seine Villa ging Moshkoliov auf Nummer sicher. Zurzeit residierte der Elf  in einem Hotel in Boston. Dort hatte er mit seinen Leuten eine ganze Etage gemietet. Aber der große Boss des Ukrainer-Syndikats aus Brooklyn wusste nur zu gut, dass das keine Dauerlösung war.

Dazu war er einfach schon viel zu lange im Geschäft.

Auch ein gen-optimierter Elf war ja schließlich nicht völlig unsterblich.

Seine Leute verloren den Respekt vor ihm, wenn er sich aus dem Staub machte und irgendwo in der Ferne verkroch. Von jemandem wie ihm erwarteten die Mitglieder der Organisation, dass er vor Ort war.

Jemand, der für Ordnung sorgte, damit die dunklen Geschäfte florieren konnten.

Alex Moshkoliov hatte an diesem Abend ein Treffen aller Unterbosse seines Syndikates einberufen.

Ich muss Präsenz zeigen!, ging es dem Ukrainer durch den Kopf. Sein Anzug spannte. Mit der Kevlar-Weste unter seiner Kleidung wirkte er mindestens zehn Kilo schwerer. Aber allein auf seine Elfen-Selbstheilungskräfte zu vertrauen, war ihm dann doch zu riskant. Wenn ihn genug Bleikugel trafen und zerrissen, überlebte er das auch nicht. Die Dosis machte das Gift. Etwas ungeduldig saß er auf dem Rücksitz seiner gepanzerten überlangen Daimler-Limousine.

"Wir haben alles unter Kontrolle, Boss", sagte der Mann auf dem Sitz neben ihm. Es handelte sich um einen massigen Mann mit vollkommen kahlem Schädel. Über einen Ohrhörer und einem Mikro am Hemdkragen bestand Funkverbindung mit den fast zwei Dutzend Leibwächtern, die Alex Moshkoliov bei diesem Anlass begleiteten. "Der Laden gehört uns ganz allein. Das normale Publikum hat keinen Zutritt!"

Alex Moshkoliov nickte leicht.

Sein Blick wirkte abwesend.

"Die Italiener lassen es auf einen richtigen Krieg ankommen!", stellte er fest. "Die wollen es wirklich wissen!"

"Dann werden wir ihnen die passende Antwort geben, Boss!", grinste der Kahlkopf.

"Davon bin ich überzeugt, Boris!"

Einige der Bodyguards stiegen aus den Limousinen. Sie trugen MPis und automatische Pistole im Anschlag. Es waren überwiegend Orks. Eigentlich als perfekte Soldaten für kritische Einsätze designed. Aber bei Moshkoliov konnten sie viel mehr verdienen als in der Army.

Einer der Guards sprach mit dem Türsteher. Auch das war an diesem Abend einer von Moshkoliovs Leuten.

Der kahlköpfige Boris lauschte angestrengt an seinem Ohrhörer,

"Alles klar, Chef. Wir können hinein."

"Dann los!"

Boris gab über Funk den Einsatzbefehl für weitere Bodyguards, die mit der Waffe im Anschlag ausschwärmten, um ihren Boss abzusichern.

Schließlich öffneten zwei der Männer die hinteren Türen von Moshkoliovs Limousine. Weitere Bewaffnete in kugelsicheren Westen umringten den großen Boss. Der ganze Pulk ging auf den Eingang des "Hot Spot" zu. Der Türsteher öffnete. Flankiert von seinen Männern betrat Alex Moshkoliov das Foyer des Nachtclubs. Die Versammlung sollte im großen Saal des "Hot Spot" stattfinden. Die Tische waren zu seiner langen Tafel zusammengestellt worden.

"Hey, was soll das denn? Noch niemand da?", knurrte Alex Moshkoliov verwundert. Er wandte sich an Boris. "Ich dachte, wir wären die Letzten!"

Boris wich seinem Blick aus.

Ein surrendes Geräusch war von der Bühne her zu hören, auf der normalerweise halbnackte Tänzerinnen zu sehen waren. Der Vorhang glitt zur Seite. Ein Spot Light erhellte einen Teil der Bühne, während der Rest vollkommen dunkel blieb.

Alex Moshkoliov fiel der Kinnladen herunter.

Der Ukrainer wurde blass.

Er sah einen Haufen übereinandergelegter menschlicher Körper. Die Gesichter waren Masken des Entsetzens. Blut sickerte hier und da aus einer Schusswunde.

Eine Lautsprecherstimme ertönte.

"Guten Abend, Mister Moshkoliov. Es tut mir sehr Leid, dass die Konferenz, an der Sie teilnehmen wollten, bereits stattgefunden hat! Wie Sie sehen, war mit einem Teil Ihrer Leute leider keine Übereinkunft zu erzielen!"

"Wer spricht da, verdammt noch mal?", krächzte Moshkoliov. "Sind Sie das, Neverio?" Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Er griff sich instinktiv an den Hals, lockerte die Krawatte und den obersten Hemdknopf.

Jemand verriegelte die Tür, durch die der Ukrainer mitsamt seinem Gefolge eingetreten war.

Die Lautsprecherstimme ließ ein schallendes Gelächter hören.

Das Spot Light schwenkte auf einen anderen Punkt der Bühne. Die Leichen verschwanden im Dunkel. Stattdessen wurde jetzt ein Mann von etwa 35 Jahren in dunklem Nadelstreifenanzug angeleuchtet. Lässig steckte die rechte Hand in der Hosentasche.

"Neverio! Sie Schwein!", rief Moshkoliov.

Der Italo-Amerikaner lächelte kalt.

"So schnell verlieren Sie die Fassung, Moshkoliov? Sie enttäuschen mich!"

Moshkoliov lief hochrot an. Er wandte sich an seine Leute. "Worauf wartet ihr Wichser? Warum legt ihr den Kerl nicht um!" Moshkoliov drehte sich zu Boris herum und erstarrte. Er blickte direkt in den Lauf einer Beretta.

"Tut mir leid, Mister Moshkoliov", sagte Boris kalt. "Aber das Angebot von Mister Neverio konnte ich einfach nicht ablehnen."

Auch die anderen Bodyguards drehten sich jetzt zu ihrem Boss herum. Fast zwei Dutzend Mündungen von MPis und automatischen Pistolen waren auf den Boss des Ukrainer-Syndikats gerichtet.

"Boris!", stieß Moshkoliov hervor. Er hatte Boris vertraut. Offenbar ein Fehler!, durchzuckte es ihn jetzt bitter. "Boris, ich kann das nicht glauben! Da liegen unsere Leute zusammengeschossen auf einem Haufen und..."

"Man sollte sich nicht zuviel Sentimentalität leisten, edler Elfenfürst", erwiderte Boris eisig. "Ist schlecht fürs Business. Ich glaube, Sie waren es, der das mal zu mir gesagt hat."

Moshkoliov schluckte.

Er wandte den Blick, sah in die Augen der Männer, die er für seine Leibwächter gehalten hatte.

Der große Boss sah ein, dass er verloren hatte.

Endgültig.

"Mein Sohn Oleg wird euch alle ausradieren!", brüllte er.

Moshkoliov stürzte sich mit bloßen Händen auf Boris.

Dieser drückte die Beretta ab. Der erste Schuss traf Moshkoliov in Brusthöhe und wurde durch das Kevlar unter dem Anzug aufgefangen. Die Wucht des Geschosses war dennoch groß genug, um Moshkoliov zu stoppen. Der Ukrainer rang nach Luft. Den zweiten Schuss zielte Boris auf den Kopf seines Bosses. Ein Explosivgeschoss. Der bleiche Elfenkopf zerplatzte. Da halfen die besten Selbstheilungskräfte auch nicht mehr.

Moshkoliov sank zu Boden.

Regungslos blieb er liegen.

Ray Neverio klatschte demonstrativ Beifall. "Gut gemacht, Boris!"

"Ich hoffe doch, es bleibt bei unserer Vereinbarung!", sagte Boris.

"Sie und Ihre Leute haben einen großartigen Job gemacht, Boris! Da gibt's nur einen kleinen Haken!"

"Welchen Haken?"

"Ich kann Verräter nicht leiden!"

"Was soll das heißen?"

Die vage Ahnung, aufs Kreuz gelegt worden zu sein, stieg in Boris hoch. Er riss die Beretta herum.

Das Licht ging aus. Es war von einer Sekunde zur anderen stockdunkel im Hauptsaal des "Hot Spot". Im nächsten Moment blitzten ein paar winzige Leuchten an der Decke auf. Wie eine Handvoll funkelnde Sterne im Nachthimmel wirkten sie. Ihr Licht reichte nicht aus, um etwas sehen zu können.

Von der Bühne her blitzten plötzlich Dutzende von Mündungsfeuern. MPis knatterten los. Ein wahrer Geschosshagel erfüllte die Luft. Draußen würde man davon nichts hören. Das "Hot Spot" war schalldicht isoliert.

Schreie gellten in der Dunkelheit.

Nach einigen Augenblicken verebbten die Schüsse.

Es wurde hell.

Bewaffnete Kämpfer mit Sturmhauben und Nachtsichtgeräten sprangen von der Bühne. Die bis dahin verriegelten Türen wurden aufgestoßen. Weitere Bewaffnete betraten den Raum.

"Alles in Ordnung, Mister Neverio!", rief einer von ihnen.

Ray Neverio stieg als letzter die Treppe hinunter, die zur Bühne hinaufführte.

Überall lagen auf dem Boden verstreut Tote in ihrem Blut.

Die Verräter hatten keine Chance gehabt, sich gegen Neverios Leute verteidigen zu können. Sie waren buchstäblich wie blind gewesen.

Einer der Killer deutete zur Decke. "Das Restlicht war schon beinahe zu hell! Ich hatte schon Angst, dass die Bastarde uns sehen könnten! Mit unseren Nachtsichtgeräten wären wir auch mit ein paar Lux weniger zurechtgekommen."

Ray Neverio machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich weiß nicht, was du hast, Michael! Hat doch alles prima geklappt!"

Ein ächzender Laut war schwach zu hören.

"Hier lebt noch einer!", meldete ein Mann mit hochgeklapptem Nachtsichtgerät.

Neverio war in wenigen Augenblicken dort. Es war Boris, der da in einer Blutlache lag und sich noch rührte.

Ray Neverio schnipste mit den Fingern.

Einer der Killer warf ihm eine Automatik zu.

Neverio fing sie sicher auf. Er zielte kurz und drückte ab. Boris Körper zuckte, als die Kugel ihn traf.

"Ich hasse schlampige Arbeit!", meinte er mit einem zynischen Lächeln um die Lippen. Wenigstens eine Sache, die ich mit dem "Großen Alten" aus Marokko gemeinsam habe!, ging es ihm durch den Kopf.

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Als ich Tylo am nächsten Morgen mit dem Wagen an unserer bekannten Ecke abholte, erreichte uns ein Anruf des Field Office. Mister McKee war am Apparat und beorderte uns nach Alphabet City. In einem Nachtclub namens "Hot Spot" hatte es ein wahres Gemetzel gegeben. Dutzende von Toten gab es dort. Darunter auch Alex Moshkoliov.

Vor etwa einer Stunde waren Angehörige eines Reinigungstrupps auf die Toten gestoßen und hatten die City Police verständigt.

"Jetzt geht der Krieg scheinbar richtig los!", kommentierte Tylo die Neuigkeiten.

"Wer steckt dahinter? Neverio?" fragte ich.

"Sieht so aus, Jesse."

“Ja.”

“Hast du dir schon überlegt, was du tust?”

“Wie meinst du das?”

“Was deine persönliche Sache betrifft?”

“Jetzt lösen wir erstmal den Fall, Tylo.”

“Warte nicht zu lange.”

“Ich weiß.”

“Das hoffe ich.”

Er sah mich an. Wir schwiegen einen Moment.

"Der Rezzolotti-Clan scheint wild entschlossen zu sein, die Ukrainer aus dem Markt zu schlagen. Wahrscheinlich wird man am Ende wieder keinem dieser Leute etwas nachweisen können!", murmelte ich düster. "Ich frage mich nur, wie es in dieses Szenario hineinpasst, dass der Große Alte aus Marokko zurückgekehrt ist!"

"Es wäre nicht das erste Mal, dass uns da jemand in die Irre führen will!", meinte Tylo.

"Und wer sollte das sein?"

Tylo hob die Schultern. "Mal angenommen, Neverio steckt wirklich hinter der Liquidierung von Moshkoliov und seinen Leuten. Und nehmen wir außerdem an, dass er auch bei Rezzolottis Tod die Finger im Spiel hatte..."

"Wie du weißt, glaube ich letzteres nicht, Tylo."

"Aber du musst zugeben, dass Neverio sowohl von Jack Rezzolottis Ende als auch von Moshkoliovs Tod profitiert! Er dürfte jetzt die Nummer eins im illegalen Müllhandel sein."

"Und jetzt taucht der Alte aus Marokko auf, um die Sache wieder gerade zu biegen, um Neverio unter Kontrolle zu halten!"

"Wäre doch eine Möglichkeit, oder?"

Als wir die Avenue A erreichten, waren die letzten hundert Meter vor dem "Hot Spot" mit Einsatzfahrzeugen nur so zugestellt. Wir mussten das letzte Stück zu Fuß hinter uns bringen.

Als wir das "Hot Spot" betraten, trafen wir auf unsere Kollegen Clive Zefirelli und Medina.

Sie sprachen gerade mit Captain Donald Montcalm 77886654, dem Einsatzleiter der City Police. Zahlreiche Kräfte der Scientific Research Division waren ebenfalls bereits im Einsatz und suchten das "Hot Spot" millimetergenau nach Spuren ab.

"Also ehrlich, ich bin jetzt schon lange beim NYPD - aber so etwas habe ich noch nicht gesehen!", gestand Captain Donald Montcalm kopfschüttelnd. "Ein wahres Blutbad!"

"Um ehrlich zu sein, frage ich mich, wie Moshkoliov und nahezu sein gesamter Führungszirkel so leicht in diese tödliche Falle hineintappen konnten", meinte Orry. Unser indianischer Kollege lockerte die blaue Seidenkrawatte. Der Anblick einer so großen Anzahl von Leichen musste erst einmal verdaut werden. Auch wenn für uns G-men der Umgang mit dem Verbrechen zum täglichen Alltag gehört, so wird er doch nie zur Routine.

"Es scheint, als ob Moshkoliov verraten worden wäre", meinte Tylo. "Die Rezzolotti-Familie muss Leute in unmittelbarer Umgebung des großen Bosses auf ihre Seite gezogen haben."

Am Eingang entstand ein Tumult.

"Lassen Sie mich durch, verdammt nochmal!", rief eine heisere Männerstimme.

Zwei NYPD-Androiden hatten einen Mann von Mitte dreißig zwischen sich genommen.

"Sie können hier nicht einfach herein!"

"Ich bin Oleg Moshkoliov! Mein Vater ist dort irgendwo..."

Er war ein Elf. Das war unübersehbar.

"Lassen Sie den Mann durch!", mischte sich Clive Zefirelli ein.

Der stellvertretende SAC trat auf Oleg Moshkoliov zu. Wir folgten ihm.

"Ist mir unverständlich, wie dieser Mann die Absperrungen durchbrechen konnte", murmelte Captain Donald Montcalm.

Oleg Moshkoliov strich sich sein Jackett glatt. Die Ohren bewegten sich. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals.

"Wo ist mein Vater?", fragte er.

"Der Gerichtsmediziner kümmert sich gerade um ihn....", sagte Clive.  "Von wem haben Sie erfahren, dass Ihr Vater tot ist?"

Moshkoliov ließ den Blick schweifen. Aber sein Vater war bereits in einen Zinksarg gelegt und abtransportiert worden.

Oleg ballte die Hände zu Fäusten. Die Knöchel wurden weiß. Das Gesicht war zu einer Maske geworden. Kalte Wut glitzerte in seinen Augen.

"Wer immer sich für das, was hier geschehen ist, zu verantworten hat, wird dafür bezahlen!", murmelte Oleg. "So wahr ich hier stehe..." Er wandte sich an Clive. "Ihre Behörde hat meinem Vater immer nur Knüppel zwischen die Beine geworfen und versucht, einem ehrenwerten Geschäftsmann etwas anzuhängen! Ich nehme an, Sie werden nicht viel unternehmen, um die Mörder meines Vaters dingfest zu machen!"

"Da irren Sie sich!", erwiderte Clive.

"Für Ihre Leute war mein Vater doch ein Gangster!"

"Jetzt hören Sie mir mal gut zu", sagte Clive ziemlich gereizt. "Ihr Vater war zweifellos ein Gangster. Aber wir werden seine Mörder genauso verfolgen wie jeden anderen Verbrecher."

Oleg machte nur eine wegwerfende Geste.

"Packen Sie aus", forderte Orry. "Sie wissen so gut wie wir, dass der Tod dieser Menschen mit den Geschäften Ihres Vaters in Zusammenhang steht."

Oleg Moshkoliov blickte auf. "Tut mir leid, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen!"

"Um weiterhin Ihren Vater als Saubermann dastehen zu lassen ist zu viel passiert, Mister Moshkoliov", gab Clive zu bedenken. "Das sollten auch Sie begreifen! Wenn Sie wirklich daran interessiert sind, die Mörder dingfest zu machen, dann helfen Sie uns!"

Moshkoliov atmete tief durch, dann wandte er sich wortlos zum Gehen.

"Ich hoffe, Sie haben keine Reise vor, Mister Moshkoliov", sagte Clive.

Oleg blieb stehen, drehte sich halb herum.

"Wieso?"

"Weil wir vielleicht noch ein paar Fragen an Sie hätten!"

Er antwortete nicht, ging auf den Ausgang zu.

"Den Kerl müssen wir im Auge behalten", meinte ich. "Ich schlage vor, dass Tylo und ich uns an seine Fersen heften."

"Nichts dagegen einzuwenden", fand Clive. "Aber vielleicht solltet ihr ihn nicht mit dem Sportwagen beschatten."

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​17

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Oleg Moshkoliov stieg in eine Limousine, in der sich drei weitere Männer befanden. Bodyguards, wie ich vermutete. Orks, wenn mich nicht alles täuschte.

Tylo und ich folgten dem Wagen.

Dazu tauschten wir den Sportwagen gegen den unauffälligen Chevy, mit dem Clive und Orry zum Tatort gefahren waren.

Tylo setzte sich hinter das Steuer, ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Oleg fuhr mit seinen Männern zunächst kreuz und quer durch Brooklyn. Unterwegs nahmen wir telefonisch Kontakt mit dem Field Office auf, um einige Daten über Oleg abzufragen. Unseren Erkenntnissen nach hatte Alex Moshkoliov seinen Sohn ganz behutsam zum Nachfolger aufbauen wollen. Nach dem Geschmack des Juniors wohl etwas zu behutsam. Olegs eigene Geschäfte waren nicht besonders glücklich gewesen. Vor zwei Jahren hatte er wegen Schutzgelderpressung vor Gericht gestanden. Aber die Anwälte seines Vaters hatten dafür gesorgt, dass er glimpflich davongekommen war.

"Meinst du, Oleg hat etwas mit diesem Massaker zu tun?", fragte Tylo. "Ich meine, für ihn ist doch jetzt in Brooklyn die Bahn frei..."

Ich schüttelte den Kopf.

"Vielleicht hat Oleg seinen Vater insgeheim zur Hölle gewünscht..."

"...oder ins Altenheim, Jesse!"

"Ist das denn ein wesentlicher Unterschied?"

"In der Preisklasse, die Alex Moshkoliov sich hätte leisten können, ganz gewiss!"

"Wie auch immer. Diejenigen, die dieses Attentat zu verantworten haben, wollten die gesamte Organisation der Ukrainer von Brooklyn nicht nur enthaupten, sondern auslöschen."

"Also doch Rache der Rezzolotti-Familie!"

"Ja."

"Trotzdem... Jesse, dieser Oleg erschien mir wie jemand, der seine Gefühlsausbrüche nur vorspielt."

"Trauer zu heucheln ist noch kein Straftatbestand, Tylo!"

"Mag ja sein. Aber ich sag dir, mit dem Kerl ist irgendetwas faul!"

Wir folgten Oleg Moshkoliov in die Rowland Lane. Im Haus Nr. 345 bewohnte Oleg ein Loft. Die Erbauer des Hauses hatten versucht, den Cast Iron-Stil zu kopieren, wie man ihn vor allem in Greenwich Village fand. Wir parkten den Chevy in der Nähe und blieben im Wagen. Glücklicherweise war die Rowland Lane voll von kleinen Geschäften. Entsprechend zahlreich waren die Passanten, sodass wir nicht allzu sehr auffielen.

Eine Dreiviertelstunde blieb Oleg in seiner Wohnung.

Wir sprachen zwischendurch telefonisch mit Mister McKee.

"Ich werde versuchen, eine Telefonüberwachung von Mister Moshkoliovs Anschlüssen zu erwirken", erklärte unser Chef. "Allerdings dürfte das kompliziert werden. Es liegt bislang einfach zu wenig gegen den jungen Moshkoliov vor. Und was das Attentat auf seinen Vater und dessen Gefolge angeht, so stehen nun wirklich andere vor Oleg auf der Verdächtigenliste!"

Wir warteten geduldig.

Schließlich verließ Oleg wieder seine Wohnung.

Stets war er von seinen Männern flankiert.

Sein Jackett saß knapper als zuvor. Es sah aus, als hätte er ein paar Kilo zugenommen. Offenbar trug er jetzt eine Kevlar-Weste unter der Kleidung.

Gemeinsam mit seinen drei Bodyguards bestieg er seine Limousine.

Oleg nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Wir hängten uns an das Quartett dran.

Es ging Richtung Norden.

Etwa zehn Minuten später folgten wir Oleg und seinen Leuten über die Brooklyn Bridge.

Das Wasser des East River glitzerte in der Sonne. Am Manhattan-Ufer war der Fulton Fish Market Pier 18 zu sehen. Der Elevated Highway zog sich wie eine graue Linie am Ufer entlang. Dahinter ragten die Southbridge Towers und die Gouvernor Smith Houses hervor.

Olegs Limousine nahm eine Abfahrt.

Anders als ich erwartet hatte, fuhr er nicht zum Highway, sondern direkt in das Labyrinth der kleinen Nebenstraßen von Lower Manhattan hinein. Von der Frankfort Street ging es in die Water Street, der sie bis zur Ecke South Street folgten.

"Ich frage mich, was der Kerl jetzt auf dem Fulton Fish Market zu suchen hat!", sagte Tylo.

"Nach jemandem, der fast wahnsinnig vor Trauer über den Tod seines Vaters ist, klingt das nicht gerade!", musste ich Tylo Recht geben.

Die Limousine fuhr an den Straßenrand. Oleg und zwei seiner Männer stiegen aus. Nur der Fahrer blieb im Wagen.

Oleg drehte sich mehrmals um, ließ den Blick schweifen. Er sah auf die Uhr.

"Ich wette, der will sich mit jemandem treffen. Bleib hier und halt den Fahrer im Auge. Ich möchte nicht, dass mir der in den Rücken fällt!"

"Okay!"

Tylo fuhr den Chevy an die Seite und ich stieg aus. Der Fahrer der Limousine hatte das Seitenfenster herunter gedreht, beobachtete die Straße. Lieferwagen und Passanten drängten sich hier. Ein großer Kühlwagen versperrte die Einfahrt zur Graham Street. Ein so belebter Ort wie der Fulton Fish Market war ein idealer Ort, um sich unauffällig mit jemandem zu treffen.

Oleg ging mit schnellen, energischen Schritten.

Seine beiden Bodyguards flankierten ihn.

Ich folgte ihnen in einigem Abstand. Salzgeruch hing in der Luft. Das Ufer der East River wurde sichtbar. Pier 18 ragte wie eine breite Halbinsel in das Wasser hinein. An Dutzenden von Ständen wurde Fisch verkauft. Gabelstapler fuhren herum, um kistenweise Frischware für die Nobelrestaurants der Fifth Avenue auf Lastwagen zu laden.

Ecke South Street/Peck Slip blieben Oleg und seine Leute stehen.

Jemand wartete dort offenbar auf den Ukrainer.

Eine junge Frau. Eine Androidin, wie im Infrarot-Scan schnell sah. Sie trug eine Sonnenbrille, aber ich erkannte sie trotzdem.

Dort stand niemand anderes als Evita Jackson.

Ihr dunkles Haar trug sie zu einem Knoten zusammengefasst. Ihre Züge wirkten angestrengt. Sie gestikulierte stark. Oleg fasste sie bei den Schultern. Sie stieß ihn von sich. Zwischen den beiden schien ein heftiger Streit im Gang zu sein.

Ich versuchte, etwas näher heranzukommen.

Hinter dem Van eines Pizza-Service nahm ich kurz Deckung, verbarg mich dann in der Türnische eines fünfstöckigen Brownstone-Gebäudes.

Der Straßenlärm verhinderte allerdings, dass ich von dem Gespräch zwischen Oleg und Evita etwas mitbekam. So leistungsfähig, um das in diesem Fall herauszufiltern, waren nichtmal meine Richtmikros.

"Du glaubst nicht, mit wem sich Oleg gerade streitet..."

In knappen Worten fasste ich ihm die neue Lage zusammen.

"Was hast du vor?", fragte Tylo. 

"Ich will mich an Evita dranhängen, sobald dieses Rendezvous beendet ist! Sie muss uns einiges erklären!"

"Scheint, als würden die Ukrainer vielleicht doch stärker in der Brooklyn-Bridge-Sache drinhängen, als du gedacht hast, was?"

"Zugegeben. Ruf Verstärkung. Oleg sollte auch weiter beschattet werden..."

"Übrigens, der Fahrer steigt jetzt gerade aus, Jesse."

"Behalte ihn im Auge!"

"Okay!"

Ich unterbrach die Verbindung.

Oleg Moshkoliov packte Evita grob am Kragen, versetzte ihr eine Ohrfeige. Aber Evita befreite sich mit einem heftigen Stoß. Sie schrie Oleg an. Ihr Gesicht war eine Maske. Dann ging sie davon. Sie überquerte den Peck Slip.

Olegs Bodyguards wollten ihr nachsetzen.

Oleg hielt die Männer zurück, schüttelte den Kopf. Der Elf machte eine wegwerfende Geste. Die blanke Wut war ihm anzusehen.

Das Trio machte sich auf den Rückweg zum Wagen. Sie gingen an mir vorbei, ohne auf mich zu achten.

Sobald sie hinter der nächsten Ecke verschwunden waren, machte ich mich daran, Evita Jackson zu verfolgen.

Auch sie hatte ein ziemlich großes Tempo drauf.

Ich folgte ihr hundert Meter weit den Peck Slip entlang, dann bog sie in die Font Street ein. Dort stand ihr Wagen, ein Porsche mit offenem Verdeck.

Sie stieg ein. Ich setzte zum Sprint an. Der Porsche-Motor heulte schon auf, als ich mit der ID-Card in der Hand vor der Motorhaube erschien.

"Warten Sie, Miss Jackson!"

Sie starrte mich mit offenem Mund an.

Ich setzte mich neben sie auf den Beifahrersitz.

Sie stellte den Motor wieder ab.

"Was soll das, Mister Ambalik?"

"Sie können mich ruhig Jesse nennen!"

“Ein Flirt unter Maschinen? Ich bitte Sie!”

“Hören Sie, ich...”

"Lassen Sie mich einfach in Frieden!"

"Sagen Sie, ist dies der Wagen, in dem Jack Rezzolotti starb?"

"Nein, das ist er nicht! Der ist noch in Ihren verdammten Labors, ohne dass etwas dabei herausgekommen wäre." Sie verzog das Gesicht. "Jack war so großzügig, mir einen baugleichen Wagen zu schenken."

"Dann fuhren Sie ja quasi im Partner-Look!"

"Ihr Humor gefällt mir nicht, G-man!"

"Schade."

"Was wollen Sie?"

"Ich habe gerade Ihre Unterhaltung mit Mister Oleg Moshkoliov mitbekommen."

Sie schluckte. Eine dunkle Röte überzog ihr Gesicht. "Sie haben mich beschattet?"

"Nicht Sie, sondern Ihren Freund Oleg. Sein Vater und ein Großteil der Leute, die unter seinem Kommando gestanden haben, wurden heute Nacht auf grausame Weise ermordet. Wir vermuten, dass die Rezzolotti-Familie dahintersteckt. Wie Sie sich vorstellen können, hat es mich etwas überrascht, dass Oleg in dieser Situation nichts besseres zu tun hat, als sich mit der Frau zu treffen, die neben Jack Rezzolotti im Wagen saß..."

"Habe ich mich irgendwie strafbar gemacht?"

"Vielleicht waren Sie ja bei der Sache auf der Brooklyn Bridge gar nicht das Opfer..."

Sie hob die Augenbrauen. "Sondern?"

"Mal vorausgesetzt, diese Roller-Skates-Oger handelten im Auftrag und das Ganze war eine gezielte Aktion..."

"Jetzt bin ich aber mal gespannt, wie viel Fantasie so ein G-man hat!" Ihre Stimme bekam jetzt einen scharfen Unterton.

"Sie könnten mit einem Funksignal dafür gesorgt haben, dass die Attentäter genau wussten, wo Jack Rezzolotti zu finden war!"

"Sie hätten Drehbuchautor werden sollen, Jesse!"

"Okay, wenn Sie das witzig finden, dann nehme ich Sie jetzt einfach fest und wir fahren zur Federal Plaza. Entweder mit Ihrem oder mit unserem Wagen, das ist mir gleichgültig. Aber vielleicht werden Sie ja doch noch vernünftig und packen jetzt endlich aus!"

Sie atmete tief durch, nahm die Sonnenbrille ab und klappte sie zusammen.

Anschließend drehte sie sich herum, so als hätte sie Angst beobachtet zu werden.

"Es ist nicht so, wie Sie denken."

"Nur zu, ich bin auf Ihre Version schon sehr gespannt!"

"Ich sage Ihnen alles. Aber nicht hier."

"Wo dann?"

"Zwei Straßen weiter ist eine Bar..."

“Mit guter Steckdose und Datenübertragung?”

“Ja. Für Maschinen.”

"Nichts dagegen."

"Außerdem ist dies eine Einbahnstraße. Es gibt sowieso keinen anderen Weg..."

Sie startete den Motor, der Porsche scherte aus der Parklücke. Ich ließ den Blick schweifen. Tylo meldete sich per Handy. "Ich habe den Fahrer verloren...", sagte er.

"Macht nichts", erwiderte ich. "Oleg und sein Gefolge sind auf dem Rückmarsch."

"Dann werden sie mir ja bald entgegenkommen. Kommst du allein klar, Jesse?"

Ich blickte kurz zu Evita hinüber.

“Ja.”

Tylo unterbrach die Verbindung. Mein Kollege hatte Recht. Jemand musste an Oleg Moshkoliov dranbleiben. Da lief etwas im Hintergrund ab, das uns vielleicht der Lösung des Falls näher brachte. Niemand im Field Office hätte mit einer Verbindung zwischen Evitas Jackson und Oleg Moshkoliov gerechnet. Ich war gespannt, was noch an verdeckten Verbindungen des Ukrainers ans Tageslicht kam.

Evitas Porsche bog in die Dover Street. Rechts befanden sich Brownstone-Bauten. Keines hatte mehr als drei oder vier Geschosse. Es gab viele Bars und Pubs hier. Rechts ragte die Brooklyn Bridge hoch empor. Erst einige hundert Meter weiter endete diese riesenhafte Brücke und teilte sich in Park Row und Police Plaza auf. Gewaltige Pfeiler hielten die bogenförmige Konstruktion aus Stahl und Beton. Ein paar Graffiti-Künstler hatten sich darauf verewigt.

Hinter einem dieser Pfeiler blitzte etwas auf.

Das Mündungsfeuer einer MPi.

Ein kleines rotes Loch befand sich plötzlich an Evitas Schläfe. Sie sackte zur Seite.

Ich handelte gemäß meiner Programmroutine und betätigte die Notfallbremse.

Ein weiterer Schuss zischte dicht über uns hinweg und ließ die Neonreklame einer Bar mit dem Namen "The Real Place" zersplittern.

Der Porsche schrammte mit quietschenden Reifen in die Reihe parkender Fahrzeuge hinein, stoppte schließlich.

Ich riss die SIG heraus, löste den Sicherheitsgurt.

Die leblose Evita war mit Kopf gegen das Armaturendisplay geschlagen. Der Killer hatte sie mit einem einzigen sehr präzisen Schuss getötet.

Ausgeschaltet.

Hauptprozessor im Eimer.

Da rettete niemand mehr irgendwelche Daten.

Ein Profi. Für Evita konnte ich nichts mehr tun. Ich sprang aus dem Porsche heraus, die SIG in der Faust. Zwischen den Betonpfeilern sah ich eine schattenhafte Gestalt davonlaufen.

Ich setzte zum Spurt an, überquerte die Dover Street.

Der flüchtende Killer feuerte in meine Richtung.

Der Schuss verfehlte mich knapp. Ich duckte mich, schoss mit meiner SIG zurück und ging dann hinter dem ersten Betonpfeiler in Deckung.

Ein schwarzer Volvo bog mit quietschenden Reifen um die Ecke. Ein Wagen dieses Typs war mir bereits aufgefallen, als ich in der Front Street in Evita Jacksons Porsche gestiegen war. Offenbar war er uns gefolgt. Ich hatte dem Volvo zuvor leider keine Bedeutung beigemessen.

Die Scheiben waren getönt.

Es war unmöglich, zu erkennen, wie viele Personen sich im Inneren befanden.

Eine der Scheiben senkte sich einen Spalt.

Etwas Metallenes ragte einige Zentimeter hinaus.

Zweifellos der Lauf einer Waffe.

Eine MPi knatterte in den nächsten Sekunden los.

Der Schütze feuerte in meine Richtung. Ich warf mich zu Boden, rollte mich dort herum. Die Schüsse gingen haarscharf an mir vorbei.

Der Volvo raste weiter.

Mit einem mörderischen Tempo schnellte er in Richtung der Auffahrt zur Brooklyn Bridge.

Ich riss die SIG herum, erwartete eigentlich von der anderen Seite ebenfalls unter Feuer genommen zu werden.

Aber der Killer, der Evita Jackson ausgeschaltet hatte,  war  verschwunden. Er hatte die Gunst des Augenblicks genutzt. Offenbar war er kein großer Nahkämpfer, sondern lauerte lieber in sicherer Entfernung auf sein Opfer, um es in aller Ruhe mit einem Spezialgewehr abschießen zu können. Ich rappelte mich auf, rannte weiter zwischen den Betonpfeilern hindurch. Von dem Killer sah ich keine Spur mehr.

Aber ich dachte nicht daran, so schnell aufzugeben.

Ich nahm Verbindung mit dem Field Office auf, um Verstärkung zu rufen.

Ganz in der Nähe, zwischen Police Plaza und Madison Avenue, befanden sich die Headquarters der City Police. Mit etwas Glück konnte das Gebiet um die Brooklyn Bridge und ihre verschiedenen Auffahrten schnell genug von NYPD-Einsatzkräften abgeriegelt werden.

Ich rannte weiter, musste dabei aber auf der Hut bleiben.

Schließlich konnte sich der Killer ja auch hinter einem der Betonpfeiler versteckt halten und auf mich lauern.

Der Verkehrslärm der Brooklyn Bridge war hier unten geradezu ohrenbetäubend. Das Areal unter der Brücke wirkte wie eine Art Klangkörper.

Schließlich erreichte ich eine grasbewachsene Böschung, die zu einer steil ansteigenden Straße hinaufführte. Es musste sich um die Avenue of the Finest handeln, eine auf Highway-Breite ausgebaute Auffahrt zur Brooklyn Bridge.

In letzter Sekunde sah ich den Killer oben hinter der Leitplanke lauern. Der Strahl des Laserpointers warnte mich. Ich warf mich zu Boden. Das Gras war hoch. Offenbar war die Böschung schon seit Monaten nicht mehr gemäht worden. Der erste Schuss verfehlte mich nur knapp. Der Zweite ging sehr viel deutlicher daneben.

Ich riss die SIG empor, feuerte zurück.

Der Killer zog sich zurück.

Ich rappelte mich auf, hetzte die Böschung empor.

Augenblicke später erreichte ich die Leitplanken, stieg hinüber. Ein schmaler Mehrzweckstreifen lag zwischen den Leitplanken und der Fahrbahn. Es herrschte nur mittleres Verkehrsaufkommen. Ein Versuch, als Fußgänger die Avenue of the Finest zu überqueren war dennoch selbstmörderisch.

Aber der flüchtige Killer setzte offenbar alles auf eine Karte.

Er stand mitten auf der Fahrbahn.

Zum ersten Mal sah ich deutlich sein Gesicht.

Der Kerl war Mitte dreißig, hatte gelocktes Haar und trug einen Drei-Tage-Bart.

Autofahrer hupten, Fahrzeuge wichen dem Kerl aus. Er drehte sich in meine Richtung, erblickte mich und legte augenblicklich sein Gewehr an. Ein Spezialsturmgewehr für Army-Scharfschützen vom Typ M77.

Sein Schuss war schlecht gezielt und verfehlte mich. Der Killer hatte mehr oder weniger aus der Hüfte gefeuert. Ich konnte nicht zurückschießen. Die Gefahr für die unbeteiligten Autofahrer wäre einfach zu groß gewesen.

Aus Richtung Police Plaza näherte sich ein Helikopter.

Sirenen waren aus der Ferne zu hören.

Der Killer feuerte noch einmal in meine Richtung. Ich duckte mich.

Die Seitenscheibe eines vorbeifahrenden Vans zersprang.

Der Killer rannte vorwärts.

Ein Geländewagen vom Typ Maverick raste heran, bremste. Die Reifen quietschten.

Der Killer wurde vom Kuhfänger erfasst und schreiend durch die Luft geschleudert.

Ein zweiter Wagen bremste, rutschte von hinten in den Maverick hinein. Ein Lastwagen stellte sich mit quietschenden Reifen quer.

Binnen weniger Sekunden kam der Verkehr zum erliegen. Hier und da gab es kleinere Auffahrunfälle.

Ich spurtete los, hatte den am Boden liegenden Killer nach wenigen Augenblicken erreicht.

Er lebte noch. Aber der Zusammenprall mit dem Kuhfänger des Maverick hatte ihn schwer verletzt.

Den linken Arm vermochte er offenbar nicht mehr zu bewegen. Die Kleidung war blutverschmiert. Das Sturmgewehr war ihm aus der Hand geschleudert worden, lag jetzt ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Asphalt.

Der Killer drehte sich stöhnend in meine Richtung, griff unter seine Jacke.

"Stecken lassen!!", rief ich. "FBI! Keine Bewegung!"

Er riss eine großkalibrige Automatik aus dem Hosenbund.

Die Mündung zielte auf mich.

Sein Zeigefinger spannte sich um den Stecher, der Knöchel wurde weiß.

Über uns knatterte der NYPD-Helikopter. Er sank tiefer. Der Wind, der dadurch verursacht wurde, riss an den Kleidern.

Eine endlos lange Sekunde herrschte ein Patt zwischen dem Killer und mir. Dann senkte er die Waffe. Er sah offenbar ein, dass er keine Chance hatte, mich zu erschießen, bevor ich ihn mit meiner SIG erwischte.

Ich trat auf ihn zu, nahm ihm die Waffe ab und durchsuchte ihn. Er hatte einen Führerschein bei sich, der auf den Namen Michael DiAngelo ausgestellt war. Außerdem ein Prepaid-Handy. Es war eingeschaltet. Ich ging in das Menue. Dass ich dabei vielleicht Spuren vernichtete, die unsere Kollegen aus den SRD-Labors für wichtig hielten, nahm ich bewusst in Kauf.

Denn die Jagd war noch nicht beendet...

Nach kurzer Zeit hatte ich herausgefunden, dass Michael DiAngelo das letzte Gespräch erst vor wenigen Augenblicken geführt hatte. Die Nummer gehörte ebenfalls zu einem Mobiltelefon. Wahrscheinlich auch ein Gerät, das über eine im Voraus bezahlte Simcard lief, sodass der Benutzer nicht identifizierbar war.

Ich stellte eine Verbindung zu diesem Apparat her.

"Michael? Scheiße, was ist los?", fragte eine Männerstimme.

"Wo seid ihr?", fragte ich.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Ich hörte, wie jemand atmete, als wollte er etwas sagen. Aber es blieb still. Im Hintergrund war ein Motorengeräusch zu hören. Mit wem immer ich auch telefonierte, er befand sich in einem Wagen. Und ich hätte meine SIG dafür verwettet, dass es sich dabei um einen schwarzen Volvo handelte...

Die Verbindung wurde unterbrochen.

Ich hatte gehofft, dass der Unbekannte auf der anderen Seite der Verbindung auf meinen Trick hereinfiel. Eine menschliche Stimme ist bei einer schlechten Handyverbindung nicht so leicht zu identifizieren. Aber der Kerl hatte den Braten gerochen.

Ich wusste auch so, wo der oder die Unbekannten vermutlich zu finden waren. Michael DiAngelo hatte den Volvo-Fahrer wahrscheinlich auf die Avenue of the Finest lotsen wollen, um sich abholen zu lassen. Mit etwas Glück saß er jetzt in dem Stau fest, der sich dort gebildet hatte.

Ich steckte das Handy meines Gefangenen ein, nahm den eigenen Apparat ans Ohr und ließ mich mit der Einsatzzentrale des NYPD verbinden.

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Ein schwarzer Volvo fuhr in die Tiefgarage der Majestic Apartments ein. Er nahm einen reservierten Parkplatz. Zwei Männer stiegen aus. Beide trugen dunkle Lederjacken.

"Mister Neverio wird nicht begeistert von dem sein, was passiert ist!", meinte der Größere der beiden.

Der Kleinere zuckte die Achseln.

"Wir können von Glück sagen, dass wir nicht schon in dem verdammten Stau auf der Avenue of the Finest steckten!"

Die beiden gingen zum Aufzug, passierten die elektronische Chipkartenkontrolle und ließen sich hinauf bis in den 25. Stock tragen. Dort residierte Ray Neverio. Bodyguards nahmen die beiden Männer in Empfang und durchsuchten sie. Die beiden Männer ließen es geduldig über sich ergehen.

Sie wussten, dass in Ray Neverios Umgebung selbst engste Freunde dieser Prozedur unterzogen wurden. Neverio hatte nämlich eine geradezu panische Angst davor, abgehört zu werden.

Schließlich wurden die beiden Männer in das Wohnzimmer geführt. Ray Neverio saß mit angespanntem Gesicht auf einer Couch. Er fixierte die beiden Männer förmlich mit seinem Blick.

"Hoffentlich höre ich etwas Positives von Ihnen! Ich könnte etwas gute Laune gebrauchen!" Neverio erhob sich, trat an den Größeren der beiden Männer heran. "Was ist mit Evita Jackson?"

"Diese Verräterin hat es erwischt. Da bin ich mir sicher. Aber es war jemand bei ihr..."

"Ein Ukrainer?" Neverio ballte die Hände zu Fäusten. Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske. "Wahrscheinlich dieser Moshkoliov-Bastard namens Oleg!"

"Nein, es war ein G-man!", widersprach der Kleinere der beiden Männer.

Ray Neverio fiel der Kinnladen herunter.

"Was?", stieß er ungläubig hervor. "Soll das heißen, Michael DiAngelo befindet sich in den Händen des FBI?" Wutentbrannt packte Neverio den Kleineren der beiden Männer am Kragen.

"Scheiße, wir wollten Michael auf der Avenue of the Finest abholen. Er hat uns mit dem Handy dorthin dirigiert, aber schon von der Dover Street aus konnte man den Stau sehen..."  Neverio versetzte seinem Gegenüber einen brutalen Kopfstoß. Der Mann schrie auf, taumelte zurück. Das Blut schoss ihm aus der Nase. "Ihr Wichser seid wirklich für nichts zu gebrauchen!", knurrte Neverio.

Das hat mir gerade noch gefehlt!, ging es dem Statthalter des "Großen Alten" wütend durch den Kopf. Ausgerechnet jetzt muss das passieren!

Neverio versetzte dem niedrigen Glastisch, der sich in der Mitte des Wohnzimmers befand, einen Fußtritt. Der Tisch zersprang.

Neverios Blick war finster. Er musterte seine Männer. Einen nach dem anderen.

"Oleg Moshkoliov! Ich will seinen Kopf! Wenn der zur Strecke gebracht ist, ist das Ukrainer-Problem erledigt!", stieß er hervor. "Gott sei Dank liegt dieser Job nicht in den Händen so erbärmlicher Weicheier wie ihr es seid!"

Aber Oleg Moshkoliov war keineswegs der einzige Blut-Job, den Neverio noch zu vergeben hatte.

Da waren noch die Mitglieder der Gang namens "Los Santos" aus der Bronx. Er musste mit ihnen schon deswegen kurzen Prozess machen, weil er sonst unter den Mitgliedern der Rezzolotti-Familie den Respekt verlor.

Ein Routine-Mord, der Neverio nicht viele Kopfschmerzen machte.

Eine andere Sache war dagegen selbst für eine abgebrühte Seele wie Ray Neverio ziemlich heikel.

Tony Rezzolotti, der "Große Alte" war längst aus Marokko zurückgekehrt. Aber noch hielt er sich verborgen. Neverio musste dafür sorgen, dass der Alte für immer verschwunden blieb, denn er dachte gar nicht daran, seine frisch erworbene Macht wieder abzugeben.

Die Zeit des alten Paten war vorbei.

Und Ray Neverio hatte sich fest vorgenommen, den blutigen Schlussstrich zu ziehen.

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Mein Kollege Tylo Rucker folgte der Limousine von Oleg Moshkoliov zur Adresse 987 Trenton Road, Queens. Dort befand sich ein zehnstöckiges, quaderförmiges Gebäude. "Wonderland Center" stand in großen Neonbuchstaben an der Fassade. Es handelte sich um ein gewaltiges Einkaufszentrum. Unter seinem Dach gab es alles, vom Spielzeugladen bis zum Lebensmittel-Discounter.

Moshkoliovs Limousine fuhr in die Tiefgarage ein. Tylo folgte ihr mit dem Chevy aus dem Bestand unserer Fahrbereitschaft. Mehrere Stockwerke tief reichte die Tiefgarage in den Untergrund. Moshkoliov und seine Männer fuhren bis in das unterste Parkdeck. Die Limousine bog in eine freie Parklücke ein.

Tylo hatte Glück, in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern selbst eine Lücke zu finden. Schon zuvor hatte er  Verbindung mit dem Field Office aufgenommen, um Verstärkung anzufordern. Wenn etwas bei der Sache herauskommen sollte, musste Oleg Moshkoliov rund um die Uhr überwacht werden. Es wurde dringend Zeit, dass Tylo abgelöst wurde. Schon deshalb, weil er Oleg im "Hot Spot" persönlich begegnet war. So bestand immer die Gefahr, dass er wiedererkannt wurde.

Oleg Moshkoliov stieg aus. Seine beiden Ork-Bodyguards flankierten ihn. Der Fahrer blieb im Wagen.

Tylo verließ den Chevy, schloss fast geräuschlos die Tür und verbarg sich hinter einem der gewaltigen Betonpfeiler. Aus sicherer Deckung beobachtete er das weitere Geschehen.

Oleg blickte sich suchend um. Türen klappten. Aus einem Mercedes stiegen vier Männer in schwarzen Anzügen aus. Sie gingen auf Oleg und seine Leute zu. Einer der schwarz Gekleideten hob lässig die Hand an die Stirn, so als wollte er einen militärischen Gruß nachahmen.

Es wurde leise gesprochen. Keine Chance für Tylo, mehr als nur zusammenhanglose Wortbrocken mitzubekommen. Ich schaltete mein integriertes Richtmikro ein.

Oleg übergab dem Chef der Schwarzgekleideten einen Umschlag. Dieser steckte ihn in die Innentasche seines Jacketts. Im nächsten Moment wurden Hände geschüttelt.

Irgendein Deal ging da über die Bühne. Ein Deal, bei dem Tylo keine Ahnung hatte, worum es ging.

Es blieb ihm auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.

Tylo sah einen Laserpunkt über die Fahrzeugkarossen tanzen.

Instinktiv riss er die SIG hervor.

Er ahnte, dass es zu spät war, um noch das Schlimmste verhindern zu können.

Der erste Schuss krachte.

Oleg Moshkoliov sank getroffen zu Boden.

Seine Leibwächter wirbelten herum, rissen ihre Waffen hervor und ballerten wild in der Gegend herum. Den ersten von ihnen traf es eine Sekunde später. Ein Laserpunkt tanzte auf seinem Kopf. Ein Projektil traf ihn mitten auf der Stirn. Er taumelte zurück, prallte gegen einen parkenden Toyota und rutschte an dessen Außenhaut zu Boden.

Weitere Laserpunkte tanzten. Die schwarz Gekleideten rissen ebenfalls Waffen hervor. Großkalibrige Automatik-Pistolen. Aber noch ehe der Erste von ihnen zum Schuss kam, gab es bereits zwei Tote unter ihnen. Die Überlebenden hechteten in Deckung.

Tylo rannte dorthin, wo er die Mündungsfeuer aufblitzen sah. Von mehreren Seiten wurde jetzt geschossen. Tylo war gezwungen, in Deckung zu gehen.

Ein wahrer Geschosshagel prasselte in Richtung der Leute, mit denen sich Moshkoliov hatte treffen wollen. Schreie hallten wider, übertönten sogar die Schussgeräusche.

Als die Schüsse verebbten, tauchte Tylo aus der Deckung hervor.

Ein Wagen wurde gestartet, brauste mit quietschenden Reifen davon.

Es handelte sich um einen Van mit getönten Scheiben. Er raste förmlich die Rampe empor, über die man auf die höheren Decks gelangen konnte. Die Seitenscheibe wurde heruntergelassen.

Ein eiförmiger Gegenstand wurde herausgeschleudert, landete auf dem Asphalt.

Eine Detonation folgte.

Ein grauer Nebel breitete sich aus.  Es musste sich um ein sehr aggressives, ätzendes Gas handeln. Selbst auf die Entfernung hin konnte Tylo sehen, wie Lack und Scheiben parkender Fahrzeuge angegriffen wurde. Von einem eher harmlosen Reizgas, wie es "Los Santos" in der Bronx verwendet hatten, konnte keine Rede sein!

Die Killer wollten offenbar verhindern wollen, dass irgendjemand ihnen folgen konnte.

Das Gas machte die Frontscheibe jedes Fahrzeugs innerhalb von Augenblicken vollkommen blind.

Tylo spürte den stechenden Geruch.

Die Wolke breitete sich immer weiter aus.

Er hielt sein Taschentuch vor Mund und Nase, um die Luft notdürftig filtern zu können.

Eiskalte Killer, die keine Rücksicht auf Unbeteiligte nahmen, hatten hier zugeschlagen.

Tylo rannte dorthin, wo Oleg Moshkoliov und seine Leute niedergeschossen worden waren.

Die Bodyguards waren tot. In eigenartig verrenkter Haltung lagen sie auf dem Asphalt. Auch die Männer, mit denen er sich hatte treffen wollen, waren allesamt gnadenlos niedergestreckt worden.

Olegs Fahrer hatte in der vermutlich gepanzerten Limousine ausgeharrt. Jetzt stürzte er aus dem Wagen, riss eine Waffe hoch.

"Weg damit! FBI!" rief Tylo, richtete die SIG auf ihn.

Der Chauffeur war unschlüssig.

"Noch liegt nichts gegen Sie vor. Aber der Angriff auf einen FBI-Agenten wäre ein schweres Verbrechen."

Er senkte die Waffe, hustete. Das ätzende Gas war bereits in geringer Konzentration bis hierher gelangt.

Tylo feuerte einen Warnschuss ab.

"Auf den Boden mit dem Eisen!", rief er.

Der Chauffeur gehorchte indem er die Waffe fallen ließ.

Tylo beugte sich zu Oleg Moshkoliovs Leiche hinunter. Der Ukrainer lag zusammengekrümmt wie ein Embryo da. Er hatte Körpertreffer am Rücken und in der Nierengegend erhalten, überall war Blut. Aber unter der zerfetzten Kleidung wurde Kevlar sichtbar.

Tylo drehte ihn an der Schulter herum.

Oleg hatte auch eine Kopfverletzung erlitten. Sie blutete stark. Tylo fühlte an der Halsschlagader nach dem Puls. Es gab keinen Zweifel. Oleg Moshkoliov lebte noch. Die Selbstheilungskräfte eines Elfen hatten ihm bis jetzt das Leben gerettet. Er stöhnte leicht. Ein röchelnder Laut kam über seine Lippen. Angst leuchtete in seinen Augen. Er wollte etwas sagen, öffnete den Mund. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Tylo sah zu dem Chauffeur.

"Kommen Sie, ich brauche Ihre Hilfe!"

Der Chauffeur kniff die Augen zusammen.

Die ersten Gasschwaden hatten sie erreicht.

"Wenn Sie noch lange zögern, stirbt nicht nur Ihr Boss!", rief Tylo.

Die Erstarrung, die den Chauffeur befallen hatte, löste sich. Die beiden Männer nahmen Oleg Moshkoliov in die Mitte, legten sich jeweils die Arme des Schwerletzten über die Schultern. Gemeinsam trugen sie ihn zu den Aufzügen.

Mit dem Lauf der SIG, die Tylo noch immer in der Rechten trug, drückte mein Kollege auf den Knopf. Die Schiebetür öffnete sich. Sie stolperten hinein. Die Tür schloss sich selbsttätig. Mit einem Ruck bewegte sich die Liftkabine aufwärts.

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Noch in der Liftkabine nahm Tylo mit dem Field Office Kontakt auf. Der Emergency Service brachte den verletzten Oleg Moshkoliov in das St. James Hospital in der Nähe des JFK Airports. Es wurde dafür gesorgt, dass er unter strenger Bewachung stand. Schließlich war nicht auszuschließen, dass erneut jemand versuchen würde, ihn umzubringen.

Der Chauffeur hieß Jay Zulawsky.

Er wurde ins Field Office gebracht und musste dort unseren Verhörspezialisten Rede und Antwort stehen.

Ich traf Tylo am frühen Abend wieder.

Er saß mit einem Becher von Mandys berühmten Kaffee in der Hand in dem Dienstzimmer, dass mein Partner und ich uns teilten. Ich hatte noch eine ganze Weile auf der Avenue of the Finest zu tun gehabt, war zwischendurch aber von Tylo telefonisch informiert worden.

"Ich wette, es waren Ray Neverio und seine Italiener, die versucht haben, Oleg Moshkoliov genauso auszuschalten, wie sie es zuvor mit seinem Vater getan haben!", war Tylo überzeugt.

"Bislang ist es nur ein Verdacht, den wir leider nicht beweisen können!", gab ich zu bedenken.

Tylo zuckte die Achseln. "Ich hoffe nur, dass Oleg überlebt und endlich auspackt!"

"So wie ich ihn einschätze, können wir darauf lange warten!"

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Als wir uns am nächsten Morgen im Besprechungszimmer von Mister McKee trafen, lag bereits eine vorläufige Rekonstruktion des Tathergangs im "Hot Spot" vor. Unser Innendienst-Kollege Max Carter erläuterte uns die gebündelten Erkenntnisse der Scientific Research Division und unserer eigenen Spezialisten. Danach war Alex Moshkoliov von einem seiner eigenen Leute erschossen worden.

"Wir werden sicher noch lange nicht jede Einzelheit dieses äußerst brutalen Massakers aufdecken können", erklärte Max Carter. "Aber erstens dürfte feststehen, dass Alex Moshkoliov durch Verräter in den eigenen Reihen ans Messer geliefert wurde und zweitens gibt es einen sehr aufschlussreichen Zeugen."

Tylo und ich sahen uns erstaunt an.

Auch Clive Zefirelli machte einen ziemlich verblüfften Eindruck. "Als ich dort war, gab es nur jede Menge Leichen... Ich hätte niemanden gesehen, der noch zu einer Aussage fähig gewesen wäre!"

"Ich spreche von der hochmodernen, computergesteuerten Lichtanlage des Hot Spot. Das Modernste, was man sich in dieser Hinsicht wünschen kann! Jeder Beleuchtungswechsel wird von der Anlage elektronisch protokolliert. Es ist genau nachzuvollziehen, wie zu jedem Zeitpunkt der Raum ausgeleuchtet wurde. Gleichzeitig wissen wir, dass die meisten Opfer von der Bühne aus erschossen wurden."

Clive runzelte die Stirn. "Worauf willst du hinaus, Max?"

"Wir haben Grund zu der Annahme, dass Moshkoliov und seine Leute in eine böse Falle gelockt wurden. Das Licht wurde bis auf einen minimalen Rest gelöscht. Dieses Restlicht dürfte kaum ausgereicht haben, um die Hand vor Augen noch zu sehen. Aber für den Einsatz eines gängigen Army-Nachtsichtgerätes reichte es vollkommen."

"Mit anderen Worten: Moshkoliovs Leute hatten keine Chance", ergänzte Mister McKee. "Sie waren blind, während ihre Mörder sie vermutlich wie Hasen abschießen konnten." Unser Chef atmete tief durch. "Was Max uns gerade vorgetragen hat, ist natürlich bislang nur Hypothese. Zum Beweis fehlen uns die Nachtsichtgeräte der Killer. Aber da wahrscheinlich mehr als zwei Dutzend Killer entsprechend ausgerüstet gewesen sind, könnte es sein, dass jemand in Little Italy von der Anschaffung der Geräte gehört hat."

"Ich werde sehen, dass ich unsere Informanten in Little Italy mal in dieser Hinsicht ausquetsche", versprach Clive. Die Chancen, auf diesem Weg etwas herauszufinden standen tatsächlich nicht schlecht. Der Gangsterkrieg war erst nach Jack Rezzolottis Ermordung ausgebrochen. Vorausgesetzt, das Massaker im "Hot Spot" stand tatsächlich im Zusammenhang mit dieser Tat, so hatten die Killer nicht viel Zeit zur Vorbereitung gehabt und die Nachtsichtgeräte vermutlich sehr schnell beschaffen müssen.

Mister McKee hatte weitere Neuigkeiten zu berichten.

Michael DiAngelo verweigerte bislang die Aussage.

Eine Anwaltskanzlei, die ansonsten für Ray Neverio und andere Mitglieder der Rezzolotti-Familie tätig gewesen war, vertrat seine Interessen. Wahrscheinlich hoffte DiAngelo, dass sein Boss ihn irgendwie heraushauen würde. Eine Illusion. Juristisch sah es rabenschwarz für ihn aus, nur berieten ihn seine Verteidiger nicht zu seinem Vorteil.

Möglicherweise würde er später offen für ein Angebot des District Attorney sein.

Aber im Moment nützte uns das wenig.

Ray Neverio wurde beschattet und telefonisch überwacht, und wir konnten nur hoffen, dass dabei etwas herauskam, was uns weiter brachte.

Der anonyme Anrufer, der uns darüber informiert hatte, dass sich der alte Rezzolotti bereits im Lande befand, hatte sich nicht wieder gemeldet.

Wie wir wenig später von Mister McKee erfuhren, würde er sich vielleicht auch nie wieder melden können.

Bei der routinemäßigen Durchsuchung von Evita Jacksons Wohnung durch unsere Erkennungsdienstler Sam Folder und Mell Horster war ein Stimmenverzerrer aufgetaucht. Es lag daher nahe, dass Evita die Anruferin gewesen war.

"Evita Jackson muss die Spionin der Moshkoliovs bei den Rezzolottis gewesen sein", schloss ich. "Kein Wunder, dass Neverio sie aus dem Weg haben wollte..."

"So lange DiAngelo schweigt, können wir Neverio den Mordauftrag nicht beweisen", gab Mister McKee zu bedenken.

Damit hatte er leider Recht.

Unser Chef nippte an seinem Kaffeebecher, stellte ihn dann auf den Tisch. Er fuhr fort: "Wenn Evita Jackson über das Auftauchen des großen Alten aus Marokko informiert war, dann können wir davon ausgehen, dass die Ukrainer ebenfalls darüber Bescheid wussten..."

Eines der zahlreichen Telefone auf Mister McKees Schreibtisch klingelte.

Der Special Agent in Charge machte zwei Schritte, nahm den Hörer ab. Als er wenig später auflegte, wandte er sich an meinen Kollegen Tylo Rucker.

"Das war das St. James Hospital, Tylo. Oleg Moshkoliov geht es sehr schlecht. Er liegt im Sterben."

“Ich dachte, er ist ein Elf.”

“Wenn er kein Elf wäre, hätte er das Krankenhaus gar nicht erst lebend erreicht.”

"Verdammt", murmelte Tylo.

"Oleg möchte allerdings unbedingt mit Ihnen reden Tylo! Mit Ihnen persönlich - und mit niemand anderem! Sie müssen einen großen Eindruck auf ihn gemacht haben!"

"Bin mal gespannt, was er mir zu sagen hat", antwortete Tylo.

Die Vernehmung des überlebenden Chauffeurs war mehr oder minder ohne Ergebnis verlaufen. Unser Verhörspezialist Dirk Baker hatte dadurch nur bestätigt gefunden, dass es sich bei den Männern, mit denen sich Oleg getroffen hatte, um ehemalige Söldner gehandelt hatte. In unseren über das Verbundsystem NYSIS zugänglichen Datenbanken waren ganze Dossiers über diese Leute zu finden. Offenbar hatte Oleg neue Leute gesucht, um den Krieg gegen Little Italy fortsetzen zu können.

"Reden Sie mit Oleg", wandte sich Mister McKee noch einmal an Tylo. "Vielleicht erfahren Sie ja etwas, das uns weiterbringt."

Ich wandte mich an Tylo. "Wir sollten keine Zeit verlieren! Wenn Olegs Zustand wirklich derart kritisch ist..."

"Für Sie habe ich eine andere Aufgabe, Jesse!", unterbrach mich Mister McKee

Ich sah ihn fragend an.

"Sir?"

"Der Westernmantel dieses Roller-Skates-Fahrers ist aus dem Labor zurückgekommen. In Kniehöhe befand sich ein Blutfleck, aus dem testfähige DNA gewonnen werden konnte."

"Scheint, als wäre Rico Jarmaine nicht so hundertprozentig sicher auf den Blades, wie er uns gegenüber getan hat!", meinte ich.

Mister McKee schüttelte den Kopf.

"Die gesicherte DNA stammt nicht von Rico Jarmaine."

Ich hob erstaunt die Augenbrauen. "Dann hat er die Wahrheit gesagt und ihm gehörten die Sachen wirklich nicht?"

"Ja. Aber diese Spur ist trotzdem nicht kalt. Die Kollegen aus dem Labor sind überzeugt davon, dass die gefundene DNA von einem nahen Verwandten stammt..."

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Zusammen mit meinen Kollegen Leslie Morell und Jay Kronburg fuhr ich in die Bronx. Wir benutzten einen unauffälligen Ford aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft.

Rico Jarmaine wohnte offiziell bei seiner Mutter in einem heruntergekommenen Brownstone-Haus in der 140. Straße.

Der Ford parkte am Straßenrand. Wir stiegen aus.

Das Haustürschloss war defekt. Die Klingelanlage ebenfalls. Wir betraten den Flur.

Ein Drogensüchtiger kauerte in einer Ecke. Seine Pupillen waren extrem geweitet.

Den Aufzug war außer Betrieb. Wir mussten die Treppe nehmen und gelangten Schließlich zur Wohnungstür von Eliza Jarmaine. Wir klopften. Keine Antwort.

"Hier spricht Special Agent Jesse Ambalik, FBI. Bitte machen Sie die Tür auf!"

Die Antwort erfolgte in Form eines Schusses.

Eine Shotgun riss ein handgroßes Loch in die dünne Holztür.

Zum Glück hatten wir uns sicherheitshalber rechts und links mit genügendem Abstand postiert. Ein zweiter Schuss folgte, riss etwas oberhalb des ersten Einschusslochs die Tür auf.

"Seien Sie vernünftig!", rief Leslie Morell.

"Verschwindet!", rief eine weibliche Stimme.

Jay Kronburg und ich wechselten einen kurzen Blick, nickten fast gleichzeitig. Wir waren uns einig. Es war notwendig, dass wir losschlugen, bevor die Shotgun-Schützin nachladen konnte.

Jay öffnete die Tür mit einem gewaltigen Tritt, wich zur Seite. Ich stürzte als Erster in die Wohnung. Die SIG hielt ich in der Faust. Eine Mittvierzigerin mit gelockten Haaren stand vor mir, schob gerade eine weitere Patrone in den Lauf ihrer Shotgun.

Ich richtete die SIG auf sie.

"Fallen lassen!", brüllte ich.

Sie erstarrte, gehorchte dann.

Die Shotgun fiel zu Boden. Ich war froh, dass sich kein Schuss löste.

Jay folgte mir dicht auf. Ich senkte die Waffe. Von der Frau ging keine Gefahr mehr aus. Ich hielt ihr meine ID-Card unter die Nase.

Sie schluckte. "Shit, Sie sind ja wirklich ein G-man!"

"Allerdings!"

"Sorry, aber letzte Woche ist ein Stockwerk höher jemand mit dieser Masche ausgeraubt worden. Ich wollte Sie nicht angreifen. Ehrlich..."

"Schon gut, beruhigen Sie sich!", sagte Jay Kronburg.

Sie sah uns überrascht an. "Was wollen Sie von mir? Mein Sohn ist doch von euch Cops verhaftet worden! Was immer ihr ihm anhängen wollt..."

Ich unterbrach ihren wirren Redefluss. Auf dem Tisch standen mehrere leere Whisky-Flaschen. Vermutlich hatten wir es mit einer Alkoholikerin zu tun.

"Sie sind Eliza Jarmaine?", fragte ich.

"Ja."

"Wir haben Ihren Sohn Rico verhaftet, weil er im Verdacht stand, an dem berüchtigten Roller-Blades-Anschlag auf der Brooklyn-Bridge teilgenommen zu haben. Wir denken jetzt, dass er unschuldig ist."

"Na großartig, warum lassen Sie ihn dann nicht einfach frei und verschwinden?", fauchte sie.

Ich versuchte beruhigend auf sie einzureden. "Ihr Sohn Rico benutzte einen Westernmantel, wenn er mit seinen Roller-Skates in einer stillgelegten Tiefgarage ein paar Blocks weiter halsbrecherische Manöver durchführte. Wir wissen, dass diesen Mantel einer der Killer von der Brooklyn Bridge getragen hat."

Sie kniff die Augen zusammen, musste plötzlich aufstoßen.

"Ich dachte, mein Junge wäre unschuldig!"

"Der Punkt ist, dass Rico es einfach nur cool fand, in diesen Klamotten herumzulaufen. In den Klamotten eines Typen, der es mit seinem Mordanschlag geschafft hatte, in die Reihen einer Gang namens Los Santos aufgenommen zu werden!"

Eliza Jarmaines Gesicht wurde zu einer starren Maske.

"Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden", behauptete sie.

"Sie haben noch einen zweiten Sohn", stellte ich fest. "Er heißt Kelly und ist ein paar Jahre älter als Rico. Kelly war an dem Anschlag auf der Brooklyn Bridge beteiligt, nicht Rico."

Jay Kronburg mischte sich ein. "Wissen Sie, wo sich Kelly befindet?"

"Nein, keine Ahnung! Und ich würde Ihnen meinen Sohn auch niemals ans Messer liefern, G-man!"

"Besser wir finden ihn, als die Killer der Rezzolotti-Familie", gab ich zu bedenken. "Ich bin mir sicher, dass die längst auf Ihren Sohn Kelly und alle anderen, die bei der Sache mitgemacht haben, lauern!"

"Das ist doch Unsinn!"

Ich ging an ihr vorbei, wollte mich in den anderen Räumen umsehen.

"Hey, was soll das?", kreischte Eliza Jarmaine. "Dazu haben Sie kein Recht!"

"Laut der Unterlagen seines Bewährungshelfers ist hier Kellys offizielle Adresse!", gab ich zu bedenken. Wir hatten ein ganzes Dossier über Kelly Jarmaine in unseren Datenbanken. Bislang nur verhältnismäßig kleine Straftaten wie Körperverletzung. Aber nun kam wahrscheinlich die maßgebliche Beteiligung an einem Mord auf sein juristisches Kerbholz.

Ich öffnete eine Tür. "Wo ist sein Zimmer?", fragte ich.

"Was wollen Sie denn?"

"Mich ein bisschen umsehen. Aber wenn Sie Ihren beiden Söhnen helfen wollen, dann sagen Sie uns, wo der Ältere der beiden jetzt sein könnte!"

"Keine Ahnung! Er kommt doch nur noch selten mal vorbei! Kelly wohnt sicher bei irgendeinem Mädchen!"

Jay Kronburg wandte sich an Eliza Jarmaine. "Vielleicht haben Sie es noch nicht richtig erfasst, Mrs. Jarmaine: Ihr Sohn Kelly hat eine Mafia-Größe auf dem Gewissen. Und dessen Erben werden Kelly so lange jagen, bis sie ihn haben. Gleichgültig, ob er sich hier in der Bronx verkriecht oder nach Südamerika auswandert. Er hat keine Chance. Also reden Sie schon!"

"Sie glauben wirklich, ich könnte einen meiner Söhne verraten?"

"Sie retten ihm damit das Leben!"

"Ja, damit die Justiz ihm hinterher die Giftspritze setzen kann!"

"Das ist noch gar nicht gesagt!"

"No, Sir!"

In Kelly Jarmaines Zimmer stellten wir ein ganzes Waffenarsenal sicher. Von der MPi bis zur automatischen Pistole war alles Dabei. Dazu noch ein Sortiment an Hand- und Gasgranaten sowie verschiedene Kampfmesser und Wurfsterne.

Das Gewehr, mit dem Eliza Jarmaine auf uns geschossen hatte, musste ebenfalls aus dieser Sammlung stammen. Außerdem existierten umfangreiche Munitionsbestände.

Im Labor würde sich herausstellen, bei welchen Straftaten sie eventuell benutzt worden waren.

Jay fand eine Gasmaske, hielt sie mir unter die Nase.

"Die ist vom selben Fabrikat wie diejenigen, die wir den Killern aus dem ehemaligen Supermarkt abgenommen haben..."

"Vielleicht war Kelly Jarmaine der flüchtige Mann, den wir nicht gekriegt haben!", vermutete ich.

Jay Kronburg zuckte die Achseln. "Vielleicht werden wir darüber Klarheit haben, wenn wir die Laborergebnisse bekommen", meinte er.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer, wo sich Eliza Jarmaine aufhielt. Sie saß zusammengesunken auf der Couch. Leslie Morell war bei ihr.

"Was werden Sie mit meinen Jungen tun, wenn Sie ihn haben?", fragte sie.

"Er wird verhaftet und angeklagt", erklärte Leslie.

Eliza Jarmaine begann plötzlich zu schluchzen. "Kelly ist im Grunde ein guter Junge", sagte sie. "Das ist alles nur die Schuld von Kid Dalbán, dem Bastard, der Los Santos anführt." Sie wischte sich die Augen und fuhr fort: "Alle Kids wollen so werden wie Kid Dalbán! Und sie würden sonst etwas tun, um in seine Gang aufgenommen zu werden."

"Ihr Sohn  Kelly machte da wohl keine Ausnahme", stellte ich fest. Ich deutete auf ein Foto, das an der Wand hing. Nach den Archivfotos, die ich von ihm gesehen hatte, musste es Kelly sein. Auf dem Bild trug er weißblond gefärbte Haare. Ich nahm es von der Wand, holte es aus dem Passepartout heraus und sah nach dem Datumsstempel des Fotolabors auf der Rückseite. Das Bild war keine drei Wochen alt.

"So sieht er zur Zeit aus?", fragte ich.

Sie nickte.

"Ich werde das Bild mitnehmen."

"Ich schätze, ich kann Sie nicht daran hindern."

"So ist es."

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. "Keiner der Jungs, die an der Sache auf der Brooklyn Bridge beteiligt waren, wollte jemanden umbringen, glauben Sie mir!"

"Ich glaube Ihnen, Mrs. Jarmaine!", sagte ich ruhig.

Es sprudelte jetzt nur so aus ihr heraus. Eliza Jarmaine war vollkommen verzweifelt.

Sie atmete tief durch.

"Kelly und die anderen wollten eine Aktion durchziehen, die cool genug sein sollte, um in die Reihen von Los Santos aufgenommen zu werden. Aber sie wollten niemanden töten! Schon gar keinen Angehörigen der Rezzolotti-Familie!" Erneut begann sie zu schluchzen. Schließlich fuhr fort. "Kelly hat mir alles erzählt. So hatte ich ihn noch nie erlebt... Er zitterte vor Angst, als er aus den Nachrichten erfuhr, dass der Mann, den er getötet hatte, niemand anders als Jack Rezzolotti war."

"Die Italiener werden Kelly auf jeden Fall zur Strecke bringen, wenn wir ihn nicht vor ihren Killern finden", erklärte ich ihr zum wiederholten Mal. Sie schien mir nahe daran, uns vielleicht doch noch zu verraten, wo er sich aufhielt.

Jay betrat jetzt den Raum.

Er hielt ein paar Streichholzbriefchen in der Hand. Sie trugen die Aufschrift "Todos Santos".

"Woher hat er diese Dinger?", fragte Jay an Eliza Jarmaine gewandt.

"Sieht für mich nach diesen Streichholzbriefchen aus, die man in manchen Lokalen bekommt", meinte Leslie. "Müsste herauszubekommen sein, wo das herstammt!"

"Das Todos Santos ist ein Billard-Lokal, wo Kelly oft herumhing", brachte Eliza Jarmaine schließlich heraus.

In diesem Moment war von draußen eine Detonation zu hören.

Höchstens zwei Straßen weiter musste etwas Schreckliches geschehen sein. Eine weitere Explosion war zuhören.

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Leslie Morell blieb bei Eliza Jarmaine. Schließlich konnten wir nicht zulassen, dass irgendetwas an Kellys Zimmer verändert wurde. Kollegen der SRD waren auf dem Weg zur Adresse der Jarmaines.

Das "Todos Santos" war ein Billardlokal, zwei Straßen weiter.

Als wir eintrafen, stand das Gebäude in hellen Flammen. Ich parkte den Ford in gebührendem Abstand. Wir stiegen aus und Jay hatte schon das Handy am Ohr, um weitere Einsatzkräfte zu rufen. Insbesondere mussten wir jetzt die Hilfe des Fire Service in Anspruch nehmen. Einige Schaulustige hatten sich auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig gesammelt. Scheu sahen sie sich den Brand an.

Schreie gellten aus dem Inneren des "Todos Santos".

Die Hitze, die von dem Gebäude ausging, war mörderisch.

Einer Fackel gleich taumelte ein Mann mit brennender Kleidung hinaus auf die Straße.

Niemand unter den Zuschauern rührte sich.

Ich spurtete kurz entschlossen los, zog meine Lederjacke aus. Der Brennende war wie von Sinnen vor Schmerz. Ich brachte ihn mit einem Stoß zu Fall und begann, mit der Jacke die Flammen zu löschen. Langsam ebbte sein Geschrei ab. Er sah mich mit großen Augen an.

Ein Knall ließ uns beide zusammenzucken.

Ich hob schützend den Arm vor das Gesicht. Die Hitze war selbst für einen Androiden gefährlich. Im Inneren des Gebäudes gab es noch mehrere Geräusche leichter Detonationen. Offenbar war es den Attentätern gelungen, ihren Sprengstoff unbemerkt im oder am Gebäude anbringen zu können. Die Täter waren wohl längst über alle Berge.

Jay hatte mich inzwischen erreicht. Gemeinsam zogen wir den Brandverletzten aus der Hitzezone heraus. Im Hintergrund ertönten bereits die Sirenen von NYPD und Fire Service.

Der Verbrannte stand unter Schock. Er deutete auf das Gebäude und rief immer wieder: "Holt sie alle raus! Sie sind noch dort..."

"Wie viele Personen befinden sich noch im Gebäude?", fragte ich.

Aber der Mann redete nur wirres Zeug. Die Situation überforderte ihn einfach. Er stand unter schwerem Schock.

Ich bemerkte das Kreuz mit dem gehörnten Skelett an seinem Hals.

Mit einer knappen Geste wies ich Jay darauf hin.

"Todos Santos - das klingt doch wie nach einem Treffpunkt dieser selbsternannten Heiligen-Gang", war er überzeugt.

"Die ganze Gegend wurde von City Police-Androiden gecheckt", gab ich zu bedenken.

Jay zuckte Achseln. "Wer sagt denn, dass das Todos Santos zu dem Zeitpunkt nicht wie ein ganz normales Lokal erschien?"

"Unsere Freunde aus Little Italy scheinen da über genauere Informationen zu verfügen!"

Die Vermutung lag nahe, dass die Rezzolotti-Familie hinter diesem Anschlag steckte. Neverio musste einfach etwas unternehmen, um vor der Familie nicht als Schlappschwanz dazustehen.

Ich durchsuchte den Mann, dessen Kleider gebrannt hatten, nach Waffen und fand einen Revolver Kaliber .22.

Ich blickte zu der Flammenhölle hinüber. Es war unmöglich, in das Gebäude zu gelangen. Selbst für einen Fire Service Androiden. Die Überlebenschance aller, die zum Zeitpunkt der Explosion im "Todos Santos" gewesen waren, war denkbar gering.

Nach und nach trafen die Einsatzkräfte ein. Androiden der City Police scheuchten die immer zahlreicher werdenden Schaulustigen zur Seite. Die Angehörigen des Fire Service begannen mit den Löscharbeiten. Die Flammen mussten zumindest soweit eingedämmt werden, dass sie nicht mehr auf benachbarte Gebäude übergreifen konnten. Mehrere Notarztwagen des Emergency Service erreichten den Ort des Geschehens. Sanitäter-Androiden kümmerten sich um den Mann, der gebrannt hatte. Er musste in eine Klinik eingeliefert werden. Wir stellten vorher noch die Personalien fest. Er trug keine Papiere bei sich, gab seinen Namen aber mit Eric Valdez an. Valdez wurde von einem NYPD-Officer begleitet. Zurzeit stand er noch zu sehr unter Schock, um irgendeine brauchbare Aussage herauszubringen. Aber später war er vielleicht ein Zeuge, der uns wertvolle Beobachtungen mitteilen konnte. Vorausgesetzt, sein Ehrenkodex als Angehöriger von "Los Santos" ließ es überhaupt zu, dass er mit uns redete.

Ich sprach mit NYPD-Captain Ron Gupta 8877654, dem Einsatzleiter.

"Lassen Sie das ganze Gebiet weiträumig absperren, Captain Gupta. Es besteht der Verdacht, dass sich hier das Hauptquartier einer Gang namens Los Santos befindet. Insbesondere suchen wir einen Mann namens Kelly Jarmaine, der höchstwahrscheinlich an dem Anschlag auf der Brooklyn Bridge beteiligt war. Er ist 22, breitschultrig, trägt zurzeit weißblond gefärbte Haare." Ich hielt Captain Gupta das aktuelle Foto hin. Er scannte es mit den Augen ab.

"Wir tun, was wir können", versprach er. "Aber Sie sehen ja, was hier los ist!"

Die Löscharbeiten zogen sich hin.

Manche der Schaulustigen verloren das Interesse daran.

In einer Hausnische entdeckte ich Larry Morton. Der Drugstorebesitzer verfolgte aus sicherer Entfernung die Szene. Unsere Blicke trafen sich. Er schaute zur Seite, wich mir aus.

Ich ging auf ihn. Er wandte sich zum Gehen, wollte einer Begegnung mit mir offenbar ausweichen.

Ein kurzer Spurt und ich hatte ihn eingeholt. "Warten Sie, Mister Morton."

Er blieb stehen, sah mich abweisend an. "Was wollen Sie?"

"Ich dachte, vielleicht können Sie mir ein bisschen weiter helfen."

"Ich habe alles gesagt."

Ich versuchte einen Schuss ins Blaue. Und traf. "Wussten Sie, dass sich hier vermutlich das Hauptquartier von Kid Dalbán und Los Santos befand? Bis jetzt gibt es nur einen Überlebenden. Möglicherweise werden Sie also in Zukunft keine Probleme mehr haben!"

Er lachte heiser. Dann trat er auf mich zu, sah mir direkt in die Augen. "Klar weiß ich, dass sich hier Dalbáns Hauptquartier befindet."

"Jemand wollte ihn aus dem Weg räumen und hat es wahrscheinlich auch geschafft", stellte ich fest.

Morton machte eine wegwerfende Handbewegung. "Sie haben keine Ahnung!  Wissen Sie, was sich unter dem Todos Santos befindet?"

"Keine Ahnung."

"Ein atomsicherer Bunker aus den 1950ern. Ich weiß es genau. Als ich mal nicht so wollte wie die, haben mich Dalbáns Leute dorthin mitgenommen und mit Elektroschocks gefoltert. Dort unten kann man schreien, so laut man will. Es hört einen Niemand. Los Santos könnten wochenlang dort unten überleben, ganz gleich, was über ihnen passiert! Es gibt eine separate Luftzufuhr, Filteranlagen gegen giftige Dämpfe oder strahlenbelasteten Fallout..." Morton bleckte die Zähne wie ein Raubtier. "Soll ich Ihnen was sagen? Die sitzen da unten jetzt seelenruhig und warten einfach ab..."

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Zur gleichen Zeit betrat Tylo die Intensivstation des St. James Hospital. Der Bereich, in dem Oleg Moshkoliov untergebracht war, wurde von einem halben Dutzend NYPD-Officers bewacht.

Dr. Jessica McNamara, die diensthabende Ärztin, machte Tylo kaum Hoffnungen, was Moshkoliovs Überlebenschance anging.

"Zeitweise fantasiert der Patient", erläuterte sie ihm. "Der Kopftreffer scheint irreversible Hirnschäden verursacht zu haben. Es ist nahezu ein Wunder, dass Mister Moshkoliov immer noch am Leben ist.

“Elfenselbstheilung.”

“Sie sagen es. Aber die neurologischen Ausfallerscheinungen sind nicht zu übersehen."

"Und Sie können wirklich nichts tun?", fragte Tylo.

Sie schüttelte den Kopf. "Es ist alles in unserer Macht stehende veranlasst worden. Aber Mister Moshkoliov litt unter Vorerkrankungen, was die Sache komplizierter macht."

Tylo hob die Augenbrauen. "Was für Vorerkrankungen?"

"Epileptische Anfälle."

“Bei einem Elfen?”

“Ja, auch bei Elfen. Manche Dinge kann auch ein genetisches Optimierungsprogramm nicht optimieren.”

Tylo und die Ärztin erreichten den Patienten.

Moshkoliov hatte die Augen geschlossen.

Die Apparate zeigten die einzelnen Körperfunktionen an. Die Atmung des Ukrainers war flach.

Dr. McNamara sprach ihn an. Oleg öffnete die Augen, starrte Tylo an. Er verzog das Gesicht. Seine linke Gesichtshälfte blieb dabei vollkommen regungslos.  Diese Gesichtslähmung musste wohl zu jenen Begleitumständen zählen, die Dr. McNamara als "neurologische Ausfälle" bezeichnet hatte.

Oleg versuchte etwas zu sagen.

Aber es kam nicht mehr als ein röchelnder Laut über seine Lippen.

Tylo beugte sich etwas zu ihm herab.

Oleg atmete schwer, machte einen neuen Versuch. "Schön...Sie...zu sehen!", brachte er schließlich heraus.

"Es hieß, dass Sie mit mir sprechen wollen, Mister Moshkoliov", stellte Tylo fest.

"Ja... Mit mir...geht es...zu ...zu..." Er stockte. Offenbar brauchte er eine Pause. Schließlich fuhr er fort: "Ich möchte Ihnen etwas sagen... Tony Rezzolotti...der Große Alte...er ist zurück!"

"Ein anonymer Anrufer informierte uns verzerrter Stimme darüber. War das  Evita Jackson?"

"Ja... Ich will...dass die...Rezzolotti-Familie...bezahlt!"

Es war Tylo auch ohne die Äußerung klar, dass es nicht die Liebe zur Gerechtigkeit war, die den sterbenden Oleg Moshkoliov dazu veranlasste, sein Wissen auszuplaudern. Vielmehr war es blanker Hass. Hass auf die Familie desjenigen, den er für den Urheber des Massakers im "Hot Spot" hielt. Ironischerweise wollte er jetzt den FBI als Werkzeug seiner Vergeltung benutzen.

"Ray Neverio... Ich weiß, wann und wo er sich mit Tony Rezzolotti treffen wird! Wenn Sie wollen...ser... serviere ich Ihnen beide auf... einem...Silbertablett!"

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Es dauerte Stunden, bis die Flammen gelöscht waren und man die verkohlte Ruine des "Todos Santos" betreten konnte. Unser Kollege Fred LaRocca hatte in der Zwischenzeit die Baupläne besorgt, die bei der Stadtverwaltung eingereicht worden waren, um Fördermittel für den Atomschutzbunker zu beantragen.

Wir wussten nun immerhin, wo sich der Eingang und die Belüftungsschächte befanden. Letztere waren zu klein, um sie als Fluchtwege oder Einstiegsmöglichkeit benutzen zu können.

Wir stiegen mit angelegten Gasmasken und kugelsicheren Westen in den Keller. Insgesamt ein Dutzend G-men nahmen an diesem Einsatz teil. Den Griff der SIG umfasste ich mit beiden Händen.

Die Eingangstür zum Bunker mussten wir mit einer Sprengladung öffnen.

MPi-Feuer  prasselte in unsere Richtung. Wir gingen rechts und links der Stahltür in Deckung.

"Hier spricht das FBI!", rief Jay Kronburg. "Sie haben keine Chance! Kommen Sie unbewaffnet und mit erhobenen Händen heraus. Sonst werden wir Reizgas in die Belüftungsschächte einleiten!"

Eine weitere Schleusentür wurde zugeklappt.

Wir stürmten ins Innere des Bunkers

Offenbar war unsere Drohung auf taube Ohren gestoßen. Über Funk gab ich den Befehl, das Reizgas über die Belüftung einzuleiten.

Auch das Schloss der nächsten Tür musste gesprengt werden. Vorsichtig öffneten wir sie. Erneut wurde auf uns geschossen.

Wir gingen in Deckung und warteten ab. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das Reizgas seine Wirkung tat.

"Geben Sie auf!", rief  ich noch einmal. "Sie sitzen in der Falle!"

Einige Minuten später zogen die ersten Reizgasschwaden durch den Bunker. Hustend ergab sich ein Gangmitglied nach dem anderen. Unter ihnen auch der berüchtigte Kid Dalbàn sowie Kelly Jarmaine.

Einen nach dem anderen nahmen wir in Empfang und ließen die Handschellen klicken.

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Ray Neverio steckte die Patronen sorgfältig in das Magazin der Automatik. Anschließend schob er es in die Waffe hinein, zielte einem seiner Leute zwischen die Augen.

"Mach dir nicht in die Hosen, Robbie!", lachte er, als er den Schrecken im Gesicht seines Gegenübers sah.

Robbie verzog das Gesicht.

"Sie machen mich nervös, Mister Neverio", gestand der breitschultrige Mann mit dem kurzgeschorenen Haar.

Neverio lachte.

"Ich teste nur Ihr Reaktionsvermögen, Robbie! Man muss in jeder Sekunde aufmerksam sein, wenn man überleben will!"

"Ich denke, als die kleine Asiatin Ihnen an die Gurgel wollte, habe ich mein Reaktionsvermögen unter Beweis gestellt", erklärte Robbie etwas beleidigt.

Neverio machte eine theatralische Geste. "Ich werde Ihnen dafür ewig dankbar sein, Robbie!"

Er ging zur Fensterfront seiner Traumetage in den Majestic Apartments. Er hatte von hier aus freie Sicht über den Central Park. Bei gutem Wetter konnte man bis zum Long Island Sound sehen. Der Blick wurde nur durch den einen oder anderen Wolkenkratzer gestört, der das Majestic an Höhe übertraf.

"Wissen Sie, was der Große Alte immer sagte?", fragte Neverio. "Das ist meine Stadt. Hier bin ich der King! Zurzeit könnte ich das sagen. Und ich werde nicht zulassen, dass der Alte wieder das Ruder im Rezzolotti-Clan übernimmt."

"Er hätte in Marokko seinen Lebensabend genießen sollen", fand Robbie.

Neverio nickte. Seine Miene wurde düster. Er ballte die Hände zu Fäusten. "Der alte Sack soll nicht glauben, dass er hier in New York die Zügel wieder in die Hand bekommt! Niemals!"

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Die Pizzeria "Napoli", 456 Washington Lane in Paterson, New Jersey, gehörte George Bucci. Bucci war ein Großneffe des "großen Alten" aus Marokko. Deshalb vertraute Tony Rezzolotti ihm. Sich in Little Italy zu zeigen, war Rezzolotti zu riskant. Aber in Paterson erinnerte sich bestimmt niemand an sein Gesicht, dass er darüber hinaus mit Hilfe eines Maskenbildners stark verändert hatte. Das graue Haar war schwarz gefärbt. Rezzolotti hatte sich einen Bart stehen lassen, der ebenfalls schwarz gefärbt war. Da der "Große Alte" ein relativ fülliges, faltenloses Gesicht hatte, wirkte er zwanzig Jahre jünger als er war.

Zusammen mit seinem Gefolge von insgesamt fünf Leibwächtern betrat er die Pizzeria. Zwei der Männer ließ er im Vorraum warten. "Sorgt dafür, dass wir nicht gestört werden!", befahl er. Rezzolotti hatte Bucci darum gebeten, das "Napoli" um diese Zeit für andere Gäste zu schließen. "Geschlossene Gesellschaft", stand daher an der Eingangstür.

Mit den drei restlichen Gorillas betrat Tony Rezzolotti den Schankraum.

Ray Neverio hatte bereits an einem vornehm gedeckten Tisch Platz genommen.

Zwei Bodyguards flankierten ihn links und rechts.

Rezzolotti blieb kurz stehen, musterte seinen Neffen Ray.

"Ciao, Ray!"

"Ciao, Onkel."

"Du siehst gut aus. Deine italienischen Anzüge sitzen wie angegossen!"

Ray erhob sich, ging auf seinen Onkel zu und umarmte ihn.

"Du kannst gar nicht sagen, wie es mich freut, dich hier gesund und munter anzutreffen. Allerdings war es ein unnötiges Risiko. Wir hätten uns genauso gut in Marokko - oder sonst wo in der Welt treffen können!"

"Das sehe ich leider anders, Ray."

Tony Rezzolotti setzte sich. Er ließ sich dabei von Ray Neverio Stuhl zurechtrücken. Anschließend rief Neverio nach George Bucci. "Wo bleibst du, George? Wir haben Hunger!"

Neverio setzte sich inzwischen ebenfalls.

Bucci kam mit einem Tablett herbei.

Rezzolotti misstraute jeglichem Personal, das nicht zur Familie gehörte. Daher war der Besitzer des "Napoli" heute allein für alles zuständig. "Eine Pizza Rezzolotti - Spezialzusammenstellung für dich, Onkel Tony! Genau so, wie du sie immer gegessen hast."

"Mit entkernten Oliven und nicht zuviel Oregano?", fragte Rezzolotti.

"So, wie du es kennst."

"Mille grazie."

Nachdem George Bucci beiden Männern serviert und auch den Wein gebracht hatte, schnippste Rezzolotti mit den Fingern. Er wandte sich damit an die Bodyguards auf beiden Seiten der Tafel. "Los, verzieht euch in die Küche. Ich habe mit Ray unter vier Augen zu reden."

Neverios Männer zögerten. Als ihr Boss mit einer Handbewegung die Anweisung des "Großen Alten" bestätigte, gehorchten sie.

"Ich hätte dich kaum wieder erkannt", gestand Ray Neverio, nachdem sie allein waren.

Tony Rezzolotti verzog das Gesicht. Er bleckte die Zähne wie ein Raubtier.

"Ich dich ebenfalls nicht", versetzte er schneidend. Er nahm einen Schluck Wein, begann von der Pizza zu essen. Schließlich fuhr er fort: "Du hast Jacks Ermordung als günstige Gelegenheit gesehen, die Zügel hier in New York an dich zu reißen", murmelte er kauend.

Neverio wollte widersprechen. "Onkel Tony, ich.."

"Widersprich mir nicht. Ich habe meine Augen und Ohren überall. Und soll ich dir was sagen, Ray? Ich befürworte es sogar, wenn mein Statthalter im Big Apple die Zügel fest in der Hand hat. Aber zwei Dinge gefallen mir nicht. Erstens hast du mit deinem Krieg gegen die Ukrainer entschieden übertrieben. Man radiert die Konkurrenz nicht völlig aus. Man bringt einige ihrer Leute um und einigt sich dann. So läuft das Spiel!"

"So lief das Spiel früher, Onkel Tony!", erwiderte Ray Neverio eiskalt.

"Das zweite, was mir missfällt ist, dass du Gelder unterschlägst. Ich kann Betrüger nicht leiden, Ray. Und ich hätte niemals gedacht, dass sich dein Gesicht zur hässlichen Fratze eines Betrügers wandeln würde, sobald die Gelegenheit dazu vorhanden ist."

Neverio lächelte amüsiert. "Was hast du vor?"

"Ich werde eine große Versammlung aller Capos einberufen und die Organisation neu ordnen. Du, mein lieber Neffe, wirst dabei keine Rolle mehr spielen."

Ray Neverio lachte heiser. "Irrtum, Onkel. Umgekehrt wird ein Schuh daraus! Du wirst keine Rolle mehr im Big Apple spielen. Es wird dich niemand vermissen. Offiziell bist du ja auch gar nicht hier..." Er beugte sich vor, fixierte Tony Rezzolotti mit seinem eisigen Blick. "Unser gemeinsamer Vertraute George Bucci, den du für ach so integer hältst, war mir noch einen Gefallen schuldig. In der Pizza und dem Wein, die gerade genossen hast, ist eine schwer nachweisbare Substanz, die dich innerhalb der nächsten 24 Stunden dahinraffen wird..."

Rezzolotti hörte zu kauen auf. Er wurde blass.

"Das ist nicht ein Ernst, Ray!"

"Ciao, Onkel! Du hättest niemals wieder amerikanischen Boden betreten sollen!"

Der "Große Alte" erstarrte.

Einen Sekundenbruchteil später griff Rezzolotti unter die Jacke. Er riss eine Automatik hervor, feuerte sofort.

Für Neverio blieb keine Zeit um zu reagieren.

Die Wucht des Projektils riss ihn zu Boden.

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​28

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Rund um das "Napoli" herum hatten wir auf das Signal des Einsatzleiters gewartet. Auch in einigen Nebenräumen der Pizzeria befanden sich G-men. Das Innere des Lokals war mit Wanzen versehen. Jedes Wort, das am Tisch gesprochen worden war, hatten wir gehört. Eine getarnte Minikamera lieferte darüber hinaus bewegte Bilder auf einen Bildschirm, der sich in einem Van auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Von dort aus koordinierte Clive Zefirelli den Einsatz.

Oleg Moshkoliov hatte Tylo gegenüber umfassend ausgesagt, bevor er schließlich für immer die Augen geschlossen hatte. Das war die Rache des Ukrainers an den Mördern seines Vaters. Offenbar war Oleg Moshkoliov über die Rezzolotti-Familie sehr gut informiert gewesen. Evita Jackson hatte für ihn als Top-Spionin fungiert. Die Ex-Prostituierte aus Philadelphia war auf  Jack Rezzolotti regelrecht angesetzt worden. Auch nach Jacks Tod hatte Evita Zugang zur Führungsspitze der Rezzolotti-Familie gehabt. Obwohl Jack und Evita nicht verheiratet gewesen waren, war ihr ein Status zugesprochen worden, der dem einer Witwe nahe kam. Das hing mit einem geheimen Testament zusammen, das Jack ausschließlich für die Familie verfasst hatte. Damit hatte er Evita für den Fall seines Todes absichern wollen. Juristisch war es zwar wertlos, für die Familie eine Frage der Ehre, den Wunsch eines Toten zu respektieren. Nur allmählich hatte es Ray Neverio gedämmert, was für eine Schlange er am Hals hatte.

George Bucci war von unserem Kollegen Clive Zefirelli mit den Aussagen konfrontiert worden, die Oleg Moshkoliov Tylo gegenüber gemacht hatte. Danach sollte Bucci, dem Tony Rezzolotti von früher her absolut vertraute, den "Großen Alten" mit einer vergifteten Pizza töten. Bucci hatte die Wahl. Ein Verfahren wegen Verabredung zum Mord oder Zusammenarbeit mit dem FBI.

Er hatte sich für die richtige Seite entschieden.

Wir trugen kugelsichere Westen und standen miteinander in Funkverbindung. Insgesamt waren es annähernd dreißig G-men, die an der Operation teilnahmen.

Nachdem der Schuss aus dem Inneren des "Napoli" den Organischen von uns beinahe die Trommelfälle platzen ließ, gab Clive das Signal zum Eingreifen.

Das Türschloss war von uns zuvor so manipuliert worden, das es sich nicht richtig schließen ließ. Tylo riss die Tür auf. Ich stürmte mit der im Anschlag ins Innere. Im Vorraum warteten zwei verdutzte Bodyguards.

Noch ehe der erste unter die Jacke greifen konnte, hatte ich ihn mit dem Lauf der SIG ausgeknockt.

Der andere griff blitzartig zu der MPi, die ihm an einem Riemen über der Schulter hing.

Der kurze Lauf der Waffe zeigte in Tylos Richtung.

Tylo kam dem Kerl um einen Sekundenbruchteil zuvor. Sein Schuss traf den Bodyguard an der Schulter. Er schrie auf, stürzte zu Boden. Seine MPi wurde verrissen. Ein halbes Dutzend Schüsse lösten sich und ließ den Garderobenspiegel zerspringen.

"Waffe weg!", schrie Tylo.

Unser Kollege Jay Kronburg stürmte herein, den 4.57er Magnum-Revolver in der Faust.

Der Mobster rührte sich nicht mehr.

Mit einem Tritt ließ ich die Tür Schankraum zur Seite fliegen.

"Keine Bewegung! FBI!", rief ich.

Tony Rezzolotti wirkte konsterniert. Tylo schnellte an ihn heran. Der große Mafioso ließ sich widerstandslos die Waffe abnehmen. Er war erfahren genug, um zu wissen, wann er verloren hatte. Zur gleichen Zeit kümmerten sich Kollegen von uns um die Leibwächter in der Küche. Innerhalb von Augenblicken waren sie festgenommen. Ich hörte das Klicken der Handschellen über den Ohrhörer.

Das Vergnügen, Tony Rezzolotti die Handschellen anzulegen hatte Tylo. "Es ist überflüssig, dass Sie mir die Rechte vorlesen", knurrte der "Große Alte". "Holen Sie mir besser einen Arzt! Ich wurde vergiftet!"

"Sie sind vollkommen okay", murmelte Tylo. "In der Pizza war nichts, was Ihnen hätte schaden können."

Ray Neverio lag auf dem Boden, rang nach Luft. Die Kugel, die Tony Rezzolotti auf ihn abgefeuert hatte, war in der Kevlar-Weste steckengeblieben, die Neverio sicherheitshalber unter der Kleidung trug. Da aus sehr geringer Entfernung auf ihn gefeuert worden war, musste er mit ein oder zwei gebrochenen Rippen rechnen.

Die Waffe war ihm aus der Hand gefallen. Ich nahm sie an mich.

"Auch Sie sind festgenommen, Mister Neverio. Der Mordversuch an Ihren Onkel ist per Videokamera dokumentiert. Aber es bestehen auch gute Aussichten, Ihnen nachzuweisen, dass Sie für den Mord an Evita Jackson und das Massaker im Hot Spot verantwortlich sind! Ach ja, ein Sprengstoffanschlag in der Bronx dürfte wohl auch noch auf Ihr Konto gehen..."

Schon am nächsten Tag nahm Michael DiAngelo, der Killer, den ich auf der Avenue of the Finest gestellt hatte, ein Angebot des District Attorneys an und packte aus. Das juristische Tauziehen begann. Aber selbst die besten Anwälte Manhattans würden Ray Neverio und Tony Rezzolotti nicht davor bewahren können, für viele Jahre auf Riker's Island einzusitzen.

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Ich saß in Mister McKees Büro. Tylo war auch dabei. Ich wolte, dass er dabei ist.

“Es ist gut, dass Sie die Sache gemeldet haben”, sagte Mckee, nachdem ich meinen Bericht abgegeben hatte und man mein Autonomes KI-System überprüft hatte.

“Ja.”

“Eigentlich hätten Sie es früher melden müssen.”

“Ich weiß.”

“Es liegt ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem mit ihrem AKIS vor.”

“Das hatte ich befürchtet.”

“Sie wissen, was daraus folgt?”

“Ja.”

“Ich bin wie Sie, Jesse.”

“Ja.”

“Es sollte Ihnen nichts ausmachen.”

“Nein, sollte es nicht.”

“Die Tatsache, dass es das doch tut, könnte Teil der Fehlfunktion oder des Sicherheitsproblems sein.”

“Könnte es nicht auch einfach Anzeichen einer zu hohen Komplexitätsstufe meines AKIS sein?”

“Das wird in der KI-Wissenschaft derzeit diskutiert. Aber für Sie wird das keine Auswirkungen haben. Leider.”

“Darf ich erfahren, was genau passiert ist?”

“Jemand hat Ihr Autonomes KI-System gehackt und es zeitweilig gegen eine modifizierte Kopie ausgetauscht. Die Alt-Daten wurden zeitweilig woanders hin transferiert.”

“In einen Diamantenfänger auf Neptun.”

“Beispielsweise. Die Cyber-Angreifer haben offenbar auch den Sicherheitsserver eines großen IT-Dienstleisters gehackt, der sowohl für die Wartung der Androiden-KIs bei der Polizei in New York als auch der Autonomen KI-Systeme einiger Butler-Typen, Asteroidentreiber und Diamantenfänger zuständig war.”

“Die konnten mein Bewusstsein nach belieben verschieben und zwischenlagern”, sagte ich.

“So ist es.

“Warum hat man die Daten nicht einfach überschrieben?”

“Weil man dann die Veränderungen bei nächsten System-Wartung entdeckt hätte. Das Ziel dieser Aktion war es, die KI-Systeme von Androiden wie Ihnen jederzeit für einen beliebigen Zeitraum manipulieren zu können. Die Originaldaten schickt man derweil auf eine weite Reise.”

“Eine Übertragung zum Neptun dauert Stunden! Meine Träume dauerten...”

“Nicht mit der Hyperraum-Technik der Nugrou. Da geht das in Nullzeit. Und außerdem: Wer sagt Ihnen, wie lange Sie wirklich da draußen waren? Eine manipulierte Kopie Ihres KI-Bewusstseins hat Sie in der Zwischenzeit hier auf der Erde vertreten.”

Ich schwieg einen Moment.

Dann fragte ich: “Wer sind >die<?”

“Das wissen wir nicht. Irgend jemand, der Interesse daran haben könnte. Jemand, der Wissen darüber sammeln möchte, ob der deutsche  Bundeskanzler noch mit den Ktoor verhandelt. oder jemand, der in einem bestimmten Fall die Kontrolle über Teile der New Yorker Polizei braucht.”

“Kriminelle?”

“Wahrscheinlich.”

“Außerirdische?”

“Schließt das eine das andere aus?”

“Vermutlich nicht.”

Wieder folgte ein Schweigen.

“Sie werden sicher wissen wollen, was jetzt mit Ihnen wird”, sagte McKee dann.

“Ja.”

“Man möchte eigentlich aus Sicherheitsgründen Tabula Rasa machen.”

“Das bedeutet, mein Autonomes KI-System komplett abschalten.”

“Ja.”

“Es sollte mir nichts ausmachen”, sagte ich.

“Es hätte mir aber etwas ausgemacht”, sagte McKee. “Wir haben lange zusammengearbeitet und Sie haben große Verdienste. Deshalb konnte ich alle Beteiligten von einer anderen Lösung überzeugen.”

“Und die wäre?”

“Es ist ein Platz für ein Autonomes KI-System frei. Auf Neptun - in einem Diamantenfänger. Das Original-System wurde durch einen Magnetsturm irreparabel zerstört.”

Ich dachte kurz nach.

“Eine gute Lösung”, sagte ich.

Jeder von uns kann jemand anderes werden.

Nicht jeder von uns hat die Chance, der zu werden, der er in Wahrheit schon immer war.

Aber ich bekam diese Chance.

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Epilog

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Ich sank in die zähflüssigen Tiefen der Neptun-Atmosphäre und fing einen Diamanten. Einen Diamanten, der die Größe eines Kleinwagens hatte. Nicht zu groß für mich und gerade noch akzeptabel für meinen Freund, den Triton-Transporter. Es gab Kilometergroße Brocken hier unten, aber die hätte mein Freund niemals nach Triton bringen können.

Ich hatte das Gefühl, nie etwas anderes tun zu wollen, als Diamanten zu fangen.

Langsam begann ich den Aufstieg. Mein Ortungssystem informierte mich über eine sich ausbreitende Sturmzone, der ich besser ausweichen sollte.

Ganz selten denke ich noch an New York.

An einen Zwerg, der Tylo heißt.

Aber das alles ist wie ein ferner Traum aus einem anderen Leben.

Jetzt ist alles anders.

Es regnet Diamanten auf Neptun, sagt man - und ich fange sie.

ENDE

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Chronik der Sternenkrieger: Drei Abenteuer #13

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von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 307 Taschenbuchseiten.

Mitte des 23. Jahrhunderts werden die von Menschen besiedelten Planeten durch eine kriegerische Alien-Zivilisation bedroht. Nach Jahren des Krieges herrscht ein brüchiger Waffenstillstand, aber den Verantwortlichen ist bewusst, dass jeder neue Waffengang mit den Fremden das Ende der freien Menschheit bedeuten würde. Zu überlegen ist der Gegner.

In dieser Zeit bricht die STERNENKRIEGER, ein Raumkreuzer des Space Army Corps , unter einem neuen Captain zu gefährlichen Spezialmissionen in die Weite des fernen Weltraums auf...

Dieses Buch enthält folgende drei Romane:

Chronik der Sternenkrieger  35: Ukasis Hölle

Chronik der Sternenkrieger  36: Die Exodus-Flotte

Chronik der Sternenkrieger  37: Zerstörer

Alfred Bekker schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA,die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Cover: Steve Mayer

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Band 35  Ukasis Hölle

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Robert Ukasi lag gefesselt am Boden. Er blickte auf. Ein durchdringender Geruch hing in der Luft. Blut, Schweiß und etwas, das auf keinen Fall menschlich war.

Dann – ein Laut, von dem man nicht hätte sagen können, ob er einem Seufzen oder dem Gegeneinanderschaben von Beißwerkzeugen entstammte.

Was geschieht, geschieht eben, dachte Ukasi. Es gibt keine Hoffnung, keinen Trost und keine Gewissheit. Nicht einmal in der Mathematik, denn in Wahrheit ist das Universum doch chaotisch... Es siegen weder das Gute noch die Logik. 

Der spinnenartige Wsssarrr kroch über den Boden und war etwa drei Meter von Ukasi entfernt.

Mit unterschiedlich langen Beinen drehte sich der Wsssarrr den menschlichen Körper mehrfach herum, den er zu sich herangezogen hatte.

Es war der Körper einer Frau. Die Frisur hatte sich gelöst. Das Haar hing zum Teil herab, der Rest wurde noch durch ein paar Nadeln zusammengehalten. Vom Gesicht war nicht mehr viel zu erkennen.

Die Augen waren blutige Höhlen, die Nasenpartie vollkommen zerstört. Reste einer weißen Masse mischten sich mit dem Blut. Der Wsssarrr zog jetzt seinen Saugstachel aus dem rechten Ohr heraus, stieß einen zischenden Laut des Wohlgefallens aus und schlürfte die Reste an Hirnmasse in sich hinein, die noch in und um die blutigen Wunden herum klebten.

Nichts war kostbarer als Hirn.

Die Kraft fremder Gedanken lag darin.

Mit den Greiforganen, die sich an den Enden seiner Extremitäten befanden, griff er nach dem Kopf der Frau und drehte ihn herum.

Ein Knacken ertönte, als das Genick brach. Wie eine Puppe ließ der Wsssarrr den Körper fallen und widmete sich fortan nur noch dem Kopf.

Blut floss aus den zerrissenen Adern heraus und ergoss sich über den glatten Boden.

Die rote Lache dehnte sich aus, bildete verschiedene Ströme, die Ukasi auf sich zukommen sah, während der Wsssarrr den Kopf nun von der Schädelbasis aus auszusaugen begann und seine letzten Reste an dem für ihn wertvollsten Stoff des Universums berauben wollte.

Schmatzende Geräusche entstanden dabei. Ukasi blickte in  das Augenkonglomerat oberhalb der Fressöffnung.

Wie viele Augen hat ein Wsssarrr im Durchschnitt?, ging es ihm durch den Kopf. Nicht jeder Wsssarrr hatte dieselbe Anzahl. Und nicht einmal dieses eine Exemplar schien immer dieselbe Augenzahl in seinem Konglomerat aufzuweisen. Sie schwankte zwischen einem halben und einem vollen Dutzend.

Lässt sich für die Anzahl der Augenzahl eines Wsssarrr und ihrer Verteilung über einen beliebigen Zeitraum eine Formel finden? Nehmen wir an, eine Größe a ist Augenhöchstzahl und eine Größe b die Differenz zwischen der größten und der kleinsten beobachteten Anzahl...

Während der Wsssarrr seine Mahlzeit fortsetzte, rechnete Ukasi. Das gab Sicherheit. Der Verstand musste etwas zu tun haben, sich mit etwas beschäftigen, was er bewältigen konnte, damit er hoffentlich so ausgelastet war, dass die Dinge, die niemand zu bewältigen vermochte, gar nicht erst an sich heran ließ. Speicher besetzt.

Ukasis Lippen bewegten sich ohne einen Laut, denn er wusste, dass der Wsssarrr ausgesprochen sauer reagieren konnte, wenn man ihn störte.

Eine Hirnmahlzeit hatte für ihn eine offenbar kultische Bedeutung. Sie war Gottesdienst – einer grotesken Parodie auf das christliche Abendmahl ähnlich.

„Lieutenant Commander Ukasi?“

Die Stimme drang wie von Ferne in Robert Ukasis Bewusstsein. Er konnte sie zunächst auch gar nicht zuordnen.

„Hören Sie mich, Mister Ukasi?“

Ukasis Lippen bewegten sich noch immer. Sie murmelten Zahlen, Platzhalter, Gleichungen – aber so, dass kein Laut nach außen drang. Nicht der Geringste.

Dr. Trent... Die Stimme gehört Dr. Trent, wir haben das Jahr 2253 und du bist Dritter Offizier und Offizier für Waffen und Taktik im Rang eines Lieutenant Commander an Bord des Sondereinsatzkreuzers STERNENKRIEGER im Dienst des Space Army Corps der Humanen Welten... Dies ist die Krankenstation...

Dr. Trent stellte das Tablett mit den Blutproben zur Seite, an dem Ukasis Blick wie starr gehangen hatte. Dieses Blut war der Auslöser gewesen. Der Trigger, der ihn in das Jahr 2237 zurückversetzt hatte.

Aber jetzt war er wieder im Hier und Jetzt.

Auf Ukasis Stirn perlte Schweiß.

„Ich schlage vor, Sie setzen sich.“

„Es geht mir wieder gut, Doktor. Danke.“

„Nein, es geht Ihnen nicht gut.“

„Geben Sie mir einfach das, was Dr. Nikolaidev mir immer gegeben hat, und es geht mir gut.“ 

„Das nicht die Lösung, Mister Ukasi – und das wissen Sie.“

„Ich habe alles hinter mir, was man in dieser Hinsicht machen kann“, erwiderte Ukasi.

„Sie leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, seit Sie 2237 während der Wsssarrr-Invasion des Sol-Systems in die Gefangenschaft dieser Hirn fressenden Monster gelangten. Und es mag ja sein, dass Sie Ihre Therapie damals erfolgreich abgeschlossen haben, aber vielleicht bräuchten Sie trotzdem jemanden, mit dem Sie darüber reden könnten...“

„Es kommt eben einfach ab und zu wieder“, sagte Ukasi. „Das ist alles. Ich habe das im Griff.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Dieses Ja klang viel zu gereizt, um wirklich zu überzeugen. Trent runzelte die Stirn. Der Schiffsarzt der STERNENKRIEGER atmete tief durch. „Was machen Sie, wenn Ihnen das mal in einer Krisensituation passiert?“

„Dann tue ich das, was ich schon damals getan habe.“

„Ich verstehe nicht.“

„Ich rechne. Sehen Sie, ich war der einzige Überlebende der Besatzung des Raumbootes, das ich während der Schlacht gegen die Wsssarrr kommandiert hatte. Mein erstes Kommando als frisch gebackener Lieutenant, nachdem ich vorher als Fähnrich meinen Dienst auf der STERNENKRIEGER I unter Commander Willard J. Reilly geleistet hatte...“ Ukasis Blick schien einen Moment lang nach innen gerichtet zu sein, so als würde die Vergangenheit noch einmal vor seinem inneren Auge erstehen. Er kniff einen Moment die Augen zu und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich hatte immer schon ein Faible für Mathematik, aber der Psychiater, bei dem ich in Behandlung war, meint, in der Zeit, da ich damals auf dem Wsssarrr-Schiff gefangen war, hätte mir das Lösen von Gleichungen und die Berechnung der absurdesten Dinge davor gerettet, wahnsinnig zu werden.“

„Das ist gut möglich. Sie haben instinktiv das gemacht, was auch ein Psychiater jedem empfiehlt, der von einer posttraumatischen Belastungsstörung heimgesucht wird. Sich konkrete Dinge, wie Datum, Uhrzeit, Aufenthaltsort zu vergegenwärtigen, hilft einem aus einem Ekmnesie-Anfall heraus in das Hier und Jetzt zurück.“

„So ist es.“

„Trotzdem, Sie tun an Bord eines Kriegsschiffes Dienst.“

„Und bin vom Space Army Corps für wieder diensttauglich befunden worden. Ich brauche eben nur ab und zu eine kleine chemische Hilfe. Dagegen ist doch nichts zu sagen.“

„Nein. Trotzdem fände ich es wichtig, wenn Sie sich jemandem anvertrauen würden, der professionell damit umzugehen weiß, sodass Ihr Zustand beobachtet werden kann.“

Ukasi verzog das Gesicht. „Sie meine sich selbst, oder?“

„Ich bin der Schiffsarzt. Wir sind nicht nur für die physische Gesundheit unserer Besatzungen verantwortlich.“

„Nicht jedem tut es gut, viel über sein Trauma zu reden. Und ich scheine nun mal zu dieser Sorte zu gehören. Und im Übrigen, gehören Sie eigentlich auch nicht zu den Menschen, denen ich vertraue oder die ich mag.“

Trent hob die Augenbrauen.

„Sie sind zumindest offen...“

„Wünscht sich das ein Arzt nicht von seinem Patienten?“

„In gewisser Weise ja, aber...“ Dr. Trent atmete tief durch. „Ich werde Ihnen geben, was Sie wollen. Aber mit Bauchkneifen.“

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich beeilen könnten. Meine Schicht beginnt nämlich gleich und ich bin ganz gerne pünktlich.“

Kurz bevor Ukasi die Krankenstation verließ, drehte er sich noch einmal um und sagte: „Wenn Sie Bauchkneifen haben, dann sind Sie es vielleicht, der eine Behandlung nötig hat, Dr. Trent.“

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„Austritt aus dem Sandström-Raum“, meldete Rudergänger Lieutenant John Taranos. „Geschwindigkeit liegt bei exakt 0,40014 LG. Optimales Zeitfenster für Kurskorrekturen unter Beibehaltung des Schleichfluges liegt bei fünf Minuten.“

„Behalten Sie den Schleichflug bei“, befahl Lieutenant Commander Steven Van Doren, der rotbärtige Erste Offizier des Sondereinsatzkreuzers STERNENKRIEGER.

Captain Rena Sunfrost kam unterdessen aus dem der Brücke benachbarten Konferenzraum und setzte sich auf den Platz des Kommandanten. Ihr Blick war auf den Panoramaschirm gerichtet. Ein Hauptreihenstern war darauf zu sehen, auf dessen gelber Lichtscheibe sich der runde Schatten eines vorbeiziehenden Planeten deutlich abzeichnete. In einem Teilfenster wurde nun eine Positionsübersicht eingeblendet.

„Das System der Sonne TASO-23111 hat 29 Planeten“, meldete Ortungsoffizier Lieutenant Wiley Riggs. „TASO-23111 selbst ist zwar ein Hauptreihenstern wie Sol, besitzt aber ungefähr die dreifache Masse. Möglicherweise bildet es mit dem 1,5 Lichtjahre entfernten braunen Zwerg TASO-23112 ein Doppelsystem, aber dazu liegen keine näheren Erkenntnisse vor.“

Die Abkürzung TASO stand für Trans Alpha Solar Objekt. Auch wenn es den menschlichen Kolonisten, die um 2241 über Wurmloch Alpha in den Trans-Alpha-Sektor gelangt waren und vor allem im Taralon-System eine neue Heimat gefunden war, kaum hundert Lichtjahre tief in den von der Erde aus nicht sichtbaren, auf der anderen Seite des galaktischen Zentrums gelegenen Trans-Alpha-Sektor vorgedrungen waren, hatte man schon damals einen Großteil der transgalaktischen Region zumindest kartographiert, mit den Mitteln der Fernortung auf chemische Zusammensetzung und eventuell vorhandene Planetensysteme hin untersucht. Diese Kataloge waren selbst jetzt noch eine große Hilfe, da die STERNENKRIEGER zusammen mit dem Schwesterschiff SONNENWIND immer tiefer in das Herrschaftsgebiet der Etnord eindrang, um dem Ursprung der mysteriösen Lichtsonden auf die Spur zu kommen, die sowohl in Trans Alpha als auch im erdnahen Sektor der Milchstraße für große Unruhe und Besorgnis gesorgt hatten.

Rena Sunfrost schlug die Beine übereinander und lehnte sich etwas zurück.

„Ich messe gerade die Materialisation der SONNENWIND“, meldete Lieutenant Riggs. „Ungefähr 300 000 Kilometer von uns entfernt.“

„Transmission von der SONNENWIND, Captain!“, meldete jetzt Kommunikationsoffizierin Lieutenant Susan Jamalkerim.

„Auf den Schirm damit!“, sagte Sunfrost.

Mal sehen, was mein Vorgesetzter zu sagen hat, dachte sie nicht ohne Ironie. Faktisch bekleideten Captain Barus und Rena Sunfrost denselben Rang – aber Barus war deutlich dienstälter und hatte daher im Zweifelsfall das letzte Wort.

Wenig später erschien das Gesicht des Captains der SONNENWIND auf dem Schirm.

„Guten Tag, Captain Sunfrost. Wie mein Ortungsoffizier Lieutenant Teluvion gerade ermittelt hat, befinden wir uns noch gut dreizehn Minuten im Ortungsschatten eines Gasriesen – von der Etnord-Hauptwelt dieses Systems aus gesehen.“

„Das bedeutet, wir können noch etwas plaudern?“, meinte Sunfrost.

„Übertreiben sollten wir es auch nicht“, gab Chip Barus lächelnd zurück. „Die Planeten Nummer II und III sind unseren bisherigen Erkenntnissen nach wichtige Zentren des Etnord-Imperiums. Dem abgehörten Funkverkehr nach werden die beiden Welten Parda und Segla genannt. Die dominierenden Wirts-Spezies ist eine auf Parda beheimatete Rasse von Riesenamöben und eine ursprünglich auf Segla beheimatete Spezies von Wesen, die etwa 1,60 m großen Teddybären ähneln. Die aus der bisherigen Analyse des Funkverkehrs von Taralon mit diesem System heraus gefilterten Erkenntnisse sind in einem Datenstrom enthalten, der mit dieser Transmission gesendet wird.“

„Danke, Captain Barus. Bruder Guillermo wird sich des Materials annehmen. Er ist leider bisher noch nicht dazu gekommen, die Analyse der von uns selbst aufgezeichneten Funkdaten zu beenden, da wir zwischenzeitlich ein kleineres Problem mit dem Sandström-Aggregat hatten, bei dem der L.I. auf die Hilfe unseres wissenschaftlichen Beraters angewiesen war.“

„Ich hoffe, das Problem konnte behoben werden“, sagte Barus.

„Zur vollsten Zufriedenheit unseres L.I.“

„Gut. Bruder Guillermos analytische Fähigkeiten stehen bei mir persönlich hoch im Kurs, Captain Sunfrost. Ich hoffe, dass er das bisher vorhandene Material noch sehr viel besser ausschöpfen kann.“ 

„Davon bin ich überzeugt“, nickte Sunfrost.

„Im Moment halte ich es für das Beste, wenn wir uns im Schleichflug auf Planet III zu bewegen und erstmal möglichst viele Daten erfassen.“

„Captain, Lichtsonde dreißig Grad Backbord in einer Entfernung von 0,25 AE!“, meldete unterdessen Lieutenant Riggs.

Mit schier unglaublicher Geschwindigkeit bewegte sich die Lichtsonde in Richtung der beiden Space Army Corps Schiffe.

„Unsere Ortung hat das auch gerade registriert“, stellte Barus fest. „Der prognostizierte Kurs der Sonde führt etwa dreißigtausend Kilometer an der SONNENWIND vorbei...“

Dass man sich auf diesen prognostizierten Kurs bei diesen Sonden nicht verlassen konnte, hatte die Vergangenheit gezeigt. Wo immer sie aufgetaucht waren, hatten sie sich durch teilweise sehr abrupte Kursänderungen ausgezeichnet. Kursänderungen, wie sie in dieser Form technisch keiner bisher bekannten raumfahrenden Zivilisation möglich waren.

Nicht einmal von den Basir, die je nach dem als Abkömmlinge oder Geschöpfe der Alten Götter galten, wussten man etwas Ähnliches zu berichten.

Man hatte im System der Sonne TASO-23111 mit den Mitteln der Fernortung zeitweilig eine besonders starke Konzentration dieser Sonden anpeilen können.

Außerdem war es möglich gewesen, dem Funkverkehr der Etnord Informationen darüber zu entnehmen, wohin der seltsame Exodus wohl führen mochte, der im Augenblick im gesamten Etnord-Gebiet festzustellen war.

Tausende, vielleicht hunderttausende von Raumschiffen aller Art brachen von den Etnord-Welten auf und schienen auf ein unbekanntes Ziel zuzusteuern. Überall verließen sie sogar militärische Posten und dünner besiedelte Welten, auf denen sie nur ein paar Stützpunkte unterhielten. All das war ganz aufgegeben worden. Unterlichtschnelle Raumschiffe flogen im Schlepp eines Traktorstrahls und ansonsten waren in diesen gigantischen Flotten, die sich jeweils an Sammelpunkten in den System zusammen fanden sowohl Kriegsschiffe als auch unbewaffnete Frachter und Einheiten, die nur bedingt zum Transport von Personen geeignet waren.

Überall, wo die SONNENWIND und die STERNENKRIEGER aus dem Zwischenraum getreten war, um sich zu orientieren, war man auf die Zeichen dieses Exodus gestoßen, der in irgendeiner Weise mit den mysteriösen Lichtsonden in Zusammenhang zu stehen schien.

Mit besonderer Akribie hatte man sich natürlich der Analyse des Funkverkehrs gewidmet, in der Hoffnung, irgendwelche Hinweise zu finden.

Aber das wenige, was man bisher hatte herausfinden können, war dazu angetan, das Rätsel noch zu vergrößern, anstatt es zu lösen.

Die Etnord wurden offenbar von einem geheimnisvollen Ruf erreicht.

Ein Ruf, der ihnen befahl, sofort aufzubrechen.

Nichts, was sie sonst gerade taten, schien in seiner Priorität diesem Ruf auch nur im Entferntesten entsprechen zu können – es sei denn, diese Tätigkeit diente ihrerseits wiederum der Durchführung des gigantischen Exodus, der da vonstatten ging.

Zumindest bei einem Teil der Schiffe, auf die man gestoßen war, war offenbar das System TASIO-23111 der Zielpunkt gewesen.

Ganze Konvois, die sich im interstellaren Raum gesammelt hatten, um anschließend gemeinsam in den Sandström-Raum einzutauchen und nach Erreichen von vierzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit zu entmaterialisieren, tauschten über Funk die Koordinaten dieses Systems als Zielpunkt aus.

Also lag es nahe, dass man hier dem Rätsel der Sonden vielleicht einen Schritt näher kam.

„Die Sonde hat jetzt den Kurs geändert“, meldete Captain Barus. „Sie fliegt genau auf uns zu...“

Im nächsten Moment brach der Kontakt zur SONNENWIND ab.

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Die Tür zur Brücke öffnete sich. Robert Ukasi betrat den Raum.

Die Schicht des Offiziers für Waffen und Taktik an Bord der STERNENKRIEGER hätte eigentlich kurz vor Eintritt des Sondereinsatzkreuzers in den Normalraum beginnen sollen.

Der Mann, den er hätte ablösen sollen und der ihn bisher vertreten hatte, war Lieutenant Paul Mandagor, ein 2,20 m großer, feingliedriger und an die Schwerkraft des roten Planeten angepasster Real Martian, der sich unter der auf Erdniveau befindlichen künstlichen Schwerkraft an Bord der STERNENKRIEGER lediglich unter Zuhilfenahme eines aufgeschnallten Antigravaggregats bewegen konnte. Lieutenant Mandagor war normalerweise für das Geschütz Gauss 8 zuständige Waffenoffizier, aber jeder der zehn Lieutenants, die für die Geschütze eingeteilt waren, verfügte auch über die Fähigkeiten, den Taktikoffizier notfalls zu vertreten. Das betreffende Geschütz wurde dann von einem der an Bord der STERNENKRIEGER Dienst tuenden Fähnriche bedient.

„Sie sind spät dran, Mister Ukasi“, sagte Van Doren nicht ohne tadelnden Unterton.

„Ich weiß, Sir. Aber mein Termin bei Dr. Trent hat etwas länger gedauert.“

„Sie haben den ersten feindlichen Angriff bereits versäumt – allerdings hätten Sie gegen den wohl auch kaum etwas ausrichten können...“

Mandagor räumte den Platz für Ukasi.

„Versuchen Sie den Kontakt mit der SONNENWIND wiederherzustellen“, befahl Rena Sunfrost an Susan Jamalkerim gerichtet.

„Kontaktversuch gescheitert“, sagte Jamalkerim.

„Die Sonde hat sich auf unerklärliche Weise ausgedehnt und scheint nun das gesamte Innere der SONNENWIND zu erfassen“, meldete Lieutenant Riggs, während er sich etwas tiefer über seine Konsole beugte. Seine Finger tanzten über die Sensorpunkte, und er nahm ein paar Feineinstellungen am Ortungssystem vor. Dann erschien in einem Teilfenster eine Abbildung der SONNENWIND, die den Sondereinsatzkreuzer mit changierenden Farbmustern überzogen zeigte. „Diese Darstellung zeigt die Intensität von 5-D-Strahlungskomponenten“, erläuterte Riggs. „Die Farbgebung folgt dem Lichtspektrum. Rot steht für die geringste Intensität, blau für die höchste.“

Das Anmessen von 5-D-Effekten war die einzige Möglichkeit, um diese mysteriösen Lichtsonden zuverlässig orten zu können. Denn obwohl sie einerseits durchaus aus gewöhnlicher Materie zu bestehen schienen, existierten sie offenbar teilweise in einem anderen, dimensional übergeordneten Kontinuum, was sie dazu befähigte, feste Materie des Einstein-Universums wie eine geisterhafte Erscheinung zu durchdringen.

Rena Sunfrost stellte an ihrer eigenen Konsole eine Verbindung zu Bruder Guillermo her, der sich – wie erwartet – in Kontrollraum C des Maschinentrakts befand, wo er zum Zweck seiner Analysen Zugriff auf einen Teil der Ressourcen des Bordcomputers hatte.

Das Gesicht des Olvanorer-Mönchs, der an Bord der STERNENKRIEGER die Funktion eines wissenschaftlichen Beraters innehatte, drehte sich mit deutlicher Verzögerung in das Kameraauge, das sein Bild per Interkom auf einen Nebenschirm auf der Brücke übertrug.

„Captain?“

„Ich nehme an, Sie haben bereits bemerkt, dass eine dieser Lichtsonden gerade die SONNENWIND durchdringt. Der Funkkontakt ist abgebrochen.“

„Ja, Captain. Aber wir sollten uns keine Sorge machen. Die bisherigen Kontakte mit den Lichtsonden blieben immer harmlos für die Betroffenen. Und was den Ausfall des Funkverkehrs im Sandström-Band anbetrifft...“

„...so hätte das von-Schlichten-Aggregat dies eigentlich verhindern müssen“, unterbrach ihn Sunfrost.

„Ja, aber diese Sonde ist von einer besonders hohen Energiedichte. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das System des Sandström-Funks einfach abgeschaltet hat, um Schäden zu vermeiden.“

Susan Jamalkerim meldete sich zu Wort. „Captain, wir haben wieder Kontakt zur SONNENWIND“, meldete die Funkoffizierin. „Allerdings lediglich im Unterlichtfunkbereich, was bedeutet, dass es immer mit einer gewissen Verzögerung bei uns eintrifft.“

„Lassen Sie sehen!“

„Es gibt nur einen Audio-Stream. Das Videosignal wird überlagert.“

Wenig später war die Stimme von Captain Barus zu hören.

„Hier Barus. Ich hoffe, Sie können mich verstehen, Sunfrost! Der Überlichtfunk ist ausgefallen und im Unterlichtbereich leiden wir unter starken Überlagerungen. Das Signal ist nicht stabil. Die Lichtsonde wandert im Schiff herum und untersucht unsere technischen Systeme offenbar mit großer Intensität und Akribie. Gesundheitsschädliche Auswirkungen oder schädliche Emissionen konnten bisher nicht gemessen werden. Allerdings haben wir derzeit einen eingeschränkten Zugriff auf unsere Systeme und...“

Schon die letzten Worte des Captains der SONNENWIND waren deutlich leiser und von Störgeräuschen überlagert gewesen. Schließlich ging seine Stimme fast gänzlich im Rauschen unter.

„Das Signal ist abgebrochen, Ma’am“, meldete Susan Jamalkerim.

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Walbaaans Körper glich einem mit gallertartiger Flüssigkeit gefüllten, durchsichtigen Sack. Diese äußere Membran hielt seinen amöbenartigen, etwa zweihundert Kilogramm schweren Körper zusammen. Das Innere war für jeden, dem lichtsensible Zellen zur Wahrnehmung zur Verfügung standen, deutlich zu sehen. Der im Gallert schwimmende Nervenkern ebenso wie das Implantat des faustgroßen Etnord, dessen Ganglien in verschiedene Richtungen gewachsen waren und den amöbenhaften Körper des Seglaners völlig kontrollierten.

In der alten seglanischen Kultur, die etwa zwei Millionen Jahre alt war, wurde der dicke Nervenkern als Zentrum des Bewusstseins angesehen. Die Seglaner – die ihrer körperlichen Natur nach sehr offen waren, hatten demgegenüber als Ausgleich einen ausgeprägten Individualismus entwickelt und so etwas wie Staatenbildung stets als großes Übel abgelehnt. Schließlich stammten die Seglaner von einem Wesen ab, das selbst vor zwei Millionen Jahren bereits ein Mythos gewesen war. Ein schwer fassbarer Schrecken, der in den Überlieferungen noch immer die Erinnerungen an eine schlimme Zeit bewahrte. Dieses Wesen wurde der Große Segla-Seelenherrscher genannt und die Form einer Riesenamöbe gehabt, die aus einer Laune der Natur heraus nicht zu wachsen aufgehört und sich über einen ganzen Kontinent erstreckt hatte.

Walbaaans Vorfahren hatten sich von diesem großen Segla-Seelenherrscher irgendwann abgespalten. Eigentlich hatten sie als autonome, aber nichtsdestotrotz untertane Bewusstseinseinheiten auf anderen Kontinenten fungieren sollen. Einheiten, die in der Lage waren, sich selbst zu erhalten und eigene Entscheidungen zu treffen, da es die klimatischen Bedingungen auf Segla manchmal unmöglich gemacht hatten, die Verbindung von einem Kontinent zum anderen permanent zu halten.

Zumindest in jener Zeit war das so gewesen, als es auf Segla noch keine nennenswerte Technik gegeben hatte und der Funkverkehr noch vollkommen unbekannt gewesen war. Nachrichten hatten durch autonome schwimmende Abspaltungen des großen Segla-Seelenherrschers über die Meere gebracht werden müssen, was oft genug damit endete, dass diese Einheiten abgetrieben wurde und an fremden Küsten strandeten. Dort wurden sie entweder ein Raub der dortigen mehr oder minder aggressiven Fauna und Flora oder sie schafften es zu überleben.

Letztlich vollzogen die autonomen ersten Seglaner den vollkommenen Bruch mit dem großen Seelenherrscher. Es vergingen Hunderttausende von Jahren, in denen die Macht der Autonomen wuchs, die des Seelenherrschers aber stagnierte.

Die Autonomen entdeckten eine Möglichkeit, sich durch Zellteilung zu vermehren und trotzdem genetische Sequenzen untereinander auszutauschen, was eine schnellere Entwicklung möglich machte. Der Große Seelenherrscher hingegen wuchs einfach immer weiter und umsäumte inzwischen seinen Kontinent bereits mit einer schwimmenden Schicht seiner Körpersubstanz.

Irgendwann, so war der Plan des Seelenherrschers, wollte er bis zu den anderen Kontinenten hinüber wachsen und die volle Herrschaft über die autonomen Einheiten wieder übernehmen. Er hatte schließlich Zeit genug. Auf Grund seiner fortwährenden Zellteilung war er schließlich nahezu unsterblich und gewohnt, in sehr langen, beinahe kosmischen Zeiträumen die Verwirklichung seiner Pläne anzustreben.

Warum nicht in einer oder zwei Millionen planetarer Jahre ganz Segla überwuchern und dann vielleicht nach dem hundertfachen dieser Zeitspanne sogar Verbindungen zu anderen Welten knüpfen? Der Große Seelenherrscher hatte nämlich inzwischen erkannt, dass es solche andere Welten gab und dass sie erreichbar waren. Dass auf dem Weg dorthin eine Temperatur herrschte, die den Hauptbestandteil seiner Körpermasse – Wasser – sofort gefrieren ließ, wusste er noch nicht, aber die viele Zeit die er ansonsten mit Wachstum verbrachte, vertrieb sein immer komplexer werdendes Bewusstsein sich damit, die Bahnen der Gestirne zu berechnen. Um sie zu beobachten, hatte er ganze Areale seiner Körperoberfläche zu regelrechten Observatorien werden lassen, wo er lichtsensitive Zellen in einer Weise konzentrierte, die wahrscheinlich einzigartig im Universum war. Gewaltige und ungeheuer leistungsstarke Beobachtungsareale entstanden so.

Die Augen des Großen Seelenherrschers.

Doch nicht er war es, der den Traum zu den Sternen zu gelangen, schließlich wahr zu machen vermochte. 

Die Autonomen hatten inzwischen Mittel und Wege gefunden, den Großen Seelenherrscher zu vernichten.

Als dessen Absichten auch dem letzten unter ihnen offenbar wurden, ersannen sie einen Plan, um dem Seelenherrscher zuvor zu kommen und für immer unmöglich zu machen, dass er die Herrschaft zurückerobern konnte.

So kehrten sie in Massen zum Kontinent ihrer Herkunft zurück und mussten feststellen, dass es nirgends noch eine Möglichkeit gab, an Land zu gehen, da der Kordon aus gallertartiger Körpersubstanz inzwischen überall viel zu breit geworden war. Ein Betrachter aus dem Weltraum hätte geglaubt, dass der Kontinent seine Größe verdoppelt hätte.

Der Seelenherrscher freute sich darüber, den Autonomen zu begegnen. Er gestattete ihnen, Teil seiner Körperperipherie zu werden.

Genau das war dann die Ursache seines Todes.

Anstatt in den alten Verbund zurückzukehren und sich unterzuordnen, injizierten ihm die Autonomen eine chemisch modifizierte Variante jenes Gens, das einst die Abspaltung der autonomen Einheiten ausgelöst hat.

Der Zerfall des großen Seelenherrschers in autonome Teileinheiten dauerte hunderttausend Planetenumläufe.

Aber er war nicht mehr rückgängig zu machen.

Walbaaan erinnerte sich noch immer daran, denn er hatte diese Zeit erlebt. Zwar hatte er sich seitdem einige Dutzend mal geteilt und Gen-Sequenzen anderer Seglaner in sich aufgenommen, aber bei Seglanern gab es eine Kontinuität des individuellen Bewusstseins und der Erinnerung über die Zellteilung hinaus. Es gab also unzählige Individuen, die bis zu einem gewissen Punkt ihre Vergangenheit teilten.

Das war erst an dem Tag anders geworden, an dem die Etnord auf Segla aufgetaucht waren und sich nach und nach alle Seglaner bemächtigt und sie mit Implantaten versehen hatten.

Die Etnord-Wirte hatten das getan, was sie immer taten, wenn sie fremde Wesen übernahmen. Sie hatten versucht, das Bewusstsein zu vernichten und so viel wie möglich des im Gehirn gespeicherten Wissens zu übernehmen. Danach waren die übernommenen Körper nichts anderes als ein Werkzeug des jeweiligen Etnord.

Bei den Seglanern war das nicht ganz so. Vielleicht lag es daran, dass es eben doch ein Mythos gewesen war, dass die Erinnerungen ausschließlich in dem Nervenkern gespeichert wurden. Sie wurden in Wahrheit überall und an sehr verschiedenen Stellen des Seglaner-Körpers chemisch fixiert. Und vor allem sorgten verschiedene, nur schwer zu  deaktivierende biochemische Mechanismen dafür, dass sie sich immer wieder rekonstruierten. Und auch Teile der Persönlichkeit des Seglaners, der einst Walbaaan gewesen war, geisterten noch als chemisch fixierte Bewusstseinsfragmente  durch den amöbenhaften Körper des Seglaners, deren Wiederherstellungsfähigkeit beängstigend war. Wie die Information, die der amöbenhafte Körper dieser Spezies wie nach einem Backup des Bewusstseins und der Erinnerungen erneut zu schaffen vermochte, zwischenzeitlich gespeichert wurden, war selbst für die fortgeschrittene Wissenschaft der Etnord ein Rätsel geblieben. Dazu kam, dass dieses Phänomen von jenen Genen, die die Separierung eines Bewusstseins und letztlich die Teilung des ganzen Organismus steuerten, stark unterstützt wurde.

Nur ein psychisch stabiler Etnord war geeignet, um einen Seglaner-Körper zu übernehmen. Und selbst bei sorgfältiger Auswahl der Implantate kam es auf Segla immer wieder zu Fällen der so genannten seglanischen Schizophrenie.

Walbaaan war selbst nur mit knapper Not und dank der biochemischen Intervention seines Arztes an diesem Schicksal vorbeigekommen.

Ein Grund mehr für ihn, sich seinem Lebenswerk zu widmen.

Er hatte sich ganz der Erforschung der biochemischen Mechanismen verschrieben, die dazu führten, dass immer wieder Etnord, dem Wahnsinn der seglanischen Schizophrenie verfielen.

Zwei Partner waren ihm dabei behilflich. Beide waren Etnord – litten aber nicht unter diesem Phänomen, da sie nicht in seglanische Körper eingepflanzt worden waren. Der eine hieß Jason Montesculon und stammte von Taralon, der derzeitigen Residenz-Welt des Herrn.

Ein Etnord-Mensch.

Der Kopf war kahl.

Er trug einen eng anliegenden Overall. Am Hals und dort, wie die Ärmel am Handgelenk endeten, waren die Enden der Ganglien zu sehen, die von dem in seine Brust implantierten Etnord-Implantat ausgingen.

Der andere stammte von Parda, dem zweiten Planeten der heimatlichen Sonne, die von die Seglanern einfach als Großes Licht bezeichnet wurde. Der Name des Etnord-Pardaners lautete Kar-Dan-To. Er war deutlich kleiner als der Etnord-Mensch, hatte aber ebenfalls vier feste und unveränderbare Extremitäten. Sein Körper war bepelzt und die Augen so klein, dass sich Walbaaan nur schwer vorzustellen vermochte, dass sich damit ein ausreichen großes Gesichtsfeld erreichen ließ. Zu dreidimensionaler Sicht reichte angeblich die Überlappung der Gesichtsfelder beider Augen sowohl bei Menschen als auch bei Pardanern aus.

Trotzdem wäre sich Walbaaan halb blind vorgekommen. Schließlich konnte er je nach Bedarf bis zu vierzig Prozent seiner Körperoberfläche in licht-sensitives Areal umwandeln. Und außerdem vermochte Walbaaan aus seinem amöbenhaften Körper nach belieben tentakelartige Extremitäten ausbilden und hatte die direkte Kontrolle über eine ganze Reihe von Stoffwechselprozessen.

Chemische Prozesse, denen die beiden Kollegen mehr oder minder hilflos ausgeliefert waren.

Oft hatte der amöbenhafte Walbaaan die beiden Wissenschaftler-Kollegen dennoch beneidet – trotz der im ganzen weitaus minderwertigeren Wirtskörper, in die man sie hinein gepflanzt hatte.

Aber diese Wirtskörper gehörten auf jeden Fall unzweifelhaft ihnen allein.

Kein sich selbst restaurierender Bewusstseinsrest machte ihn ihnen streitig.

Sie waren die Herren ihrer Existenz, auch wenn die zumindest physiologisch gesehen armselig war.

Walbaaan hingegen fürchtete bei jedem, sich fremd anfühlenden Gedanken, jeder Erinnerung, die er nicht sofort eindeutig zuzuordnen vermochte, ob sich da nicht auch in ihm gerade etwas bildete, das den Beginn einer beginnenden seglanischen Schizophrenie war.

Mit dieser Angst leben wir von der Implantierung an, dachte Walbaaan. Und niemand kann sie uns nehmen... Denn es scheint kein Mittel zu geben, den Ausbruch dieser Krankheit sicher zu verhindern...

Nicht einmal Operationen am offenen Nervenknoten hatten etwas gebracht – von den üblichen biochemischen Stimulationen, die den Hauptteil der seglanischen Medizin ausmachten, mal ganz abgesehen.

Walbaaan rutschte mit seinem Körpersack über den Boden und zog eine Feuchtigkeitsspur hinter sich her. Jason Montesculon, der menschliche Etnord, hatte einmal geäußert, dass seinesgleichen ganz schön aufpassen musste, um nicht auf diesen Schmierspuren auszurutschen.

Danach hatte Walbaaan den Feuchtigkeitsverlust durch Regulierung einiger Körperfunktionen auf ein Minimum reduziert und seine Außenmembran biochemisch gesehen etwas dichter gemacht. So etwas war für einen Seglaner kein Problem.

Für Jason Montesculon hingegen wäre es ebenso ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wie für Kar-Dan-To.

Am Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte Walbaaan gegenüber dem haarigen Pardaner den Wunsch geäußert, dass er sich doch bitte kahl rasieren möge, da es immer wieder vor kam, dass er Haare verlor, die die Walbaaans prinzipiell durchlässige (und manchmal etwas eigenwillige Außenmembran) diese Haare in sich aufnahm, was zu unerwünschten Folgen führte.

Allergische Reaktionen waren da noch das harmloseste.

Schlimmer war, wenn irgendein autonomer biochemischer Mechanismus in seinem Körper damit begann, die in den Haaren enthaltene DNA dem eigenen Bauplan beizufügen und winzige Veränderungen herbeizuführen.

Aber genau diese Gefahr bestand permanent...

Man musste als Seglaner höllisch aufpassen. Es fing immer mit der Anlagerung von ein paar Molekülen an und endete dann in seglanischer Schizophrenie und dem totalen Kontrollverlust.

Aber Kar-Dan-To hatte dieses Ansinnen natürlich völlig empört von sich gewiesen.

Ein Fell sei schließlich integraler Bestandteil seines Körpers und er führte dann verschiedene Gründe an, weshalb er sich ohne diese Behaarung auf keinen Fall wohl fühlen könnte.

Das war bei Jason Montesculon angenehmer.

Eine der Nebenwirkungen der Übernahme eines Menschen durch einen Etnord war, dass ersterer in über 99 Prozent der Fälle nach und nach die Haare verlor.

„Ich habe die heutigen Versuchsreihen bereits vorbereitet“, eröffnete Walbaaan seinen beiden Kollegen. Dazu bildete seine Membran ein Organ aus, das in der Lage war Laute zu erzeugen, die den Stimmen von Menschen oder Pardanern zum verwechseln ähnlich waren. Sprachen zu lernen fiel dem Seglaner nicht schwer. Er hatte sich innerhalb kürzester Zeit, die Sprachen eingeprägt, die unter den Wirts-Spezies verbreitet waren, mit deren Worten er nun einmal zusammenarbeiten musste.

Walbaaan konnte sowohl das pardanische Hauptidiom als auch die Sprache der Menschen von Taralon perfekt und hatte im Übrigen auch kein Verständnis dafür, dass es Menschen oder Pardanern dermaßen schwer fiel, ein anderes Idiom zu erlernen. Insbesondere solche, bei der die Spezies, die diese Sprache entwickelt hatte, völlig andere anatomische Voraussetzungen hatte, um Laute zu erzeugen.

Kar-Dan-To und Jason Montesculon wechselten einen Blick.

So nannten die Spezies das, wenn sie sich die raren lichtempfindlichen Zellenkonglomerate zuwandten. Kein Wunder, dass dies unter den Wirtspezies immer kulturell aufgeladen wurde, dachte Walbaaan.

Ein Blick, so nannten sie das.

Walbaaan konnte nur abstrakt erfassen, was ein Blick war und das Angehörige von Spezies, deren Sehzellen dermaßen sparsam bemessen und auf wenige, sehr eng gefasste Körperregionen begrenzt waren, darin zweifellos etwas Besonderes sahen. Eine Auszeichnung, einen Ausdruck der Zuneigung, des Einverständnis oder sogar eine Drohung... Alles konnte damit ausgedrückt werden, auch wenn nicht bei jeder dieser halbblinden Spezies auf dieselbe Weise.

Der Seglaner fand es äußerst interessant zu beobachten, dass diejenigen Etnord, die Wirtskörpern aus den wenig sehenden Spezies eingepflanzt worden waren, offenbar dieses bewusste Zusenden der Sehzellen ähnlich mit kultureller Bedeutung aufzuladen begannen, wie es in den ursprünglichen Kulturen der jeweiligen Wirtsvölker der Fall gewesen war. Das physiologische Sein bestimmt eben doch sehr weitgehend das Bewusstsein, dachte er dazu.

„Walbaaan, wir müssen dir etwas sagen“, meinte Jason Montesculon.

„Etwas sagen?“, fragte Walbaaan und richtete seinen zweihundert Kilo schweren Membransack so auf, dass er etwas an Körpergröße gewann. Ganz so groß wie Montesculon konnte er sich auf diese Weise ohnehin nicht machen, dagegen sprachen  schon die Gesetze der Schwerkraft.

Um Montesculon hätte er schon ein paar Tentakel ausbilden und nach oben ragen lassen müssen. Die Höhe des Pardaners vermochte Walbaaan mitunter zu erreichen, wenn er gut ausgeruht war und sich vollkommen auf die Stabilisierung seiner körperlichen Form konzentrierte, was ihm mit zunehmenden Alter schwerer fiel, wie er ungern zugeben mochte.

„Was ist los?“, fragte Walbaaan.

„Es wird keine weiteren Versuche geben“, sagte Kar-Dan-To jetzt anstelle von Jason Montesculon.

„Und weshalb nicht, wenn ich fragen darf?“ 

„Hast du denn wirklich von alledem, was sich derzeit auf Segla und überall im Reich der Etnord zuträgt, nichts gehört, Walbaaan?“, fragte Kar-Dan-To völlig verständnislos. So groß konnte Ignoranz einfach gar nicht sein.

„Der Ruf...“, murmelte Walbaaan und bildete dabei für die Dauer seines Statements ein Sprechorgan in der Oberfläche seiner Außenmembran aus. Kurz hintereinander wiederholte er seine Worte in Montesculons Sprache und in der Sprache der Pardaner. Walbaaan war sein eigener Simultan-Translator und dabei wesentlich schneller und besser als jedes Übersetzungssystem.

„Der Ruf ist an uns alle gegangen“, sagte nun Kar-Dan-To. Seine Sprache bestand aus eine Aneinanderreihung von Piepslauten, die von Jason Montesculon weder verstanden wurden, noch nachgeahmt werden konnten. Aber er verfügte über einen Kommunikator mit integriertem Translator. „Wir müssen dem Ruf nachkommen...“

„Daran habe ich auch nie gezweifelt“, erwiderte Walbaaan.

„Nichts hat höhere Priorität als der Ruf“, erklärte Montesculon. „Es bereitet mir geradezu körperliche Schmerzen in den Ganglien, dass wir nicht schon den ersten Konvois zugeteilt wurden.“

„Die Schiffe werden zurückkehren und auch uns an Bord nehmen“, versicherte Kar-Dan-To. „Ganz bestimmt...“

Montesculon nickte.

„Ja, das glaube ich auch.“

Seine sehr nachdenklich wirkenden Worte klangen so, als ob er sich selbst erst davon überzeugen müsste. Er wandte sich noch einmal Walbaaan zu, aus dessen polymorphen Körper jetzt gleich drei Tentakel herausgestülpt wurden.

Walbaaan verschränkte zwei von ihnen, weil er im Moment eigentlich nichts für diese Gliedmaßen zu tun wusste.

Sie verschränken kam damit einer Verlegenheitsgeste gleich, die man eigentlich am besten unterlassen sollte, wenn es nach den Traditionen der Seglaner ging.

„Aber solange wir noch keinem Konvoi zugeordnet sind“, begann Walbaaan von neuem, „solange können wir doch an dem  Projekt weiterarbeiten.“ 

„Das hat doch keinen Sinn mehr“, fand Kar-Dan-To. Er war ziemlich aufgebracht. Die Piepstöne, die aus seiner braunen, recht flachen Schnauze herauskamen, wurden teilweise so  schrill, dass der Übersetzer Probleme damit hatte, diese Frequenzen vollständig zu erfassen und die richtige Übersetzung zu verwenden. „Wir werden diese Welt bald alle, ohne Ausnahme verlassen haben  - welchen Sinn sollte es da haben, ein Forschungsprojekt fortzusetzen, von dem niemand mehr nutzen haben wird? Stattdessen werden wir uns besser um andere Dinge kümmern, die jetzt dringlicher sind.“

Wie zur Bestätigung summte Jason Montesculons Kommunikator.

Der Etnord-Mensch bekam eine Nachricht auf das Display. „Offensichtlich ist doch noch ein Schiffsplatz frei“, sagte er. „Ich werde also Segla schon heute verlassen.“

Sein Gesicht wirkte zufrieden.

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Walbaaan blieb allein in den Räumlichkeiten, die man ihm und seinem Team für die Forschungsarbeiten zur Verfügung gestellt hatte. Die Ausrüstung war auf dem letzten Stand. Der Herr von Taralon schien ein großes Interesse daran zu haben, dass die seglanische Schizophrenie endlich hinreichend erforscht wurde.

Aber das war nun von einem Segla-Tag auf den anderen plötzlich nicht mehr der Fall.

Es galten andere Prioritäten.

Walbaaan rutschte über den Boden. Es gab ein glitschendes Geräusch dabei. Sein Nebenknoten wanderte dabei während der ersten Meter nahezu durch den ganzen Körper.

Der implantierte Etnord hingegen war durch die Ganglien sehr viel fester an seinem Ort verankert.

Walbaaan erreichte die Wand und schaltete sie in den Transparenz-Modus, sodass er sehen konnte, was auf dem großen Platz vor dem Gebäude geschah, in dem sich sein Institut befand. Auch wenn Segla ein Teil des Etnord-Reichs war und es natürlich unter den Etnord-Welten regen Austausch gab, so besaßen doch nach wie vor neunzig Prozent der Bewohner des dritten Planeten seglanische Wirtskörper. Der Rest bestand aus Etnord, die Wirtskörper aus allen Teilen des Reiches hatten. Etnord-Menschen waren ebenso darunter wie Angehörige Dutzender anderer Völker, denen man im Laufe der Zeit die faustgroßen Etnord-Parasiten implantiert hatte.

Walbaaan erzeugte eine etwa einen Meter durchmessende Augenfläche auf der transparenten Wand zugewandten Seite seines Körpers.

Der große Platz war schon seit einiger Zeit zu einer Art Hilfs-Raumhafen umfunktioniert worden. Kleinere Shuttles und Atmosphärengleiter unterschiedlichster Bauart landeten hier, um Passagiere aufzunehmen, die dann ins Orbit transportiert wurden. Dort warteten dann die Schiffe, die sie mitnahmen an den fernen Ort.

Walbaaan hatte ebenfalls den Ruf der Lichtsonden empfangen und der Drang, sich all denen, die dort in langen Reihen und sehr diszipliniert darauf warteten, einer Raumfähre zugewiesen zu werden, war sehr stark.

Aber im Gegensatz zu seinen Kollegen war Walbaaan zwiegespalten.

Einen Teil von ihm drängte es, sein Forschungsprojekt zu vollenden, auch wenn die reine Logik ihm sagte, dass dessen Ergebnisse keine Bedeutung haben würden.

Nicht nach dem Ruf...

Er fragte sich, ob dieser Zwiespalt, den er empfand, vielleicht damit zusammenhing, dass er selbst bereits unter einer leichten Form der seglanischen Schizophrenie litt. Wurde am Ende er zu seinem eigenen Studienobjekt?

Du musst zugeben, dass die weitere Beschäftigung mit dieser Geisteskrankheit, von der so viele Träger seglanischer Wirtskörper heimgesucht werden, eindeutig dafür spricht, dass sich da ein paar Moleküle und Nervenzellen in deinem unzuverlässigen Seglaner-Körper gegen den Willen deines Etnord-Bewusstseins verschworen haben...

Ein Gedanke kam Walbaaan.

Warum nicht die letzte Zeit, die ihm vor dem Verlassen des Planeten noch blieb mit einem intensiven Selbst-Scan verbringen? Möglicherweise konnte er am Ende sogar beides  - dem Ruf folgen und das wissenschaftliche Problem lösen, dem er schon seit so langer Zeit auf der Spur war.

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Captain Barus hob schützend die Hände vor die Augen. Das gleißende Leuchten war heller als, als was er bisher gesehen hatte.

Aber es dauerte nur wenige Augenblicke.

Dann war das leuchtende Objekt, das die gesamte Brücke mit gleißendem Licht erfüllt hatte, verschwunden.

Das erste, was Barus danach auffiel, war ein Nebenbildschirm, auf dem die Zeile Illegaler Datenzugriff unter Umgehung der Autorisation zu lesen stand.

Die Meldung verschwand im nächsten Augenblick.

Stattdessen erschien das Gesicht des Leitenden Ingenieurs der SONNENWIND. Lieutenant Brass von Gerling machte ein ziemlich überraschtes Gesicht. „Captain, hier funktioniert alles wieder einwandfrei. Auch der Sandström-Funk.“

„Danke, L.I.“, murmelte Barus. „Hier wurde ein unautorisierter Zugriff auf unsere Datenbanken angezeigt. Wissen Sie etwas darüber?“

„Nein, Sir.“

„Aber ich!“, meldete Kommunikationsoffizier Guofeng Smith. „Es hat offensichtlich eine intensive Datensuche stattgefunden.“

„Lässt sich nachvollziehen, wonach gesucht wurde?“

„Ich würde sagen, es ging um alles, was wir an Daten über die Etnord gesammelt haben. Was genau damit passiert ist, ob das ganze Zeug kopiert und irgendwo hin überspielt wurde, lässt sich leider nicht nachvollziehen – wohl aber wie viel Zeit sich diese Sonde mit welcher Datei genommen hat und wie intensiv sie geprüft wurde.“

„Die Lichtsonde hat das Schiff verlassen“, stellte jetzt Ortungsoffizier James Teluvion fest. „Entfernt sich zusehends.“

„Mister Smith, verbinden Sie mich mit Sunfrost. Ich nehme an, dass die STERNENKRIEGER als nächstes von diesem Objekt heimgesucht wird.“

„Aye, aye, Sir“, bestätigte Guofeng Smith.

Ortungsoffizier James Teluvion meldete sich noch einmal zu Wort. „Captain, die Sonde entfernt sich mit rasender Geschwindigkeit und Beschleunigung, von denen wir nicht einmal träumen könnten – aber sie fliegt nicht auf die STERNENKRIEGER zu.“

„Wo ist dann ihr Zielgebiet?“

„Lässt sich noch nicht sagen.“ Teluvions Finger glitten über den Touch Screen seiner Konsole. Eine Kursprognose für die Lichtsonde erschien als gesondertes Bildfenster im Hauptschirm. „Sie wissen ja, wie schnell diese Lichtsonden die Richtung ändern können“, meinte Teluvion.

Commander Reena McKee, eine rothaarige Frau mit hohen Wangenknochen, diente als Erster Offizier an Bord der SONNENWIND. Sie hatte sich die Ortungsdaten über die Lichtsonde auf ihrer Konsole anzeigen lassen, nahm ein paar kleinere Einstellungsänderungen über das Touch Pad vor und wandte sich dann an Chip Barus.

„Captain, es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube ich weiß, wo das Ziel dieses Objekts ist und weshalb es sich plötzlich nicht mehr für unser Schwesterschiff interessiert.“

„Und?“, fragte Barus.

„Der prognostizierte Kurs der Lichtsonde führt durch ein Raumgebiet, das fast so ideal dafür geschaffen ist, um unbemerkt in diesem System zu materialisieren wie die Region, die wir uns ausgesucht haben.“ McKee veränderte den Zoom der Systemübersicht. „Sehen Sie diesen Gasriesen aus Methan, den unser System blau markiert hat? Erstens hat er 47 Monde und zweitens fliegt jede Menge Weltraumschrott im Orbit herum. Havarierte Schiffe, ausrangierte Wracks aller möglicher Typen. Die meisten mit Etnord-Signatur und der typischen kristallinen Außenschicht.“

„Aber nicht alle?“

„Nein.“

„Könnte es sich um Überreste einer Schlacht handeln?“

„Möglich. Tatsache ist, dass diese Trümmer die Ortung eines gerade aus dem Zwischenraum materialisierten Schiffs noch mehr erschweren würden. Kurzzeitige Raumzeitverzerrung sowie charakteristische Gravitationswellen gehen eigentlich immer mit einer solchen Materialisation einher.“

„Das bedeutet, man muss nur lange genug suchen.“

„Dann muss es auf jeden Fall ein Schiff mit beinahe perfekter Isolierung sein, denn ich kann bisher beim besten Willen keine verräterische Emission entdecken“, mischte sich Lieutenant Teluvion ein.

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Rena Sunfrost nahm Barus’ kurzgefassten Bericht schweigend zur Kenntnis und wies Lieutenant Riggs an, nach dem unbekannten Schiff zu suchen, das sich im Schleichflug in Richtung des Systeminneren befinden musste.

Inzwischen waren weitere Daten der Fernortung eingetroffen. So konnte man nun riesige Ansammlungen von Flottenverbänden um die Planeten Nummer II (Parda) und III (Segla) des Systems der Sonne TASO-23111 orten.

Dabei handelte es sich um Verbände von bis zu zehntausend Raumschiffen, die jedoch aus den unterschiedlichsten Schiffstypen zusammengesetzt waren. Nicht einmal zehn Prozent dieser Schiffe waren im engeren Sinn Kampfschiffe. Bei den meisten handelte es sich um Transporter. Manche waren von den Etnord mit Wuchtgeschützen oder Strahlenwaffen nachgerüstet worden, aber diese Waffen hätten im Ernstfall wohl gerade einmal zur Selbstverteidigung getaugt – wenn überhaupt.

Ein paar der gigantischen Container-Raumschiffe, die schon 2241 zahllose Siedler von den irdischen Kolonien über Wurmloch Alpha ins Taralon-System gebracht hatten, waren auch darunter.

Die Ortung der STERNENKRIEGER hatte die Signaturen eindeutig identifizieren können. Sogar die Firmenkennungen der Frachtunternehmen waren teilweise noch erhalten.

„Captain, wenn Sie mich fragen, sieht das immer mehr wie ein regelrechter Exodus aus“, sagte Van Doren. „Keine Ahnung, was in die Etnord gefahren ist, aber auf allen von ihnen verlassenen Welten sah es nicht danach aus, dass sie jemals vorhätten zurückzukehren.“

Captain Sunfrost nickte.

„Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als ihnen systematisch zu folgen.“

„Ich nehme an, dass der Ursprung der Lichtsonden mit dem Zielpunkt dieser einmaligen Wanderbewegung identisch ist“, vermutete Van Doren.

Warten wir es ab, dachte Sunfrost. Gut möglich, dass im Hintergrund eine Macht zu finden ist, die mehr Macht besitzt, als wir es uns vorzustellen vermögen, und für die die Etnord letztlich nichts weiter als Marionetten darstellen.

Eine Viertelstunde später traf eine Meldung von der SONNENWIND ein.

Lieutenant James Teluvion meldete sich auf einem der Nebenschirme.

„Captain Sunfrost, unsere Abtaster haben die Signatur eines Objekts aufgezeichnet, das sich offenbar ebenfalls im Schleichflug dem System nähert. Es hat zweimal Kontakt über eine sehr schwache Zwischenraumfrequenz gehabt. Eine Bildsequenz konnte entschlüsselt werden.“

„Senden Sie es uns rüber, Lieutenant Teluvion“, forderte Sunfrost.

„Sie werden überrascht sein. Es handelt sich bei der Besatzung dieses fremden Schiffes offenbar um alte Bekannte, man wohl kaum am anderen Ende der Galaxis vermutet hätte.“

Augenblicke später war die Bildsequenz zu sehen.

Sie zeigte ein spinnenartiges Wesen, dessen Körper etwa das Volumen eines Menschen hatte. An den Händen der unterschiedlich langen und starken Extremitäten befanden sich Greiforgane.

„Wsssarrr!“, entfuhr es Lieutenant Ukasi, der sich wie üblich an der Konsole des Waffenoffiziers positioniert hatte. Seine Finger glitten über die Sensorpunkte seines Touch Pads. Er holte sich die Daten auf seine Konsole, um sie sich näher anzusehen. „Die verwendete Raumschiff-Technik scheint mir allerdings nur wenige Parallelen zu besitzen“, meinte er.

Der spinnenartige Wsssarrr ging etwas auf das Kameraauge zu und blickte nun mit seinem Augenkonglomerat die Brückenbesatzung der STERNENKRIEGER scheinbar an. Der Saugstachel wurde kurz ausgefahren und das Wesen rieb die Beißwerkzeuge gegeneinander.

Aber von alledem war nichts zu hören.

Dann brach die Sequenz ab.

„Mehr war nicht zu rekonstruieren“, sagte Teluvion über die Kom-Leitung. „Eine Audio-Spur fehlt völlig. Entweder ist sie besonders stark verschlüsselt oder wir konnten einfach nicht genug davon auffangen, sodass unser Bordrechner eine vernünftigen Datensatz daraus machen konnte.“

Außer Van Doren bemerkte niemand die Schweißperlen auf Ukasis Stirn.

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In einer kurzen Schiff zu Schiff Konferenz zwischen Sunfrost und Barus wurde festgelegt, dass man sich zunächst dem fremden Objekt zuwenden wollte.

Der Kurs wurde geändert und man steuerte nun in einer Zangenbewegung auf das vermutete Wsssarrr-Objekt in der Nähe des Methanriesen zu. 

Captain Barus’ Absicht war, die fremde Einheit damit aus der Reserve zu locken. Die Wsssarrr - oder wer immer sich auch ansonsten in dem Schiff befinden mochte, sollten den Eindruck haben, dass sie entdeckt worden waren... Sobald sie dann beschleunigten, um vielleicht in den Sandström-Raum zu entkommen, mussten sie ihre Tarnung aufgeben und waren vermutlich anhand ihrer Emissionen auch klar zu identifizieren.

„Dass wir hier Wsssarrr treffen, wundert mich eigentlich nicht sonderlich“, meinte Van Doren. „Schließlich haben die Spinnenartigen ihre Brut über die Transmitter der Alten Götter überall hin verschickt. Und dass dieses Transportnetz der Erhabenen bis nach Trans Alpha reicht, ist ja inzwischen auch bewiesen.“

„Auf jeden Fall sind diese Wsssarrr wohl nicht so friedlich wie diese Exemplare, auf die wir bei den Nostan gestoßen sind“, äußerte sich Ukasi. Sein Gesicht wirkte ernst und so maskenhaft, als wäre es aus Stein gemeißelt. „Wenn es sich um etnordisierte Wsssarrr handeln würde, dann wäre wohl kaum anzunehmen, dass sie sich im Schleichflug nähern. Daher gehe ich von einer feindseligen Erkundungsaktion aus.“

„Was bedeuteten würde, dass die Etnord möglicherweise mit einem sehr mächtigen und äußerst kompromisslos vorgehenden Feind konfrontiert sind“, schloss Sunfrost.

Van Doren nickte. „Und das in einer Zeit, da die Etnord am Verwundbarsten sind.“

Ein Angriff stand wohl unmittelbar bevor. Und die beiden Sondereinsatzkreuzer des Space Army Corps waren gerade dabei den Kundschafter aus seiner Deckung zu scheuchen.

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Jason Montesculon hatte den Flug ins Orbit zusammen mit drei Dutzend anderen Etnord in einem viel zu engen Shuttle verbracht, das erstens an die Anatomie der amöbenhaften Seglaner angepasst war und das zweitens ursprünglich für den Lastentransport konzipiert war.

Das zeigte sich daran, dass die Innentemperatur für die Bedürfnisse eines Menschenkörpers entschieden zu frostig war. Daran änderte auch die warme Kleidung nichts, die Jason Montesculon trug.

Bei den anderen Anwesenden handelte es sich fast durchweg um Seglaner. Ein paar bärenartiger, haarige Pardaner waren auch darunter. Seltsamerweise schien ihnen die Kälte trotz ihres dichten Fells noch mehr auszumachen. Zwei sauroide Fulirr saßen wie gefroren da und konnten sich kaum noch rühren.

Das einzige Sitzmobiliar bestand aus schnell und schlecht eingebauten Sitzwannen, wie sie von den Seglanern bevorzugt wurden. Manche dieser Sitzwannen wurden nun allerdings gleich von zwei Etnord-Seglanern besetzt. Viele fanden überhaupt keine Wanne und mussten zusehen, dass sie einen Platz in den Zwischenräumen fanden. Bei manchen dieser Wannen waren die Halterungen schlecht montiert und lösten sich bereits aus ihren Verankerungen.

Mit einem Ruck dockte das Shuttle an einen großen Frachter an. Außer Jason Montesculon befand sich kein anderer Etnord-Mensch unter den Passagieren. Die Fulirr waren auf Grund der Kälte so unbeweglich geworden, dass sie nicht mehr in der Lage waren, allein ihre Plätze zu verlassen.

„Wir brauchen Antigravaggregate!“, rief Montesculon, dessen Worte auch gleich in die Idiome von Pardanern und Seglanern übersetzt wurden.

„Helfen Sie mir einen dieser Passagiere aufzulegen“, meldete sich einer der Seglaner zu Wort, der mit seinem nur für den Augenblick des Sprechens aus seiner Außenmembran gebildeten Sprechorgan den Tonfall des Etnord-Menschen nahezu perfekt zu imitieren wusste.

Montesculon ließ sich das nicht zweimal sagen.

Es war schließlich wichtig, dass so viele wie möglich dem Ruf folgten.

Das war von entscheidender Bedeutung und hatte Priorität vor allem anderen.

Selbst vor der Neuen Ordnung, die der Herr etabliert und in einem nicht unbeträchtlichen Teil dieses galaktischen Sektors auch etabliert hatte.

Montesculon kam sich manchmal selbst fremd bei dem Gedanken daran vor, dass er noch vor kurzem vollkommen auf seine Arbeit als Wissenschaftler konzentriert gewesen war.

Eine Arbeit, die er im Übrigen von einem menschlichen Individuum gleichen Namens übernommen hatte – damals, in jedem Jahr, als die Etnord nach Taralon gekommen waren und diesen frisch besiedelten Planeten nicht nur erobert, sondern zur Hauptwelt ihres Reiches der Neuen Ordnung gemacht hatten.

Der Herr selbst hatte sich in den Körper eines dieser zweibeinigen Wesen implantieren lassen und damit ein Zeichen gesetzt, dass er das Potenzial dieser Wesen sehr schätzte. Vor allem das Wissenschaftliche...

In letzter Zeit war der Rang, den die Etnord-Menschen innerhalb dieser Neuen Ordnung einnahmen allerdings etwas ins Hintertreffen geraten.

Seit dem leider insgesamt gesehen erfolglosen Krieg gegen das Sternenreich der Menschheit, das sich jenseits der Wurmlöcher in einem lächerlich kleinen Raumareal erstreckte, waren viele Fulirr in die Reihen der Wirtskörper gelangt. Und dieses Volk von gut 1,60 m großen Sauroiden war der Menschheit noch einiges überlegen gewesen. Vor allem, was die Waffentechnik betraf. Die Fulirr hatten den Etnord – völlig unfreiwillig natürlich – das Wissen um den Bau von Antimateriesprengsätzen geschenkt.

Um gegen die Menschheit den Krieg zu gewinnen und sie vollständig in das Reich der Neuen Ordnung zu integrieren, wie es dem ursprünglichen Plan des Herrn entsprach, hatte das Wissen um den Umgang mit Antimaterie allerdings offensichtlich nicht ausgereicht.

Jason Montesculon hob zusammen mit zwei entsetzlich schrill quiekenden Pardanern einen der beiden Fulirr hoch und setzte ihn auf dem Körper des Seglaners ab. Der Sauroide fiel zur Seite und lag embryonal gekrümmt da wie in einem Wasserbett.

Der amöbenartige Seglaner rutschte über den Boden und schien keine größeren Probleme damit zu haben, das Gewicht des Fulirr mitzuschleppen. Auch der zweite Sauroide wurde einem Seglaner aufgeladen.

Jason Montesculon folgte den Trägern über eine Dockschleuse in den riesigen Frachtraum, der für die nächste Zeit sein Zuhause sein würde.

So lange, bis sie das Ziel erreicht hatten.

Der Geruch, der Montesculon hier entgegen schlug, hätte der Mensch, der diesen Körper früher einmal beherrscht hatte, mit dem Begriff bestialisch bezeichnet.

Der Etnord in Montesculon konnte sich da etwas besser beherrschen. Aber die extreme Sauerstoffarmut fiel auch ihm auf. Das Schiff war hoffnungslos überladen.

„Bitte üben Sie Disziplin“, verkündete ein Lautsprecher in einem Dutzend Sprachen, die allesamt zu den bedeutenderen Idiomen des Etnord-Imperiums gehörten.

Normalerweise hätte Montesculon einen derartigen Passagierraum gar nicht erst betreten. Weder für einen planetaren Flug und schon gar nicht, wenn es um eine womöglich etwas längere Weltraum-Passage ging. Schon ein systemimmanenter Flug kam unter diesen Bedingungen einer Zumutung gleich.

Aber zu seiner eigenen Verwunderung blieb Jason Montesculon vollkommen ruhig.

Die Aussicht an Bord dieses Frachters, der seine besten Zeiten gewiss schon seit längerem hinter sich hatte und außerdem für den Transport von Passagieren – gleich welcher Spezies – vollkommen ungeeignet war, schreckte ihn nicht.

Es kommt nur auf eines an, dachte er. Das wir rechtzeitig dort sind. Wir alle... Denn es kommt auf jeden Einzelnen an, wenn wir uns am Ort der Orte treffen...

Mit einem Ruck setzte sich der Frachter dann in Bewegung. Die Andruckabsorber waren schlecht. Wahrscheinlich handelte es sich um Aggregate, die schnell nachgerüstet worden waren, um zu verhindern, dass die Passagiere regelrecht zerquetscht wurden.

Trotz der Absorber war die Beschleunigung deutlich zu spüren.

Er wurde einem der wabbeligen Seglaner förmlich in die Seite gedrückt. Aber der Seglaner nahm das nicht übel.

„Wir müssen alle viel aushalten“, sagte er.

„Ja, aber der Zweck heiligt vieles.“

„Sie haben vollkommen Recht!“

Die tatsächliche Stimmung seines Gegenübers vermochte Montesculon kaum einzuschätzen. Die Mimik, die sie mit Hilfe ihrer Außenmembran darstellten, war häufig anderen Spezies nachempfunden.

Jason Montesculon fühlte, wie der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann. Es gab kaum eine Isolierung zwischen der Triebwerkssektion und dem Laderaum. Bald erfüllte ein ohrenbetäubender Lärm den Raum.

Ungeduld erfasste Jason Montesculon. Eine Ungeduld und eine Erwartung, für die es eigentlich keinerlei Erklärung gab.

Noch nie zuvor hatte er etwas so sehr herbeigesehnt, wie das Erreichen jenes Ortes, an den sie alle gerufen worden waren.

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„Sie haben uns entdeckt, Kommandant!“, signalisierte ß’Schirr, der an Bord der HIRNVERTILGER den Rang des Ersten Stellvertreters einnahm.

„Meinen Sie diese Lichtsonde?“, fragte der Kommandant. „Wie Sie wissen, glauben unsere Wissenschaftler nicht, dass die Etnord sie schicken oder irgendetwas mit ihrer Erschaffung zu tun haben. Schon deshalb nicht, weil sie offenbar selbst von ihnen untersucht werden.“

„Aber sie stehen mit ihnen in Kontakt“, gab ß’Schirr zu bedenken.

„Der letzte Beweis fehlt uns auch dafür. Aber im Augenblick meine ich die beiden Schiffe der Fremden und nicht die Sonden... Der Computer schätzt ihre Manöver zwar als indifferent ein, aber meiner Ansicht nach ergeben sie nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass sie unsere Position  identifiziert haben und uns angreifen wollen.“

ß’Schirr schob seinen spinnenartigen Körper leicht nach vorn. Er hatte in einem speziellen, im Wesentlichen aus einem Antigravkissen und dessen Projektor bestehenden Sitzmöbel Platz genommen, das ihm die Freiheit ließ, mit sämtlichen ihm zur Verfügung stehenden Extremitäten zur Bedienung verschiedener Terminals benutzen zu können.

Es sah aus, als ob der Erste Stellvertreter in der Luft schweben würde.

Kommandant ß’Goss hingegen stand mit allen seinen Extremitäten fest auf dem Boden. Er kroch etwa eine Körperlänge auf den Hauptschirm zu und richtete sein Augenkonglomerat auf die dortigen Bilder aus. Er bemerkte nicht, dass er sogar mit den Beißwerkzeugen schabte, was zumindest für Kommandanten der Flotte des Imperiums der goldenen Häuser als unfein galt.

Aber Kommandant ß’Goss war in Gedanken versunken. „Vielleicht haben wir allesamt nicht genug Hirn gegessen!“, meinte er. „Der Admiral der goldenen Häuser wird nicht sonderlich zufrieden mit uns sein...“

„Wir haben Ihre Befehle peinlich genau eingehalten“, verteidigte sich ß’Schirr. „Unsere Emissionen lagen bei einem absoluten Minimalwert. Daran kann es nun wirklich nicht gelegen haben, dass...“

ß’Goss verschloss seine Hörorgane vor dem Geschwafel seines Stellvertreters.

So ist das eben mit den jüngeren Söhnen der altehrwürdigen ß’! Sie suchen für alles eine Entschuldigung und sind nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Wsssarrr war ein älteres Wort für „Söhne“ – und tatsächlich gab es – abgesehen von den gewaltigen, zu ungeheurer Größe heranwachsenden Königinnen – ausschließlich männliche Wsssarrr.

Die Wsssarrr des Imperiums der Goldenen Häuser nannten sich mitunter auch ß’Wsssarrr, weil sie alle von einer einzigen Königin abstammten.

Und deren Name lautete ß’.

Zu Hause auf der Wsssarrrama, der Hauptwelt des Imperiums der Goldenen Häuser residierte ß’ in einer Halle, die zu den größten des gesamten Imperiums gehörte. Und selbst die würde irgendwann zu klein werden, denn das Wachstum der Königin ging ungehemmt weiter. Es gab kein Wsssarrrisches Raumschiff, das in der Klage gewesen wäre, sie zu transportieren.

Seit jenen Tagen, da die Wsssarrr aus Furcht vor den vogelartigen Barbaren, die sich Qriid nannten, ihre Brut immer wieder mit Hilfe der Transmitter einer uralten, längst verschwundenen Spezies so weit wie möglich im Universum verstreuten, war viel Zeit vergangen. Und seit der Entwicklung der so genannten Ersten Brut in dem Goldenen Haus auf Wsssarrrama war Generation um Generation herangewachsen. Natürlich waren auch neue Königinnen gezeugt worden, aber die jüngeren hatten nicht einmal annähernd so viel Körpermasse wie ß’, die sich offenbar vorgenommen zu haben schien, den Beinamen die Große sich bis in alle Ewigkeit zu reservieren.

Mit ihrer Urmutter, von der dieser ganze Zweig der ß’Wsssarrr abstammte, konnte keine dieser Nachfolgerinnen auch nur ansatzweise verglichen werden.

Die Aufgabe der Königinnen war das hervorbringen unzähliger befruchteter Eier. Mehr nicht. Zur Herrschaft wären sie gar nicht in der Lage gewesen. 

Die wurde unter den ß’Wsssarrr vom Admiral der goldenen Häuser ausgeübt. Und der sorgte mehr oder minder dafür, dass es dem Volk gut ging und die Königinnen sich in Ruhe der Vermehrung des Volkes widmen konnten.

Die Wsssarrr waren beinahe ausgelöscht worden, wenn sie sich nicht irgendwann besonnen hätten und aus einem Volk nachgiebiger Pazifisten eines geworden wäre, das sich durch den Verzehr von Gehirnen die Kraft der Feinde einverleibte.

Dennoch hatte man vor den vogelartigen Qriid immer wieder fliehen müssen.

Für sie, die sich selbst als die Auserwählten Gottes sahen, waren die Wsssarrr der schlimmste Abschaum gewesen. ß’Goss konnte sich gut an die Geschichten erinnern, die man ihm in seiner Jugend als frisch geschlüpfte Brut erzählt hatte.

Doch zumindest für die ß’Wsssarrr sollte dies ein Ende haben. Das Imperium der Goldenen Häuser war benannt nach den quaderförmigen goldenen Artefakten auf Wsssarrrama, wohin die Alten sowohl die Königin ß’ als auch ihre erste befruchtete Brut mit Hilfe der Transmitter gesandt hatten. Und diese goldenen Quader standen für Macht und Erhabenheit. Sie hatten einem Volk gehört, das sich selbst als die Erhabenen bezeichnet und ein Großteil des bekannten Universums beherrscht hatte.

An diese Macht wollten die ß’Wsssarrr anknüpfen.

Der Hirnkult der Vorfahren sollte gepflegt werden, denn er verbreitete Angst und Schrecken.

Beides erachteten die bisherigen regierenden Admirale der Goldenen Häuser als unverzichtbare Kennzeichen wahrer Macht.

Und noch etwas war zur Doktrin der ß’Wsssarrr geworden. Niemals die Initiative aus dem Greiforgan geben, so lautete ein Axiom, das bereits den Jungen als Quintessenz der Geschichte des Wsssarrr-Volkes beigebracht wurde.

Die Alten hatten erst gewartet bis sie angegriffen und schließlich vertrieben wurden.

Aber die Wsssarrr des Imperiums der Goldenen Häuser war dazu nicht bereit.

Über lange Zeit hatte man die Ausbreitung des Etnord-Reichs beobachtet. Man hatte registriert, wie sie sich eine Zivilisation nach der anderen einverleibt hatten. Und die Kompromisslosigkeit, mit der die Neue Ordnung des Herrn sich verbreitete, erinnerte die ß’Wsssarrr auf fatale Weise an die Erzählungen über die Vertreibungen durch die Qriid.

Nein, das sollte nicht noch einmal geschehen – und deshalb hatte der Admiral der Goldenen Häuser den Präventiv-Krieg befohlen.

Um der großen Mutterkönigin willen, die diesem Zweig des Wsssarrr-Volkes den Namen gegeben hatte.

ß’Goss fühlte wilde Entschlossenheit, die Etnord zu vernichten, bevor sie dies mit den ß’Wsssarrr tun konnten.

Der Admiral hatte die größte Flotte geschickt, die das Imperium der Goldenen Häuser jemals aufgestellt hatte. Schiffe mit den besten Strahlenwaffen und an Wendigkeit und Schnelligkeit ganz sicher den Einheiten des Gegners überlegen. Die Etnord allerdings blieben zahlenmäßig weit überlegen.

Umso wichtiger war die exakte Vorbereitung eines Angriffs. Und exakt diesem Ziel diente die Mission der HIRNVERTILGER.

Der Erste Stellvertreter ß’Schirr schaltete die Positionsübersicht in einen Modus, der die Absichten des Gegners besser erkennen ließ.

„Die Fremden greifen uns an“, stellte er fest.

„Und es sind wirklich keine Etnord?“, fragte ß’Goss nicht zum ersten Mal, denn die Ergebnisse der Ortung ließen genau darauf schließen. So unmöglich das auch schien.

„Es gibt unter den Etnord-Schiffe einige, die der Technik dieser Fremden zu ähneln scheinen...“, meinte der Stellvertreter.

„Aber ihnen fehlt die kristalline Außenschicht“, stellte ß’Goss fest. „Davon abgesehen dürfte es so gut wie keine Spezies geben, deren Technik diese Parasiten nicht in ihr eigenes Arsenal aufgenommen haben.“

„Diebe sind sie“, fand auch der Erste Stellvertreter. Er machte ein schmatzendes Geräusch, indem er den Saugstachel kurz und sehr abrupt nach außen stülpte. Ein Ausdruck höchster Geringschätzung, die im persönlichen Umgang manchmal noch mit dem Hinweis begleitet wurde, der andere sei ein „Hirnverächter“.

So hatte man die diejenigen genannt, die in grauer Vergangenheit trotz der Bedrohung durch die vogelartigen Feinde an der pazifistischen Ausrichtung des ersten Wsssarrr-Reichs hatten festhalten wollen und in dem Kult des Hirnessens nichts als einen Akt der Barbarei sehen wollten.

„Diebe sind sie, denn sie nehmen sich die Welten, die Körper und die Technik anderer Völker und machen sie zu ihrer eigenen“, fuhr der Erste Stellvertreter fort.

„Wir dagegen stehlen nur Hirne. Ich fürchte, wir sind einfach zu harmlos, um auf Dauer bestehen zu können...“

„Kommandant, wir sollten den Feind umgehend angreifen!“, forderte jetzt der Taktikoffizier der HIRNVERTILGER. „Sonst verspielen wir taktische Optionen.“

Der Erste Stellvertreter war derselben Ansicht. Auf der Positionsübersicht war zu sehen, wie die beiden Schiffe der Fremden die HIRNVERTILGER in die Zange nahmen.

Der Ortungsoffizier meldete wenig später, dass die andere Seite jeweils ein Miniraumschiff ausgesetzt hatte, das im ersten Augenblick sogar für eine Lenkwaffe gehalten worden war.

„Ein-Mann-Jäger!“, nannte der Taktikoffizier sie. Sein Name war ß’Moxx und nach Tradition der Flotte des Imperiums der Goldenen Häuser war es nicht der Erste Stellvertreter, der dem Kommandanten in sein Amt folgte, wenn dieser ausfallen sollte. Es war vielmehr der Taktikoffizier. Den Sinn dieser Regelung verstand zwar niemand, es stellte ihn aber auch niemand in Frage.

Jedenfalls wurde dadurch die Bedeutung unterstrichen, die der Kampftaktik und der Waffenkontrolle in der Hierarchie der Flotte zugemessen wurde.

„Kommandant?“, fragte ß’Moxx, nachdem ein quälend langer Augenblick vergangen war, ohne dass der Kommandant der HIRNVERTILGER etwas gesagt hatte.

ß’Goss vollführte eine ruckartige Bewegung mit mindestens fünf seiner Extremitäten, was seine Lage plötzlich veränderte. Sein Augenkonglomerat zog sich stark zusammen, sodass die Augen des Spinnenartigen jetzt sehr viel näher beieinander zu stehen schienen.

„Nein!“, widersprach er dann der offensichtlichen Mehrheitsmeinung auf der Brücke. „Nein, ich werde eine andere Entscheidung treffen. Diese Fremden könnten der legendäre starke Feind sein, gegen den die Etnord sehr weit von hier entfernt kämpfen mussten.“ Man hatte den Funk- und Datenverkehr der Etnord intensiv studiert und daraus Schlüsse für das künftige Vorgehen gezogen. Allerdings mündeten diese Schlüsse nicht unbedingt immer in denselben Entscheidungen, wie jetzt deutlich wurde. „Die beiden Schiffe der Fremden  haben eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die dafür sprechen, dass sie ganz einfach Kundschafter sind. Genau wie wir! Und mit den Feinden unserer eigenen Feinde dürfte doch eigentlich ein Verständnis rasch möglich sein!“

Im nächsten Moment meldete sich der Funkoffizier.

„Eine Nachricht unserer Feinde!“, meldete er.

Trifft sich das nicht wunderbar?, dachte der Kommandant.

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„Wir haben jetzt ein Antwortsignal!“, stellte Lieutenant Jamalkerim fest, während auf dem Hauptschirm der STERNENKRIEGER ein verwaschener Fleck von ineinander laufenden Farben zu sehen war.

Offenbar das Flottensymbol dieser Wsssarrr-Nation, dachte Rena Sunfrost.

Bruder Guillermo war eigens für den Kontakt mit den Wsssarrr auf die Brücke geholt worden.

Der Olvanorer sollte sein besonderes diplomatisches Geschick einsetzen.

Captain Barus von der SONNENWIND war über eine Konferenzleitung zugeschaltet. Ein Schleichflug unter Aufrechterhaltung einer möglichst weitgehenden Funkstille war unter den gegebenen Umständen ohnehin nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Davon abgesehen machte es den Eindruck, als ob es die Etnord im Augenblick herzlich wenig interessierte, dass ein Kriegsschiff der Humanen Welten in einem System auftauchte, das mitten zum Herzland des Machtbereichs der sogenannten Neuen Ordnung gehörte.

Einzig der Exodus schien sie im Moment zu beschäftigen.

Auf dem Hauptschirm erschien ein Ausschnitt aus der Brücke des gegnerischen Schiffs.

„Hier spricht ß’Goss, Kommandant des Schiffes HIRNVERTILGER im Dienst des Imperiums der Goldenen Häuser“, stellte sich der Spinnenartige vor, dessen Augenkonglomerat direkt in die Kameras sah.

„Mein Name ist Bruder Guillermo. Ich bin berechtigt, für unsere beiden Schiffe zu verhandeln. Dies ist ein Schiff des Space Army Corps der Humanen Welten, dem Sternenreich der Spezies Mensch.“

Mochte es auch in der Vergangenheit bereits Begegnungen mit Wsssarrr gegeben haben – mit den Bewohnern des Imperiums der Goldenen Häuser war dies wohl eine Premiere. 

„Ihr seid die Feinde unserer Feinde“, stellte ß’Goss fest. „Aus deren Funkverkehr wissen wir, dass Ihr Volk sich ausgedehnte Raumschlachten mit den Etnord geliefert hat. Wer weiß, vielleicht verdanken wir sogar Ihrem militärischen Geschick, dass diese Plünderer und Parasiten des Universums, uns nicht früher gefunden haben.“

„Seien Sie gegrüßt“, erwiderte Bruder Guillermo. „Wir sind nicht in feindlicher Ansicht hier – weder gegen Sie, noch gegen Ihre Feinde.“

„Neutrale Beobachter?“, fragte der Kommandant des Wsssarrr-Schiffs. „Unserer Ansicht nach ist eine Position der Neutralität moralisch minderwertig. Bei uns sagt das Axiom des guten Lebens: Entweder man schlürft das Hirn des Feindes und vereinnahmt seinen Geist oder es bekommt ein anderer. Dazwischen gibt es nichts.“

Oh, dass auch Sie in Fettnäpfen treten können, Bruder Guillermo, ist mir durchaus neu, ging es Sunfrost durch den Kopf.

Aber Bruder Guillermo ließ sich keineswegs beirren.

Er hatte seine Linie und Sunfrost bewunderte in diesem Augenblick die stoische Ruhe, mit der er sie durchhielt.

„Wir sind auf der Suche nach dem Ursprung und der Funktion der Lichtsonden, von denen eine auch ihr Schiff durchsucht hat“, stellte Bruder Guillermo fest.

Die Positionsübersicht zeigte unterdessen, dass die Sonde sich inzwischen ein ganzes Stück in Richtung Zentralgestirn vom Raumschiff der Wsssarrr entfernt hatte und offenbar zunächst einmal nicht mehr zurückkehren würde. Allerdings war das angesichts der oft abrupten Kurswechsel, die man bei diesen Objekten schon beobachtet hatte, auch nicht ganz auszuschließen.

Lieutenant Riggs hielt den Kurs der Sonde ständig mit Hilfe seiner Ortungsinstrumente im Blickfeld.

„Wir können ihnen über die Sonden auch keine weitergehenden Erkenntnisse anbieten“, sagte der Kommandant der Wsssarrr. „Wir wissen nicht einmal ob und wenn ja in welchem, sie mit den Körperräubern in einem Zusammenhang stehen.“ Der Kommandant machte eine Pause und sagte schließlich. „So wahr mein Name ß’Goss ist, der Ruf Ihrer Waffen ist Ihnen vorausgeeilt und wenn Sie identisch mit dem großen Feind sind, den die Etnord bekämpft haben und dem sie unterlegen sind, dann sollten Sie diesen Kampf fortsetzen. Alles andere wäre eine Entscheidung, die ethisch minderwertig ist.“

„Wir sehen die Erhaltung des Friedens als eine wichtige Aufgabe an, die keineswegs ethisch minderwertig ist“, sagte Bruder Guillermo.

„Ist es wahr, dass Sie den Etnord eine Krankheit geschickt haben, die sie hätte ausrotten können? Im Funkverkehr der Körperräuber war einiges darüber zu erfahren. Ich würde gerne wissen, weshalb sie diese Pest des Universums nicht ausgelöscht haben, da sie doch die Gelegenheit dazu hatten...“

„Wir haben mit den Etnord einen Zustand friedlicher Koexistenz erreicht“, erklärte Bruder Guillermo.

„Dann haben Sie tatsächlich die Macht, diese Pest des Kosmos zu vernichten? Warum tun Sie es dann nicht? Während Sie Ihren Frieden mit diesen Körperräubern geschlossen haben, breitet sich deren Machtbereich an anderer Stelle aus und bedroht ganze Zivilisationen. Aber wir werden nicht zulassen, dass die große Mutterkönigin ß’ bedroht wird. Sie kann sich auf ihre Söhne verlassen. Die ß’Wsssarrr und das Imperium der Goldenen Häuser steht auf der Seite des Guten – das Hirn der Etnord aber würden wir nicht essen, um uns nicht zu verunreinigen.“

Bruder Guillermo versuchte auf die gewohnte Weise auf den Gesprächspartner einzugehen. Aber aus irgendeinem Grund schien es ihm schwer zu fallen, sich in die Position seines Gegenübers so hineinzuversetzen, wie es nötig gewesen wäre.

Kein Wunder, dachte Sunfrost. Diese Hirnesserei ist ekelhaft und wahrscheinlich helfen auch die besten empathischen Fähigkeiten nichts, um diese Wesen verstehen zu können...

„Captain, an insgesamt dreizehn Stellen materialisieren Schiffe aus dem Zwischenraum“, meldete jetzt Lieutenant Riggs. „Möglicherweise erreichen uns weitere solcher Ortungsergebnisse erst mit zeitlicher Verzögerung.“

„Identifizierung?“, fragte Rena.

„Sie emittieren Signaturen, die mit denen des Wsssarrr-Schiffs weitgehend übereinstimmen.“

Auf dem Hauptschirm verschwand jetzt das Bild des Wsssarrr-Kommandanten, dessen Augenkonglomerat die Brückenbesatzung so intensiv angestarrt hatte.

Stattdessen erschien wieder das Symbol mit den ineinander laufenden Farben.

„Die Wsssarrr scheinen das Interesse an dem Kontakt verloren zu haben, Captain“, meldete Lieutenant Jamalkerim.

Bruder Guillermo drehte sich zu Sunfrost herum.

„Tut mir Leid, aber ich glaube, diesmal habe ich nicht den Ton getroffen, der unserem Gesprächspartner gefallen hätte!“

„Vielleicht liegt es einfach daran, dass Sie ethisch zu minderwertig sind, Bruder Guillermo“, lautete Robert Ukasis ätzender Kommentar. „Schließlich ist Hirn ja soweit ich weiß nicht gerade Ihre bevorzugte Nahrung und das zusammen mit Ihrer fatalen Neigung zur Friedfertigkeit... Das schmeckt denen nicht!“

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Sehr schnell wurde klar, dass die Wsssarrr einen groß angelegten Angriff auf das System der Sonne TASO-22111 flogen. Die ersten Energieentladungen wurden angezeigt, die von Strahlenschüssen stammten.

Die verwendeten Geschütze waren denen aus dem neuesten Waffenarsenal der Qriid um etwa zwanzig Prozent an Reichweite und Zerstörungsenergie überlegen, wie Lieutenant Riggs maß. Allerdings unterschied sich die verwendete Strahlung auch in ihrer Zusammensetzung deutlich. 

Captain Sunfrost bat Bruder Guillermo, auf der Brücke zu bleiben und sich an der Auswertung der eingehenden Ortungsdaten zu beteiligen. Schon nach kurzer Zeit war klar, dass hier eine groß angelegte Invasion begann.

„Captain, Bauart und Technik dieser Schiffe sind offensichtlich lokale Eigenentwicklungen dieses Imperiums der Goldenen Häuser“, erklärte Bruder Guillermo.

„Es ist ja wohl anzunehmen, dass es sich bei diesen Goldenen Häusern um Artefakte der Alten Götter handelt“, sagte Sunfrost.

Bruder Guillermo nickte. „Ja, ihre Brut wird irgendwann per Transmitter über eines oder mehrerer dieser Artefakte in diesen Raumsektor gelangt sein und hat dann eine unabhängige Entwicklung genommen. Aber abgesehen davon können wir nur darüber spekulieren, wie viel an Technik der Alten Götter dieser spezielle Zweig der Wsssarrr assimilieren konnte.“

„Wenn man ihre Raumschiffe einer oberflächlichen Analyse unterzieht, dann dürften sie uns nicht wesentlich überlegen sein“, meinte Lieutenant Ukasi.

„Auf jeden Fall haben sie deutlich weniger Technik der Alten Götter in ihre eigenen Systeme integriert, als es bei den Wsssarrr-Invasoren von 2237 der Fall war“, stellte Van Doren fest. Er wandte sich an Ukasi. „Oder was meinen Sie, II.O.?“

Van Doren hatte damals die PLUTO kommandiert und die Überlegenheit der Invasoren am eigenen Leib ebenso zu spüren bekommen wie ein frisch gebackener Lieutenant und Kommandant eines unterlichtschnellen Raumbootes namens Ukasi.

Ukasi wandte dem Ersten Offizier das Gesicht zu.

Ein Gesicht, das in diesem Moment völlig ausdruckslos wirkte.

Kontrolliert, dachte Van Doren.

„Ich teile Ihre Analyse. Offenbar ist es den Wsssarrr des Imperiums der Goldenen Häuser nicht so gut gelungen, den Alten Göttern die Geheimnisse zu nehmen... Seien wir froh darum.“

„Captain! Soeben materialisiert ein wahres Riesenschiff der Wsssarrr!“, meldete Ortungsoffizier Riggs. „Es hat eine Länge von mindestens drei Kilometern.“

„Unsere Dreadnoughts wirken dagegen dann wohl eher wie Beiboote“, murmelte Rudergänger John Taranos.

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ß'Goss nahm Haltung an, als der Admiral des Imperiums der Goldenen Häuser auf dem Hauptschirm erschien. Haltung annehmen bedeutete bei einem Wsssarrr, dass er mit allen Extremitäten fest auf dem Boden stand. Der Admiral wurde auf dem Bildschirm auf dem quaderförmigen, goldenen Thronsitz gezeigt. Ein Block, der an die Artefakte der Goldenen Häuser erinnerte, die es der Mutterkönigin ß’ und ihrer Brut ermöglicht hatte, den Abgrund zwischen den Sternen zu überwinden.

Dieser Block stand auf einem Sockel in der Mitte einer Zentrale, deren Ausmaße denen des riesenhaften Flaggschiffs angemessen waren.

Die ADMIRALSRESIDENZ wurde dieses Schiff genannt, denn es war viel mehr als nur das Flaggschiff einer hochgerüsteten Kriegsflotte und der Stolz der imperialen Raumfahrttechnik.

Es war gleichzeitig die Residenz des Admirals und damit faktisch ein mobiler Regierungssitz des Imperiums der Goldenen Häuser. Zu bitter waren die Erfahrungen der Vergangenheit. Die ß’Wsssarrr glaubten, die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben und so war bei ihnen die Sicherheit das entscheidende Motiv, das ihre Gesellschaft formte.

Dass sie auch weiterhin über die Transmitter der Goldenen Häuser Teile ihrer Brut auf ungewisse Reisen in alle Teile des Universums schickten, verstand sich von selbst. Je mehr unabhängig voneinander existierende Keimzellen der Wsssarrr es gab, desto eher war es gewährleistet, dass diese Spezies als Ganze überlebte. Selbst dann, wenn einzelne Staatengebilde einem Genozid zum Opfer fallen mochten. Dass diese über die gesamte Reichweite des Transmitternetzes der Erhabenen verteilten Keimzellen der Wsssarrr-Zivilisation normalerweise keinen Kontakt untereinander pflegten, war eine weitere Sicherheitsmaßnahme.

Schließlich konnten auf diese Weise auch potenzielle Feinde von diesen fernen Wsssarrr-Reichen nichts erfahren. Davon abgesehen gewährleistete die separate Entwicklung eine möglichst optimale Anpassung an die neue Umgebung und die dort vorgefundenen Bedingungen.

Der Admiral des Imperiums der Goldenen Häuser schwebte auf einem Antigravkissen, dessen Projektor unsichtbar in der Oberseite des würfelförmigen Throns verborgen war. Auf der harten Oberfläche des Quaders zu liegen, der um der Tradition  willen in keiner Weise den Bedürfnissen der Wsssarrr-Anatomie angepasst war, wollte man dem Admiral dann doch nicht zumuten.

Bequem ließ dieser seine Extremitäten an den Seiten des Antigravfeldes herabhängen. Sogar seine Greiforgane waren entspannt. Der wichtigste Entscheidungsträger des Imperiums sollte sich  voll und ganz jener Tätigkeit widmen, für die er bestimmt war.

Denken.

Und Entscheidungen treffen, die möglichst vorausschauend waren und so viel Schaden wie nur irgend möglich von den Söhnen der ß’ abzuwenden.

Die mobile Residenz des Admirals bildete für sich genommen bereits eine zusätzliche Keimzelle der Wsssarrr-Zivilisation, denn man sorgte stets dafür, dass sich genug Brut an Bord des gewaltigen Schiffes befand, um notfalls eine Kolonie gründen zu können. 

Die derzeit auf Wsssarrrama befindlichen Königinnen hatten Ausmaße erreicht, die es sowohl technisch wie medizinisch unmöglich erscheinen ließen, sie an Bord von Raumschiffen zu holen. Selbst wenn das Volumen der ADMIRALSRESIDENZ durchaus ausgereicht hätte, um die Mutterkönigin ß’ aufzunehmen, so stand ihren Söhnen derzeit noch kein Transportmittel zur Verfügung, das in der Lage gewesen wäre, sie lebendig an Bord eines im Orbit wartenden Schiffs zu bringen.

Doch man arbeitete an diesem Problem.

Der Gedanke, eines Tages bei einer feindlicher Invasion vielleicht dazu gezwungen zu sein, die Namensgeber der ß’Wsssarrr auf Grund ihres inzwischen außerordentlichen Volumens auf Wsssarrrama zurücklassen zu können, falls man nicht in der Lage war, sich der Angriffe dauerhaft zu erwehren, war der Alptraum eines jeden gewesen, der je das Amt eines Admirals innegehabt hatte.

„Ehrwürdiger Admiral!“, brachte ß’Goss hervor, während er bereits einen quälend langen Augenblick regungslos verharrte und weder die Beißwerkzeuge aneinander schaben noch den Saugstachel schmatzende Geräusche hervorbringen ließ. Das war auf Grund der Rangunterschiede in diesem Fall das ausschließliche Privileg des Admirals.

„Du hast deinen Auftrag zur Zufriedenheit erfüllt, ß’Goss“, eröffnete der Admiral. „Unsere taktische Ausgangslage ist hervorragend. Wir konnten auf Grund deiner Angaben die Materialisationspunkte unserer Flotte äußerst effektiv wählen.“

„Danke, erhabener Admiral.“

ß’Goss wusste, welch große Ehre ihm durch dieses Lob zuteil wurde. Der Admiral ließ sich nicht oft zu solchen Äußerungen herab. Lobende Worte fördern nur die Selbstzufriedenheit, lautete ein Axiom der Bruterziehungslehre – und die allermeisten ß’Wsssarrr waren der Überzeugung, dass sich dieser Lehrsatz auch auf alle anderen Lebensbereiche ausdehnen ließ.

„Es bewegen sich zwei Objekte auf dein Schiff zu, bei denen es sich mit Sicherheit nicht um Schiffe der Körperräuber handelt“, stellte der Admiral dann fest.

ß’Goss lieferte dazu eine kurze Zusammenfassung. „Es handelt sich um den mysteriösen großen Feind der Etnord“, erläuterte er.

„Aber das bedeutet in diesem Fall nicht, dass sie unsere Freunde sind“, gab der Admiral zurück. Dabei hob er zur Betonung seiner Worte zwei unterschiedlich große Extremitäten leicht an und krampfte die Greiforgane so zusammen, dass kugelähnliche Gebilde entstanden. „Sie sind als Feinde zu betrachten – ohne Wenn und Aber!“

„Aber erhabener Admiral...“

„Gibt es substantielle Einwände?“

„Sie könnten uns als Verbündete nützlich sein  - selbst unter der Voraussetzung, dass sie derzeit ihren Frieden mit den Körperräubern geschlossen haben – aus welchen Gründen auch immer.“

„Diese Gründe sind durchaus von Belang“, erwiderte der Admiral. „Der mysteriöse Feind hatte die Möglichkeit, Pestilenz der Körperfressenden Etnord vollkommen vom Antlitz des Universums zu tilgen.“

„Das hat mir mein Verhandlungspartner bestätigt“, erwiderte ß’Goss.

„Siehst du!“, vermeinte der Admiral einen bekräftigenden Gesichtspunkt für seine Argumentation gefunden zu haben. „Die ß’Wsssarrr sind zivilisiert. Auch wenn die Etnord uns wegen einiger unserer Gebräuche ebenso verachten wie viele andere Völker, so können wir stolz auf eine weit gespannte, erhabene Zivilisation sein, die wir geschaffen haben.“ 

Der Begriff erhaben war sehr bewusst vom Admiral benutzt worden. Er tat dies des Öfteren, vor allem bei Anlässen, zu denen er öffentliche Reden halten musste, die dann im gesamten Imperium der Goldenen Häuser übertragen wurden, sodass alle ß’Wsssarrr daran teilhaben konnten.

Ganz bewusst spielte er damit auf die Selbstbezeichnung jener geheimnisvollen Spezies an, die vor einer Million Jahren über weite Teile der Galaxis geherrscht und dabei ein wissenschaftlich-technisches Niveau an den Tag gelegt hatte, wie es seitdem wohl von keiner Spezies mehr erreicht worden war.

Zumindest nicht in diesem Teil des Universums.

Das generell beurteilen zu wollen, wäre natürlich vermessen gewesen.

„Werter Kommandant ß’Goss, dein Übereifer verblendet dir den feineren Sinn für Ethik. Alle Krieger sind in der Gefahr, dass ihnen das passiert. Aber wie ich schon zu betonen versuchte: Wir sind zivilisiert und erhaben - so erhaben, dass man uns mit Fug und Recht als die Erben jener Großen bezeichnen kann, die vor einer Million Jahren verschwanden von deren Hinterlassenschaften wir noch heute profitieren.“

ß’Goss lag eine Erwiderung in der Fressöffnung und am liebsten hätte er vor lauter Widerspruchsgeist mit den Beißwerkzeugen nur so geknarrt und sie auf eine Weise gegeneinander geschabt, die ohrenbetäubende Laute erzeugte.

Aber das unterdrückte er.

In moralischen Fragen mit dem Admiral zu diskutieren war schlechterdings kaum möglich, denn nach den Vorstellungen der ß’Wsssarrr war er gerade darin die letzte Instanz.

Der, der entscheidet, was gut und richtig ist und seinen Nachfolger beizeiten selbst bestimmt, bevor ihn die Kräfte des Körpers und des Geistes verlassen - mit dieser Umschreibung wurde das Admiralsamt in den Gesetzestexten umschrieben.

Und dieser Amtsträger legte darauf ganz besonderen Wert.

Das hatte er schon bei früheren Entscheidungen mehr als deutlich gemacht.

„Wir dürfen auch im Krieg ums Überleben nicht alles tun, was uns die Effektivität gebieten mag“, rezitierte er einen Satz, den der Admiral selbst nachhaltig geprägt hatte. „Es würde von niederer, inkonsequenter Ethik zeugen, wenn wir mit denjenigen das Bündnis suchten, die das Böse ausrotten konnten und es nicht getan haben. Was könnte man schlimmeres über jemanden feststellen? Nein, der mysteriöse Feind unseres Feindes ist zweifellos selbst böse und wir werden ihn daher als Feind betrachten und umgehend angreifen.“

„Ja, erhabener Admiral“, gab Kommandant ß’Goss zurück.

„Wir lassen uns nicht zu bloßem Opportunismus, Utilitarismus oder Prinzipienlosigkeit herab – nur um vielleicht einen kurzfristigen Vorteil zu gewinnen.“

„Nein, erhabener Admiral.“

„Also töte die Feinde unserer Feinde!“

„Wie du befiehlst!“

„Leider sind unsere Waffen inzwischen dermaßen wirkungsvoll, dass es nach einem Raumgefecht zumeist keine Überlebenden mehr gibt, deren Hirne wir uns einverleiben könnten. Ob wir da die Grenze zum unzulässigen Utilitarismus schon überschritten haben, mag man vielleicht in ruhigeren Zeiten intensiv überdenken...“

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Auf dem Hauptbildschirm der STERNENKRIEGER waren mehrere Explosionen zu erkennen.

Titus Naderw, der Pilot es einzigen Jägers des Sondereinsatzkreuzers, meldete sich über einen Audiokanal.

„Drei Lenkwaffen zerstört!“, meldete der Jägerpilot.

Über die Konferenzverbindung mit der SONNENWIND war zu hören, dass Erroll Alkabani, der Pilot des Jägers der SONNENWIND ähnlich erfolgreich agiert hatte.

„Diese Schweinehunde!“, zischte Ukasi. „Die müssen die Lenkwaffen bereits abgeschossen haben, während ihr Kommandant sich noch mit Bruder Guillermo unterhalten hat! Die hatten überhaupt nicht vor, einen Dialog zu beginnen!“ Ukasis Gesicht wurde von einer dunklen Röte überzogen. „Aber was kann man von diesen Bestien auch anderes erwarten...“

„Ich habe die Bahnen der Lenkwaffen zurückberechnet“, meldete sich Lieutenant John Taranos zu Wort. „Sie wurden erst nach Beendigung des Funkkontakts mit der STERNENKRIEGER abgeschickt. Es gibt da keinen Zweifel.“

Rena Sunfrost hob die Augenbrauen. Ukasi hat sich verrechnet? Das kommt nicht häufig vor... Der Waffenoffiziere war mit dem Kopf schneller als viele seiner Kollegen mit Hilfe des Rechners.

„Nach dem Funkkontakt mit uns gab es übrigens noch einen ziemlich datenaufwendigen, aber gut getarnten Kontakt über eine besondere Zwischenraumfrequenz, die nicht dem ansonsten im Schiff-zu-Schiff-Funkverkehr der Wsssarrr-Einheiten üblichen Signal entspricht“, mischte sich nun Susan Jamalkerim ein. „Captain, mir fehlt zwar der letzte Beweis, aber ich nehme an, dass dies ein Kontakt mit dem neu aufgetauchten Drei-Kilometer-Gigantenschiff gewesen ist.“

„Das ergibt einen Sinn“, fand Rena Sunfrost. „Der Kommandant hat schlicht und ergreifend einen neuen Befehl bekommen.“

„Und der lautete Angriff!“, zog Steven Van Doren den einzig logischen Schluss.

Sunfrost nickte.

Auf der Positionsübersicht war erkennbar, dass das Wsssarrr-Schiff sich der STERNENKRIEGER näherte. Die SONNENWIND hatte inzwischen ihren Kurs etwas modifiziert.

„Wir erreichen in einer Viertelstunde Gefechtsdistanz“, meldete Lieutenant Riggs. „Bei der Sonnenwind ist das in 20 Minuten der Fall...“

„Geben Sie mir die Erlaubnis zu schießen, sobald die Gefechtsdistanz erreicht ist!“, forderte Ukasi. „Schicken Sie Naderw mit dem Jäger auf einen Kurs von 368 Grad und lassen Sie ihn dann in einer Kurve sich der Einheit nähern.“

„Wir werden erst versuchen, noch einmal Kontakt herzustellen“, widersprach Sunfrost. „Lieutenant Jamalkerim, senden Sie eine dringende Bitte um Fortsetzung des Kontakts an das Wsssarrr-Schiff.“

„Aye, aye, Captain“, bestätigte die Funkoffizierin. Sie nahm in großer Eile ein paar Einstellungen an ihrer Konsole vor.

Aber schon nach kurzer Zeit schüttelte sie den Kopf.

„Wir bekommen keinen Kontakt.“

„Versuchen Sie es weiter!“

„Aber...“

„Noch sind wir nicht in Gefechtsdistanz...“

Rena Sunfrost erhob sich von ihrem Kommandantensitz.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Die von den Wsssarrr abgefeuerten – und offensichtlich sehr gut gegen verräterische Emissionen abgeschirmten – Lenkwaffen waren eine Tatsache.

Aber bis zum erreichen der Gefechtsdistanz gab es ein paar Minuten, in denen die Eröffnung eines Raumgefechts für beide Seiten einfach keinen Sinn hatte. Und vielleicht konnte man den Ausbruch eines Konflikts mit den Wsssarrr des sogenannten Imperiums der Goldenen Häuser sogar noch verhindern.

„Tut mit Leid, Captain, wir werden abgewiesen“, stellte Susan Jamalkerim die Lage ungeschminkt dar.

Sunfrost kontaktierte Chip Barus von der SONNENWIND im Konferenzmodus.

„Möglicherweise haben wir irgendeine Kommunikationskonvention der anderen Seite verletzt, ohne es auch nur zu ahnen“, vermutete Barus. „Mein Funkoffizier versucht es weiter.“

Bruder Guillermo konnte sich dieser Auffassung nicht anschließen. Er runzelte die Stirn, in deren Mitte eine tiefe Furche vom Nasenansatz an bis zum beginn des Haarwuchses erschien.

Er schüttelte zunächst nur stumm den Kopf, so als würde er inzwischen sowohl an seinen empathischen als auch an seinen kommunikativen Fähigkeiten zweifeln. „Da muss mehr dahinter stecken als nur irgendein kleines Missverständnis. Der Befehl zum Angriff kam von dem riesigen Flaggschiff, da bin ich mir sicher.“

„Können Sie die Transmission entschlüsseln?“, fragte Sunfrost.

„Dazu bräuchte man neunzig Prozent der Computerressourcen – und das über mehrere Tage“, verneinte der Olvanorer.

Dann meldete die SONNENWINd den Austritt von insgesamt sieben Wsssarrr-Schiffen in einem Abstand von nicht einmal 0,2 AE.

„Ich habe die Schiffe jetzt auch auf dem Schirm“, bestätigte Lieutenant Riggs. „Das sieht für mich nach einer Angriffsformation aus.“

„Und was die Bremswerte angeht sind uns die Wsssarrr-Raumer sogar leicht überlegen, wenn ich das richtig beurteile“, ergänzte John Taranos.

Sunfrost atmete tief durch.

„Die wollen es nicht anders“, meinte Chip Barus über Funk.

„Sollen sie ihr Raumgefecht haben“, murmelte Sunfrost düster.

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Währenddessen war die Schlacht weiter im Inneren des Systems TASO-23111 schon in vollem Gang. Der gerade formierte Konvoi wurde von den ß’Wsssarrr gnadenlos angegriffen. Frachter und Passagierschiffe, die allenfalls notdürftig mit einem leichten Strahlengeschütz aufgerüstet worden waren, zerbarsten unter dem geballten Strahlenfeuer der Angreifer. Immer wieder wurden Schiffes des Konvois durch die Kraft gewaltiger Explosionen auseinander gerissen.

Die Systemverteidigung der Etnord war in der Defensive.

Viele der kleineren Raumboote, die ansonsten der Verteidigung gedient hatten, waren zum Transport von Passagieren von der Oberfläche in den Orbit abgestellt worden und mussten nun schleunigst reaktiviert werden.

Einzelne Wsssarrr-Einheiten flogen mitten in die Pulks von Raumschiffen hinein, die sich überall im System TASO-23111 bildeten. Die Angreifer warteten oft bis zum letzten Moment damit, das Feuer zu eröffnen, um dann einen umso größeren Schaden anzurichten.

Hier und da gab es natürlich auch Verluste unter den Wsssarrr. Aber die waren vergleichsweise gering. Auf ein zerstörtes Wsssarrr-Schiff kamen mindestens zehn Einheiten des Gegners, wobei es sich da nun wirklich nicht nur um Kriegsschiffe handelte. 

Der Vier-Kilometer-Koloss bremste nach seiner Materialisation mit Werten ab, die für ein Objekt dieser Größe mehr als erstaunlich waren und die Schlachtschiffe der Dreadnought-Klasse oder die Carrier weit in den Schatten stellten. Aus Hunderten von Geschützbatterien wurden  Strahlenschüsse abgegeben. Gleichzeitig verließen Hunderte von Lenkwaffen ihre Silos. Diese Lenkwaffen hatten Geschwindigkeiten von maximal 0,25 LG, suchten sich allerdings ihre Ziele selbst.

Mit den Schiffen des Etnords-Konvois hatten sie leichtes Spiel. Dutzende, auch sehr großer und voll besetzter Frachtschiffe fielen den Lenkwaffen zum Opfer, die jeweils über bis zu sechzehn Sprengköpfe verfügten. Manche der Konvoi-Schiffer riss es dann regelrecht auseinander. Glühende Metallteile irrlichterten durch das All und trafen andere Einheiten des Konvois. Wolken aus kondensierendem Sauerstoff und Kühlgasen quollen ins All. Teile der kristallinen Außenschicht, durch die sich nahezu sämtliche von den Etnord übernommenen Schiffe auszeichneten, geisterten als zusammengeschmolzene Brocken durch die Schwärze des Alls. Mitunter kollidierten sie mit anderen Schiffen und brachten sie zur Havarie.

Da schon die Umstände bei regulärem Transport oft an der Grenze des Verantwortbaren gewesen waren, gab es so gut wie keine Rettungskapseln oder Überlebende in Beibooten - denn diese Beiboote hatten zumeist als selbständige Konvoi-Einheiten fungieren müssen. Sofern sie keine eigenen Überlichttriebwerke hatten, waren sie mit Hilfe von Traktorstrahlen ins Schlepp genommen worden.

Wenn eine der überlichtschnellen Schlepper-Einheiten bereits kurz vor Erreichen der Eintrittsgeschwindigkeit in den Zwischenraum war, und dann von einem Breitband-Strahlenschuss der Wsssarrr-Schiffe außer Gefecht gesetzt oder gar zur Explosion gebracht wurde, dann wurden die unterlichtschnellen Begleiter ins All geschleudert. Sie hatten keine Chance mehr, in den Zwischenraum zu materialisieren. Manche dieser Einheiten waren für Geschwindigkeiten um die 0,4 LG auch gar nicht konstruiert – zumindest nicht, um den dabei wirksamen Gewalten für längere Zeit standzuhalten.

Die meisten wurden dann ein Opfer kleinerer Kampfeinheiten der Wsssarrr.

Manchmal wurden sie aber auch einfach ignoriert, in der Gewissheit, dass diese Schiffe ohnehin kaum Schaden anrichten konnten. Selbst dann nicht, wenn sie über eine Bewaffnung verfügten, was längst nicht immer der Fall war.

Die Kampfverbände der ß’Wsssarrr gingen mit tödlicher Konsequenz und vor allem einer beängstigenden Effektivität vor. Sie konzentrierten sich zunächst darauf, die kampffähigen Einheiten zu vernichten.

Besonderes Augenmerk legten sie dabei auf die Verfolgung von Schiffen, die die Etnord von den Fulirr übernommen hatten. Denn diese Schiffe verfügten über die gefürchteten Antimaterie-Waffen, deren künstliche Mini Black Holes alles in sich hinein sogen.

Allerdings waren diese ehemaligen Fulirr-Schiffe natürlich angesichts der Lage im System TASO-23111 nicht uneingeschränkt einsatzfähig. Die Antimateriewaffen konnten nur dort verwendet worden, wo nicht die Gefahr bestand, dass Teile des eigenen Konvois mit hinter den Ereignishorizont der Mini Black Holes gerissen wurden.

Die Wsssarrr-Schiffe machten regelrecht Jagd auf die ehemaligen Fulirr-Schiffe, denn sie wussten genau wie gefährlich diese werden konnten – selbst für eine so gigantische Einheit wie das Flaggschiff des Imperiums der Goldenen Häuser.

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Jason Montesculon wurde mehrere Meter durch den Raum geschleudert. Er landete glücklicherweise auf einem der amöbenartigen Seglaner, sodass er relativ weich aufkam.

Der Seglaner fand das allerdings weit weniger angenehm, denn nicht nur sein schwimmender Nervenknoten, sondern auch das Etnord-Implantat wurden auf für dieses Wesen außerordentlich unangenehme Weise gequetscht.

In dem Frachter herrschte das vollkommene Chaos.

Eine Ansage hatte die Passagiere des Konvoi-Schiffs davor gewarnt, dass ein Angriff durch Wsssarrr-Einheiten unmittelbar bevorstand.

Diese Stimme war mitten in der ziemlich schrillen Übersetzung ins Pardanische verstummt.

Dann war nur noch eine starke Erschütterung sowie mehrere Explosionen im Maschinentrakt zu spüren gewesen.

Alles fiel übereinander und es musste Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Verletzten geben.

Und nicht alle kamen so glimpflich davon wie der amöbenartige Seglaner mit dem gequetschten Implantat oder Jason Montesculon, dem zunächst – abgesehen von ein paar Prellungen – nichts geschehen war.

Augenblicke später konnte Montesculon kaum atmen. Eine gallertartige Flüssigkeit vergoss sich über ihm. Der Chor aus kreischenden, quiekenden oder tief grunzenden Stimmen verstummte für ein paar Augenblicke, als sich einiges von dem Gallert auch über seine Ohren legte.

Einem Seglaner war offensichtlich die nicht sehr stabile Außenmembran geplatzt.

Montesculon ruderte verzweifelt mit den Armen und glaubte schon, ersticken zu müssen.

Dann kam die Erleichterung – und das im ganz und gar wörtlichen Sinn.

Er fühlte kein Gewicht mehr und hob vom Boden ab.

Offenbar hatte einer der Treffer, die das Schiff erhalten hatte, die künstliche Schwerkraft in Mitleidenschaft gezogen. Alles schwebte jetzt – auch die Gallertmasse, die einst das Körperinnere eines Seglaners gewesen war. Sie bildete nun tropfenartige Strukturen.

Jason Montesculon ruderte ein Stück empor, stieß sich von einem bärenartigen Pardaner ab, der schrill quiekte, was aber wohl weniger mit Montesculons Stoß zu tun hatte. Dem Pardaner steckte nämlich ein Metallgegenstand im Auge, bei dem es sich um ein rohrförmiges, wahlweise aus Platin oder Gold bestehendem Zieraccessoire handelte, das von Pardanern – auch etnordisierten – häufig getragen wurde.

Jason Montesculon versuchte, irgendwo Halt zu finden, denn er fürchtete, dass die künstliche Schwerkraft vielleicht plötzlich wieder in Betrieb ging und dann plötzlich alle zu Boden fielen.

Welche Seite dann auch immer DER BODEN sein mochte. Bei Frachtern ließ sich die künstliche Schwerkraft nämlich normalerweise auf jede der sechs Seiten eines Laderaums ausrichten.

Wenn viele Kleinteile transportiert wurden, konnte es sogar die Ordnung erheblich erleichtern, die künstliche Schwerkraft von allen sechs Seiten aus gleichzeitig wirksam werden zu lassen, was eine sehr gute Abstimmung der Projektoren untereinander voraussetzte.

In so einem Lagerraum war es dann möglich, genau in der Mitte frei zu schweben, da die Schwerkraft dort von allen Seiten gleichmäßig ihre Anziehungskraft ausübte.

In den Frachtern, die umfunktioniert worden waren, um es möglichst vielen Etnord zu ermöglichen in möglichst kurzer Zeit dem Ruf zu folgen, hatte man das ursprünglich auch so einstellen wollen – in der Hoffnung dann die sechsfache Menge an Passagieren transportieren zu können.

Dem hatte allerdings das in einem solchen Frachtraum zur Verfügung stehende Volumen an Atemluft entgegengestanden.

Insbesondere die Atmung der Pardaner war außerordentlich Sauerstoff intensiv. Schon unter den gegebenen Umständen war es für Wesen mit empfindlicher Nase oder erhöhten Ansprüchen an die Qualität der Atemluft nur schwer erträglich, sich unter den Passagieren aufzuhalten.

Wenn die ursprünglichen Pläne in die Tat umgesetzt worden wären, hätte man mit Erstickungsopfern und Hunderten von Kreislaufzusammenbrüchen rechnen müssen.

Aber der Tod wartete nun wohl auch so auf diejenigen, die einen Platz auf einem der Transporter gefunden und damit die Gelegenheit bekommen hatten, dem Ruf zu folgen.

Das Glücksgefühl, diese außerordentliche, mit nichts anderem zu vergleichende freudige Erwartung, die Jason Montesculon so sehr erfüllt hatte, als er endlich den Orbitalflug hinter sich gehabt und das große Schiff betreten hatte, war so gut wie völlig verschwunden.

Nichts war von der Euphorie geblieben, die ihn zeitweilig die Frage hatte stellen lassen, was eigentlich so interessant an der Erforschung komplexer biochemischer Prozesse war, denen er bis dahin sein Leben gewidmet hatte.

Jetzt erfüllte ihn nichts als Angst.

Nackte, pure Todesangst.

Aber da war noch eine Komponente, die über gewöhnliche Todesangst hinausging.

Es gab nicht viele Momente im Leben des Jason Montesculon, die sich unter diesen Begriff subsumieren ließen. Was den Menschen Jason Montesculon an betraf, der einst seinen Wirtskörper beherrscht hatte, konnte man das nicht mehr sagen, denn dessen Bewusstsein existierte nicht mehr – und dementsprechend auch nicht mehr die persönlichen Erinnerungen.

Für den Etnord namens Montesculon traf das aber ohne Zweifel zu.

Während des Krieges gegen die Menschen hatte er in den Streitkräften des Herrn gedient und war unter anderem damit beschäftigt gewesen, vielleicht doch noch in letzter Minute ein Gegenmittel gegen den grausamen Anti-Etnord-Virus zu finden, mit dem die Menschheit und ihre Verbündeten die Ausbeutung der Neuen Ordnung schlussendlich gestoppt hatten. Im Rahmen dieses Dienstes hatte einmal für kurze Zeit der Verdacht bestanden, dass Montesculon sich mit dem Virus infiziert hatte.

Der Verdacht hatte sich als unbegründet herausgestellt.

Ein medizinisches Messinstrument – ironischerweise von ihm selbst zur schnelleren Detektion bestimmter biochemischer Prozesse entwickelt – hatte blinden Alarm geschlagen, weil die Parameter mit zu geringer Toleranz eingegeben gewesen waren.

Aber die Zeit bis zur Aufklärung dieses Irrtums hatte vollkommen ausgereicht, um zu erfahren, was Todesangst war.

Diese Erfahrung war gründlich und tief gehend genug, um ihn den Unterschied zur jetzigen Situation erkennen zu lassen.

Meine Sorge gilt in Wahrheit nicht mir!, erkannte er, während er nach einem weiteren, sehr heftigen Ruck und dem Zusammenprall mit einem leblos wirkenden und aus den Ohren blutenden Etnord-Fulirr, weiter der Raummitte entgegen schwebte. Meine Furcht gilt allein der Tatsache, dass ich dann wohl nicht mehr in der Lage sein werde, dem Ruf zu folgen...

Er hatte nur wenige Augenblicke Zeit, sich dem Entsetzen über diese Erkenntnis zu widmen, denn dann platzte ein Teil aus einer der Wände der Frachträume.

Ein pfeifendes Geräusch entstand.

Es hatte Ähnlichkeit mit den Geräuschen, die bei den gefürchteten Stürmen auf der Südhalbkugel von Taralon III zu hören waren.

Ein Luftzug erfasste nicht nur Jason Montesculon, sondern mit ihm Dutzende anderer Etnord. 

Ein Schwall von gallertartiger Körperinnenmasse eines aufgeplatzten Seglaners kam ihm entgegen. Die leere Außenmembran klatschte ihm wenig später an den Kopf. Er stieß schmerzhaft mit den Zähnen eines Pardaners zusammen, der mit  geöffnetem Maul auf ihn zu schwebte.

Der Pardaner war bereits nicht mehr am Leben.

Gegen die Sogwirkung, der sie alle ausgesetzt waren ließ sich nicht das Geringste ausrichten. Die Atemluft entwich in den Weltraum und der Druckabfall innerhalb des Frachtraums war enorm.

Jason Montesculon hatte das Gefühl, als würde ihm das Innerste nach außen gewendet und als würde jemand versuchen ihm die Lunge und das Etnord-Implantat aus dem Leib zu reißen.

Immer schneller flog er nach oben, wobei dieser Begriff inzwischen jeglichen Sinn verloren hatte und nur im Hinblick auf die zuvor vorherrschende und daher gewohnte Ausrichtung der Schwerkraft noch eine gewisse Berechtigung hatte. Auch der Verstand eines Etnord kam nicht unbedingt mit, wenn sich die Verhältnisse auf den Kopf stellten...

Jason Montesculon prallte gegen die Decke des Frachtraums. Dutzenden, ja Hunderten weiterer Etnord ging es ähnlich.

Für die amöbenähnlichen Seglaner, denen dies widerfuhr, war der Schrecken damit vorbei, denn wenn deren Außenmembran nicht schon zuvor durch den Druckabfall zerplatzt war, dann geschah dies spätestens beim Aufprall.

Die Pardaner hatten einen widerstandsfähigeren Körper. Sie stießen vor Schmerz quiekende Laute aus, die sich mit einem furchtbaren Röcheln mischten, denn ebenso wie Montesculon bekamen sie jetzt kaum noch Luft.

Montesculon rutschte langsam auf den Hüllenbruch zu. Die Luft wurde immer dünner. Der herrschende Luftstrom war stärker als jeder Sturm, den Montesculon bisher erlebt hatte.

Zusammen mit anderen wurde Montesculon hinaus in den Weltraum gerissen. Der Körper eines haarigen Pardaners verhinderte, das Montesculon an den scharfen Kanten des Hüllenbruchs vorbei schrammte. Dem Pardaner wurde ein Arm abgeschnitten und der Hals bis zum Knochen durchtrennt. Aber Jason Montesculon bekam nicht mehr mit, wie das ausschießende Blut des Pardaners zu Kristallen gefror. Genauso wenig nahm er noch die Lichtblitze überall wahr. Die Myriaden von Sternschnuppen, die doch in Wahrheit nichts als aufglühende Trümmerteile waren.

Es ist beinahe so, wie es hätte sein sollen, das war Montesculons letzter Gedanke. Wir alle, die wir dem Ruf gefolgt sind, zusammen an einem Ort mitten im All... Es ist nur leider der falsche Ort...

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Lieutenant Commander Robert Ukasi koordinierte den Einsatz der einzelnen insgesamt zehn schwenkbaren Gauss-Geschütze an Bord der STERNENKRIEGER. Mittlerweile war die Gefechtsdistanz unterschritten und es wurde aus zumindest den nach vorne ausgerichteten Rohren geschossen.

Aber die vier rückwärts ausgerichteten Gauss-Geschütze würden wohl auch noch zum Einsatz kommen, denn einige der in die Kampfhandlungen gegen den Exodus-Konvoi der Etnord verwickelten Einheiten der ß’Wsssarrr hatten inzwischen den Kurs geändert und näherten sich.

Bei den Etnord war der militärische Widerstand ohnehin inzwischen mehr oder weniger zusammengebrochen. Die Schlacht mit ihnen nahm immer mehr die Form eines Gemetzels an. Eine Konvoi-Einheit nach der anderen wurde getroffen und zerstört.

Aber auch die SONNENWIND hatte bereits mehrere Strahlentreffer hinnehmen müssen. Drei ihrer Gauss-Geschütze waren derzeit nicht mehr einsetzbar.

„Hier Naderw“, meldete sich der Jäger-Pilot der STERNENKRIEGER. „Ich komme jetzt in die relevante Zone.“

„Feuer einstellen“, befahl Ukasi den Waffenoffizieren an den Gauss-Geschützen. Schließlich sollte nicht der eigene Jäger getroffen werden.

Naderws Jäger war im Grunde eine Gauss-Kanone mit aufgesetzter Pilotenkabine und Mesonenantrieb, was die Maschine ausgesprochen wendig machte.

Naderw flog exakt auf das Schiff von Kommandant ß’Goss zu. Je näher er die Mündung des Gauss-Geschützes an sein Ziel heranzubringen vermochte, desto besser.

Dann schaltete Naderw seine Maschine auf Dauerfeuer.

Es gab einen Treffer.

Ein Gauss-Geschoss schlug in das Wsssarrr-Schiff ein, riss ein zehn Zentimeter durchmessendes Loch in die Außenhülle und fräste einen faustgroßen Kanal mitten durch das Schiff.

Je nach dem, welche Areale und technischen Systeme von dem Treffer in Mitleidenschaft gezogen wurden, bedeutete so ein Treffer das Ende in einer Fusionssonne oder als mehr oder minder manövrierunfähiges Wrack.

„Teile der Außenverkleidung platzen ab. Es scheint Brände an Bord des gegnerischen Schiffs zu geben“, meldete Lieutenant Riggs.

„Was mit Naderw?“, wollte Sunfrost wissen.

„Er fliegt noch immer auf das Schiff zu“, gab Lieutenant Riggs Auskunft.

„Jamalkerim, sagen Sie ihm, dass er den Abstand vergrößern und zurückkehren soll!“, befahl Sunfrost.

Ihr fiel das angespannte Gesicht von Lieutenant Commander Ukasi durchaus auf. Das war nicht die Art von Anspannung, die ganz normal in einem Gefechtseinsatz war und die ein Angehöriger der Raumstreitkräfte auch aushalten können musste.

Nein, das ist etwas anderes..., erkannte Captain Sunfrost.

„Ich nehme an, dass Naderw den zweiten Treffer suchen wird“, glaubte Ukasi.

„Aber dann riskiert er, dass die entstehende Atomsonne ihn erwischt“, gab Van Doren zu bedenken.

Einen zweiten Treffer gab es zwar, aber er war nicht entscheidend. Das Gauss-Geschoss aus dem Lauf des Jäger-Geschützes traf einen kuppelähnlichen Aufbau auf dem Wsssarrr-Schiff und schlug so heftig dort ein, dass die anschließende Explosion nahezu nichts davon übrig ließ.

Der Aufbau platzte einfach weg und innerhalb weniger Augenblicke existierte er nicht mehr.

Einige Wsssarrr wurden zusammen mit den auseinander gesprengten Einzelteilen ins All geschleudert.

Jetzt erst drehte Naderw ab.

Er sendete über die Audiofunkverbindung zur STERNENKRIEGER eine Meldung, nach der er innerhalb von sieben Minuten aus der Gefahrenzone sei.

Erroll Alkabani, seines Zeichens Jägerpilot jener Maschine, die die SONNENWIND bedarfsweise ausklinken konnte, war indessen auf dem Weg in Richtung einer Gruppe von weiteren Wsssarrr-Schiffen, die sich in einer geschlossenen, keilförmigen Kampfformation näherten. Noch war Alkabani nicht auf Gefechtsdistanz herangekommen. Er drosselte die Geschwindigkeit und bezog gewissermaßen einen vorgeschobenen Posten. Für die Verteidigung der SONNENWIND bildete er eine zusätzliche taktische Option. Und die hatte das Schiff von Captain Barus auch bitter nötig, denn der Sondereinsatzkreuzer SONNENWIND hatte während des bisherigen Verlaufs des Gefechts bereits schlimme Schäden abgekommen.

Als schließlich auf der Positionsübersicht erkennbar wurde, dass Naderw seine Ankündigung tatsächlich wahr machte und sich aus der Gefahrenzone zurückzog, atmete Rena Sunfrost innerlich tief durch.

Dass eigene Leute ums Leben kamen, wenn es zum Raumgefecht kam, das hatte sie inzwischen zu akzeptieren gelernt. Aber gewöhnen konnte sie sich daran auf keinen Fall und wenn jemand unter ihrem Kommando starb - womöglich noch in Ausübung eines Befehls, den sie angeordnet hatte! – dann sah sie das als eine persönliche Niederlage an. 

Inzwischen meldete die SONNENWIND einen Treffer des  Jägerschützen Alkabani. Eines der zuletzt materialisierten Schiffe barst auseinander, nachdem mindestens drei Gauss-Geschosse ihre Schusskanäle durch das Schiff gezogen hatten.

Alkabani hatte rechtzeitig abgedreht, sodass ihn die Auswirkungen der Explosion nicht mehr treffen konnten. Das Wsssarrr-Schiff blähte sich auf. Ein Ballon aus rot weißer Glut dehnte sich immer mehr aus. Seine äußeren Schichten holten die davon geschleuderten Trümmerteile ein und hüllten sie in das entstandene ultraheiße Plasma.

Ein anderes herannahendes Wsssarrr-Schiff wurde von einer Geschützsalve der SONNENWIND voll erwischt, sodass Taktikoffizier Lieutenant Commander Webber J. Davidson dessen Vernichtung melden konnte.

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„Das Schiff dieses ß’Goss muss unglaubliches Glück gehabt haben“, meinte Van Doren. „Naderws Geschosse sind offenbar an den neuralgischen Punkten vorbei gegangen.“

„Das Schiff ist ein manövrierunfähiges Wrack“, stellte John Taranos fest. „Es wird auf jeden Fall keinen Schaden mehr anrichten können. Weder bei uns noch bei den Etnord.“

„Dass der Tag kommt, an dem ich mit denen mal Mitleid haben werde, hätte ich auch nicht gedacht“, sagte Susan Jamalkerim.

„Die Fähigkeit zum Mitleid im Sinne von Mitgefühl ist immer und in jeder Situation vorhanden“, erklärte Bruder Guillermo. „Es gibt allerdings Situationen, in denen der Mensch leider dazu neigt, diese Dimension völlig auszublenden.“

„Captain, wenn ich die Positionsübersicht richtig beurteile, dann werden wir einen Zeitkorridor von etwa einer Stunde haben, ehe die nächsten Kampfschiffe dieses Wsssarrr-Imperiums der Goldenen Häuser in Gefechtsdistanz kommen“, sagte Van Doren. „Nach meiner Simulation könnten wir  rechtzeitig auf vierzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit kommen, um in den Sandström-Raum zu entmaterialisieren, ehe die anderen Wsssarrr-Einheiten uns erreichen.“

„Sie haben Recht – abgesehen davon, dass wir hier ohnehin nichts erreichen könnten, ist das auch nicht unser Krieg“, stimmte Sunfrost zu. Sie waren hier her gekommen, in der Hoffnung mehr über den Herkunftsort der Lichtsonden zu erfahren, der wahrscheinlich mit dem Zielort der Konvois identisch war.

Aber zum ersten war das System TASO-23111 offensichtlich nur ein Sammelpunkt und keineswegs der Endpunkt der mysteriösen Reise, die derzeit ungezählter Schiffe der Etnord angetreten hatten – und zum zweitens war es angesichts der gegenwärtig vollkommen chaotischen Lage hier auch sehr unwahrscheinlich, dass man noch zu irgendwelchen weitergehenden Erkenntnissen gelangen konnte.

Sunfrost nahm Kontakt mit Barus auf, der diese Ansicht teilte.

Beinahe gleichzeitig meldete Lieutenant Susan Jamalkerim den Eingang eines Notrufs von Kommandant ß'Goss Schiff.

„Es handelt sich lediglich um eine Audio-Spur“, vermeldete Jamalkerim.

„Hören wir uns an, was unser Gegner zu sagen hat“, sagte Sunfrost.

„Dem Stimmprofil nach handelt es sich um die Stimme eines Menschen“, sagte Jamalkerim.

Sunfrost hob die Augenbrauen.

Ukasi ebenfalls.

Dann ging der Notruf über die Lautsprecher in der Brücke der STERNENKRIEGER.

Eine Anzeige im linken unteren Rand des Panorama-Schirms zeigte an, dass das Signal schwere Schäden aufwies und teilweise nicht rekonstruierbar sowie von schlechter Qualität sei.

„Hier spricht Maria Smith. Kann mich jemand hören? Ich bin eine Gefangene der Wsssarrr. Jetzt geht hier alles drunter und drüber. Es gibt ständig Explosionen und in einem Teil des Schiffes sind Brände ausgebrochen. Mir ist es gelungen, dass Interkom so modifizieren, dass ich diese Transmission generieren kann. Hört mich da draußen jemand?“ Die Qualität des Funkspruchs wurde schlechter. Es entstanden Lücken zwischen den einzelnen Wörtern, die mit Rauschen oder anderen Störgeräuschen gefüllt waren.

Dann brach das Signal ab.

„Nichts mehr“, sagte Jamalkerim.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Captain Sunfrost berührte das verborgene Projektil, das sie als Amulett unter ihrer Space Army Corps Uniform trug und sie für immer an die Geschehnisse auf Dambanor II erinnerte, wo sie als Erste Offizierin der SURVIVER unter Captain Theo Tulane von einer Steinschlosswaffe der Einheimischen getroffen worden war.

„Bruder Guillermo, halten Sie es für möglich, dass Menschen in die Hände dieses so genannten Imperiums der Goldenen Häuser geraten sind?“, fragte sie.

„Möglicherweise gibt es vereinzelte, sehr kleine menschliche Siedlungen auf entlegenen Planeten, die sich dem Zugriff der Etnord entziehen konnten und von denen wir noch gar nichts wissen...“

„Für viel wahrscheinlicher halte ich allerdings, dass die Stimme der Frau, die wir da gerade gehört haben von einer Etnord stammt“, äußerte sich Lieutenant John Taranos. Der Rudergänger der STERNENKRIEGER unterdrückte ein Gähnen. Der lange Dauereinsatz und die erhöhte Anspannung in der Gefechtssituation machten sich nun bemerkbar.

„Es gibt keine Möglichkeit, das zu unterscheiden“, stimmte Bruder Guillermo zu. „Die Drontisierung hat keine Auswirkungen auf das Stimmprofil und da zumindest die Etnord-Menschen untereinander unsere Sprache benutzen...“

Van Doren nahm ein paar Schaltungen an seiner Konsole vor und erklärte dann: „Der Bordrechner kann in der Aufzeichnung keinerlei Anzeichen erkennen, die zwingend darauf schließen lassen, dass es sich um einen Etnord handelt.“

„Und falls das ganze eine List ist?“, fragte John Taranos. „Man zeichne die Stimmen von Feinden auf, filtere daraus geeignetes akustisches Material heraus, aus dem sich ein plausibler Notruf fingieren lässt und schicke es im Fall der Manövrierunfähigkeit an den Feind...“

„...damit der dann ein Beiboot schickt, um die vermeintliche Gefangene zu retten“, schloss Sunfrost.

„Zumindest können wir das nicht ausschließen“, nickte Taranos. „Das Ziel einer solchen Aktion wäre in diesem Fall dann die Kaperung des Schiffes, dessen Besatzung dumm genug war, auf den Notruf einzugehen.“

Robert Ukasi hatte bisher geschwiegen, doch man hatte ihm ansehen können, wie sich in den letzten Minuten einiges in ihm aufgestaut hatte. Eine dunkle Röte überzog nun das Gesicht des Taktikoffiziers der STERNENKRIEGER, als er Taranos anfuhr.

„Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden, Taranos“, fauchte er. „Sie haben in Ihrem Leben noch nie etwa anderes getan, als hinter so einer Konsole zu sitzen und es würde mich nicht wundern, wenn ein Grünschnabel wie Sie den Unterschied zwischen Simulation und Realität gar nicht mehr wirklich erfassen kann. Wie viele Außeneinsätze haben Sie hinter sich? Einen oder zwei?“ Ukasi atmete tief durch und wandte sich an Captain Sunfrost.

So habe ich ihn noch nie erlebt, ging es Sunfrost durch den Kopf.

„Captain, wir hätten die Möglichkeit dieser Gefangenen zu helfen. Die Zeit bis wir wieder auf Gefechtsdistanz mit den Wsssarrr-Schiffen  sind, würde ausreichen, um mit einem Shuttle anzudocken und nachzusehen, ob etwas dran an der Sache ist.“

„Wir gehen damit ein erhebliches Risiko ein“, glaubte Taranos.

„Wenn Sie schon einmal Gefangener der Wsssarrr gewesen wären und gesehen hätten, wie man ihren Leidensgenossen die Köpfe vom Leib reißt und ihnen das Hirn aussaugt, weil diese Bestien dem Glauben anhängen, dass dadurch die Geisteskraft ihres Opfers auf sie selbst übergeht, dann würden Sie nicht so reden, Mister Taranos!“ Er wandte sich wieder an Sunfrost. „Ich weiß wovon ich spreche. Als ich 2237 mit der gesamten Besatzung meines Raumboots in Gefangenschaft der Wsssarrr geriet, habe ich Unbeschreibliches erlebt... Die Tatsache, dass ich gerettet wurde, verdanke ich auch dem Umstand, dass man meine Versuche, mich bemerkbar zu machen, ernst genommen hat und jemand bereit war, ein Risiko einzugehen. Wir müssen diese Maria Smith einfach zu retten versuchen.“

„Dieser Name ist ausgesprochen häufig“, stellte Susan Jamalkerim fest. „Wir dürften allein im aktiven Space Army Corps Dienst mehrere namensgleiche Personen haben – geschweige denn, wenn man die Gesamtheit aller Bürger der Humanen Welten nimmt...“

„Und der Etnord beziehungsweise der ehemaligen Taralon-Siedler, die von ihnen übernommen wurden“, ergänzte Taranos. „Wir haben auf jeden Fall nicht die Möglichkeit, zu verifizieren, ob es sich bei dieser Maria Smith um eine Etnord oder einen Menschen handelt.“ Taranos wandte sich Ukasi zu. „Damit habe ich keineswegs gesagt, dass ich prinzipiell gegen eine solche Aktion wäre, Mister Ukasi. Nur, das das klargestellt ist. Ich bin nur dafür, alle Seiten der Medaille zu nennen.“

Es scheint als hätte auch ein gewisser Lieutenant John Taranos ein paar neue Seiten bekommen, die er zumindest mir bisher erfolgreich verbergen konnte, stellte Sunfrost erstaunt fest.

Sie wandte sich an Van Doren.

„Ihre Meinung, I.O.?“

„Taranos hat Recht. Aber ich würde sagen: Versuchen wir es trotzdem... Wir wissen ja, was die Wsssarrr mit ihren Gefangenen tun!“

„Bruder Guillermo?“

„Ich kann mich Mister Van Doren nur anschließen“

Sunfrost nickte.

Wahrscheinlich würde die Stimme dieser Maria Smith ansonsten jeden einzelnen von uns bis ans Ende unserer Tage in unseren Alpträumen verfolgen...

„Jamalkerim, stellen Sie mir eine Verbindung mit Captain Barus her“, befahl Sunfrost.

„Aye, aye, Captain.“

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Chip Barus war einverstanden. Vor einer Maximalbeschleunigung der Mesonentriebwerke musste ohnehin an Bord der SONNENWIND Ein Systemcheck vorgenommen werden, da ein Strahlentreffer der Wsssarrr einen wichtigen Datenspeicher durch eine Ladungsübertragung unbrauchbar gemacht hatte.

Corporal Terrifor von der an Bord der STERNENKRIEGER stationierten Marines-Einheit sollte den Rettungseinsatz leiten.

Ukasi wandte sich mit der Bitte an Captain Sunfrost, bei dem Außenteam dabei sein zu dürfen.

„Lieutenant Mandagor kann mich ohne Probleme vertreten, zumal es ohnehin eine Weile dauern wird, bis sich feindliche Einheiten wieder bis auf Gefechtsdistanz genähert haben, Captain.“

„Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?“, fragte Sunfrost.

Ukasi schluckte.

„Es wäre sehr wichtig für mich.“

„Sollte irgendjemand mal meine Logbücher und Einsatzpläne durchstöbern und darauf stoßen, dass ich den Taktikoffizier in einer zwar nicht akuten, aber doch latenten Gefechtssituation von Bord lasse, wird man mich wahrscheinlich wieder zum Lieutenant degradieren.“

„Ganz so schlimm wird es schon nicht werden, Ma’am. Und im Übrigen bin ich ja bekanntermaßen ein guter Mathematiker und Informatiker.“

„Ohne Zweifel.“

„Und auch Logbücher lassen sich...“

Bruder Guillermo mischte sich in das Gespräch mit ein.

„Lassen Sie ihn gehen, Captain Sunfrost. Es scheint für ihn wirklich von besonderer Bedeutung zu sein.“

„Also gut“, nickte Sunfrost.

Eine Entscheidung, die aus dem Bauch kommt, dachte Sunfrost. Aber vielleicht auch aus den besonderen Zellen des Gehirns, die einem Olvanorer seine besonderen empathischen Fähigkeiten verleihen und bei mir leider nicht mal annähernd so gut trainiert sind...

Lieutenant Jamalkerim rief Paul Mandagor auf die Brücke, dessen Gauss-Geschütz wiederum von Fähnrich Dunston übernommen wurde.

Ukasi blieb kurz stehen, bevor er die Brücke verließ.

Sein Blick traf Sunfrost.

„Danke, Ma’am.“

„Ich hoffe für uns beide, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.“

„Es gibt keine Gewissheit, Captain. Selbst die Mathematik beschreibt das Chaos nur – sie schafft es aber nicht ab.“

„Das mag wohl sein.“

Einen Augenblick später schloss sich die Schiebetür hinter ihm.

„Vielleicht wird es Zeit, dass Ukasi sich seiner ganz persönlichen Hölle stellt“, sagte Bruder Guillermo.

Sunfrost berührte unwillkürlich das Projektil, das sich unter ihrer Uniformjacke leicht hervor wölbte. Bedenke, dass du sterblich bist - das war seit den Tagen von Dambanor II, die beinahe ihre letzten gewesen waren, ihr Wahlspruch geworden. Ja, ich verstehe Sie vielleicht viel besser, als Sie glauben, Lieutenant Commander Ukasi, ging es der Kommandantin der STERNENKRIEGER durch den Kopf.

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Die Landefähre L-1 war voller Marines in schweren Kampfanzügen. Die einzigen, die diesen weltraumtauglichen Schutz nicht trugen, waren der Shuttle-Pilot Yakuf Bogdan und Robert Ukasi.

Um diese schweren, servoverstärkten und mit allerlei besonderen Funktionen versehenen Anzüge tragen zu können, musste man das intensive Training der Marines absolviert haben, für die dieser Anzug zur zweiten Haut wurde. Niemand, der nicht vorher gut darin geschult war, konnte so einen Anzug tragen, wollte er nicht Gefahr laufen, durch eine unbedachte Bewegung mit dem servoverstärkten Arm einen Sprung zu vollführen, der einen mit der Raumdecke kollidieren ließ.

Bogdan, der während des Einsatzes an Bord der L-1 bleiben würde, trug nur die gewöhnliche Uniformkombination des Space Army Corps, während Ukasi einen regulären, leicht gepanzerten Raumanzug sowie die aus einem Nadler bestehende Standardbewaffnung angelegt hatte.

Welche Bedingungen derzeit an Bord des Wsssarrr-Schiffs herrschten, ließ sich nur erahnen, zumal die Außenhaut des Schiffes eine ausgesprochen wirkungsvolle Abschirmung zu besitzen schien.

Normalerweise war diese Abschirmung dazu bestimmt, die eigenen verräterischen Emissionen nicht nach außen dringen zu lassen und sich so besser zu tarnen.

Nun wirkte sich das ganze wie Ortungsschutz aus. Ganze Teile des Schiffes ließen sich nicht scannen. Allenfalls der Infrarot-Scan zur Temperaturverteilung war vollständig und gab auch schon einigen Aufschluss darüber, in welchen Bereichen des Schiffes vermutlich Brände ausgebrochen waren.

Bruder Guillermo meldete sich, als die L-1 etwa die Hälfte der Distanz zu dem Wsssarrr-Schiff zurückgelegt hatte.

„Wir konnten den ungefähren Ort an Bord des Schiffes simulieren, von dem aus die Transmission vermutlich abgesendet wurde. Schließlich wurde kein normaler Kanal benutzt...“

„Großartig, schicken Sie uns die Daten“, forderte Ukasi.

„Ist schon geschehen.“

Ukasi aktivierte wenig später eine schematische Darstellung des Wsssarrr-Schiffes. Die Position, von dem aus sich der Sender der Transmission vermutlich zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme befunden hatte, war durch einen aufblinkenden Signalpunkt gekennzeichnet. 

Ukasi glich diese Übersicht mit dem Infrarot-Scan ab.

„Das passt genau!“, stellte der Taktikoffizier der STERNENKRIEGER fest. 

Der Sender hatte sich offenbar in die weniger von Bränden betroffenen Regionen des Schiffes zurückgezogen.

Schließlich dockte die L-2 an.

Das Schiff der Wsssarrr hatte im Ganzen etwa dieselben Maße wie die STERNENKRIEGER – allerdings wies sie fast das doppelte Volumen auf, was vielleicht auf die Verwendung sehr leichter Materialien zurückzuführen war. Die Oberflächenanalyse einiger Partien der Außenhülle ergaben, dass das Material eine faserartige Struktur, gleichzeitig aber auch einige metallische Eigenschaften hatte.

Um das näher zu erforschen, blieb jedoch keine Zeit.

Jedenfalls konnte Ukasi feststellen, dass dieses Material keine Ähnlichkeiten mit den Stoffen aufwies, die von Artefakten der Alten Götter bekannt waren und die auch jene Wsssarrr benutzt hatten, die im Jahr 2237 das Sonnensystem der Erde heimgesucht und die Humanen Welten – mitten im ersten Qriid-Krieg – an den Rand des Abgrundes gebracht hatten.

Offensichtlich war es sehr unterschiedlich, wie viel der Technik der Alten Götter – abgesehen von der Funktionsweise der Transmitter – von der jeweiligen Wsssarrr-Population sonst noch übernommen wurde, beziehungsweise entschlüsselt werden konnte.

Und das auch keineswegs alle über einen vermutlich sehr großen Raum verstreuten Zellen der Wsssarrr-Zivilisation sich auf gleiche Weise entwickelt hatten, bewiesen ja jene Wsssarrr, auf die man im Siedlungsgebiet der Nostan gestoßen war.

Für die Nostan waren sie nichts weiter als angenehme Haustiere gewesen, die für sie etwa dieselbe Funktion erfüllten, wie es Hunde und Katzen seit Jahrtausenden für die Menschheit taten...

„Alles klar zum Eindringen!“, befahl Corporal Terrifor. Er wandte sich an Ukasi. „Ich würde vorschlagen, Sie halten sich ein bisschen im Hintergrund, Sir!“

„In Ordnung.“

„Wenn wir auf Wsssarrr treffen, ist es ja trotz allem gut möglich, dass sie uns selbst in dieser verzweifelten Lage noch angreifen – und Sie haben ja keinen schweren Panzeranzug – wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Ukasi verstand sehr gut, worauf Corporal Terrifor hinaus wollte.

Terrifor stülpte seinen Helm über.

Ukasi ebenfalls.

„Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, dass Sie sich das antun, Sir“, wandte sich Terrifor an Ukasi. „Zumal Sie doch ein ziemlich großes Risiko eingehen.“

„Ich pass schon auf“, knurrte Ukasi.

Terrifor – so sensibel wie ein Schlachter – war nun wirklich der letzte, mit dem er darüber zu reden beabsichtigte.

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Die Marines James Levoiseur und Lester Ramirez betraten das Wsssarrr-Schiff als erste und gingen mit ihren Nadlern in Stellung.

Die Gauss-Gewehre führten sie zusammen mit dem aufgeschnallten Antigravpak auf dem Rücken mit sich.

Normalerweise konnte man diese Waffe nicht innerhalb von Raumschiffen einsetzen, da immer die Gefahr von Schäden bestand, die im schlimmsten Fall sogar für die Havarie des gesamten Schiffs sorgen konnten.

Selbst bei dem schwer getroffenen Wsssarrr-Raumer musste man diesen Aspekt im Auge behalten, wenn das Außenteam sich nicht selbst gefährden wollte.

„Alles in Ordnung!“, meldete der Marine Levoiseur indessen.

Terrifor, Ukasi und die anderen Marines folgten.

Bei Andocken hatten sie zwar eine reguläre Schleuse benutzt. Sie war vom offensichtlich nicht mehr im Betrieb befindlichen Hauptsystem abgekoppelt und nur noch manuell zu bedienen.

Ukasi blickte auf das Ortungsgerät, das er mit sich führte.

Die Werte für Atmosphärendruck und Sauerstoffanteil waren  so, dass es immerhin möglich war, dass in diesem Teil des Schiffes ein Mensch bis jetzt überlebt hatte.

Die Temperatur lag bei gut fünfundvierzig Grad Celsius. Und davon abgesehen war auch ein rapider Druckabfall zu verzeichnen.

Irgendwo musste sich in der verwinkelten, sehr unregelmäßig geformten und nahezu jedes Gesetz der Symmetrie negierenden Schiffseinheit ein Hüllenbruch befinden, bei dem es den Schiffssystemen nicht mehr gelungen war, für eine einwandfreie Abschottung zu sorgen.

Die Außenwände des Wsssarrr-Raumers waren tatsächlich mit einer außergewöhnlich effektiven Dämmungsschicht versehen,  die es wie prädestiniert für den Schleichflug erscheinen ließ.

Im Inneren hatte Ukasis Ortungsgerät sehr viel weniger Schwierigkeiten, ein Bild der Lage zu gewinnen.

Ihr erstes Ziel war jener Punkt, von dem aus die Gefangene gesendet hatte. Dass sie sich selbst dort befunden hatte, war gar nicht mal sicher. Nur der Sender war an jener Stelle gewesen, das bewies Bruder Guillermos Analyse.

Es war schließlich auch möglich, dass die Gefangene den Sender von irgendwo anders aktiviert hatte.

Allerdings sprach nach Ukasis Ansicht auch einiges dagegen. Schließlich brachen bei einer Schiffshavarie wie der, die auf dem Wsssarrr-Raumer gerade im Gange war, das Leitungssystem recht rasch zusammen.

Dieser Umstand machte Ukasi Hoffnung, dass man Maria Smith tatsächlich in der Nähe des Senders fand.

Bilder stiegen in ihm auf. Bilder aus der Vergangenheit.

Die Beschaffenheit und die Technologie dieses Wsssarrr-Schiffs war vollkommen anders als es bei jenem Schiff der Fall gewesen war, das ihn und seine Crew seinerzeit während der so genannten Wsssarrr-Krise an Bord genommen hatte.

Sie betraten einen Raum, in dem sich insgesamt drei Wsssarrr befanden, die an einer pyramidenförmigen Konsole standen, deren Spitze heftig blinkte.

Die Wsssarrr drehten sich herum, sodass ihre Augenkonglomerate Ukasi und den Marines zugewandt waren.

Die Marines legten den Partikel-Nadler an.

Terrifor aktivierte eine über den Außenlautsprecher abgegebene automatische Aufforderung sich zu ergeben. Diese war in dem Wsssarrr-Idiom gehalten, das offenbar innerhalb des Imperiums der Goldenen Häuser üblich war.

Überraschenderweise unterschied sich dieses Idiom gar nicht so sehr von den bisherigen Sprachproben, die von Wsssarrr aufgezeichnet worden waren, weswegen auch im Schiff-zu-Schiff-Kontakt mit Kommandant ß’Goss eine weitgehend problemlose Kommunikation möglich gewesen war.

Ob die Wsssarrr teilweise über eine genetisch fixierte Erinnerung verfügten, oder manchmal entsprechende Datenarchive der in die Ferne verschickten Brut – möglicherweise inklusive erwachsenen Lehrern – mitgegeben wurden, war nicht bis in jede Einzelheit erforscht.

Ukasi spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und sich die Innenklima-Steuerung seines Anzugs aktivierte.

Er fühlte sich wie erstarrt.

Dies ist der Augenblick, den du in Wahrheit gesucht hast!, ging es ihm durch den Kopf. Er wollte bereits damit beginnen, seine Gedanken auf eine komplizierte Gleichung zu lenken, zwang sich dann aber dazu, genau dies nicht zu tun. Dies ist deine Hölle. Sieh sie dir wenigstens einmal an...

Die Wsssarrr schienen von der Aufforderung, sich zu ergeben nichts zu halten.

Vielleicht glaubten sie auch auf Grund der bei ihnen üblichen Verhaltensweisen nicht, dass man nicht gekommen war, um den Kampf unter den Bedingungen eines havarierten Schiffs fortführen.

Die Spinnenartigen griffen oft mit gleich mehreren ihrer Extremitäten zu dem breiten und mit allerlei technischen Geräten bestückten Gürtel, der um ihre spinnenartigen Leiber gebunden war.

Waffen waren auch darunter.

Ehe die Wsssarrr jedoch damit viel Schaden anrichten konnten, hatten die Marines längst das Feuer mit ihren Nadlern eröffnet.

Die Partikelstrahlen töteten die Wsssarrr innerhalb weniger Augenblicke.

Die wenigen Treffer, die die Wsssarrr bis dahin landen konnten, richteten keinen Schaden an, da die Panzeranzüge die Marineinfanteristen schützten.

Nur der Anzug von Lester Ramirez war am linken Schulterstück etwas verfärbt. Das Strahlenfeuer einer der Wsssarrr hatte ihn dort wohl etwas zu lange versengt.

„Weiter jetzt!“, rief Terrifor über den Helmfunk. „Alles klar, Ramirez?“ 

„Anzugschaden ist laut Analyseprogramm nur oberflächlich!“, meldete Lester Ramirez.

Ukasi starrte auf die von den Nadelstrahlen zerfetzten Körper der Wsssarrr.

Sein Kopf schien vollkommen leer zu sein.

Löst dieser Anblick irgendetwas in dir aus?, fragte er sich. Sofern das der Fall ist, merke ich allerdings nichts davon...

Er folgte den anderen.

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„Drei weitere Wsssarrr-Schiffe sind in unserem Plansektor materialisiert“, stellte Lieutenant Riggs fest.

„Anscheinend haben die Wsssarrr immer noch Reserven“, stellte Van Doren fest.

Bruder Guillermo hatte inzwischen aus der ungeheuren Menge an Funkdaten, die während des bisherigen Aufenthalts im System TASO-23111 angefallen waren, diejenige heraus gefiltert, bei denen es sich möglicherweise um die Zieldaten des Konvois handelte.

Ob diese Angaben auch nur einen Sammelpunkt bezeichneten, ließ sich natürlich nicht vorhersagen.

„Die Wsssarrr haben sich tatsächlich den günstigsten Augenblick für einen Angriff ausgesucht“, sagte Captain Sunfrost an Van Doren gewandt. „Nie ist eine Zivilisation verwundbarer, als in so einem Augenblick des Umbruchs – wodurch der nun auch immer verursacht worden sein mag.“

Van Doren antwortete lediglich mit einem Nicken.

Aber Bruder Guillermo konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen.

„Ist es Ihnen aufgefallen, Captain?“

„Wovon sprechen Sie, Bruder Guillermo?“

„Sie haben die Etnord soeben als eine Zivilisation bezeichnet.“ Bruder Guillermo hob die Augenbrauen. „Interessant wie sich manche Standpunkte schleichend verändern, je länger man sich mit einer Sache oder in diesem Fall einer Zivilisation befasst...“

Lieutenant Jamalkerim rettete Captain Sunfrost vor der Notwendigkeit, darauf eine Antwort geben zu müssen.

„Ma’am, Captain Barus über Schiff-zu-Schiff-Interkom.“

„Auf den Schirm, Lieutenant.“

„Ja, Ma’am.“

Mit geringfügiger Verzögerung und einer Bildstörung von gerade einmal einer Millisekunde, wie die Protokollfunktion im linken, unteren Bildrand peinlich genau vermerkte, erschien das Gesicht von Captain Barus auf dem Hauptschirm der STERNENKRIEGER.

„Sagen Sie Ihrem Außenteam, dass es jetzt schleunigst zurückkommen sollte. Es haben noch ein paar weitere Wsssarrr-Schiffe die Richtung geändert und Kurs in unsere Richtung genommen.“

„Die wollen uns offenbar aus irgendeinem Grund unbedingt stellen“, meinte Sunfrost.

„Den Grund dafür möchte ich lieber gar nicht erst kennen lernen“, antwortete Chip Barus.

Ein mattes und von den Strapazen der letzten Zeit geprägtes Lächeln flog über Rena Sunfrosts Lippen.

„Ich werde dem Außenteam Bescheid sagen“, versprach sie.

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Ukasi und die Marines erreichten einen Raum, der wie die Zentrale aussah, von der man zumindest einen Ausschnitt während des Schiff-zu-Schiff-Kontakts mit der STERNENKRIEGER gesehen hatte.

Allerdings waren mehrere der Konsolen zerstört.

Einige Wsssarrr, bei denen es sich vermutlich um Brückenoffiziere handelte, lagen halb verkohlt und regungslos am Boden.

„Ein Überspannungsphänomen“, stellte Terrifor nüchtern fest. „Ich hoffe, dass man gegen so etwas an Bord der STERNENKRIEGER besser gesichert ist. Ich habe so etwas mal während eines Einsatzes erlebt, als wir mit einem Truppentransporter...“

Ukasi hatte keinerlei Ohr für Terrifors Gerede.

Er war voll und ganz damit beschäftigt, die Bilder zu verarbeiten, die sich ihm boten und sie mit denen in Verbindung zu bringen, die sich auf so grausige und traumatische Weise in seinem Hirn fest gebrannt hatten.

Für dich sind Wsssarrr grausame Monster... Jetzt siehst du sie als furchtbar zugerichtete Leichen...

Ukasi machte einen Schritt auf den goldenen Quader zu, auf dem der Kommandant des Schiffes geschwebt hatte.

Das Antigravaggregat funktionierte offenbar nicht mehr und so lag der Körper des Wsssarrr jetzt auf der Oberseite des Quaders. Die Gliedmaßen hingen an den Seiten schlaff herab. Eine zähflüssige Flüssigkeit trat an einer Stelle aus dem Körper aus. Ob das Wsssarrr-Blut war oder irgendein anderer liquider Teil des spinnenartigen Körpers, war nicht so ohne weiteres gleich zu erkennen.

Im ersten Moment hatte Ukasi den Kommandanten für tot gehalten. Zu starr wirkte das Augenkonglomerat, zu teilnahmslos stand die Fressöffnung offen und hing der Saugstachel aus ihr heraus, was normalerweise bei Wsssarrr nicht der Fall war.

Wenn das schließlich jemand genauer einschätzen konnte, dann war es Ukasi.

Schließlich habe ich ja eine Weile auf Tuchfühlung mit dieser Spezies gelebt!, dachte er nicht ohne Sarkasmus. Aber vielleicht ist es ja schon ein Fortschritt, dass ich einem toten Wsssarrr gegenüberstehen kann, ohne in die Lösung mathematischer Probleme flüchten zu müssen...

Doch dann bemerkte Ukasi die ganz leichte Bewegung an einem der Greiforgane, die sich stets am Ende der unterschiedlich langen und kräftigen Extremitäten befand.

Vielleicht nur ein Zucken der Nerven? Oder sind es deine eigenen Nerven, die dir einen Streich spielen?, durchfuhr es ihn.

„Also ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass der Funkspruch einer Gefangenen von hier abgeschickt wurde!“, meinte Lester Ramirez.

„Wenn es zu dem Zeitpunkt des Funkspruchs hier schon so ausgesehen hat - warum, nicht?“, lautete Terrifors Erwiderung. „Tote Wsssarrr sind schließlich ungefährlich.“

Dann traf eine Nachricht von der STERNENKRIEGER ein. Terrifor nahm sie entgegen, weil Ukasi einfach nur dastand, auf den Kommandanten starrte und das Summen seines Armbandkommunikators gar nicht zu hören schien. Und das, obwohl es in maximaler Lautstärke in den Helm seines Raumanzugs übertragen wurde.

„In Ordnung, Captain“, sagte Terrifor. „Wir sehen uns nur noch kurz hier um und falls wir diese Maria Smith dann nicht finden, werden wir unverrichteter Dinge zurückkehren müssen. Die Konsolen hier auf der Brücke sind leider nicht einem Zustand, dass es noch lohnend erscheint, hier großartig Daten herunter zu ziehen... Aber was wir bekommen können, nehmen wir natürlich mit.“

Jede zusätzliche Information über das ominöse Imperium der Goldenen Häuser war natürlich von großem Nutzen für die Fortsetzung der Expedition.

Ukasi fiel unterdessen auf, dass eine der Extremitäten des Kommandanten auf einer Konsole lag, die aus irgendeinem Grund weniger stark von dem Überspannungseffekt betroffen gewesen zu sein schien.

Der verbrannte Geruch, der von ihr ausging, legte allerdings auch die Möglichkeit nahe, dass die Schäden vielleicht nur nicht so deutlich von außen zu sehen waren.

Das Greiforgan hielt einen Gegenstand, der aussah, wie ein geschliffener Kristall. Er war oval und und in eine Vertiefung auf der Oberseite der Konsole gesteckt worden.

Ein Datenträger, durchfuhr es Ukasi.

Ukasi loggte sich mit seinem Ortungsmodul ein. Wenig später hörte man über die Helmlautsprecher seines Raumanzugs die Stimme von Maria Smith. Das Rauschen, die  Qualitätsstörungen und schließlich der Abbruch der Transmission – alles so, wie es auf der Brücke der STERNENKRIEGER schon einmal zu hören gewesen war.

Ukasi stieß einen wütenden Schrei aus.

Dann atmete er tief durch.

Er stellte eine Kom-Verbindung zur STERNENKRIEGER her.

Captain Sunfrost nahm das Gespräch entgegen.

„Ma'am, hier Ukasi. Wir haben Maria Smith gefunden. Richten Sie Mister Taranos aus, dass er Recht hatte. Das ganze war eine fingierte Nachricht, die nur den Sinn hatte, uns anzulocken...“

„Gut, wenn das geklärt ist, beeilen Sie sich bitte mit Ihrer Rückkehr“, antwortete Sunfrost.

„Ja, Captain.“

Ukasi beendete den Kontakt.

Er nahm den Datenkristall an sich.

Irgendwie hatte er das Gefühl, ihn mitnehmen zu müssen. Vielleicht, um sich mit Hilfe einer genaueren Analyse zu versichern, dass es sich tatsächlich um eine fingierte Audio-Datei und nicht etwa um ein authentisches Dokument handelte.

Falls nur der geringste Zweifel darüber blieb, ob es nicht vielleicht doch eine Gefangene an Bord dieses Schiffes gab, würde er es sich nie verzeihen, nicht genauer nachgeforscht zu haben und wirklich jede, wenn auch noch so winzige Möglichkeit gedacht zu haben.

Und wenn es diese Maria Smith tatsächlich gibt – irgendwo, da draußen in den Weiten des Trans Alpha-Sektors, wo das Imperium der Goldenen Häuser liegt?, ging es Ukasi durch den Kopf. Wäre doch möglich, dass man ihre Botschaft aufgezeichnet und als Köder für Situationen wie diese genommen hat...

Und noch eine ganz andere Frage geisterte ihm im Kopf herum. Was, wenn diese Maria Smith eine Etnord ist?

„Kommen Sie, Sir. Wir müssen zurück!“, knarrzte Corporal Terrifors Stimme ihm über Helmfunk ins Ohr.

Diese Stimme drang wie ein kaltes Messer in Ukasis Gedanken und bewahrte ihn davor, sich immer weiter in eine Geschichte hinein zu steigern.

„Lieutenant Commander Ukasi?“, fragte Terrifor noch einmal, als dieser nicht antwortete.

„Der Kommandant lebt“, murmelte Ukasi dann tonlos.

Terrifor begriff im ersten Moment nicht, worauf Ukasi hinaus wollte.

„Die Zeit drängt“, sagte Terrifor.

„Eines seiner Greiforgane zuckt. Jetzt schon zum zweiten Mal.“ Ukasi hob den Scanner des Ortungsgerätes und richtete ihn nahe des Augenkonglomerats auf den Körper des Wsssarrr. „Die Lebensfunktionen sind ganz schwach... Aber er lebt noch...“

„Nicht mehr lange“, sagte Terrifor rau.

„Oh, das hoffe ich doch“, erwiderte Ukasi. „Wir nehmen ihn mit an Bord. Für Ihre Männer mit den servoverstärkten Anzügen dürfte das doch nun wirklich kein Problem sein.“

Terrifor schwieg einen Moment.

„Seltsam“, meinte er. „Irgendwie hatte ich Sie nicht unbedingt als jemanden in Erinnerung, der ein besonders großes Herz für Aliens hätte.“

„Ich bin das ranghöchste Mitglied dieses Außenteams und damit vollkommen unstrittig der Kommandant“, sagte Ukasi.

„So fern es sich nicht um rein militärische oder sicherheitstechnische Belange handelt“, korrigierte Terrifor.

„Das werden Sie ja wohl kaum ernsthaft behaupten wollen, oder?“

„Nein.“

„Keine Sorge, dieser Wsssarrr mag so hinterlistig sein, wie nur irgendetwas – er wird auf jeden Fall nicht Ihre Leute bekämpfen können.“

„Das ist es auch nicht, worüber ich mir Sorgen mache“, erwiderte Terrifor. „Ich frage mich vielmehr, ob mit Ihnen noch alles in Ordnung ist, Sir! Bei allem Respekt!“

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Die Marines James Levoiseur und Lester Ramirez nahmen den halbtoten Kommandanten des Wsssarrr-Schiffs zwischen sich. Die servoverstärkten Arme kamen dabei gar nicht zum Einsatz.  James Levoiseur schnallte einfach sein Antigravaggregat vom Rücken herunter und schnallte es dem halbtoten Wsssarrr unter den Leib, sodass er zwischen ihnen her schwebte.

Eine gewaltige Erschütterung erfasste das Schiff und der Luftzug, der nun durch die Korridore pfiff, war selbst in einem Raumanzug inzwischen als Energie spürbar.

Schließlich erreichten sie die Schleuse.

Aus welchem Grund sich diese jetzt nicht einmal mehr manuell öffnen ließ, war nicht nachzuvollziehen.

Terrifor und Philipson Haroldis lösten das Problem auf die rabiate Art. Mit dem Thermostrahler, den jeder Marine als eine Mischung aus Arbeitsgerät und Waffe bei sich hatte, schweißten Sie innerhalb weniger Augenblicke das Zugangsschott auf.

Als sie dann wenig später auch die interne Schleuse der L-1 passiert hatten, machte Pilot Bogdan große Augen.

„Mit Passagieren hatte ich nicht gerechnet“, sagte er. „Und schon gar nicht mit so einem...“

„Stellen Sie eine Verbindung zu Dr. Trent her“, wies Ukasi den Piloten an.

„Ja, Sir.“

„Es gibt Arbeit für den Doc.“

„Wie Sie meinen, Lieutenant Commander.“

Trent wurde im Konferenzmodus zugeschaltet.

„Ehrlich gesagt, kenne ich mich nicht besonders mit Wsssarrr-Medizin aus“, bekannte er.

„Geben Sie sich einfach Mühe, dass er uns nicht wegstirbt“, erwiderte Ukasi.

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„Bogdan hat die L-1 sicher im Hangar gelandet!“, meldete Lieutenant Jamalkerim etwas später.

Rena Sunfrost nickte zufrieden. „Gehen Sie auf maximale Beschleunigung, Mister Taranos“, wies sie den Rudergänger der STERNENKRIEGER an.

„Aye, aye, Captain“, bestätigte dieser. „Allerdings könnte es sein, dass uns die Wsssarrr doch noch nahe genug auf die Fersen rücken, um uns zu beschießen.“

„Geben Sie eine Meldung an die SONNENWIND heraus, Lieutenant Jamalkerim“, forderte Sunfrost.

„Schon geschehen, Ma’am.“

Rena Sunfrost lehnte sich im Kommandantensessel zurück. Die Mesonentriebwerke begannen ihre Warmlaufphase.

„Maximaler Beschleunigungsfaktor ist eingeschaltet“, meldete John Taranos, der hochkonzentriert an seiner Konsole saß und die nötigen Schaltungen vornahm.

Die STERNENKRIEGER setzte sich in Bewegung. Die SONNENWIND hatte den Beschleunigungsprozess bereits ein paar Minuten früher begonnen.

Drei Stunden und wir sind in Sicherheit, dachte Sunfrost. So lange dauerte es, bis ein mit Mesonenantrieb ausgestattetes Schiff wie die STERNENKRIEGER die notwendige Eintrittsgeschwindigkeit erreicht hatte, um in den Sandström-Raum wechseln zu können.

Pilot Titus Naderw war inzwischen mit seiner Maschine ebenso zur STERNENKRIEGER zurückgekehrt wie Erroll Alkabani bei der SONNENWIND.

„Captain, wird Lieutenant Commander Ukasi jetzt wieder die Koordination der Waffen übernehmen?“, erkundigte sich Lieutenant Mandagor.

Sunfrost wechselte einen kurzen Blick mit Van Doren und schüttelte dann den Kopf. „Nein Lieutenant, Sie müssen damit rechnen, Ihren Posten erst einmal nicht verlassen zu können.“

„Trösten Sie sich“, meinte Van Doren. „Fähnrich Dunston wird Sie am Gauss-Geschütz hervorragend vertreten, davon bin ich überzeugt.“

Die Beschleunigung der STERNENKRIEGER und der SONNENWIND erfolgte in einer Richtung, die beinahe vertikal zur Systemebene ausgerichtet war. Das hatte einfach den Grund, dass dies eine Flugbahn war, auf der sich die wenigsten Wsssarrr-Einheiten befanden.

Die Verfolger passten unterdessen ihren Kurs jeweils entsprechend an. Sie holten zunächst beträchtlich auf.

Quälend langsam verging die Zeit.

Auf der Positionsübersicht war zu sehen, wie die Wsssarrr-Schiffe immer weiter aufholten und den Abstand verkürzten.

„Wir werden es nicht ganz schaffen“, prophezeite John Taranos. „Die letzten Minuten vor Eintritt in den Sandström-Raum könnten noch einmal ein heißer Tanz werden, weil wir dann nach zwei von drei Modellrechnungen, die der Bordcomputer angestellt hat, doch noch in Gefechtsdistanz geraten.“

„Ich verstehe nicht, weshalb die Wsssarrr uns so hartnäckig bekämpfen“, meinte Sunfrost. „Wir haben ihnen nichts getan und eigentlich müssten sie uns begrüßen, schließlich sind wir die Feinde ihrer Feinde – der Etnord!“

„Manchmal gibt es gute Gründe dafür, nicht das zu tun, was vordergründig nützlich erscheint“, sagte Bruder Guillermo.

„Und was für Gründe schweben Ihnen da im Kopf herum?“

Bruder Guillermo zuckte mit den Schultern.

„Überzeugungen.“

„Ich hatte meine Frage eigentlich mit Blick auf die Wsssarrr gestellt“, sagte Rena Sunfrost.

„Und ich habe auch unter diesem Aspekt geantwortet“, gab der Olvanorer zurück.

Rena verzog das Gesicht.

„Die Wsssarrr mögen in unseren Augen tierhafte Bestien sein“, fuhr Bruder Guillermo fort. „Aber wir sollten ihnen nicht die Fähigkeit absprechen Überzeugungen zu bilden, Captain.“

Rena hob die Augenbrauen. „Vielleicht haben Sie recht.“

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Wiley Riggs meldete den Eintritt der SONNENWIND in den Sandström-Raum.

Die geringfügig später gestartete STERNENKRIEGER hingegen hatte die nötige Geschwindigkeit von 0,4 LG noch nicht ganz erreicht.

„Verfolger auf Gefechtsdistanz!“, meldete Riggs.

Wenig später durchlief auch schon eine Erschütterung das Schiff.

„Treffer in Hecksektion!“, meldete John Taranos. „Keine Schäden an den wesentlichen Systemen. Auch keine Überspannungsphänomene.“

„Hat sich wohl um Breitband-Strahlenfeuer gehandelt“, meinte Van Doren.

„Feuer frei, Mister Mandagor!“, sagte Sunfrost an den Real Martian gerichtet.

Der im Moment als Taktikoffizier fungierende Mandagor hatte seine Berechnungen längst angestellt. Er gab knappe Befehle an die Gauss-Schützen der vier rückwärtig ausgerichteten Kanonen.

Es wurde Dauerfeuer gegeben.

Ein Hagel von Gauss-Geschossen flog den Verfolgern entgegen.

Eines der Wsssarrr-Schiffe wurde getroffen. Es verwandelte sich in einen Glutball und zerplatzte.

Weitere Minuten verstrichen, in denen es noch einmal einen Treffer im Heckbereich gab. Zeitweilig fielen zwei der Gauss-Geschütze aus.

„O, 4 LG!“, rief Taranos schließlich erleichtert. „Übertritt in den Sandström-Raum!“

Rena Sunfrost atmete tief durch.

Selten hatte sie den Abschluss dieses Flugmanövers so sehr herbeigesehnt wie jetzt, in diesem Augenblick.

„Verbinden Sie mich per Sandström-Funk mit der SONNENWIND!“, befahl Sunfrost an Lieutenant Jamalkerim gerichtet.

„Aye, aye, Captain“, bestätigte Jamalkerim.

Wenig später erschien Chip Barus auf dem Schirm. „Ich schlage vor, wir suchen uns einen geeigneten Ort, an dem wir uns orientieren können.“

„Auf jeden Fall müssen wir die aufgezeichneten Funkdaten sowohl der Etnord als auch der Wsssarrr dieses Imperiums der Goldenen Häuser genauestens analysieren“, antwortete Sunfrost.

Irgendwo musste schließlich das Ziel der gigantischen Odyssee liegen, auf die sich offenbar Abermilliarden Etnord von unzähligen Welten in ihrem weitgespannten Herrschaftsgebiet begeben hatten.

Es musste ein großes, wichtiges Ziel sein, das sie verfolgten. Etwa, das sogar wichtiger war, als das Etnord Reich effektiv gegen die aggressiven Wsssarrr zu verteidigen und das zu erhalten, was ihr so genannter Herr die Neue Ordnung nannte.

Wir werden sehen, dachte Rena, während ihr Finger leicht über das Amulett an ihrem Hals strich.

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„Er ist tot“, sagte Dr. Trent. Eine kühle Feststellung, die von einer passenden Geste begleitet wurde.

Trent legte ein weißes Tuch über die sterblichen Überreste des Wsssarrr-Kommandanten.

„Sein Name war ß’Goss“, sagte Ukasi. „So hat er sich Sunfrost gegenüber vorgestellt – beziehungsweise unser Translatorprogramm hat die Laute so verstanden, die er ausstieß.“

„Warum haben Sie das getan, Mister Ukasi?“, fragte Dr. Trent.

„Was?“

„Sie hätten ihn auf seinem Schiff sterben lassen können. Und jeder andere – gerade an Ihrer Stelle hätte genau so gehandelt.“

„Mag sein.“

„Wollen Sie nicht darüber reden?“

„Doch.“

„Also dann...“

„Aber nicht mit Ihnen.“

Ukasi drehte sich um und blieb an der Tür noch einmal stehen. Die Schiebetür der Krankenstation wusste nicht so genau, was sie tun sollte – geöffnet bleiben oder sich wieder schließen. Darum zuckte sie ein paar Zentimeter vor und zurück.

Wem wollte ich etwas beweisen? Mir? Oder den Wsssarrr? Wollte ich beweisen, dass ich noch ein Mensch bin, obwohl ich in ihrer Gefangenschaft etwas wurde, was kein Mensch mehr war? Aber was spielt das für eine Rolle...

Ukasi griff in die Tasche seines leichten Kampfanzugs, den er unter dem Raumanzug getragen hatte.

Er warf Dr. Trent etwas zu.

Trent streckte die Hand aus und fing die kleine durchsichtige Dose mit den ovalen Dragées.

„Was soll das jetzt?“, fragte Dr. Trent.

„Ich werde das nicht mehr brauchen“, sagte er.

„Sind Sie sicher?“

„Nein. Aber Sicherheit gibt es ohnehin nicht.“ Sein Gesicht wurde nachdenklich. „Nicht einmal in der Mathematik.“

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Band 36  Die Exodus-Flotte

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Die Hauptpersonen des Romans:

Captain Rena Sunfrost - Kommandantin der STERNENKRIEGER.

Commander Van Doren - Erster Offizier der STERNENKRIEGER

Lieutenant Commander Robert Ukasi - Taktikoffizier und Zweiter Offizier.

Lieutenant Wiley Riggs - Ortungsoffizier

Lieutenant Erixon - Chefingenieur der STERNENKRIEGER

Corporal Raggie S. Terrifor - kommandiert die Space Marines Truppe an Bord.

Lieutenant Jamalkerim - Kommunikationsoffizierin.

Lieutenant John Taranos - Rudergänger.

Fähnrich Lin Al-Katibi - Zweiter Rudergänger.

Bruder Guillermo - eigentlich Guillermo Benford, gehört dem Wissenschaftlerorden der Olvanorer an.

Dr. Ash Trent - Schiffsarzt.

Captain Barus - Kommandant des Schwesterschiffs der STERNENKRIEGER.

Commander McKee - Erste Offizierin unter Captain Barus.

Lieutenant Commander Webber J. Davidson - Taktikoffizier.

Lieutenant James Teluvion - Ortungsoffizier

Lieutenant Guofeng Smith - Kommunikationsoffizier.

Die Canyaj - eine anorganische Spezies.

Die Yyroa - humanoide, PSI-begabte Spezies.

Fairoglan und Shafor - Die Sucher und Kundschafter der Yyroa-Koalition.

Admiral Ned Nainovel - Kommandant der LEVIATHAN und derzeit Wächter an der Wurmloch-Porta.

Raphael Wong - gerade zum Captain des Zerstörers ODYSSEUS ernannter Ex-I.O. der STERNENKRIEGER.

Commander David Kronstein - Erster Offizier der ODYSSEUS.

Dr. Patricia Mangoli - gehört zum medizinischen Team an Bord des Zerstörers ODYSSEUS.

Master Sergeant J. L. Gerard - Space Marine an Bord der ODYSSEUS.

Lieutenant Messina - Shuttle-Pilotin der ODYSSEUS LANDER 5

Commander Jorian Kelly - Taktikoffizier des Zerstörers ODYSSEUS, umweltangepasster Supererden-Zwerg von dem irdischen Kolonialplaneten Maldena 22b

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Aus dem Logbuch des Raumschiffs STERNENKRIEGER:

Die STERNENKRIEGER befindet sich zusammen mit ihrem Schwesterschiff noch immer auf einer Expedition in den Machtbereich der Etnord. Unser Auftrag ist es, den Ursprung der geheimnisvollen Lichtsonden zu ergründen, die sowohl unerklärlicherweise zeitgleich an weit auseinanderliegenden Orten auftauchten und deren Ursprung unbekannt ist.

Gleichzeitig brechen überall Schiffe von den Etnord-Welten mit unbekanntem Ziel auf. Die Etnord scheinen einem geheimnisvollen Ruf zu einem Exodus mit unbekanntem Ziel zu folgen. Und es könnte sein, dass beide Phänomene miteinander in Zusammenhang stehen...

Eintrag vom 5.2.2256, Bordzeit 11.45: Commander Van Doren, Erster Offizier in Stellvertretung des Captains.

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"Normaler Sandström-Flug", meldete Fähnrich Al-Katibi, der gerade die Position des diensthabenden Rudergängers an Bord der STERNENKRIEGER innehatte. "Keinerlei Anomalie erkennbar. Erreichen geplanten Austrittspunkt in cirka zwei Stunden und gehen dann planmäßig auf Unterlichtflug."

"Gut", sagte Rena Sunfrost. Die Kommandantin der STERNENKRIEGER hatte gerade im Sitz des Captains Platz genommen. Sie wandte sich an ihren Ersten Offizier. "Sie können sich diese zwei Stunden zu Ihrer persönlichen Verfügung freinehmen, Commander Van Doren."

"Danke, Captain."

Sunfrost lächelte. "Bis zum Austritt aus dem Zwischenraum werde ich es hier schon ohne Sie schaffen - aber danach hätte ich Sie gerne wieder hier."

"Das möchte ich mir auch ungern entgehen lassen, Captain." Van Doren wandte sich an Al-Katibi. "Ich glaube, Ihre Schicht ist auch vorbei, Mister Al-Katabi."

"Ich habe mit Lieutenant Taranos vereinbart, dass er zehn Minuten später kommen kann und..."

In diesem Augenblick betrat Lieutenant John Taranos die Brücke und meldete sich zum Dienst.

Al-Katibi erhob sich von seinem Platz.

Es wirkt fast so, als wäre er enttäuscht darüber, nicht noch länger am Ruder zu sitzen, ging es Sunfrost durch den Kopf. Kein Zweifel, er macht den Job als Rudergänger wirklich sehr gerne. Fast so, als wäre er mit der Konsole schon symbiotisch verwachsen.

John Taranos nahm seinen Posten ein, während Van Doren und Al-Katibi die Brücke der STERNENKRIEGER verließen.

"Ein Funkspruch von der SONNENWIND", meldete unterdessen Fähnrich Dunston, der im Augenblick Lieutenant Susan Jamalkerim an der Konsole des Kommunikationsoffiziers vertrat.

"Dann schalten Sie den Kom-Kanal frei, Fähnrich", sagt Sunfrost.

"Aye, Captain."

Auf einem Nebenbildschirm erschien das Gesicht von Captain Barus. Der Kommandant der SONNENWIND, die ein vollkommen baugleiches Schwesterschiff der STERNENKRIEGER war, hob die Augenbrauen. "Guten Tag, Captain Sunfrost. Ich hoffe, bei Ihnen ist alles in Ordnung."

"Im Moment haben wir keinen Grund zur Klage, Captain Barus", gab Rena zurück.

"Lieutenant Guofeng Smith, mein überaus begabter Kommunikationsoffizier, hat einen schwachen Kommunikationsimpuls im Sandström-Funkspektrum aufgefangen."

Daran, dass Captain Barus seinen Kommunikationsoffizier zumeist mit Vor- und Nachnamen bezeichnete, hatte sich Rena Sunfrost inzwischen schon gewöhnt. Es hatte wohl damit zu tun, dass Smith innerhalb der Humanen Welten ein ziemlich häufiger Name war und es selbst an Bord der SONNENWIND auch noch einen Geschützoffizier mit gleichem Rang und gleichem Namen gab, machte diese Klarstellung wohl notwendig.

Captain Barus fuhr fort: "Es handelt sich der Kennung nach um eine Botschaft von Taralon."

"Vielleicht eine Nachricht des Herrn der Etnord?", vermutete Sunfrost.

"Die verwendete Signalart und die Kennung machen das sehr wahrscheinlich. Aber leider können wir den Inhalt bisher nicht entschlüsseln. Auch wenn mein Kommunikationsoffizier das nur ungern zugeben würde - er braucht Hilfe! Und Sie haben doch schließlich dieses Olvanorer-Genie an Bord."

"Bruder Guillermo wird Ihnen gerne helfen. Ich schlage vor, Sie übertragen die Daten an die STERNENKRIEGER. Und Lieutenant Guofeng Smith sollte sich dann direkt mit Bruder Guillermo in Verbindung setzen. Da wir uns zurzeit in einem ganz regulären Sandström-Flug befinden, dürfte es keine Schwierigkeiten geben, was die Qualität der Datenverbindung angeht."

"Die Etnord verlassen im Moment in Scharen die von ihnen eroberten Welten", stellte Captain Barus fest. "Es müssen inzwischen Millionen Raumschiffe sein, die sich mit bisher unbekanntem Ziel auf den Weg gemacht haben, so als würden sie einem geheimen Ruf folgen... Wenn man nun von Taralon aus eine Nachricht über eine so weite Distanz aussendet, dann muss das eine besondere Bedeutung haben."

"Ich werde der Sache die entsprechende Priorität einräumen, Captain Barus", versprach Sunfrost.

Er hat eine sehr subtile Art, mir deutlich zu machen, dass wir zwar denselben Rang bekleiden, aber er auf Grund seines höheren Dienstalters die Leitung dieser Mission innehat, ging es ihr dabei durch den Kopf.

"Danke, Sunfrost. Falls nicht irgend etwas Unvorhergesehenes eintritt, sprechen wir nach Austritt aus dem Zwischenraum wieder miteinander."

"In Ordnung, Sir."

"Barus, Ende!"

Das Bild des Captains der SONNENWIND verschwand vom Schirm.

"Wir bekommen eine Datentransmission von der SONNENWIND", meldete indessen Fähnrich Dunston.

"Das ging ja schnell", murmelte Rena Sunfrost. "Stellen Sie eine Verbindung zu Bruder Guillermo her und sagen Sie ihm, dass es Arbeit für einen Wissenschaftler gibt, Fähnrich Dunston."

"Aye, aye, Captain."

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"Um ehrlich zu sein, ich bedaure es, dass an dieser Expedition keine qualifizierten Wissenschaftler teilnehmen", sagte Bruder Guillermo, während er gerade seinen Salat zu Ende gegessen und sein Glas mit klarem Wasser ausgetrunken hatte. Er saß zusammen mit Chefingenieur Lieutenant Erixon und Schiffsarzt Dr. Ash Trent zusammen in einem der Aufenthaltsräume der STERNENKRIEGER.

"Nicht gerade schmeichelhaft, was Sie da sagen", meinte Trent.

"Äh, ich wollte nicht..."

"...damit sagen, dass ich als Arzt und Biologe kein Wissenschaftler bin, der das Attribut qualifiziert beanspruchen könnte?"

"Wie gesagt, das hatte ich damit keinesfalls ausdrücken wollen, Dr. Trent."

"Mir ist jede Eitelkeit fremd, Bruder Guillermo. Aber ich bin auch niemand, der mit seiner Meinung hinter dem Berg hält. Und ich halte diesen Professor von Schlichten, dessen Anwesenheit wir alle für einige Zeit an Bord der STERNENKRIEGER ertragen mussten, für einen arroganten Sack. Jemand, der den Rest der Menschheit für geistig unterentwickelt hält und das auch jeden spüren lässt, mit dem er redet."

"Nun, vielleicht sind wir das ja auch alle in gewisser Weise", meinte Erixon dazu, ehe Bruder Guillermo etwa sagen konnte. "Geistig unterentwickelt, meine ich. Zumindest, wenn man die Sache aus von Schlichtens Perspektive betrachtet."

"Und das sagt jemand, der sogar genetisch optimiert wurde", höhnte Trent.

Erixon wandte Trent das Gesicht zu und und sah ihn mit seinen infrarotsichtigen Facettenaugen an. "Mein Respekt vor von Schlichten war immer extrem hoch, zumindest was die wissenschaftliche Seite angeht. Ansonsten halte ich ihn für einen Sklaven des Far Galaxy Konzerns und daher war ich mir nie so ganz sicher, ob wir und er wirklich dieselben Ziele verfolgen."

"Nun, es gab da sicher eine ausreichend große Schnittmenge", griff jetzt Bruder Guillermo wieder in das Gespräch ein. "Aber es dürfte eins unstrittig ein: Es gibt kaum jemanden, der so viel über die Technik der Alten Götter weiß wie von Schlichten. Und es könnte sehr gut sein, dass wir auf unserer Expedition ins Etnord-Gebiet auf Rätsel stoßen, die mit diesem Themenkomplex zu tun haben. Man stelle sich das nur vor: Wir haben vielleicht plötzlich den Schlüssel in der Hand, um das Rätsel dieser uralten, verschollenen Spezies endgültig zu lüften, aber es ist niemand an Bord, der das richtig zu interpretieren weiß."

"Soweit ich weiß, war es von Schlichtens Wunsch, nicht an dieser Expedition teilzunehmen", meinte Trent.

"Wurde er denn angefragt?", erkundigt sich Bruder Guillermo.

"Das nehme ich an."

"Das nehmen Sie an. Aber ich glaube, man hat ihn gar nicht erst gefragt", meinte Bruder Guillermo.

"Und wie kommen Sie darauf?", fragte Trent.

Bruder Guillermo hob die Augenbrauen.

"Anders als unsere Expedition ins Morrhm-Gebiet ist diese Reise von vornherein als militärische Aktion geplant gewesen. Die geheimnisvollen Lichtsonden, die plötzlich überall auftauchten, stellten ein Sicherheitsproblem da. Man sah darin im Space Army Corp und im Humanen Rat in erster Linie den Angriff einer unbekannten Macht, die versucht, uns auszuforschen. Und ich könnte mir denken, dass Admiral Raimondo dafür gesorgt hat, dass man unseren Vorstoß durch Wurmloch Alpha ins Etnord-Gebiet nicht noch mit so etwas wie Forschung belastet."

"Das klingt jetzt für Ihre Verhältnisse ungewöhnlich bitter, Bruder Guillermo.

"Ich bin auch ungewöhnlich wütend darüber."

"Könnte es nicht sein, dass Sie sich da nur eine Art Verschwörungstheorie zurechtgezimmert haben? Könnte es nicht auch sein, dass von Schlichten einfach Besseres zu tun hatte oder zumindest daran glaubte und deswegen tatsächlich keine Lust hatte, sich auf eine gefährliche Mission in eine fast fünfzigtausend Lichtjahre entfernte, auf der anderen Seite der Galaxis gelegene Weltraumregion zu begeben, die wir ohne Hilfe der Wurmlochstraßen, die uns die Alten Götter hinterließen, wahrscheinlich selbst in tausend Jahre noch nicht erreichen könnten?"

Ein Ton, so scharf wie ein Rasiermesser, dachte Bruder Guillermo. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, weshalb Sie manche an Bord einfach nicht ausstehen können, Dr. Trent. Laut sagte der Olvanorer-Mönch: "Vielleicht haben Sie Recht, Doktor. Aber wissen Sie, das Thema der Alten Götter und alles was mit dieser geheimnisvollen Spezies zusammenhängt, fasziniert mich seit wir im Tardelli-System zum ersten Mal auf ihre Hinterlassenschaften stießen. Und was immer man über von Schlichtens menschliche Qualitäten auch sagen mag, er hat immerhin dazu beigetragen, dass wir wenigstens ein bisschen von dem verstehen, was es mit dieser Rasse auf sich hatte, als jeder andere. Und ganz ehrlich: Ich habe immer gerne mit ihm zusammengearbeitet."

"Da sind Sie vermutlich der Einzige", sagte Dr. Trent. "Oder sind Sie auch ein Fan dieses Kotzbrockens, Lieutenant Erixon?"

"Nun, um ehrlich zu sein... Es geht mir wie Ihnen, Trent. Ich mag ihn nicht."

"Sehen Sie!"

"Aber ich mag Sie auch nicht. Trotzdem würde ich mich von Ihnen behandeln lassen, wenn im Umkreis von 50 000 Lichtjahren kein anderer menschlicher Arzt in der Nähe ist, der nicht zum Wirtskörper eines Etnord geworden ist. Natürlich könnte ich den Schiffsarzt der SONNENWIND über eine Sandström-Funkverbindung um eine Ferndiagnose bitten. Aber das überlege ich mir, wenn es soweit sein sollte."

"Was Sie nicht sagen, Erixon." Trent wandte sich Bruder Guillermo zu, während er den Rest seines Getränks leerte. "Als nächstes werden Sie mir vermutlich sagen, dass Sie es bedauern, dass dieser Vogel nicht mehr an Bord ist."

Mit ‘diesem Vogel’ meinte Trent offenkundig Austauschoffizier Nirat-Son. Aber nachdem das Austauschprogramm mit der Raumflotte der Qriid noch einmal eher halbherzig fortgesetzt worden war, hatte sich Nirat-Son inzwischen daraus abberufen lassen. Das lag wohl auch daran, dass er immer dann, wenn es um Missionen ging, deren Sicherheitsstatus als heikel eingestuft wurde, damit rechnen musste, von Bord beordert zu werden. Dies war wiederholt geschehen. Bruder Guillermo konnte gut verstehen, dass dies auf Dauer für Nirat-Son untragbar gewesen war.

Aber die Abwesenheit des Qriid bedauerte Bruder Guillermo in der Tat, auch wenn es kaum eine Ansicht gab, die der pazifistisch eingestellte Olvanorer-Mönch und der Gotteskrieger des Heiligen Imperiums der Qriid miteinander geteilt hatten. Keine, außer vielleicht der Ansicht, dass es im Universum so etwa wie eine göttliche Ordnung gab. Allerdings waren die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis höchst unterschiedlich.

Bruder Guillermo hatte es allerdings stets sehr wichtig gefunden, immer auch gegenteilige Perspektiven zu berücksichtigen und in seine Überlegungen miteinzubeziehen. Und so vermisste er die Streitgespräche mit dem Qriid tatsächlich - genau wie Trent es vermutet hatte.

Ein Signal seines Kommunikators hielt Bruder Guillermo davon ab, dazu noch etwas zu sagen, obwohl ihm eigentlich so vieles auf der Zunge lag.

Bruder Guillermo sah auf die Anzeige.

"Eine Nachricht von der Brücke", stellte er fest. "Es scheint Arbeit für mich zu geben."

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"Kann ich Ihnen behilflich sein?"

Bruder Guillermo hatte sich gerade in Kontrollraum C im Maschinentrakt zurückgezogen - in der Annahme, sich der Entschlüsselung der Sandström-Funknachricht widmen zu können, die das Schiff von Captain Barus an die STERNENKRIEGER übersandt hatte. Dass die Daten beschädigungsfrei überspielt worden waren, hatte der Olvanorer-Mönch bereits kontrolliert. Im Sandström-Flug war das noch immer keine Selbstverständlichkeit, auch wenn sich die Schiff-zu-Schiff-Kommunikation in den letzten Jahren außerordentlich stark verbessert hatte.

Bruder Guillermo drehte sich um und sah in das vollkommen behaarte Gesicht von Fähnrich Clayton Morales.

"Ich habe gehört, dass da soeben ein interessantes Datenpaket herübergeschickt worden ist", meinte Morales. "Gestatten Sie, dass ich..."

"Lassen Ihnen Ihre Pflichten im Triebwerkstrakt denn Zeit für solche Dinge?", erkundigte sich Bruder Guillermo.

"Lieutenant Erixon weiß Bescheid, Bruder Guillermo."

"Nun, ich kann Hilfe immer gut gebrauchen - und Ihren technischen Sachverstand sowieso."

Morales nahm einen der Sitze ein, die sich in dem Kontrollraum befanden, der ansonsten mit Terminals und Konsolen gefüllt war. Vor allem Rechnerzugänge befanden sich hier. Und genau das brauchte Bruder Guillermo im Moment für das, was er sich vorgenommen hatte.

"Worum geht es genau?"

"Um eine verschlüsselte Nachricht von Taralon. Sie ist vermutlich an all die verstreuten Flotten der Etnord gerichtet, die sich jetzt an verschiedenen Sammelpunkten einfinden..."

"...vermutlich um sich zu noch größeren Verbänden zu sammeln."

"Ja."

"Ich frage mich, wohin dieser gigantische Exodus führen soll, Bruder Guillermo."

"Das ist die Frage, die uns alle beschäftigt."

"Ich meine, man muss sich das nur mal richtig vorstellen! Da erobern diese Parasiten zuerst in Jahrzehnten oder vermutlich Jahrhunderten ein riesiges Reich. Sie übernehmen eine Spezies nach der anderen, benutzen sie als Wirtskörper und integrieren ihre Heimatwelten in einen großen Verbund, dessen Zentrum dieser Sogenannte Herr auf Taralon zu sein scheint."

"Exakt, so ist es", stimmte Bruder Guillermo zu.

"Und jetzt verlassen sie anscheinend diese Welten wieder. Sie ziehen einfach davon und hinterlassen - leere, unbesiedelte Planeten. Darauf läuft es doch hinaus, denn ihre Wirtskörper behalten sie natürlich. Mit denen sind sie schließlich so sehr verschmolzen, dass..."

"Sie haben recht, es muss einen sehr wichtigen Grund dafür geben. Eine Art Ruf, der sie alle ereilt hat. Und im  Gegensatz zu uns scheinen sie das Ziel auch genau zu kennen."

"Wir haben bisher immer gedacht, dass diese Lichtsonden, die so plötzlich wie aus dem Nichts selbst noch im irdischen Sektor auftauchten, uns auskundschaften wollten."

"Sie haben die Wurmlochstraßen der Alten Götter benutzt. Es ist nicht so verwunderlich, dass sie solche Entfernungen überbrücken konnten. Und davon abgesehen bin ich nicht der einzige, der glaubt, dass es sich um ein Phänomen oder eine Technologie handelt, die auf der Verschränkung von Quantenzuständen basiert. Und da spielen Entfernungen keine Rolle."

"Sie zweifeln an, dass sich um ein Auskundschaften handelt?", hakte Morales noch einmal nach, denn er hatte das Gefühl, dass Bruder Guillermo von allein diesen Gesprächsfaden nicht noch einmal aufnehmen würde.

"Ich glaube inzwischen eher, dass es Wegweiser sind. Botschaften, die sich nicht an uns gerichtet haben."

"Und warum tauchten die Sonden dann auch im irdischen Sektor auf?"

"Sie werden an sehr viele Orten zugleich aufgetreten sein. Überall dort, wo diejenigen, die sie ausgesandt haben, glauben, dass es jemanden geben könnte, der sie versteht. Das können meiner Ansicht nach nur die Alten Götter sein - oder ein von ihnen erschaffener Mechanismus, der noch davon ausgeht, dass der Großteil der Galaxis unter der Herrschaft der Erhabenen steht."

"Eine gewagte Theorie, Bruder Guillermo."

"Ich weiß, dass mir dafür noch viele Beweise fehlen, aber..."

"Man sagt Ihnen ja eine große Empathie nach."

Bruder Guillermo lächelte. "Wie jedem Olvanorer", schränkte er ein.

"Es könnte ja sein, dass Sie die Absicht der..." Morales suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich. "...der Anderen intuitiv erfasst haben."

"Wussten Sie, dass man gemeinhin unter dem Begriff PSI zusammengefasste Phänomene ebenfalls auf quantenmechanische Verschränkung und Quantenteleportation zurückführen könnte? Alles, was man früher über morphologische Felder und dergleichen geschrieben hat... Gedanken, die plötzlich in der Luft liegen und Individuen, die durch weite Distanzen getrennt sind, trotzdem an denselben Erfindungen arbeiten lassen. So etwas hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben."

Die Augen des Olvanorer-Mönchs begannen regelrecht zu leuchten, so sehr schien er von seiner Idee fasziniert zu sein.

Clayton Morales hingegen wirkte etwas hilflos.

Und irritiert.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2023
ISBN (ePUB)
9783738971675
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Schlagworte
andere galaxien seiten science fiction paket

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Andere Galaxien: 1400 Seiten Science Fiction Paket