Zusammenfassung
Band 1 der Drachenerde-Saga
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 517 Taschenbuchseiten.
Seit Urzeiten ist das Drachenland die Heimat der mythischen geflügelten Geschöpfe, die von den Drachenreiter-Samurai gehütet werden. Doch der Frieden im Land wird empfindlich gestört, als sich der grausame Tyrann Katagi des Drachenkaiserthrons bemächtigt und selbst vor Mord nicht zurückschreckt, um seine Macht zu festigen. Der junge Rajin ist der wahre Thronfolger des Landes und der Einzige, der es mit dem Usurpator aufnehmen kann. Doch dazu muss er einen verschwundenen magischen Ring finden, mit dessen Hilfe die Drachenkaiser einst über die feuerspeienden Ungeheuer geboten. Und über diesen wacht der mächtige Urdrache Yyuum...
Die Drachenerde-Saga von Alfred Bekker besteht aus den Bänden DRACHENFLUCH, DRACHENRING und DRACHENTHRON.
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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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DRACHENFLUCH
Band 1 der Drachenerde-Saga
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 517 Taschenbuchseiten.
Seit Urzeiten ist das Drachenland die Heimat der mythischen geflügelten Geschöpfe, die von den Drachenreiter-Samurai gehütet werden. Doch der Frieden im Land wird empfindlich gestört, als sich der grausame Tyrann Katagi des Drachenkaiserthrons bemächtigt und selbst vor Mord nicht zurückschreckt, um seine Macht zu festigen. Der junge Rajin ist der wahre Thronfolger des Landes und der Einzige, der es mit dem Usurpator aufnehmen kann. Doch dazu muss er einen verschwundenen magischen Ring finden, mit dessen Hilfe die Drachenkaiser einst über die feuerspeienden Ungeheuer geboten. Und über diesen wacht der mächtige Urdrache Yyuum...
Die Drachenerde-Saga von Alfred Bekker besteht aus den Bänden DRACHENFLUCH, DRACHENRING und DRACHENTHRON.
Erstes Buch: Rajin
Fünf Monde stehen in der Nacht am Himmel;
Fünf Reiche teilen sich das Land;
Fünf Meere bilden den Ozean;
Fünf Winde wehen;
Fünf Himmelsrichtungen kennt der Reisende;
Fünf Äonen dauert die Geschichte der Welt – von ihrem Anfang bis zu ihrem Untergang.
Der Gesang von den Fünf
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Alle, die den Mächten des Bösen noch hätten Einhalt gebieten können, wurden von den Schergen der Finsternis nach und nach gemeuchelt. Nur Rajin war noch am Leben. Ich hatte den Keim des Wissens in seine Seele gepflanzt, als er noch ein Säugling war. Inzwischen waren achtzehn Sommer und Winter vergangen und Rajin meine letzte Hoffnung ...
Die Schriften des Weisen Liisho
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Und siehe – es gibt Welten im Polyversum wie Sand am Meer. Es lohnt nicht, sich ihrer Namen zu erinnern, noch ihnen Namen zu geben. Denn seien wir redlich gegenüber Göttern und Sterblichen: Kaum ein Sterblicher verlässt je seine Provinz, geschweige denn seine Welt. Und die Götter sind verdammt dazu, dort zu bleiben, wo die Gläubigen ihnen huldigen, denn sie verhelfen ihnen Kraft ihres Glaubens erst zur Existenz.
Vergessen ist die Größe des Kosmos. Vergessen die Vielzahl der Existenz-Sphären. Vergessen auch die Tore, die sie alle miteinander verbinden und durch die sie alle kamen.
Die Ersten, die diese Tore durchschritten, waren die Drachen.
Es gab sie in jeder Form und Größe; es gab unter ihnen jede Art von Klugheit, Falschheit, Verderbtheit und Erhabenheit, wie sie uns auch von den Völkern der Menschen und der Magier bekannt ist.
Im Ersten Äon beherrschten sie die Welt, die sie darum Drachenerde hießen und die ihnen allein untertan war.
Sie erschufen Gebirge und Landmassen nach ihrem Willen und Gutdünken. Mit der rohen Kraft ihrer monströsen Pranken formten sie alle Länder und verbrannten mit ihrem Feueratem, was ihnen nicht genehm war.
Das Gestein brachten sie zum Schmelzen, ließen es erkalten, furchten ein Flussbett nach dem anderen in den Boden und türmten Felsbrocken übereinander. Sie brachten den Ozean zum Kochen und ließen ihn als Regen wieder herabfallen. Ihre Götter aber hatten die Drachen jenseits der Tore zurückgelassen und spotteten ihrer.
Wer hätte schon mächtiger sein können als die Drachen selbst? Welcher Drache hätte auf dieser Welt, die ihnen allein gehörte, noch göttlichen Schutz gebraucht? Bewiesen sie nicht jeden Tag und jedes Jahrtausend aufs Neue ihre uneingeschränkte Macht, indem sie die Welt zu einem Ort des Chaos machten?
Der Urdrache Yyuum – so groß wie ein Gebirge und mit dem Feueratem eines Vulkans – war ihr Fürst. Gefürchtet wie kein Gott vor ihm und mächtig wie niemand sonst.
Doch jene Welt, der die Drachen ihren Namen und ihre Herrschaft aufgezwungen hatten, sollte sich bitter rächen.
Und es rächte sich auch, dass sie ihre Götter jenseits der Tore zurückgelassen hatten, weil sie glaubten, ihres Schutzes nicht mehr zu bedürfen. Denn darum gab es niemanden, der sie vor der Macht aus dem Erdinneren schützte.
Wie aus einer blutenden Wunde quoll es glühend aus Rissen und Spalten im Erdreich hervor. Eine Feuersbrunst, wie sie kein Drache hervorzubringen vermochte, wütete über das Land und das Meer, und eine Menge an geschmolzenem Gestein, die ausgereicht hätte, einen Kontinent zu erschaffen, wurde zu einem gewaltigen Krater aufgeschichtet.
Dieser Vulkanausbruch von nie gekanntem Ausmaß verschlang die größten und mächtigsten unter den Drachen. Der Urdrache Yyuum selbst wurde ebenso verschüttet wie zahlreiche andere Giganten. Nur ein paar Drachen von kleiner und mittlerer Größe überlebten diesen Tag des Feuergerichts.
Einzig dem Empfinden von Menschen und Magiern nach mögen sie gewaltig erscheinen. Und doch waren die Drachen der folgenden Zeitalter nichts als Winzlinge gegen jene, die das Erste Äon beherrscht hatten.
Die überlebenden Drachen aber reute es, dass sie so hochmütig gewesen waren, und ihre Tränen füllten den Kratersee auf dem Dach der Welt.
Die mächtigsten von ihnen waren entweder vernichtet oder zu ewigem Schlaf unter den Gesteinsmassen verurteilt, die sie verschüttet und eingeschlossen hatten.
Das Buch des Ersten Äons; Platte I, Vers 1-4
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So endete das Erste Äon und die Herrschaft der Drachen, und es dauerte ein Jahrzehntausend, ehe sich die Welt erholte.
Dann folgte das Zweite Äon, in dem das Volk der Magier die Tore passierte, gefolgt von allerlei Schattenkreaturen und den Echsenkriegern, von denen manche annehmen, dass sie entfernte Verwandte der Drachen waren, die der Verbleib unter der Herrschaft der Götter klein hatte werden lassen, sodass sie zu willigen Vasallen wurden.
Stolz und machtbewusst war jedoch das Volk der Magier.
Die Magie dieser Invasoren vermochte jene Drachen zu zähmen, die das Ende des Ersten Äons und die Zeit des geschmolzenen Steins überlebt hatten.
Das Dritte Äon ließ die Völker der Menschen durch die Weltentore treten und sich überall ausbreiten. Sie fürchteten Drachen und Magier gleichermaßen und dienten den Herren der Magie als Sklaven und Narren.
Aber ein Magier verliebte sich in eine Menschenfrau, und es dauerte ihn das schwere Schicksal, dass ihr Volk in Armut, Einfachheit und Einfalt ertrug. Sein Name war Barajan, und die Magie war sehr stark in ihm.
So bannte er die Kraft, die die Drachen knechtete, in drei Ringe, mit deren Hilfe auch Menschen in der Lage waren, sich die Drachen gefügig zu machen, sodass sie ihnen durch ihre Dienste das Leben erleichterten.
Die anderen Magier aber waren sehr erzürnt über Barajan, denn sie wollten die Macht über die Drachen nicht teilen. So erklärten sie Barajan fürderhin zum vogelfreien Feind, den jeder töten durfte.
Da verschloss Barajan mit der Macht der drei Drachenringe den Geist aller Drachen vor dem Einfluss der Magier. Er zog mit seiner menschlichen Gemahlin, deren Name Ceranée lautete, nach Osten, setzte einen Stein, den er aus dem Reich der Magier mitgebracht hatte, auf eine Anhöhe an der Küste des Altlandes und sprach: „Hier soll meine Stadt entstehen, die der Kern jenes Reiches werden soll, das ich gründen werde!“ Und diese Stadt nannte er Drakor, die Hauptstadt von Drachenia.
So scharte Barajan viele Menschen um sich und erwehrte sich der Angriffe der anderen Magier. Die Menschen aber lehrte er, die Drachen zu reiten und ihren Geist zu beherrschen.
Seine menschliche Gemahlin gebar ihm Söhne und Töchter, und darum fließt bis auf den heutigen Tag das Blut von Magiern in den Adern vieler Adeliger des Drachenlandes Drachenia – ganz besonders aber in denen des Kaisergeschlechts.
So begann die Geschichte des Drachenlandes Drachenia und das Vierte Äon.
Die Steintafel des Blinden Schreibers von Kajar
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Dies waren die Herrscher der Fünf Reiche im Vierten Äon:
– Der Kaiser des Drachenlandes Drachenia auf dem Thron in Drakor, der größten Stadt der Welt, Herr über Drachen und Drachenreiter.
– Der Priesterkönig des Luftreichs Tajima in der Tempelhalle der Fünf Winde in seiner Feste Taji an den Ufern des Vulkansees auf dem Dach der Welt.
– Der Fürst von Feuerheim, der als Feuerfürst in der Stadt Pendabar residierte, aus deren Mauern Flammen schlugen, wenn sich ihnen jemand unbefugt näherte.
– Der Großmeister von Magus, der als Herrscher aller Magier an den Zinnen von Magussa stand und seine unheilvollen Formeln vor sich hin murmelte, sodass der Wind und die Kraft mächtiger Magie sie über das Mittlere Meer trug.
– Der Hochkapitän des Seereichs, Herr über die tausend Schiffe im Hafen von Seeborg und Kapitän der Kapitäne, Herrscher der Seemannen, deren Flotten so viel Gold und Silber in ihr Land brachten, dass man sich fragte, wie es sein konnte, dass dieser mächtige Strom aus glänzendem Metall nicht längst versiegt war.
Fünf Herrscher, die die Welt unter sich aufgeteilt hatten und die die Tatsache, dass keiner von ihnen den anderen zu besiegen vermochte, irrtümlich für Frieden hielten.
Doch es gab einen sechsten Herrscher, der mächtiger war als sie alle zusammen.
Es war Yyuum, der Urdrache.
Äonenlang schlief er unter dem Dach der Welt.
Doch die Zeit sollte kommen, da er wieder erwachte.
Die Zeit des Fünften Äons sollte es sein, da die Erde erzitterte und aufriss, da sie blutete wie eine offene Wunde und Yyuums Herrschaft gekommen war.
Doch in den Reichen der Menschen und Magier redete man davon nur hinter vorgehaltener Hand und voller Furcht.
Das Buch Yyuum
(Abschrift nach dem einzig erhalten gebliebenen Exemplar in der Großen Bibliothek von Magussa)
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Fünf mal fünfundzwanzig Kaiser aus der Blutlinie Barajans hatten in ununterbrochener Folge auf dem Thron von Drakor geherrscht, bis der eine kam, den die Annalen den »Usurpator« nannten und dessen wahrer Name seitdem einem Fluch gleicht.
Das Buch des Usurpators
1. Kapitel: Drachenfeuer auf Winterland
„Dein wahrer Name ist Rajin, auch wenn die Zeit noch nicht gekommen ist, da du ihn offenbaren solltest!“
Worte, gesprochen in einer Sprache, die der junge Seemammutjäger außer in seinen Träumen nie gehört hatte.
Wie oft hatte Rajin diese Stimme schon vernommen und dazu das Gesicht das weißbärtigen, mandeläugigen Weisen vor sich gesehen, dessen Namen er kannte, obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihm je begegnet zu sein: Liisho. Wie in einem Tagtraum sprach der Weißbärtige zu ihm. Der Kopf dieser Traumgestalt war vollkommen kahl und seine Züge von einer so ernsthaften Eindringlichkeit, dass sich Rajin ihrer Magie nicht zu entziehen vermochte.
„He, Bjonn! Träumst du?“, herrschte ihn jemand an.
Bjonn Dunkelhaar – so hieß Rajin bei den Menschen des Winterlandes, einer Insel im äußersten Nordwesten des Seereichs der Seemannen. Dort war er aufgewachsen, unter Seefahrern, Fischern und den Jägern der Seemammuts, die vier- bis fünfmal so groß waren wie die größten Langschiffe.
Ein Ruck ging durch Rajin.
Er trug Kleidung aus Fell, und ein Schwert steckte in einer Lederscheide, die er über den Rücken gegürtet hatte, wie es im Seereich weit verbreitet war. Das blauschwarze Haar fiel ihm bis über die Schultern, und seine Augen waren mandelförmig und dunkel. Dass in seinen Adern nicht das Blut der Seemannen fließen konnte, war ihm schon früh klar gewesen, denn deren Haare waren blond oder rot und ihre Haut deutlich heller, während Rajins Gesicht einen sanften Braunton aufwies.
Wulfgar Wulfgarssohn, ein rotblonder Hüne von vierzig Jahren, dem der Bart bis unter die Augen wuchs, hielt Rajin eine Harpune hin. Rajin nahm sie an sich. Mit zwanzig anderen Männern standen sie an der Reling der „Stoßzahnsammler“, einem Langschiff, das speziell für die Jagd auf die Seemammuts konstruiert worden war, was sich unter anderem in den Holmen zur Befestigung der Harpunentaue zeigte.
„Was ist los, Sohn Bjonn?“, fragte Wulfgar. Er pflegte Rajin seinen Sohn Bjonn zu nennen, obwohl jeder sehen konnte, dass sie von Natur her nicht Vater und Sohn sein konnten und weder Wulfgars Gemahlin noch eine seiner Nebenfrauen oder Mägde als Mutter in Frage kamen, denn keine von ihnen hatte Mandelaugen oder blauschwarzes Haar.
Wulfgar kümmerte das nicht. Er hatte Rajin als seinen legitimen Sohn angenommen und ihn Bjonn genannt. Die meisten Kinder ereichten ohnehin nicht das Erwachsenenalter, ganz zu schweigen von den Gefahren, die danach das karge, raue Leben auf Winterland für sie bereithielt. Da war es besser, mehr Söhne zu haben als weniger, ganz gleich, ob man sie selbst gezeugt oder ob man sie in einem mit Pech abgedichteten Korb gefunden hatte, den scheinbar die See an die winterländische Küste gespült hatte.
Ein Geschenk des Meeresgottes Njordir – als das hatte man den Jungen unter den Kapitänen von Winterborg damals angesehen. Und da Wulfgar es gewesen war, der dieses Geschenk gefunden hatte, war jeder Zweifel daran, dass ihm diese Gabe Njordirs zugedacht gewesen war, abwegig.
Wulfgars meergrüne Augen verengten sich. Die „Stoßzahnsammler“ schwankte im relativ sanften Rhythmus der Wellen. Die See war für die rauen Verhältnisse des Nördlichen Meeres sehr ruhig. Kein Wunder, es war Sommer. Dann wurden die Winde milder, und das Eis zog sich an der winterländischen Küste einige Meilen ins Landesinnere zurück, sodass die Insel für ein paar Monate von einem grünen Saum umgeben war, der aus der Ferne wie ein schimmerndes Band erschien.
Das Wetter war wie geschaffen für die Jagd auf die Seemammuts ...
„Sind es wieder die Träume?“, fragte Wulfgar besorgt.
„Es ist vorbei.“
„Habe ich es doch geahnt ...“
„Vater!“
„Es sind wieder die Traumgesichter, über die du nicht sprechen kannst und die dir der Meeresgott eingegeben haben muss, als du draußen auf dem Meer herumgetrieben bist!“
„Es ist vorbei!“, versicherte Rajin noch einmal und diesmal energischer. Er hatte einmal als kleiner Junge versucht, sich Wulfgar anzuvertrauen und über das zu sprechen, was er in seinen Gedanken vor sich sah. Über die Stimme, die er hörte, und das Gesicht des weißhaarigen Alten mit dem kahlen Kopf, dessen Augen wie ein Spiegelbild seiner eigenen Augen auf ihn wirkten. Zumindest hatten sie die gleiche Form, und auch die dunkle Farbe stimmte überein.
Aber Rajin hatte nicht ein einziges Wort hervorgebracht. Obwohl er als sprachgewandt galt und das Seemannische ihm wie eine Muttersprache beigebracht worden war, hatte er keine Worte für das gefunden, was hinter seiner Stirn mitunter vor sich ging. Als ob ein Bann es verhinderte.
Ebenso war es ihm unmöglich, Wörter aus der gleichermaßen vertrauten wie vollkommen fremden Sprache nachzusprechen, die der Weise Liisho in seinen Träumen verwendete. Für jedes Wort, das man ihm in der Sprache der Seemannen von Winterland beigebracht hatte, wusste er eine Entsprechung in der Sprache Liishos – und doch war er nicht fähig, auch nur eines dieser Wörter über die Lippen zu bringen.
Dasselbe galt für den Namen, den die Traumgestalt Liisho als seinen wahren Namen bezeichnete.
Rajin ...
Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er diesen Namen am liebsten laut herausgeschrien, weil er sich davon eine Befreiung von den Dämonen erhofft hatte, die in seinem Kopf zu spuken schienen. Aber er war nicht dazu im Stande gewesen. Eine unheimliche Kraft hatte verhindert, dass der Name »Rajin« über seine Lippen kam.
Er versuchte, die Gedanken an den weißbärtigen Liisho und seine teilweise rätselhaft bleibenden Worte für den Moment aus seinen Gedanken zu verbannen. Es war ein denkbar schlechter Augenblick dafür, sich von den sprechenden Dämonen in seinem Kopf ablenken zu lassen.
Rajin blickte gespannt auf die graue Wasseroberfläche. Sie war ruhig. Verdächtig ruhig. Jeden Augenblick konnte sie sich plötzlich teilen und ein wahrer Koloss daraus hervortauchen. Seemammuts hatten Hauer so lang wie drei Männer. Wie kunstvoll gewundene, vorne spitz zulaufende Dornen sahen sie aus, und ein einziger von ihnen bestand aus mehr Elfenbein, als es ein halbes Dutzend Elefanten mit sich herumtrug, die es in einigen tiefer gelegenen Gebieten des Luftreichs Tajima sowie im gesamten Osten von Feuerheim gab.
Wenn sich der Koloss unter der „Stoßzahnsammler“ emporhob, waren Schiff und Besatzung verloren. Das Wasser war so kalt, dass jeder innerhalb weniger Herzschläge in den eisigen Fluten erfrieren würde. Rajin konnte schwimmen. Es war ihm angeboren, wie er irgendwann einmal festgestellt hatte, als er im Alter von acht Jahren mit anderen Jungen seines Alters in einem der von heißen Geysiren gespeisten Warmwasserseen gebadet hatte, die es auf Winterland gab.
Viele der winterländischen Seefahrer lehnten es ab, das Schwimmen überhaupt zu erlernen. Diese Fähigkeit verlängerte in ihren Augen letztlich nur das Leiden dessen, der über Bord ging und dem Tod unrettbar ausgeliefert war. In so einer Situation war es ihrer Ansicht nach besser, sich einfach nur mit offenen Armen vom Meeresgott Njordir empfangen zu lassen. Zumindest ersparte es einem die Qual eines Überlebenskampfes, der schon wenige Meilen von der Küste entfernt vollkommen aussichtslos war.
Das Seemammut, dem Wulfgar Wulfgarssohn und die Mannschaft der „Stoßzahnsammler“ schon seit einem Tag und einer Nacht hinterherjagten, war bereits geschwächt. Hunderte von Pfeilen steckten in seinem Rücken. Pfeile, die mit dem Gift der winterländischen Eisspinne getränkt waren.
Es gab kein stärkeres Gift als dieses. Auf einen Menschen wirkten schon kleinste Mengen tödlich, und angeblich hatten es im Ersten Äon sogar die Riesendrachen gefürchtet.
Auf das Seemammut wirkte es natürlich nur allmählich. Es lähmte seinen gewaltigen Körper nach und nach, machte ihn träge und ließ ihn schließlich das Bewusstsein verlieren und regungslos an die Oberfläche treiben. Aber bis dahin standen den Schiffsbesatzungen zumeist ein oder zwei Tage des Kampfes und der Verfolgung bevor.
Im Delirium schlug das gewaltige Monstrum um sich und war häufig genug ein blindwütiger, zerstörerischer Gegner. Selbst die größten, fast hundert Mannlängen messenden Langschiffe der Seemannen konnten durch einen einzigen Flossenschlag zerteilt werden. Die Spanten waren gegenüber dieser Gewalt nicht widerstandsfähiger als Papier, das neuerdings das althergebrachte Pergament als Schreibmaterial zu ersetzen begann, seit es die seemannischen Handelsschiffe aus den Ländern des Südens herbeischafften. Selbst der Hauptsteven eines Drachenschiffs war nichts weiter als ein dünner trockener Ast, wenn ein beiläufiger Flossenschlag ihn traf.
Rajin hatte das bereits mit angesehen. Den betreffenden Besatzungen war meist kaum zu helfen, da es unmöglich war, sich dem Seemammut weit genug zu nähern, um sie an Bord nehmen zu können, bevor sie ertrunken oder erfroren waren. Oft wurden sie jedoch auch von den Beißern bei lebendigem Leib gefressen – etwa handgroßen Fischen, die in Schwärmen den Seemammuts folgten und normalerweise die quallenartigen Parasiten von der dicken Haut der Meeresriesen knabberten. Aber die drei Reihen nagelspitzer Zähne verhakten sich auch gerne in das Fleisch anderer leicht erreichbarer Beute, die sie für Aas hielten. Und ein Ertrinkender gehörte durchaus dazu. Das Wasser färbte sich dann blutrot ...
Bei der Jagd auf ein Seemammut mit schon mehreren vergifteten Pfeilen im Leib kam es auf das Geschick des Kapitäns an. Er musste richtig einschätzen, wie agil das Ungeheuer in der Tiefe noch war und wann es zum Atmen an die Oberfläche kam. Die Beißer-Schwärme waren an der Wasseroberfläche oft als wimmelnde Bewegung auszumachen, die das Wasser kräuselte. Wenn dies geschah, stieg das Seemammut im nächsten Moment aus den Fluten hervor.
Und genau dies war in diesem Moment der Fall.
Ein erfahrener Kapitän konnte ungefähr abschätzen, wo das Ungeheuer auftauchen würde, aber ein gewisses Risiko war immer dabei.
Die wirbelnden Bewegungen der Beißer waren deutlich auszumachen – und zwar auf einer Breite, die fast fünf Schiffslängen entsprach.
„Bei Njordir! Selbst unter den riesenhaften Ungeheuern muss dies noch ein wahrer Gigant sein!“, stieß Sven Blauauge hervor, der Steuermann der „Stoßzahnsammler“, der ebenso gespannt wie alle anderen auf die Wasseroberfläche starrte. Das Segel hing schlaff im lauen Wind. Die Seile waren gelöst. Während sich zwanzig Harpuniere im vorderen Teil des Schiffs positioniert hatten, saßen fünfzig weitere zumeist hellbärtige und langhaarige Seemannen auf den Ruderbänken, jederzeit bereit, mit der Kraft ihrer Arme kleinere Kurskorrekturen vorzunehmen. Das Leben der Mannschaft konnte davon abhängen, dass sie sich schleunigst in die Riemen legte, um mit einigen Ruderschlägen dem Meeresriesen auszuweichen, falls sich der Kapitän in seiner Einschätzung über die Stelle, an der das Ungeheuer auftauchen würde, geirrt hatte.
Und falls der Riese doch noch munterer war, als es die Menge des durch die Pfeile verabreichten Gifts eigentlich vermuten ließ, und das Seemammut nach einem tiefen Atemzug einfach das Weite suchen wollte, standen zwei Männer bereit, um sofort die Segeltaue wieder strammzuziehen, sodass das Schiff Fahrt aufnehmen und das Monstrum verfolgen konnte.
Die Beißer ließen das Wasser an manchen Stellen regelrecht aufspritzen, so sehr waren sie in Aufruhr. Wenn in dieser Situation ein Mann über Bord ging, hatte er keine zehn Herzschläge mehr zu leben, während derer er sich in ein blutiges Stück Fleisch verwandelte.
Es war kein gutes Zeichen, dass die Beißer so munter waren, ging es Rajin durch den Kopf. Mit fünfzehn Lenzen war er zum ersten Mal auf einem von Wulfgars Schiffen auf Seemammutjagd mitgefahren und hatte inzwischen genug Erfahrung gesammelt, um derlei Zeichen richtig deuten zu können. Wenn die Beißer ruhiger waren, bedeutete dies, dass sie sich überwiegend in die quallenartigen Parasiten verbissen hatten, die sich zu Tausenden auf der Haut des Seemammuts festgesetzt hatten. Nur ein kleiner Teil von ihnen schwamm dann noch frei im Wasser. Bewegte sich das Seemammut aber noch recht munter, zog es die Mehrheit der Beißer vor, erst einmal abzuwarten, denn im Eifer des Gefechts konnte das Ungeheuer mit einem Flossenschlag, der gegen den eigenen Körper klatschte, auch gleich Hunderte von Beißern zerquetschen.
Die Anzahl der Giftpfeile, die Wulfgar hatte abschießen lassen, war groß genug, aber gerade bei sehr großen Seemammuts war oft schwer einzuschätzen, wann die Wirkung einsetzte.
Das Wasser verdunkelte sich, und die Beißer verschwanden; der gewaltige Körper des Seemammuts drängte sie bei seinem Aufstieg zur Seite. Augenblicke später teilte sich das Wasser, und es war, als ob eine kleine, von festgesaugten Quallen und Muscheln übersäte, pockennarbige graue Insel aus der See aufstieg.
Nur gut vier Mannlängen lagen zwischen der Schwanzflosse und dem Bug der „Stoßzahnsammler“. Den Kopf hatte der Meeresriese immer noch nicht gehoben, sondern nur mit dem Rüssel Wasser in einer Fontäne in die Luft gestoßen. Ein dröhnender Ton entstand dabei, der so tief war, dass die Männer ihn mehr mit dem Magen spürten als mit den Ohren hörten.
„Werft die Harpunen!“, rief Wulfgar Wulfgarssohn.
Er ging offenbar davon aus, dass das Seemammut inzwischen zu geschwächt war, um noch einmal zu tauchen, wobei die Gefahr bestand, dass es das Schiff an den Tauen der Harpunen mit in die Tiefe riss. Falls dies geschah, mussten die Taue rechtzeitig gekappt werden.
Die Harpunen schwirrten im Dutzend durch die Luft, gruben sich in das Fleisch des Seemammuts und blieben mit den Widerhaken aus bestem Feuerheimer Stahl stecken. Weitere Harpunen fanden ihren Weg in die hintere Körperpartie des Meeresriesen. Wenn das Seemammut noch zu fliehen versuchte, würde es seinen Jäger hinter sich herziehen.
Da erst hob das monströse Wesen den Kopf – größer als so manches Haus in Winterborg – aus dem Wasser. Es troff von den geschwungenen Elfenbeinhauern, und aus dem Rüssel und dem Schlund drangen tiefe, gurgelnde Laute hervor, die einen dröhnenden Zweiklang ergaben.
„Holt ihn euch!“, rief Wulfgar.
Die Flossen bewegten sich kaum noch. Das war ein Zeichen, dass das Gift der Eisspinne nicht wirkungslos geblieben war. Die Pfeile, die von den Männern der „Stoßzahnsammler“ während der bisherigen Jagd abgeschossen worden waren, spickten den Rücken der lebenden Insel.
Die Männer fassten die Harpunentaue und zogen die „Stoßzahnsammler“ bis auf Sprungweite an den Körper des Seemammuts heran. Gleichzeitig wurde das Segel eingeholt, denn es war so gut wie ausgeschlossen, dass dieses Ungeheuer plötzlich doch noch zu einer heillosen Flucht aufbrach und es ihm außerdem noch gelang, die Harpunen abzuschütteln, sodass es notwendig wurde, ihm mit Segelkraft zu folgen.
Rajin war der Erste, der den Sprung wagte.
Er landete auf dem glitschigen, von Quallen und Muscheln übersäten Rücken des Seemammuts. Die Muscheln konnten messerscharf sein, aber die Quallen waren harmlos. Sie erschwerten allerdings das Laufen auf dem inselgroßen Rücken des Meeresriesen, weil man leicht auf ihnen ausglitt.
Rajin lief dennoch voran, so schnell er konnte. Er fühlte unter den Fellsohlen seiner Stiefel, wie sich das gewaltige Wesen bewegte und ein Stück drehte.
Rajin verlor beinahe das Gleichgewicht.
Hinter sich hörte er Schreie.
Einer der Männer, die ihm gefolgt waren, rutschte aus, glitt über die festgesaugten Quallen und fiel ins Wasser.
„Herjolf!“, war ein heiserer Ruf zu hören.
Rajin kannte Herjolf gut. Der hatte ihm beigebracht, wie man mit der Harpune umging und was man tun musste, wenn man auf dem Seemammut ritt.
Herjolfs Gesicht war eine Maske des blanken Entsetzens.
Gefrorene Todesangst.
Sein Schrei wurde von einem weiteren kehligen Doppellaut des Seemammuts übertönt. Der Laut war so dröhnend und tief, dass Rajin seine Bauchdecke vibrieren spürte.
Im Wasser wimmelten die Beißer und stürzten sich auf ihr Opfer. Niemand konnte Herjolf helfen. Innerhalb weniger Augenblicke färbte sich das schäumende Wasser rot.
„Vorwärts!“, hörte Rajin einen der anderen Männer rufen und löste sich aus seiner Erstarrung. Das Seemammut erinnerte ihn mit einer leichten Bewegung daran, wie schwankend der Grund war, auf dem er stand. Er fiel auf die Knie und hielt sich an einer der pockenartigen, tellergroßen und von wulstigen Wucherungen umrandeten Vertiefungen fest, von denen es unzählige auf dem Rücken eines Seemammuts gab. Muscheln hatten sich auf der Haut des Giganten festgesaugt und Quallen, um die das Fleisch während der Wachstumsphase des Seemammuts herumgewachsen war; starben die Quallen ab, hinterließen sie diese Vertiefungen.
Rajin rappelte sich auf. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, dass die letzte Bewegung des Seemammuts auch die anderen Männer, die ihm auf den Rücken des Monstrums gefolgt waren, umgerissen hatte.
Rajin war als Erster wieder auf den Beinen. Auch wenn sich das Seemammut durch das Gift in den unzähligen Pfeilspitzen bereits in einem Zustand tödlicher Agonie befand, konnte es durch eine einzige krampfhafte Zuckung durchaus noch Tod und Verderben über diejenigen bringen, die ihm als Jäger nachstellten.
Mit schnellen, sicheren Schritten gelangte Rajin zum Kopf. Die gewaltigen Ohren hingen schlaff im Wasser. Sie wurden normalerweise als zusätzliches Flossenpaar genutzt. Direkt hinter dem Kopf gab es eine charakteristische Vertiefung zwischen zwei Knochenkuppen, eine Stelle, die jeder Seemammutjäger kannte.
Rajin riss das Schwert hervor, kniete nieder und umfasste den Griff mit beiden Händen. Dann stieß er die Klinge mit aller Kraft in den Körper des Seemammuts, bis ans Heft.
Einige Augenblicke lang verharrte Rajin so und wartete ab. Der Rüssel, dessen Öffnung das Seemammut bisher überwiegend über der Wasseroberfläche gehalten hatte, sank in die Tiefe. Rajin hatte gut getroffen. Er hatte das Gefühl, dass sein Schwert nicht einen einzigen Knochen berührt hatte. Wenn man schlecht traf, drang die Klinge nicht tief genug ein, um den Seegiganten zu töten. Und bei diesem besonders großen Exemplar war ohnehin die Frage, ob ein Schwert von normaler Länge überhaupt ausreichte. Aber das war offensichtlich der Fall, denn das Monstrum gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich.
Rajin wartete so lange, bis sich die Vertiefung mit einer grünlichen Flüssigkeit gefüllt hatte – dem Blut des Seemammuts. Es hatte die Eigenschaft, selbst bei größter Kälte Eis zu verflüssigen; die Bewohner Winterborgs nutzten es, um ihre Hafeneinfahrt freizuhalten. Allerdings war Seemammut-Blut auch höchst giftig und musste aus dem Fleisch erst herausgekocht werden, bevor man dieses verzehren konnte. Die Beißer schienen das zu wissen. Jedenfalls hatte Rajin noch nie gesehen, dass sich ein Beißer-Schwarm an einem Seemammutkadaver vergangen hatte. Lediglich die Quallen wurden sorgfältig abgenagt.
„Gut gemacht!“, sagte Wulfgar, der sich ebenfalls auf den Rücken des Seemammuts begeben hatte, und einen Schritt hinter Rajin stand. „Du kannst das Schwert jetzt getrost herausziehen, sonst leidet die Klinge.“
„Ja“, murmelte Rajin.
„Und reinige es sofort, damit kein Klingentod zurückbleibt.“
Das Blut der Seemammuts war so giftig, dass es selbst den Stahl der besten Schwerter angriff, wie er von den Schmieden in Feuerheim gefertigt wurde. Wenn eine Waffe dieser Wirkung zu lange ausgesetzt war, blieben Flecken zurück, aus denen sich poröse Stellen bildeten und sich im Metall fortfraßen.
Das war der „Klingentod“.
Rajin zog seine Waffe mit einer kräftigen Bewegung aus dem Leib des Seemammuts.
„Jetzt müssen wir den Koloss nur noch unbeschadet nach Hause bringen“, sagte Wulfgar und schlug Rajin anerkennend auf die Schulter. Und mit Blick auf das immer noch anhaltende Gewimmel im Wasser fügte er hinzu: „Die Beißer werden uns den Brocken ganz sicher nicht streitig machen.“
„Nein, die nicht“, murmelte Rajin und blickte in die Ferne.
Zwei dunkle Punkte waren dort am grauen Horizont zu sehen. Sie schwebten hoch über dem Wasser und bewegten sich in nordwestliche Richtung.
Wulfgar machte eine wegwerfende Handbewegung. „Machst du dir etwa Sorgen wegen Seegeiern oder Adlern? Selbst für die ist das Fleisch des Seemammuts giftig.“
„Das sind keine Seegeier, Adler oder sonstige Vögel“, sagte Rajin.
„Ach?“
Kein noch so scharfes menschliches Auge hätte Einzelheiten erkennen können. Aber Rajin wusste trotzdem, was für Wesen dort in der Ferne am Himmel schwebten. Er spürte es. Es war so, als wäre da plötzlich etwas in ihm geweckt worden, was lange geschlummert hatte. Wie ein verborgener Sinn, der ihn mit jenen unscheinbaren dunklen Flecken am Horizont auf unheilige Weise verband.
Wulfgar schüttelte den Kopf und lachte auf. „Die einzigen Wesen, die – zumindest der Legende nach – in der Lage sind, ungekochtes Seemammutfleisch zu verzehren, ohne dabei draufzugehen, sind ...“
„Drachen!“, vollendete Rajin.
Auch er kannte die Legenden. Legenden, die besagten, dass die Drachen die Vorfahren der Seemammuts auf die Welt geholt hatten, weil es ihnen an leicht zu erbeutender Nahrung gemangelt hatte, die groß genug war, um den Hunger ihrer gigantischen Mägen zu stillen. Jene Vorfahren der Seemammuts hatten noch an Land gelebt und Beine statt Flossen gehabt. Aber die Drachen stellten rasch fest, dass der größte Teil der Welt aus Ozean bestand und das Land knapp war. Zu knapp, um es mit diesen riesigen, appetitlichen Fleischbergen zu teilen. So trieben sie die Vorfahren der Seemammuts ins Meer und zwangen sie dazu, dort zu leben, sodass ihnen schließlich Flossen wuchsen, als wären sie Fische. Ihre Größe nahm noch erheblich zu, da nun der Auftrieb des Wassers und nicht mehr die Kraft ihrer Beine sie trug.
Doch all das waren Legenden aus dem Ersten Äon, aus einer Epoche, da die Drachen allein über die Welt geherrscht hatten. Geschichten, die man sich seit so undenkbar langer Zeit erzählte, dass niemand Vermutungen darüber wagte, wie groß ihr Wahrheitsgehalt war. Tatsache war, dass seit Menschengedenken nie ein Drache auf der Jagd nach einem Seemammut beobachtet worden war – auch keiner der wenigen noch wilden, nicht unter Menschenherrschaft stehenden Drachen, die es noch gab.
Ein Großteil des Seemammutfleisches, das von den Jägern im Norden des Seereichs erbeutet wurde, wurde getrocknet, sodass es eine ähnliche Haltbarkeit erlangte wie Stockfisch. In handliche und brettharte Brocken zerteilt, von denen keiner zu schwer war, um von einem einzelnen Mann getragen werden zu können, brachte man das Seemammutfleisch in die großen Häfen des Seereichs, allen voran Seeborg, Storgard, Borghorst und Mittelborg, die durch den Handel mit Stockseemammut reich geworden waren. Von dort aus wurde es auch an die drachenländischen Küsten verschifft, wo es die Drachenier an ihre imposante Schar von gezähmten Kriegsdrachen verfütterten. Vielleicht traute man diesen riesigen, in den Äonen ihrer Versklavung offenbar geistig degenerierten Ungetümen einfach nicht zu, sich ihre Nahrung weit draußen auf See selbst zu suchen – oder man misstraute ihnen und glaubte nicht, dass sie freiwillig zurückkehren würden.
Rajin blinzelte. Die dunklen Punkte am Horizont strebten auf die winterländische Küste zu. Einen kurzen Moment leuchtete etwas auf, das vielleicht ein Feuerstrahl sein mochte, der aus Drachenschlünden gezüngelt war. Der Dunst tief hängender Wolken verschluckte die beiden dunklen Punkte bereits wenige Augenblicke später.
„Halt dich zurück und such nicht die geistige Berührung mit den Drachen“, hörte er in seinem Inneren die wohlbekannte Stimme des Weisen Liisho sagen. „Denk nicht an sie, und vor allem unterdrücke jeden Gedanken daran, ihren Willen beeinflussen zu wollen. Es wäre dein Verderben.“
2. Kapitel: Fluch der Himmelsbestien
Es dauerte eine Weile, bis sich die Beißer verzogen. Sie hatten zuvor sämtliche Quallen am Körper des toten Seemammuts, die in ihrer Reichweite lagen, abgenagt. Je weniger Quallen noch übrig blieben, desto aggressiver wurden die gierigen Fische, und sie fingen an, sich gegenseitig zu zerfleischen.
Schließlich verschwand der Schwarm und tauchte auf Nimmerwiedersehen ab. Die Macht Njordirs schien sie zu lenken wie ein einziges Wesen.
Rajin hatte inzwischen sein Schwert sorgfältig gereinigt, um den Klingentod zu verhindern. Schwerter waren kostbar, und ein nicht geringer Teil des Silbers, das die Seemannen durch ihren Handel mit Stockseemammutfleisch erwirtschafteten, floss den Schmieden Feuerheims zu.
Hjalgor und Glednir – zwei weitere Männer aus Wulfgar Wulfgarssohns Gefolge – entfachten ein Signalfeuer auf dem Rücken des getöteten Seemammuts. Die „Stoßzahnsammler“ führte dazu einen Holzvorrat mit, der nur diesem Zweck diente.
Hjalgor Fünfzopf war ein großer rothaariger Mann, dessen Mähne in fünf Zöpfe geflochten bis weit über seine Schultern hing. Er hatte Njordir und den fünf Mondgöttern versprochen, sich das Haar niemals zu scheren, zum Dank dafür, dass er vor fünfzehn Wintern aus Seenot gerettet worden war.
Glednir war klein und drahtig. Sein Haar war aschblond und die Stirn so hoch, dass man ihn auch Glednir Freistirn nannte; dafür war sein Barthaar umso üppiger.
Die beiden sorgten dafür, dass die Flammen hoch emporloderten. Das Holz war zuvor mit Seemammut-Tran getränkt worden, was dazu führte, dass pechschwarzer, meilenweit sichtbarer Rauch gen Himmel stieg – Tranrauch, wie die Seemannen sagten. Mit einer nassen Decke formten Glednir und Hjalgor daraus Rauchzeichen. Viele Seemeilen weit konnte man so nicht nur erkennen, dass ein Seemammut erlegt worden war, man erfuhr auch, dass es die Mannschaft von Wulfgar Wulfgarssohns Schiff gewesen war, die dies vollbracht hatte.
Aber auf sich allein gestellt konnte die Mannschaft der „Stoßzahnsammler“ mit dieser Beute nichts anfangen. Man brauchte die Hilfe weiterer Schiffe, um den riesigen Kadaver in die Bucht von Winterborg zu ziehen und dort irgendwo anzulanden. Ein Schiff allein war dazu nicht in der Lage – schon gar nicht bei einem so außergewöhnlich großen Exemplar wie jenem, auf dessen Rücken inzwischen ein Dutzend Männer damit begonnen hatten, mit Widerhaken bewehrte Harpunen in das Fleisch des Monstrums zu treiben. An ihren Schäften waren Metallringe befestigt, an denen die Zugseile herbeieilender Hilfsschiffe befestigt werden konnten.
In Sichtweite der Rauchsäule wusste bald jeder Seemannen-Kapitän, dass ein gutes Geschäft auf ihn wartete, denn jeder, der sich an der Bergung eines erjagten Seemammuts beteiligte, erhielt einen festgelegten Anteil am Gewinn.
Rajin war ebenfalls damit beschäftigt, solche Zugharpunen zu verankern. Sie unterschieden sich deutlich von den Wurfharpunen, die bei der Jagd benutzt wurden, waren kürzer und darauf ausgelegt, mit aller Kraft und aus unmittelbarer Nähe in den Seemammutkörper hineingestoßen zu werden. Eine ausgeklügelte Mechanik sorgte dafür, dass Widerhaken im Fleisch der Beute ausgeklappt wurden, sobald man am Schaft zog, und man konnte diese Harpunen mit einer sehr viel größeren Zugkraft belasten als die bei der Jagd eingesetzten Waffen, deren Spitzen nicht so tief in den Körper des Seemammuts eindrangen.
„Sohn Bjonn!“, wandte sich Wulfgar an Rajin, nachdem dieser gerade eine Zugharpune gesetzt hatte.
Rajin drehte sich zu seinem Ziehvater um, der ihm einen Bogen hinhielt. Es war ein besonderer Bogen, der nur zu rituellen Zwecken benutzt werden durfte. Er war aus der Rippe eines ungeborenen Seemammutjungen gefertigt, den man vor vielen Generationen im Leib eines Beutetiers gefunden hatte. Wulfgar Eishaar, der in zahllosen Legenden und Erzählungen als Held verehrte Stammvater von Wulfgar Wulfgarssohns Sippe, hatte daraus einen Bogen gefertigt, und seitdem damit das Opferritual für Njordir durchgeführt wurde, war das Jagdglück der Sippe treu geblieben.
„Es ist an dir, das Ritual durchzuführen“, sagte Wulfgar. „Du hast den Stoß geführt, der den Geist des Seemammuts zu Njordir schickte, wo er sich über uns beklagen wird.“
Aus diesem Grund musste der Meeresgott besänftigt werden, indem man ihm einen zumindest symbolischen Teil der Beute abgab.
Rajin nahm den Bogen.
Glednir und Hjalgor hörten auf damit, Rauchzeichen zu geben. Einer der anderen Männer hatte bereits ein faustgroßes Stück aus dem Fleisch des Monstrums geschnitten, es an die Spitze seines Schwertes gesteckt und ins Feuer gehalten. Der Mann hieß Bratlor Sternenseher. Diesen Namen verdankte er seiner Fähigkeit, aus dem Stand der Gestirne die Himmelsrichtung und die Position des eigenen Schiffs bestimmen zu können. Dazu war er zwei Jahre auf die Sternenseher-Schule in Seeborg, der Hauptstadt des Seereichs, gegangen, wo man ihm den Erwerb seiner Fähigkeiten mit einem Dokument bestätigt hatte. Solche Männer waren bei allen Kapitänen heiß begehrt, und ihre Dienste wurden teuer bezahlt.
Man sagte den Sternensehern eine besondere innere Nähe zum Meeresgott Njordir und den fünf Mondgöttern nach, von denen man annahm, dass sie den Lauf der Gestirne bestimmten. Befand sich also ein Sternenseher an Bord eines Seemammutjägerschiffs, so war es daher stets dessen Aufgabe, die Opfergabe über dem Feuer zu erhitzen. Schließlich wollte man nicht Njordirs Zorn herausfordern, indem man ihm Fleisch anbot, in dem sich auch nur noch eine Spur des giftigen Seemammutblutes befunden hätte.
Nachdem Bratlor der Meinung war, das Stück Fleisch sei ausreichend erhitzt worden, band er es an einen gewöhnlichen Pfeil und reichte diesen Rajin.
„Den Göttern gebe man, was den Göttern zusteht“, sagte er.
„Und Frieden der Seele des Seemammuts“, erwiderte Rajin; es war die traditionell bei diesem Anlass gesprochene Formel.
Er spannte den Bogen und ließ den Pfeil in einer leicht aufsteigenden Linie in die Ferne schnellen, bevor sich seine Flugbahn schließlich senkte und er mitsamt der Opfergabe in die graue See eintauchte.
„Friede allen Seelen und Geistern“, murmelten die Männer im Chor.
Daraufhin gab Rajin den Bogen an Wulfgar zurück, und Bratlor Sternenseher bereitete ein weiteres Stück Opferfleisch vor. Diesmal diente es als symbolische Wegzehrung für Herjolf, den die Beißer zerrissen hatten. Sein Geist sollte sich nicht ohne Proviant auf den Weg in die Gefilde Njordirs machen müssen. Aber in diesem Fall war es die Aufgabe des Kapitäns, den Knochenbogen des Wulfgar Eishaar zu spannen und den Pfeil in den grauen Himmel zu schießen.
Nach einer Weile tauchten die ersten Hilfsschiffe am Horizont auf, die sich an der Bergung des Seemammuts beteiligen wollten. Etwa ein Dutzend von ihnen brauchte man, um den Koloss zu ziehen, falls der Wind günstig stand; ansonsten waren doppelt so viele Schiffe notwendig, denn dann musste das erlegte Seemammut allein mit der Kraft der Ruderer in die Bucht von Winterborg gezogen werden.
An diesem Tag war der Wind schwach, auch wenn er günstig stand. Zu schwach, um sich allein auf ihn zu verlassen. Also mussten sich die Mannschaften zusätzlich in die Riemen legen, während einige Männer auf dem Rücken des Seemammuts zurückbleiben mussten, um darauf zu achten, dass sich die Zugharpunen nicht lösten und sich die Taue nicht verhedderten.
„Dir steht das Recht zu, auf dem Rücken zu bleiben, Sohn Bjonn“, sagte Wulfgar zu Rajin. „Schließlich hast du den tödlichen Stoß gesetzt.“
„Ich nehme dieses Recht gern wahr“, erwiderte Rajin.
„Deiner Achtung unter den Seemammutjägern von Winterborg wird das sicher förderlich sein.“
„Ja, Vater.“
„Und vielleicht hört nun auch so manches dumme Gerede auf, wenn man dich auf dem Rücken des Seemammuts in die Bucht einfahren sieht und jeder der Ehre gewahr wird, die man dir zugesteht.“
Rajins Gesicht verdüsterte sich nur für einen kurzen Moment. „Ich hoffe, du hast recht“, murmelte er.
––––––––
Es gab manchen in Winterborg, der Rajin als drachenischen Bastard bezeichnet hatte, denn schon bald hatten dessen Gesichtskonturen keinen Zweifel mehr daran gelassen, dass drachenländisches Blut in seinen Adern floss.
Aber Wulfgar Wulfgarssohn genoss als Anführer jener Sippe, die ihren Ursprung in direkter Linie auf den legendären Wulfgar Eishaar zurückführen konnte, einen nahezu unangreifbaren Ruf auf ganz Winterland und im nördlichen Festland des Seereichs. So wagten die meisten nur hinter vorgehaltener Hand zu äußern, was sie in Wahrheit dachten.
Mit den Jahren waren die Vorbehalte gegen Rajin mehr und mehr in den Hintergrund getreten. Er hatte nicht, wie zunächst von manchen befürchtet, das Unglück nach Winterborg gebracht. Ganz im Gegenteil: Njordir hatte den Kapitänen in den Jahren seit dem Auffinden des Knaben überreiche Meeresbeute beschert. Ungewöhnlich viele Seemammuts hatten sie erlegen können, und die gesamte Insel hatte in dieser Zeit einen erheblichen Aufschwung genossen.
Die ersten Hilfsschiffe erreichten schließlich das Seemammut. Wulfgar Wulfgarssohn war verpflichtet, ihre Hilfe in jener Reihenfolge anzunehmen, in der sie den Kadaver erreichten. Im Zweifelsfall war ausschlaggebend, wer als Erster sein Tau warf, sodass es an eine der Zugharpunen im Körper des Meeresmonstrums festgemacht werden konnte. Diejenigen, die nicht mehr berücksichtigt werden konnten, wurden mit einem vier Pfund schweren Fleischbrocken entschädigt, der an Ort und Stelle aus dem Fleisch des Kadavers herausgeschnitten und mit der Bordwaage abgewogen wurde. Eine solche Waage hatte jedes Seemannen-Langschiff an Bord.
Innerhalb des Seereichs herrschte das Prinzip der Selbstverwaltung, und so gab es nur wenige Gesetze, die vom regierenden Hoch-Kapitän und dem Kapitänsrat in der Hauptstadt Seeborg verabschiedet wurden. Diese waren dann aber für das gesamte Reich verbindlich, und zu ihnen gehörte unter anderem die Vorschrift, dass jedes Schiff eine geeichte Waage mitzuführen hatte. Zuvor war es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen einzelnen Kapitänen gekommen, die dann sehr häufig mit Schwert und Streitaxt ausgetragen worden waren, was insgesamt der Wohlfahrt des Seereichs nicht zuträglich gewesen war.
Aber an diesem Tag hatten alle Glück, die sich die Mühe gemacht hatten, auszulaufen, denn sie wurden alle gebraucht, und niemand musste entschädigt werden.
„Njordirs Segen sei mit dir!“, riefen die Kapitäne der ankommenden Schiffe Wulfgar entgegen. Es war mehr eine Feststellung als ein Wunsch oder eine beschwörende Bitte an die Gottheit – denn wer hätte angesichts dieser überwältigend großen Jagdbeute daran zweifeln können, dass der Meeresgott Njordir seinen Segen tatsächlich Wulfgar, dem Nachfahren von Wulfgar Eishaar, gegeben hatte? Niemand konnte Glück auf der Jagd, beim Fischen oder gar im Handel haben ohne zumindest Njordirs wohlwollende Duldung.
„Njordirs Segen für euch alle!“, lautete die traditionelle Erwiderung, und auch das entsprach den Tatsachen, denn jeder der Kapitäne, deren Schiffe den Kadaver erreichten, konnte sicher sein, dass sie von der Beute profitieren würden.
Allerdings waren auch Neuigkeiten zu hören, die Rajin aufhorchen ließen.
Einer der Kapitäne, der als der „Wilde Aeriggr“ bekannt war, berichtete davon, dass zwei Drachen den Hafen von Winterborg überflogen hätten.
„Du bist sicher, dass es Drachen waren?“, fragte Wulfgar.
„Ich habe Augen im Kopf“, erwiderte Aeriggr ungehalten und etwas beleidigt. „Sie flogen so tief über die Häuser, dass jeder Irrtum ausgeschlossen ist.“ Aeriggr atmete tief durch, seine Augen wurden schmal, und er strich sich mit einer beiläufigen Geste über den struppigen Bart, bevor er weitersprach. „Es muss Generationen her sein, dass sich zuletzt Drachen so weit nach Norden gewagt haben.“
„Ich weiß.“ Wulfgar nickte.
„Man mag vielleicht nicht gleich bis zu den Zeiten Eures ruhmreichen Vorfahren Wulfgar Eishaar zurückgehen, aber ich weiß genau, dass selbst mein Großvater nie einen Drachen über Winterland gesehen hat, und er erzählte mir, dass auch sein Vater niemals einer dieser Kreaturen ansichtig wurde.“
„Drachen meiden die Kälte“, sagte Wulfgar. „Das ist doch bekannt. Die wenigen wildlebenden Drachen fühlen sich im Süden einfach wohler, und diejenigen, die als gezähmte Reit- und Lasttiere den Dracheniern dienen, fliegen ebenfalls nicht bis hierher, denn der Kaiser in Drakor respektiert die Souveränität des Seereichs.“
„So wie wir die seines Reiches“, mischte sich Hjalgor Fünfzopf ein. „Die Drachenier wissen genau, dass ihnen niemand genug Nahrung für ihre degenerierten Kampfdrachen liefern kann außer den Seemammutjägern des Seereichs. Fürwahr, ihre Biester sind in den Zeitaltern seit ihrer Zähmung so faul geworden, dass sie nicht einmal mehr für sich selbst jagen können!“
„Warum sollten sie den Dracheniern dienen, wenn sie für sich selbst sorgen könnten?“, warf Wulfgar lachend ein.
Aeriggrs Gesicht blieb sehr ernst. „Du solltest mal darüber nachdenken, was es bedeuten könnte, dass auf einmal solche Kreaturen über Winterland auftauchen“, grollte er. Dann deutete er auf Rajin. „Vielleicht hat dein Sohn Bjonn Dunkelhaar ja etwas damit zu tun!“
Rajin steckte ein Kloß im Hals. Er fühlte, wie das Blut in ihm zu kochen begann. Zwei der wenigen wilden Drachen, die es noch gab, tauchten am Himmel der winterländischen Küste auf, und schon waren die alten Vorbehalte wieder da. Unwillkürlich krampften sich Rajins Hände zu Fäusten zusammen.
„Verbanne die Drachen aus deinen Gedanken ...“, hörte er die Stimme des Weisen Liisho in seinem Kopf, und plötzlich stand das Gesicht des weißbärtigen Alten vor seinem inneren Auge. „Verbanne die Gedanken an das, was war und in dir verborgen ist, dann wirst du Unglück abwenden. Schließe ein, was verschlossen bleiben muss, bis der Tag kommt, da es offenbar werden kann. Die Macht muss wachsen, bevor sie sich entfalten kann.“
Ein Augenblick verstrich, ohne dass Rajin auch nur einen Ton zu seiner Verteidigung hervorbrachte. Seine Zunge schien wie gelähmt. Es hatte in der Vergangenheit immer wieder Momente gegeben, in denen er nicht in der Lage gewesen war, das auszusprechen, was ihm auf der Zunge lag. Der geheimnisvolle Bann, der ihn auch daran hinderte, seinen wahren Namen auszusprechen, musste dafür verantwortlich sein.
„Es ist zu deinem Wohl, Rajin!“, versicherte ihm der Weise Liisho, als wäre dies die Antwort auf alle Fragen, die sich Rajin stillschweigend stellte.
In diesem Augenblick stellte sich Wulfgar schützend vor seinen Ziehsohn und rief ungehalten: „Was willst du damit andeuten, Aeriggr? Dass ein Kind, nur weil es unter seltsamen Umständen aufgefunden wurde und weil seine Augen schmal und sein Haar dunkel ist, ein Unglücksbringer sein muss?“
„Hör zu, Wulfgar ...“
„Nein, hör du mir zu, Aeriggr!“, grollte Wulfgar. „Wir können diesen Streit jederzeit mit Axt oder Schwert austragen, wenn du den Mut dazu hast. Aber du solltest eines dabei bedenken: Njordir hat sein Wort in dieser Frage längst gesprochen, denn andernfalls hätte er die winterländischen Kapitäne in den Jahren seit dem Auffinden meines Sohnes Bjonn Dunkelhaar nicht mit so reichhaltiger Beute beglückt!“
Aeriggr bedachte Rajin kurz mit einem abschätzigen Blick. „Ich habe nie daran gezweifelt, dass dein Sohn Bjonn mit irgendwelchen übernatürlichen Mächten im Bund stehen muss – ob es nun Njordir selbst ist oder ob deinem Sohn einfach nur die Elementargeister gewogen sind, vermag ich nicht zu sagen, dazu fehlt mir das nötige Wissen über derlei Dinge. Aber wenn seit sehr langer Zeit zwei Drachen in die ihnen verhasste Kälte von Winterland fliegen, dann werden ja wohl ein paar Gedanken über die Ursache dieses merkwürdigen Ereignisses erlaubt sein, Wulfgar Wulfgarssohn!“
„Und was sind das für Gedanken?“, fragte Wulfgar herausfordernd.
„Wie schon gesagt wurde: Ein wilder Drache würde nicht freiwillig so weit in den Norden fliegen.“
„Früher soll das des Öfteren geschehen sein“, hielt Wulfgar dagegen.
„Aber das ist so lange her, dass niemand mehr mit Sicherheit sagen kann, ob es stimmt!“
„So zweifelst du an den Worten, die uns mein Vorfahr Wulfgar Eishaar gab?“ Wulfgar war mittlerweile sichtlich verärgert.
Aeriggrs Hand umfasste bereits den Griff des Schwerts, das er entgegen der Gewohnheit vieler Seemammutjäger nicht auf dem Rücken, sondern an der Seite trug. „Ich zweifle lediglich am Gedächtnis derer, die Eishaars Worte im Laufe der Zeit von Generation zu Generation weitererzählten.“
Rajin erkannte, das alles auf einen handfesten Streit zwischen den beiden Kapitänen hinauslief. Einen Streit, der den Anlass nicht lohnte, wie er fand. Also mischte er sich ein. Schließlich war er die Ursache für den Zwist, und nach all den Jahren, in denen sich Wulfgar Wulfgarssohn immer schützend vor seinen Ziehsohn gestellt hatte, war es an der Zeit, selbst für sich einzustehen.
„Beleidige nicht die Ahnherren unserer Sippe!“, herrschte er Aeriggr an. „Wenn du mir etwas vorwerfen willst, dann wende dich damit an mich und nicht an meinen Vater!“
Rajin trat auf den Wilden Aeriggr zu, ohne aber durch eine Bewegung oder Geste erkennen zu lassen, dass er zum Schwert greifen wollte. Im Gegenteil, er stemmte die Hände in die Hüften. „Also, Aeriggr. Was wirfst du mir vor?“
„Es ist doch bekannt, dass Drachenier eine besondere geistige Verbindung zu Drachen haben“, sagte Aeriggr. „Vielleicht hast du diese Ungetüme ja gerufen!“
Rajin lag eine entsprechende Erwiderung auf der Zunge, aber erneut war er unfähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen. „Schweig!“, dröhnte die Stimme Liishos in seinem Kopf, und es gab keine Möglichkeit für Rajin, sich diesem Befehl zu entziehen.
„Was du redest, ist Unsinn, Aeriggr!“, schritt Wulfgar erneut ein. „Nur die Macht der Drachenringe des Kaisers von Drakor vermag den Willen wilder Drachen zu zähmen – und kein drachenischer Drachenreiter wäre in der Lage – selbst bei noch so guter Ausbildung –, einen Drachen zu reiten, wenn dessen Willen nicht durch die Macht der kaiserlichen Ringe gebrochen ist!“
„Und was ist mit den Geschichten über Drachenier, die Drachen mit der puren Kraft ihres Willens herbeizurufen vermögen?“, fragte Aeriggr.
„Geschichten – mehr nicht!“, meinte Wulfgar. „Geschichten, die uns die Drachenier fürchten lassen sollen, damit wir weiter mit ihnen Handel treiben, anstatt ihre Küsten zu plündern, wie es unsere Ahnen taten.“
„Es ist doch bekannt, dass in den Adern vieler Drachenier magisches Blut fließt“, entgegnete Aeriggr.
„Soweit ich weiß, nur in denen der Mitglieder des Kaiserhauses und ihrer adeligen Abkömmlinge“, sagte Wulfgar. „Aber auch da bin ich mir nicht sicher, ob es sich nicht nur um eine Legende handelt, die dazu dient, dem Kaiser und der Kaste der Drachenreiter-Samurai die Macht zu erhalten. Schließlich könnte ja sonst das gemeine Volk auf den Gedanken kommen, dass jeder die Fähigkeit hat, einen Drachen zu reiten!“
„Wulfgar Wulfgarssohn hat recht!“, mischte sich nun Bratlor Sternenseher ein. „Ich habe früher auf Schiffen gedient, die regelmäßig nach Etana und Jandrakor segelten, und war neben der Sternennavigation auch für die Verhandlungen mit den drachenischen Geschäftspartnern zuständig, da ich ihre Sprache spreche. Ein gewöhnlicher Drachenier verfügt über genauso viel oder wenig magische Kräfte wie du und ich. Wären sie sonst dazu gezwungen, im Schweiße ihres Angesichts ihre Tätigkeiten zu verrichten wie unsereins, wenn es anders wäre?“
„Du redest so viel, dass man denken könnte, du müsstest Knoten in der Zunge haben!“, knurrte der Wilde Aeriggr. „Lernt man das auf der Sternenseher-Schule von Seeborg? Dann habe ich ja einiges zu erwarten, wenn mein dritter Sohn von dort zurückkehrt!“
„Ich spreche nur die Wahrheit“, sagte Bratlor. „Und der beste Beweis dafür ist, dass seit siebzehn Jahren ein Emporkömmling namens Katagi auf dem Drachenthron in Drakor residiert. Zwar versucht er krampfhaft, eine weitläufige Verwandtschaft zu seinem Vorgänger zu konstruieren, aber davon ist doch augenscheinlich nichts wahr. Doch hat man seitdem gehört, dass die drachenischen Kampfdrachen nicht mehr ihren Reitern gehorchen? Offenbar steckt nicht viel hinter all dem Gerede von magischem Blut.“ Er schüttelte in einer nahezu mitleidigen Geste den Kopf. „Aber die drachenische Propaganda scheint ihr Ziel ja erreicht zu haben, wenn sogar ein Mann, der sich den Beinamen ›der Wilde‹ verdient hat, einem Jungen mit drachenischen Augen die Macht über alles Mögliche zuschreibt. Warum nicht auch die Macht über das Wetter oder die Wassermenschen, deren wir uns in jedem Sommer erwehren müssen?“
Glednir Freistirn lachte verhalten – verstummte aber sofort, als Aeriggr ihm einen finsteren Blick zuwarf.
„Du versündigst dich an Njordir!“, zischte Aeriggr.
„So absurd es ist, Njordirs Macht über das Meer und das Wetter anzweifeln zu wollen, so absurd sind deine Ängste vor einem Paar schmaler dunkler Augen, Aeriggr“, entgegnete Bratlor ruhig.
Der Sternenseher gehörte zu Rajins engsten Gefährten unter den Männern der „Stoßzahnsammler“. Seit fünf Jahren diente er auf Wulfgars Schiff, nachdem er sich nach einem Streit um eine ausstehende Gewinnbeteiligung von seinem vorhergehenden Kapitän getrennt hatte. Er war der Einzige an Bord der „Stoßzahnsammler“, der nicht von Winterland stammte, sondern in Borghorst auf dem seemannischen Festland geboren worden war. Von allen Männern, die Rajin bisher kennengelernt hatte, war er mit Sicherheit derjenige, der am weitesten herumgekommen war, und die Reiseberichte des Sternensehers faszinierten ihn stets sehr. Es waren Erzählungen über die Luftschiffe der Tajimäer und die feuerspeienden Stahlrohre, die in die Mauern von Pendabar, der Hauptstadt Feuerheims, eingelassen waren und jeden Angriff zum Scheitern verurteilten. Er berichtete auch von den Wundern des Reiches Magus, dessen Bewohner über geistige Kräfte verfügten, die über alles hinausgingen, was sich ein einfacher winterländischer Seemammutjäger vorzustellen vermochte.
Besonders aber fesselten Rajin immer die Geschichten von den Küsten des Drachenlandes Drachenia. Von der erhabenen Armada von Kampfdrachen, die von stolzen Kriegern geritten wurden. Von Drachen mit Transportgondeln, die wertvolle Güter, wohlhabende Passagiere oder die Söldner des Kaisers innerhalb kurzer Zeit an jeden Ort des Reichs bringen konnten. Gerade diese Berichte waren wie Spiegelbilder dessen, was er vor seinem inneren Auge manchmal sah. Rajin hatte immer das Gefühl, all diese Dinge so zu kennen wie einer, der selbst in diesem fernen Land aufgewachsen war.
Ganz besonders hatte es ihn jedes Mal berührt, wenn Bratlor Sternenseher zur Belustigung der anderen Männer ein paar Worte in drachenischer Sprache hervorbrachte. Die Männer von Winterland machten sich dann über die angeblichen Barbaren Drachenias und deren Sprache, die sie an Tierlaute erinnerte, lustig – nicht ahnend, dass sie in Drachenia selbst als Barbaren galten.
Wulfgars Ziehsohn hatte stets das Gespräch mit Bratlor gesucht, aber leider hielt der Sternenseher Rajins Schweigen zu allem, was mit Drachenia in Verbindung stand, für Desinteresse und erzählte daher mehr über die Luftschiffe Tajimas und die Wunder Feuerheims. Dabei hätte Rajin durchaus gern mehr über jenes Land gehört, dessen Bewohner ihm angeblich so ähnlich sahen, dass manche sogar behaupteten, er wäre einer der ihren.
Es war der Bann des Weisen Liisho, der ihn daran hinderte, sich mit Bratlor über Drachenia zu unterhalten. So manches Mal hatte Rajin in jenen Momenten diesen Bann verflucht, doch schien es keinerlei Möglichkeit zu geben, diesen Einfluss zurückzudrängen.
„Wenn du Bedenken hast, einer Mannschaft von Seemammutjägern zu helfen, unter denen sich ein Unglücksbringer befindet, so entbinde ich dich und deine Mannschaft gern von der Hilfspflicht“, sagte nun Wulfgar Wulfgarssohn zum Wilden Aeriggr. „Allerdings entgeht dir dann auch dein Anteil, und du solltest dir überlegen, ob du dir deine Furcht vor einem dunkelhaarigen Jüngling auch leisten kannst.“
Dröhnendes Gelächter brach daraufhin aus, und selbst Aeriggrs Männer konnten sich nur schwer beherrschen.
Von einer Entbindung von der Hilfspflicht wollte der Wilde Aeriggr nichts wissen, was niemanden wunderte, denn sein Jagdglück war in den letzten Monaten nur mäßig gewesen, weshalb er auf die Anteile aus der Kadaverbergung angewiesen war, um seine Mannschaft weiter unterhalten zu können. Trotzdem knurrte er: „Ich hoffe, du bereust es nicht eines Tages, dass du meine Warnungen in den Wind geschlagen hast, Wulfgar. Mag sein, dass ich tatsächlich ein Narr bin und nicht genug von diesen Dingen verstehe, aber wenn nach so langer Zeit zwei Feuerspeier am Himmel auftauchen und so tief über Winterborg fliegen, kann das kein Zufall sein!“
So dumm und einfältig die Vorurteile auch sein mochten, mit denen Rajin immer wieder konfrontiert wurde – tief in seinem Inneren ahnte er, dass der Wilde Aeriggr mit seiner Vermutung recht hatte, was das Auftauchen der beiden Drachen betraf. Es hatte auf irgendeine Weise mit dem Geheimnis zu tun, das in der Seele des Achtzehnjährigen durch einen Bann eingeschlossen war.
Hast du darauf nicht auch eine Antwort?, fragte er in Gedanken, an den Weisen Liisho gerichtet. Warum sagst du dazu nichts, da du mir doch sonst ungefragt alles Mögliche erklärst?
Aber der ständige Gast in seiner Seele, der ihn von frühester Kindheit an begleitete, blieb diesmal stumm.
Du hörst mich – ich weiß es! Warum sagst du jetzt nichts und flüsterst mir nicht wenigstens einen Teil des Geheimnisses ein, das in mir verborgen ist? Habe ich denn kein Recht darauf, zumindest ein wenig der Wahrheit zu erfahren?
Doch in Wirklichkeit hatte Rajin die Hoffnung, dass er doch noch eine Antwort erhielt, schon aufgegeben, und so wandte er sich wieder der Arbeit zu, der Bergung des Seemammuts. Leinen mussten festgezurrt werden, weitere Hilfsschiffe legten an und warfen ihre Taue herüber, und die Männer der „Stoßzahnsammler“ setzten weitere Zugharpunen, an denen die Taue befestigt wurden.
Da bekam Rajin doch noch eine Antwort!
Die Stimme Liishos flüsterte wie ein leichter Landwind in den kurzen Sommern auf Winterland: „Mag für viele die größte Gefahr in der Unwissenheit liegen – für dich liegt sie im Wissen!“
3. Kapitel: Rückkehr nach Winterborg
Ganz Winterborg war auf den Kaimauern und den weit in die Bucht ragenden Landungsstegen versammelt, als die Flotte der Seemammutjäger zurückkehrte. Rajin stand auf dem Rücken des Kadavers, gleich hinter dem Kopf, sodass jeder sehen konnte, dass er es gewesen war, der dem riesigen Monstrum den Todesstoß versetzt hatte. Diese Ehre stand ihm zu, und sowohl Rajin selbst als auch Wulfgar Wulfgarssohn hofften, dass Bjonn Dunkelhaar dadurch endlich als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert wurde. Wie sonst hätte er noch beweisen können, dass er ein Seemammutjäger unter Seemammutjägern war? Ein junger Mann, der sich – abgesehen von seinem Äußeren – in nichts von den anderen Männern auf Winterland unterschied?
Die Schiffe zogen den riesigen Kadaver in die Bucht von Winterborg, vorbei am Hafen, wo das jubelnde Volk stand und jenen begeistert zuwinkte, die mit diesem Fang dafür gesorgt hatten, dass es den Seemannen auf dieser unwirtlichen Insel im äußersten Nordwesten des Seereichs weiterhin gut gehen würde.
Abseits des Hafens und der eigentlichen Siedlung gab es flache, wenn auch steinige Strände, an denen Hunderte von Seemammutskeletten lagen. Allerdings waren die meisten von ihnen nicht vollständig, und von einigen war nichts weiter geblieben als der Schädel, vor dem die Seemannen einen besonderen Respekt hatten. Denn ihrem Glauben zufolge wohnte die Seelenkraft eines Seemammuts dem Knochenschädel noch lange nach seinem Tod inne – so wie auch dem Herzen, das in kleine Stücke geschnitten wurde, die man bei ablandigem Wind ins Meer warf, sodass sie hinaus in die Bucht von Winterborg trieben und dort von den Beißern und anderem Fischgetier, das die nördliche See bevölkerte, gefressen wurden.
Während der Rest des Seemammutskeletts zur Fertigung von Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs benutzt wurde und so manches Rückgrat als First eines Langhauses und so manche Rippe als dessen Türbogen seine letzte Bestimmung fand, ließ man die Schädel weitestgehend unangetastet – bis auf die Stoßzähne, denn die waren die legitime Trophäe des Jägers, und das Fleisch, zumal vor allem Hirn und Zunge der Seemammuts als Delikatesse galten.
Den Schädelknochen aber ließ man am Strand, und um sich mit dem Geist des Seemammuts zu versöhnen, brachte man ihm Opfer dar und betete ihn an. Vor allem erhoffte man sich dadurch Unterstützung gegen die Gefahr durch die Wassermenschen, die in der wärmeren Jahreszeit immer wieder Angriffe auf die Siedlungen der Seemannen wagten. Der warme Meeresstrom aus dem Süden brachte die Wassermenschen in die Gefilde des Nordens, wo man zumindest während der klirrend kalten Winter Ruhe vor ihnen hatte, denn der Schnee- und Eisgott Fjendur war ihr Feind. Der Geruch eines frisch erlegten Seemammuts lockte die Wassermenschen an, das war jedem bekannt, der auf die Jagd nach den Meeresriesen ging. Und schon deshalb war es für jeden Seemammutjäger wichtig, dass nicht nur der Meeresgott Njordir ihm gewogen war, sondern auch der eisige Fjendur, den die Wassermenschen fürchteten wie sonst kaum etwas Anderes.
Rajin sah die Menschen von Winterborg auf den Kaimauern und Landungsstegen stehen und den erfolgreichen Jägern zujubeln. Insbesondere galt dieser Jubel ihm, dem Mann, der den Meeresriesen letztlich erlegt hatte. Doch täuschte er sich, oder fiel die Freude diesmal verhaltener aus, als Rajin es sonst erlebt hatte? Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, weil er davon ausging, dass ihn zumindest ein Teil der Bevölkerung Winterborgs nicht anerkannte.
Das Omen der Drachensichtung lastet auf ihren Seelen!, ging es ihm durch den Sinn. Ein Zeichen des Unheils, das man unweigerlich mit ihm, Bjonn Dunkelhaar, in Verbindung brachte. Allein die unverkennbar drachenische Augenform! Rajin konnte den Menschen von Winterborg ihr Misstrauen nicht einmal verübeln. Er selbst hätte nicht anders empfunden, wäre er an ihrer Stelle gewesen. Und davon abgesehen ahnte er tief in seinem Innern längst, wie begründet dieses Misstrauen ihm gegenüber war.
Vielleicht wäre es das Beste gewesen, einfach wegzugehen. Wulfgar Wulfgarssohn und seine Sippe hatten ihn als Findling aufgenommen und großgezogen. Rajin war ihnen zu großem Dank verpflichtet, und er sah es als seine Pflicht an, jedwedes Unglück von ihnen fernzuhalten. Nie hätte er es sich verziehen, wäre seinetwegen denjenigen, die so viel für ihn getan hatten, etwas zugestoßen.
„Hör auf, dich zu grämen!“, meldete sich der Weise Liisho zurück, und obwohl Rajin ihn nur in Gedanken hörte, war es ihm, als spräche Liisho in strengem Tonfall. „Erwarte deine Bestimmung, anstatt dich in Selbstzweifeln zu ergehen, Unwissender!“
Rajin hatte auf einmal das Gefühl, als würden ihn zwei dunkle mandelförmige Augen durchdringend anstarren. Ihr Blick schien bis auf den Grund seiner Seele zu dringen. Ein Blick, den er schon von klein auf kannte und von dem er lange Zeit angenommen hatte, es wäre sein eigener geistiger Blick, mit dem er selbst sein Innerstes betrachtete, um sich misstrauisch zu prüfen.
Aber inzwischen war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sowohl Stimme als auch Gesicht des Weisen Liisho keineswegs nur Widerspiegelungen seiner eigenen verworrenen, widerstreitenden Gedanken und Gefühle waren. Liisho war eine wirklich existierende Person. Er lebte – irgendwo jenseits des Horizonts – jenseits der Grenzen des Seereichs. Vielleicht existierte er in einer der fantastisch anmutenden Städte Drachenias, die er Rajin in ungeheuer real erscheinenden Visionen gezeigt hatte. Und möglicherweise gebot er über den Willen von Drachen, die ihn als ihren Herrn und Reiter akzeptierten und über die Ebenen und schroffen Gebirge des Drachenlandes trugen ...
Du nennst mich einen Unwissenden – aber hättest du nicht die Macht, dies zu ändern?, entgegnete Rajin in Gedanken. Vielleicht wurde es Zeit, dass er sich gegen die geheimnisvolle Macht zur Wehr setzte, die ihn in ihrem Bann hielt und zum Stillschweigen verurteilte.
„Der Tag der Erkenntnis wird früher kommen, als dir lieb ist“, antwortete ihm die Gedankenstimme des Weisen Liisho.
––––––––
Unter den Menschen am Hafen entdeckte Rajin auch Nya Kallfaerstochter. Sie war – so wie Rajin – achtzehn Sommer jung, und das dunkelblonde Haar, das ihr weit über die Schultern fiel, trug sie zumeist zu einem Zopf geflochten. Für sie schlug Rajins Herz und das ihre für ihn, auch wenn ihr Vater Kallfaer Eisenhammer stets mit aller Deutlichkeit klarmachte, dass er nichts von Bjonn Dunkelhaar hielt – und schon gar nichts von einer eventuellen Verbindung seiner Tochter mit einem Mann, dessen Gesicht sich von dem aller anderen Seemannen Winterlands so deutlich unterschied, dass auch all seinen Nachkommen dieser Makel anzusehen sein würde, den einen vielleicht weniger, den anderen mehr.
Eigentlich hatte Rajin gehofft, dass Kallfaer Eisenhammer seine Meinung über ihn ändern würde, nachdem er diesen wahren Giganten unter den Seemammuts erlegt hatte. Dass er endlich anerkennen würde, dass Bjonn Dunkelhaar ein hervorragender Seemammutjäger war, von dem man erwarten durfte, dass er irgendwann sogar mit einer eigenen Mannschaft in See stechen und auf Jagd gehen würde. Ein Mann also, dem seine Tochter zu geben für Kallfaer eine Ehre bedeutet hätte.
Dieser Hoffnung allerdings widersprach allein schon die Tatsache, dass Kallfaer mit seinem Schiff nicht ausgelaufen war, um Wulfgar Wulfgarssohn und den Männern der „Stoßzahnsammler“ bei der Bergung des Kadavers zu helfen. Die Rauchzeichen von Glednir und Hjalgor hatten den Bewohnern von Winterborg nicht nur den großen Jagderfolg kundgetan, sondern auch den Namen desjenigen übermittelt, der den Todesstoß gesetzt hatte. Offenbar war dies der Grund, warum Kallfaer Eisenhammer sein Schiff nicht klar zum Auslaufen gemacht hatte: Seine Ablehnung gegen Rajin war so groß, dass er sogar auf den ihm zustehenden Gewinn aus der Kadaverbergung verzichtete.
Und bei einer so großen Beute war das beileibe kein kleiner Verzicht!
Dabei bestand nicht nur ein Bergungshilferecht, sondern auch eine Hilfspflicht, die verhindern sollte, dass aufgrund von Streitigkeiten ein bereits erlegtes Seemammut nicht geborgen werden konnte, was der Gemeinschaft aller Sippen von Winterborg geschadet hätte. Aber Kallfaer konnte sich in diesem Fall damit herausreden, dass bereits Schiffe in ausreichender Zahl den Hafen von Winterborg verlassen hatten und seine Mannschaft möglicherweise gar nicht mehr zum Zuge gekommen wäre. Dass er wahrscheinlich mit Absicht so lange gewartet hatte, bis – außer seinem eigenen – kein Schiff mehr im Hafen von Winterborg war, konnte ihm niemand nachweisen – und damit war auch eine Verletzung der Hilfspflicht nicht nachweisbar. Dennoch war Kallfaers Unterlassung kaum anders, denn als Affront zu verstehen. Nicht nur als ein Affront gegen Rajin, sondern auch gegen dessen Stiefvater Wulfgar Wulfgarssohn und die gesamte Mannschaft der „Stoßzahnsammler“ ...
Der Kadaver des Seemammuts wurde so nahe wie möglich an den Strand gebracht, dass sein gewaltiger Körper den Grund berührte. Am Strand warteten bereits gut hundert Männer aus Winterborg, die gegenwärtig keiner Schiffsmannschaft angehörten und hofften, durch die Bergung des Kadavers etwas vom Gewinn abzubekommen. Das Seemammut musste so schnell wie möglich zur Gänze aus dem Wasser geholt werden, denn solange der Kadaver auch nur noch ein Stück ins Meer ragte, konnten ihn die Wassermenschen selbst über große Entfernungen hin wittern.
Das lag wahrscheinlich an dem recht durchdringenden Geruch, den ein Seemammutkadaver sehr schnell entwickelte und den manche unter den Seemannen für eine besondere Wirkung des giftigen Blutes hielten, das in den Adern dieser Monstren floss. Andere glaubten hingegen, dass es mit einem den Wassermenschen angeborenen Zaubersinn zusammenhing, während Bratlor Sternenseher zu berichten wusste, dass unter den Lehrern der Sternenseher-Schule von Seeborg die Ansicht vorherrschte, einer der fünf Mondgötter wäre ein Verräter an den Seemammutjägern, indem er den Wassermenschen verriet, wo Jagdbeute gemacht worden war, sodass diese unheimlichen Wesen dann des Nachts aus der Tiefe stiegen, um sich das zu holen, was sie sich selbst niemals hätten erjagen können.
In der Nähe des Strandes befanden sich gewaltige hölzerne Schwungräder, die mit der Kraft von gezähmten winterländischen Riesenschneeratten bewegt wurden. Der Rücken dieser Tiere war mannshoch, und man benutzte sie auch als Reittiere bei Reisen in das schneeverwehte und ganzjährig vereiste Inland. Im Gegensatz zu ihren Verwandten auf dem Festland, die sich durch ein kurzes dunkles Fell auszeichneten, war das Haarkleid bei den Riesenschneeratten auf Winterland weiß und so zottelig, dass es oft verfilzte. Man verwob diese Wolle zu sehr warmen Stoffen, die hervorragend vor der Kälte schützten und bis an die Nordküste Drachenias oder ins Reich Tajima verkauft wurden.
Armdicke Taue wurden über Flaschenzüge geführt und an den Zugharpunen befestigt und danach der gewaltige Körper des Seemammuts über in großer Zahl bereitliegende Rundhölzer an Land gezogen.
Die Flaschenzüge und die gezähmten Riesenschneeratten waren Allgemeinbesitz, über den der Kapitänsrat von Winterborg bestimmte. Die Jagdbeute eines einzelnen Kapitäns kam schließlich dem gesamten Orte zugute, und es hätte die Möglichkeiten selbst der reichsten Kapitäne überstiegen, eine derartige Anlage zur Bergung von Seemammutkadavern allein zu unterhalten.
Bis spät in die Nacht wurde gearbeitet. Die angeheuerten Hilfskräfte sorgten dafür, dass immer wieder aufs Neue Rundhölzer herangeschafft wurden. Viele von ihnen standen trotz der Kälte bis über die Knie im seichten Uferwasser. Gut verschnürte Stiefel und Hosen aus Seemammuthaut machten das erträglich, denn es dauerte – je nach Sorgfalt, mit der man das betreffende Stück gefertigt hatte – Stunden, bis die Nässe durchgedrungen war.
Wulfgar Wulfgarssohn stand am Ufer und gab die Befehle. Die fünf Monde standen bereits am Nachthimmel. Rot war die Farbe des ersten Mondes, sodass man ihn Blutmond nannte. Die des zweiten war blau, weshalb er Meermond hieß. Den dritten nannte man aufgrund seines grünlich schimmernden Lichts den Jademond. Der vierte Mond war sandfarben und wies zwei deutlich sichtbare Flecken auf, was ihm den Namen Augenmond eingetragen hatte.
Der fünfte Mond aber war weiß wie Schnee, und er war nach den Beobachtungen der Sternenseher im Verlauf der letzten Zeitalter immer größer geworden. Einer alten Prophezeiung zufolge sollte am Ende des Fünften Äons der Schneemond vom Himmel stürzen und die Geschichte der Welt beenden. Da wunderte es auch nicht, dass die Weisen der Sternenseher-Schule von Seeborg den Gott des Schneemondes, Whytnyr, in Verdacht hatten, der geheime Verräter unter den Mondgöttern zu sein, der die Wassermenschen von der Beute der Seemammutjäger wissen ließ.
Die Legenden berichteten davon, dass Whytnyr dem kalten Gott Fjendur die Herrschaft über Eis und Schnee neidete und daher die Wassermenschen gegen ihn ins Feld führte und sie immer wieder in das Reich des Herrschers der Kälte vorstoßen ließ. Denn die Macht über Eis und Schnee, so war Whytnyr überzeugt, gebührte ihm und niemand anderem. Doch seit ihn der Magier Abrides vor langer Zeit in sein Exil auf dem Schneemond verdammt hatte, waren Whytnyrs Einflussmöglichkeiten auf den Gang der Dinge begrenzt. Er war weitgehend zum Zuschauen verurteilt, und seine Macht wurde von Tag zu Tag und von Zeitalter zu Zeitalter schwächer, weil es kaum noch Geschöpfe gab, die ihn verehrten. So hatte sich Whytnyr ein Volk erwählt, dass er als das Seine ansah und dessen Glaubenskraft ihm vielleicht eines Tages wieder die Kraft geben würde, das verhasste Exil auf dem Schneemond zu verlassen: die Wassermenschen.
Der Meeresgott Njordir hatte sie immer wie seine Stiefkinder behandelt, und so waren sie Whytnyr ein williges Gefolge geworden.
Soweit die Legende ...
Da sich der Dunst des Tages fast völlig verzogen hatte und der Himmel nun wolkenfrei war, sorgte das Licht der fünf Monde dafür, dass die Nacht sehr hell war.
Für die an der Bergung beteiligten Männer erleichterte das die Arbeit. Aber man sagte auch, dass Whytnyr es bei klarer Sicht leichter hatte, Verbindung zu den Wassermenschen aufzunehmen und sie auf die frische Jagdbeute hinzuweisen.
„Die Beute war zu lange im Meer, als dass wir hoffen könnten, dass sie den Wassermenschen verborgen geblieben sein könnte“, sagte Bratlor Sternenseher zu Rajin, als endlich auch die Schwanzflosse des Seemammuts nicht mehr in die Wellen ragte. Die Helligkeit der fünf Monde ließ den noch immer feuchten Kadaver schimmern, als würde ihn eine Aura umfloren. Er dampfte förmlich, denn die Hitze in seinem Inneren drang nun nach außen, so als würden die letzten Reste seiner Seele entweichen, um ihre Reise zu Njordir anzutreten.
„Du meinst also, dass wir auf jeden Fall mit einem Angriff der Wassermenschen rechnen müssen“, gab Rajin zurück.
Bratlor hob die Augenbrauen. „Um diese Jahreszeit, bei einer Beute, die so groß ist und so lange im Wasser lag? Ganz sicher! Ich habe deinem Vater schon gesagt, dass wir ausreichend Wachen aufstellen müssen“
„Ich melde mich freiwillig“, sagte Rajin.
„Als derjenige, der dem Seemammut den Todesstoß versetzt hat, bist du von der Wache freigestellt, Bjonn. Und außerdem weiß ich jemanden, der es sehr schätzen wird, wenn du etwas Zeit für ihn erübrigen könntest.“
Rajin begriff nicht sofort. Da deutete Bratlor mit der Linken an Rajin vorbei. In einer Entfernung von einer halben Schiffslänge stand Nya. Über ihrem Kleid aus grobem Leinen trug sie einen Umhang aus der Wolle von Riesenschneeratten, der mit einer kostbaren Silberspange zusammengehalten wurde; der Wert dieser Spange zeigte, welche Stellung die von ihrem Vater Kallfaer Eisenhammer angeführte Sippe in Winterborg einnahm.
„Geh schon zu ihr“, sagte Bratlor. „Kallfaer hat sich bisher nirgends am Ufer blicken lassen – und er wird sich auch hüten, das zu tun. Schließlich müsste er sich ja dann der einen oder anderen Nachfrage stellen, wieso er sich nicht an der Bergung der größten Seemammutbeute seit Jahren beteiligt hat.“
Rajin brauchte man das nicht zweimal sagen, und so ließ er Bratlor Sternenseher einfach stehen, was dieser allerdings mit einer wohlwollenden Miene quittierte. Als Rajin auf Nya zuging, lächelte sie verhalten. Er nahm ihre Hände. In ihren Augen spiegelte sich das Licht der fünf Monde, als sie sagte: „Ich bin so froh, dass dir bei der Jagd nichts zugestoßen ist, Bjonn.“
Rajin erwiderte ihr Lächeln. „Was sollte mir schon zustoßen?“, sagte er scheinbar leichthin. „Ich bin ein geschickter Jäger geworden.“
„Und ein Angeber, wie mir scheint!“ Sie seufzte, und ihre Stirn umwölkte sich. Nya kannte ihn gut genug, um ihn zu durchschauen. So fuhr sie fort: „Leider wird fast genauso viel von den beiden Drachen gesprochen, die über Winterborg kreisten, wie von der erfolgreichen Jagd.“
„Ich weiß“, murmelte er. „Die Bergungshelfer reden von nichts anderem, so als hätten sie es jeden Tag mit einer so riesigen Beute zu tun.“
„Aber ein Drache jagt auch nicht alle Tage über Winterborg dahin“, gab Nya zu bedenken. „Und wenn es deren zwei sind, ist das Gerede anschließend umso größer.“
Rajin nickte. „Das stimmt.“ Er hatte das Gefühl, dass so unheimlich viel Wissen in seinem Inneren schlummerte, das er jedoch immer noch nicht greifen konnte, das ihm noch nicht zur Verfügung stand.
Sie sah ihn forschend an und schüttelte leicht den Kopf. „Du hättest es erleben sollen, Bjonn. Wie sie über dem Ort kreisten, wie ihnen das Feuer aus dem Rachen schoss und sie ihre Blicke über das Land schweifen ließen wie borgländische Adler, wenn sie auf Beutejagd sind. Sie haben etwas gesucht, Bjonn – und alle in Winterborg fragen sich, was das sein könnte.“
Was oder wer, ging es Rajin durch den Sinn.
Er nahm Nya zärtlich in den Arm, und sie ließ es geschehen und schmiegte sich an ihn. Es war ihnen beiden in diesem Moment gleichgültig, ob irgendjemand davon Kallfaer Eisenhammer berichtete. „Aber ich glaube nicht an dieses abergläubische Gerede, dass das Auftauchen der Drachen irgendetwas mit dir zu tun hätte“, sagte sie.
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Als der Morgen graute und sich die ersten Strahlen der Sonne in das mehrfarbige Zwielicht der Monde mischten, versammelten sich die Seemannen von Winterborg auf dem Platz Njordirs, der inmitten des Ortes lag. Ein Felsbrocken von doppelter Mannhöhe erhob sich dort. Die Form dieses Blocks erinnerte an eine zusammengekauerte Riesenschneeratte, und er war von einem so hellen Weiß, dass selbst der Inlandschnee dagegen blass und schmutzig wirkte. Die Oberfläche des Felsens war sehr glatt, als wäre der Stein über unvorstellbar lange Zeiten hinweg geschliffen worden. Nur die Götter selbst brachten so etwas hervor, darin waren sich die Seemannen, die in Winterborg siedelten, von jeher einig.
Man erzählte sich, dass der kalte Eisgott Fjendur diesen Brocken einst aus dem Inneren Winterlands an die Küste getragen hatte, wo Njordir so fasziniert von der außergewöhnlichen Form und dem glatten Schliff des Steins gewesen war, dass der Meeresgott ihn unbedingt besitzen und seinem Götterbruder Fjendur wegnehmen wollte. So kämpften der Legende nach beide – Fjendur und Njordir – lange Zeit verbissen um diesen Stein, und in den Zeitaltern, die dieser Kampf nun schon währte, hatte Njordir das Land, auf dem der Stein lag, mehrfach überflutet. Doch spätestens wenn die Nächte kürzer wurden und der eisige Nordwestwind blies und Fjendur seine Macht entfaltete, wich Njordirs Einfluss wieder zurück. Zwischen Fjendur und Njordir herrschte eine ewige Schlacht, in der es wohl bis zum Ende der Welt keine Entscheidung geben würde.
Diese Kultstätte rund um den Stein gemahnte die Menschen von Winterborg daran, dass die zornige Macht des Meeresgottes mit ihren verheerenden Fluten jederzeit zurückkehren konnte und die Seemannen ihr dann hilflos ausgeliefert waren. Aber gleiches galt auch für den eisigen Schneegott Fjendur, dessen Kräfte in der dunklen Jahreszeit anwuchsen und manchmal so übermächtig wurden, dass den Bewohnern Winterborgs der eisige Tod drohte.
Beide – Njordir und Fjendur – wurden an dieser Stätte um Beistand und Gnade angefleht. Beiden dankte man für das Jagdglück, und insbesondere Njordir wurde dazu aufgefordert, die Gier derer zu dämpfen, die in seinem Element ihr Zuhause hatten – die Wassermenschen.
Unter den Seemannen gab es keinen Stand von Priestern oder Schamanen, die den ganzen Tag nichts anderes getan hätten, als über die Absichten der Götter zu grübeln. So etwas entsprach mehr den Sitten der südlichen Länder. Es war Aufgabe der Sippenoberhäupter und Kapitäne, sich den Göttern zu stellen.
Der alte Tworn, ein weißbärtiger Mann mit wettergegerbter Haut, von dem niemand genau wusste, ob er erst neunzig oder schon hundert Jahre alt war, hatte das Amt des Ältesten im Kapitänsrat von Winterborg inne, und so oblag es ihm, die beschwörenden Gebete zu den beiden Göttern des glatten weißen Steins zu schicken. Die gleichmäßige Verteilung der Lobpreisungen auf beide streitende Götter war dabei besonders wichtig, denn die Bevorzugung von einem hätte den Zorn des anderen erregt, was zweifellos zum Schaden der Menschen von Winterborg gewesen wäre.
Mit zitternder Stimme und voller Inbrunst rief der alte Tworn die Götter an, als das Licht der Sonne bereits zu sehen und das der fünf Monde noch nicht verblasst war. Der Zeitpunkt war also genau richtig, denn die Mondgötter sollten bezeugen, dass Njordir und Fjendur in gleichem Maß und auf gleiche Weise angebetet und verehrt wurden.
Der ganze Ort nahm an der Zeremonie teil. Nur etwa ein Dutzend Männer waren dazu abgestellt worden, den Kadaver des Seemammuts zu bewachen.
Trommler schlugen auf bauchige Pauken, die mit der Haut der Scherenrobbe bespannt waren, andere Musiker spielten auf schrill klingenden Zimbeln, auf Flöten aus dem Elfenbein eines Seemammuts oder bliesen den Dudelsack.
Rajin hatte seinen Platz bei der Sippe und den Gefolgsleuten von Wulfgar Wulfgarssohn eingenommen, während Nya der Zeremonie an der Seite ihrer Sippe beiwohnte. Kallfaer Eisenhammer und sein Gefolge hatten sich am äußersten Rand des Platzes aufgestellt. So weit, dass er der Zeremonie am heiligen Stein fernblieb, ging Kallfaer dann doch nicht. Es war schließlich etwas anderes, ob man nur der Sippe von Bjonn Dunkelhaar und Wulfgar Wulfgarssohn ein Zeichen der Missbilligung gab oder zwei der mächtigsten Götter herausforderte. Ersteres verärgerte höchstens den Geist von Wulfgar Eishaar, der für alle Seemannen in Winterborg eine große Bedeutung hatte. Man betete zu ihm wie zu einem Schutzheiligen. Aber die Geister von beleidigten Toten ließen sich leichter wieder beschwichtigen als beleidigte Götter.
Als der alte Tworn die Arme hob, verstummten die Instrumente. Tworn skandierte eine traditionelle, noch in der alten Sprache Winterlands gehaltene Formel. Die alte Sprache war inzwischen im täglichen Gebrauch vom Hoch-Seemannischen, der Amtssprache des Seereichs, abgelöst worden. Nur die Greise in abgelegenen Dörfern sprachen noch das alte Winterländisch, das mit dem Hoch-Seemannischen zwar eng verwandt, aber doch deutlich von der Hochsprache verschieden war.
Mochte sich Letztere durch den zunehmenden Seehandel auf Dauer überall im Seereich durchgesetzt haben, so zweifelte doch niemand daran, dass die alte Sprache bei Ritualen und Beschwörungen und auch bei der Anwendung von Magie eine größere Macht entfaltete.
„O Fjendur, Gott des Schnees, der Kälte und des Eises – verschone uns vor deinem Zorn. Aber auch du, Njordir, Gott des Meeres und der fünf Winde ...“
Tworn brach ab, denn in diesem Augenblick ließ ein lautes, durchdringendes, dröhnendes Geräusch die Menschen von Winterborg erschrocken zum Horizont blicken. Der Grüngürtel, der sich im Sommer um Winterland legte, war selbst im Süden der Insel nicht breiter als zwei bis drei Meilen. Dahinter begannen die blendend weißen Gletscher.
Von dort kehrten in diesem Moment die beiden Drachen zurück, die am Vortag über Winterborg gekreist waren. Ihr Feueratem war schon von Weitem zu sehen. Erneut stieß einer von ihnen einen dröhnenden Laut aus, und dieses Geräusch klang bereits aus dieser großen Entfernung so bedrohlich, dass er selbst den hart gesottenen Seemammutjägern durch Mark und Bein ging.
Früher, vor vielen Zeitaltern, hatte es Kriege zwischen dem Seereich und dem Reich Drachenia gegeben, und die Legenden bewahrten die Erinnerung an die Zerstörungskraft der Armada der Kriegsdrachen des Kaisers in Drakor. Längst waren diese Zeiten vorbei, und schon seit Generationen trugen die Seemannen durch ihren Handel mit Stockseemammut zur Ernährung dieser Armada bei. Dennoch lebte die Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit fort – so wie wohl umgekehrt die Erinnerungen an die Küstenüberfälle der Seemannen für viele Drachenier noch immer ein Sinnbild blindwütiger Grausamkeit waren.
Dass diese zwei Drachen augenscheinlich keine Reiter trugen und daher wohl nicht Teil des kaiserlichen Drachenreiterheeres waren, trug kaum dazu bei, die Furcht zu dämpfen. Im Gegenteil, schließlich lebte man mit den Dracheniern seit Langem in Frieden – einem Frieden, der erst auf gegenseitigem Schrecken und anschließend auf gegenseitigem Handel fußte. Aber diese beiden Drachen waren ohne einen Lenker – wilde Bestien, deren Zerstörungswut keine nachvollziehbare Richtung und kein erkennbares Ziel hatte.
Rajin verengte die Augen.
So vieles, was die Stimme des Weisen Liisho in all den Jahren zu ihm gesagt hatte, fiel ihm auf einmal wieder ein. „Versuche die geistige Berührung mit den Drachenseelen um jeden Preis zu vermeiden!“, flüsterte ihm diese Stimme erneut mit großer Eindringlichkeit ein. „Gleichgültig, was auch geschehen mag. Selbst dann, wenn du das Gefühl hast, dein Gegenüber beherrschen zu können! Ignoriere dieses Gefühl, oder du bist des Todes – und mit dir stirbt die geheime Bestimmung deiner Existenz ...“
Worte!, dachte Rajin in diesem Augenblick bitter. Nichts als Worte, die ihm aber nicht im Mindesten halfen. Nur Weisungen im Interesse irgendeiner ominösen Bestimmung, über die ihn der alte Mann in seinem Kopf bislang nicht aufklären wollte.
Die beiden Drachen näherten sich. Rajin schätze, dass sie vom Feuer speienden Maul bis zum Schwanz nur gut zehn bis fünfzehn Schritt maßen. Es waren kleine Drachen, erkannte er. Viel kleiner als die Kriegsdrachen, die von den stolzen Samurai des Kaisers geritten wurden. Und selbst die waren nur Winzlinge gegenüber jenen Ungetümen, die schiffsgroße Gondeln in die Lüfte zu hieven vermochten, in denen sich Armbrust- und Katapultschützen verbargen oder eine ganze Hundertschaft von Fußsoldaten transportiert werden konnte. Es gab unzählige verschiedene Arten, Formen und Größen unter den Drachen – aber jene wilden Bestien, die sich nun den Häusern von Winterborg näherten, gehörten der Drachenhauptart an, deren Angehörige wiederum sehr unterschiedliche Größen aufwiesen.
Der Kopf ähnelte der einer Echse und befand sich am Ende eines sehr muskulösen langen Halses. Aus dem mächtigen Körper wuchsen sowohl kräftige, mit Klauen bewehrte Beinpaare als auch ein Paar großflächiger lederhäutiger Flügel. Über den Rücken zog sich eine Reihe spitzer Hornstacheln. Um einen Samurai-Sattel anschnallen zu können, mussten sie an der entsprechenden Stelle abgesägt werden. Allerdings wuchsen sie innerhalb weniger Wochen soweit nach, dass die Prozedur wiederholt werden musste.
All das hatte Liisho mittels Visionen und Träumen Rajin gezeigt – und die Geschichten, die ihm Bratlor Sternenseher von seinen Reisen nach Drachenia erzählt hatte, bestätigten Rajin später, dass diese Visionen ihm die Wahrheit gezeigt hatten.
Und doch war es ein ganz eigenartiges Gefühl, zum ersten Mal mit eigenen Augen solche Drachen zu sehen – mochten es auch vergleichsweise Winzlinge sein.
Rajin spürte die kurze, flüchtige Berührung mit einer geistigen Kraft. Er zuckte darunter förmlich zusammen. Nicht einen Herzschlag lang hegte er Zweifel daran, dass einer der beiden Drachen der Ursprung dieser Kraft sein musste. Nur einen Augenblick später nahm er eine zweite, gleichartige Kraft wahr, die ihm allerdings etwas schwächer schien. Ihm schauderte.
„Es ist eingetreten, wovor ich dich immer gewarnt habe!“, dröhnte Liishos Stimme in seinem Kopf. „Jetzt verhalte dich, wie ich es dich lehrte – was auch immer geschehen mag! Gib der Versuchung, dich zu wehren, nicht nach, und auch nicht dem Wunsch, zu töten oder zu herrschen, wenn er dich überkommt. Dein stärkster Gegner ist deine eigene Schwäche – vergiss das nie!“
4. Kapitel: Angriff der Drachen
Auf dem Platz um den heiligen Stein brachen Angst und Panik aus. Schreie von Frauen und Kindern mischten sich mit den heiseren Rufen der Männer, die zwar der Sitte entsprechend bewaffnet am heiligen Stein zur Zeremonie erschienen waren, aber zumeist nur ihr Schwert auf dem Rücken oder die kurze Streitaxt am Gürtel trugen, die vor allem den Schiffsbauern und Zimmerleuten von Winterborg gleichzeitig als Waffe und Werkzeug diente. Selbst die zur Kadaverwacht eingeteilten Krieger verfügten weder über Speere noch über Bögen oder gar Armbrüste, wie sie vornehmlich von den Dracheniern und Tajimäern verwendet wurden, aber über den Fernhandel immer häufiger auch den Weg in die Häfen des Seereichs fanden. Solche Fernwaffen waren gegen die Wassermenschen auch völlig wirkungslos, da sie deren scheinbar aus Flüssigkeit bestehende Körper einfach durchdrangen, ohne ihnen Schaden zufügen zu können. Nur Schwerter und Äxte, die mit dem Zauber Fjendurs versehen waren, vermochten diesen unheimlichen Räubern etwas anzuhaben.
Der erste der beiden Drachen hatte eine rötlich schimmernde Schuppenhaut, während sein ungefähr eine Schiffslänge hinter ihm fliegender Kumpan von grünen und gelben Flecken übersät war, die ein Muster bildeten. Der rote Drache senkte fauchend die Flugbahn, während der Grün-Gelb-Gefleckte seine Höhe beibehielt, nur den Kopf senkte und suchend den Blick seiner großen Augen schweifen ließ, so als würde er nach etwas Ausschau halten.
Oder nach jemandem, ging es Rajin durch den Kopf, dessen Herz ihm bis in den Hals schlug. Wieder versuchte etwas nach seiner Seele zu greifen und seinen Geist zu berühren. Rajin beherzigte die Ratschläge des Weisen Liisho, denn im Augenblick schienen sie das einzige Rüstzeug zu sein, das er gegen diesen Angreifer hatte. Und dass diese Drachen als Angreifer nach Winterborg gekommen waren, daran konnte niemand ernsthaft zweifeln.
Kaum eine Mannhöhe über dem Boden flog der rote Drachen über die am heiligen Stein versammelten Seemannen hinweg, und aus seinem lang gezogenen echsenhaften Maul loderten Flammenzungen hervor, fünf, sechs Schritte lang. Kleider fingen Feuer, Männer, Frauen und Kinder wurden bei lebendigem Leib derart verbrannt, dass kein Heiler ihnen mehr helfen konnte.
Manche warfen sich zu Boden, um den Flammen zu entgehen, andere zogen Schwerter und Äxte, um nach dem roten Monstrum zu schlagen. Sven Blauauge riss gleichzeitig Schwert und Axt hervor. Die Axt warf der Steuermann der „Stoßzahnsammler“ dem rot geschuppten Drachen entgegen, doch dessen Feueratem schleuderte sie verrußt zur Seite, sodass die Klinge rot glühend gegen den heiligen Stein prallte. Der völlig verkohlte Stiel zerfiel dabei, sodass nur die Klinge und ein stumpfartiger Rest des Schafts zu Boden fielen.
Mit der Schwertspitze ritzte Sven Blauauge gerade noch den hinteren Teil des rechten Flügel, so schnell flog das Ungeheuer über ihn hinweg. Der Drache brüllte auf, verbrannte dabei mit seinem Feueratem eine ganze Gruppe panisch auseinandereilender Frauen und Kinder, dann sauste der Drache steil nach oben. Blut rann aus der Wunde an seinem Flügel, aber er war nun hoch genug, dass ihn die Schwerter der Seemannen nicht mehr erreichen konnten. Im Flug drehte er sich, vollführte eine Bewegung, die wie ein Taumel wirkte, und schickte einen Feuerstrahl zurück. Sven Blauauge wurde voll davon erfasst.
Diese Bestie!, durchfuhr es Rajin, der wie erstarrt dastand. Er fühlte eine Kraft in sich, die er nie zuvor wahrgenommen hatte. Eine Kraft, von der er wusste, dass sie ausreichen würde, um diesem Drachen zu begegnen und ihn in die Schranken zu weisen. Aber genau das war es, wovor die Gedankenstimme des Weisen Liisho ihn gewarnt hatte.
Der rot geschuppte Drache flatterte unterdessen mit den Lederschwingen wild herum, um seinen Flug zu stabilisieren und die taumelnde Bewegung abzufangen. Doch es gelang ihm nicht rechtzeitig, und so schlug der massige Körper in das Dach eines Langhauses ein. Dem Gewicht des Drachen hatte die Dachkonstruktion des seemannischen Langhauses nichts entgegenzusetzen, die Seemammutknochen, aus denen sie aufgrund des chronischen Holzmangels auf Winterland gefertigt war, zerbarsten, die gegerbte Seemammuthaut, die man dazwischen gespannt hatte, verkohlte, als der Drache einen seiner gefürchteten Feuerstöße ausblies. Wie eine blutrote Zunge leckten die Flammen hervor und trafen auf eine mit Seemammut-Tran getränkte Oberfläche. Schwarzer Rauch stieg daraufhin auf. Die Klauen des mit all seinen Gliedmaßen um sich strampelnden Drachen zerrissen das äußerst widerstandsfähige Seemammutleder, als handelte es sich um Pergament oder gar Papier. Mit ein paar ruckartigen, weit ausholenden Bewegungen sowohl der Flügel als auch der mächtigen Pranken ruderte er sich frei und stieg nach ein paar hastigen, fast panischen Flügelschlägen wieder empor, während unter ihm die Seemammuthaut brannte.
Die Haut des Seemammuts war keineswegs leicht entflammbar, aber der Tran, mit dem man sie getränkt hatte, um sie vollkommen wasserdicht zu machen, wurde auch als Brennstoff für Öfen und Lampen benutzt, und so fand das Feuer genug Nahrung, sodass eine immer breiter werdende pechschwarze Rauchsäule in den Himmel stieg.
Mit einem durchdringenden, dröhnenden Brüllen stieg der Drache wieder zur Höhe seines grün-gelb gefleckten Kumpans auf, der in der Zwischenzeit eine Runde über die Häuser von Winterborg gezogen hatte.
Glednir Freistirn hatte inzwischen seinen Bogen geholt und zielte auf den roten Drachen. Ein Pfeil fuhr dem Ungetüm durch den linken Flügel. Etwas Drachenblut troff zwar aus der Wunde, aber die getroffene Kreatur war durch die Verletzung keineswegs beeinträchtigt. Der Laut, der sich dem geöffneten Maul entrang, in dessen Zahnreihen sich noch ein Stück Seemammutleder vom Dach des Langhauses verfangen hatte, war eher drohend als schmerzerfüllt.
Ein weiterer Pfeil verließ Glednir Freistirns Bogen und drang in den massigen Körper. Der Drache verrenkte den Hals, fasste den Pfeil mit dem Maul und riss ihn sich im Flug aus dem Fleisch, während er kurzfristig noch höher stieg.
Auch ein paar andere Männer hatten nach der ersten Verwirrung, die der Angriff der Drachen ausgelöst hatte, ihre Bögen aus den Häusern geholt – wohl ahnend, dass es vieler Treffer bedurfte, eine Kreatur dieser Größe zur Strecke zu bringen.
Rajin spürte, wie die beiden Drachen mit ihren geistigen Kräften nach ihm suchten und ihre unsichtbaren Fühler nach ihm ausstreckten. Er hatte plötzlich keinen Zweifel mehr, dass die beiden Ungeheuer seinetwegen nach Winterborg gekommen waren, und er ahnte, dass dies irgendetwas mit dem Geheimnis zu tun hatte, das durch den Bann in seiner Seele eingeschlossen war.
Er hörte die Stimme des Weisen Liisho in seinem Kopf: „Sie suchen nach dir, Rajin. Sie sind gekommen, um dich zu töten und die Erfüllung deiner Bestimmung zu verhindern. Aber du darfst ihnen das nicht gestatten!"
Der rote Drache vollführte eine Drehung, stieß erneut einen dröhnenden Laut aus, der tief aus der Kehle röhrte. Eine kurz aufflackernde Stichflamme zuckte dabei aus dem halb geöffneten Maul. Die Augen waren weit aufgerissen. Eine namenlose Wut leuchtete aus ihnen – ein Anblick, der Rajin schaudern ließ.
Was trieb diese Kreaturen dazu, sich blindlings auf die Bewohner Winterborgs zu stürzen, wenn sie in Wahrheit doch gar nichts von ihnen wollten, sondern nach Rajin suchten, dem Findelkind, das die Brandung vor achtzehn Jahren an den Strand gespült hatte?
„Verbirg deinen Geist vor ihnen. Um deiner Bestimmung willen!", beschwor ihn die Gedankenstimme Liishos.
Da setzte der rote Drache zu einem weiteren Angriff an, während sich sein grün-gelb gefleckter Zwilling weiterhin wie ein Beobachter verhielt, der oben am Himmel seine Kreise zog. Er war inzwischen so hoch gestiegen, dass die Pfeile der Krieger von Winterborg ihn nicht mehr erreichen konnten.
Der Rote suchte jedoch den Kampf – und gab dabei seinem Drang zu töten freien Lauf.
Er stieg zunächst steil empor, um sich dann im Sturzflug auf eine Gruppe von Winterborgern zu werfen, die an der Ecke eines Langhauses kauerte. Männer, Frauen und Kinder mehrerer Sippen waren durch die Panik während des ersten Drachenangriffs durcheinander gemischt worden. Mit einigen anderen Frauen aus Kallfaer Eisenhammers Sippe befand sich auch Nya bei der Gruppe. Mit vor Furcht weit aufgerissenen Augen erwarteten sie den Angriff.
Rajin fühlte, wie das Herz in seiner Brust geradezu hämmerte. Nicht länger als ein Augenaufschlag blieb ihm, um sich zu entscheiden. Er konzentrierte jene Kraft, von der er bisher kaum geahnt hatte, dass er sie überhaupt besaß, auf die Seele des Drachen.
Kraft ...
Das war der einzige Ausdruck, mit dem Rajin das zu bezeichnen vermochte, was da bisher in ihm geschlummert hatte und das sich nun trotz aller Ermahnungen des Weisen Liisho endlich einen Weg nach außen bahnte.
Nya und die anderen aus der von dem Angriff des Drachen bedrohten Gruppe stoben schreiend auseinander, als das Untier sich plötzlich um die eigene Achse drehte und zu Boden taumelte. Der Drachen schlug hart auf und rutschte gegen den Eckpfeiler des Langhauses, der wie ein Strohhalm einknickte. Die Wand bestand aus Lehmziegeln und brach unter dem Gewicht des Drachenkörpers ein.
„Was hast du getan?“, schrie der Weise Liisho in Rajins Kopf. „Was hast du nur getan, du verfluchter, unwissender Narr?“
Rajin fühlte sich für einen Moment wie betäubt. Alles schien sich vor seinen Augen zu drehen, und das Geschrei der Flüchtenden und die dröhnenden Drachenlaute des gestrauchelten Monstrums drangen nur noch wie aus weiter Ferne an seine Ohren. Es war, als befände er sich im vergletscherten Inneren Winterlands auf einer schneebedeckten Ebene, wo alles beinahe lautlos war und selbst der stampfende Schritt einer gesattelten Riesenschneeratte zu einem leisen Scharren wurde. Zwei Mal hatte Rajin bereits zusammen mit den anderen Männern der Sippe von Wulfgar Wulfgarssohn den Weg zum Fjendur-Heiligtum zurückgelegt, das inmitten der ewigen Winterlandschaft bei einem schwarzen Felsen lag. Ein Monolith aus dunklem glattem Gestein, wo der Schnee- und Eisgott verehrt wurde und man traditionellerweise die Schwerter und Äxte aller Männer der Sippe weihte, sodass ihnen fortan der Zauber Fjendurs innewohnte.
Rajin sah, wie sich der Drache am Boden um sich selbst drehte, dabei weitere Mauerteile des Langhauses einriss und die auf ihn einstürzenden Ziegel sowie die zur Errichtung des Dachstuhls und des Fachwerks verwendeten Seemammutknochen abzuschütteln versuchte. Er schnaufte, ließ eine Feuerzunge aus seinem Maul schießen, die im Vergleich zu denen davor überraschend schwach war und sofort zu einer kleinen Rauchschwade wurde. Die trangetränkte Seemammuthaut auf dem Dach, die teilweise auf ihn herabgesunken war, wurde angesenkt und sorgte für Schwaden von schwarzem Rauch.
„Es gibt kein Zurück mehr! Was getan ist, wurde getan“, meldete sich erneut der Weise Liisho in Rajins Kopf. Wie viel hätte Rajin in diesem Augenblick dafür gegeben, wenn er diese Stimme irgendwie zum Schweigen hätte bringen können. Aber das war ihm unmöglich, zu sehr war sie offenbar mit seiner eigenen Seele verbunden, zu mächtig war der Bann, mit dem ihn der Weise beherrschte. Oder zumindest teilweise beherrschte, denn er hatte Rajin nicht davon abhalten können, diese geheimnisvolle Kraft einzusetzen.
Die Wirkung dieser Kraft auf den Drachen machte Rajin schier fassungslos. Tausende von Gedankensplittern wirbelten in diesem Moment in seinem Kopf durcheinander. Nichts davon schien einen Sinn zu ergeben. Der Urgrund des Polyversums ist das Chaos. Rajin hatte keine Ahnung, weshalb ihm dieser Satz gerade in diesem Moment einfiel. Der Weise Liisho hatte ihn einmal rezitiert, und vor Rajins innerem Auge hatte er sogar die Steintafel gesehen, auf der dieser Satz eingemeißelt worden war – an einem Ort, der als ein Heiligtum galt, das zu betreten nicht jedem gestattet war ...
Der Drache rappelte sich wieder auf, dann stand er auf seinen stämmigen Beinen, scharrte mit den Krallenpranken und wirbelte dabei Dreck auf. Seemammuthautstücke, die zur Dachverkleidung gehörten und auf ihn hinuntergefallen waren, hatten sich in seinen Rückenzacken verfangen. Er schüttelte sich unwillig, brüllte dabei ärgerlich auf und stieß einen Laut aus, so tief und kehlig, dass wohl nur noch die um ein Vielfaches größeren Seemammuts ihn überbieten konnten.
Die Flügel hatte er auf irgendwie unnatürliche Weise zusammengefaltet. Die Wunde, die ihm durch einen Pfeil beigebracht worden war, blutete auf einmal stärker. Ein weiterer Pfeil, der in Richtung des Ungeheuers abgeschossen wurde, verfehlte knapp den Kopf und ging ins Nichts.
Endlich löste sich Rajins Erstarrung. Er griff nach seinem Schwert, riss es aus der Scheide und umfasste es mit beiden Händen. Ihn durchströmte dieselbe Entschlossenheit, die ihn auch in jenem Moment erfüllt hatte, als er dem Seemammut den Todesstoß versetzte. Alles, was seine Arme an Kraft hergegeben hatten, hatte er in diesen einen Stoß gelegt – und so musste es auch diesmal sein, wollte er dem Drachen Einhalt gebieten, der es offenbar darauf abgesehen hatte, die Bewohner von Winterborg wahllos zu töten – und das seinetwegen, wie Rajin klar geworden war.
Auch wenn er die genauen Zusammenhänge noch nicht begriff und vieles von dem, was gerade geschah, für ihn ebenso ein Geheimnis war wie für alle, die Zeugen davon wurden – er war nicht gewillt zuzulassen, dass die Bewohner Winterborgs für etwas leiden mussten, was nur ihn betraf – Rajin, den man Bjonn Dunkelhaar nannte.
Er trat dem Drachen zwei Schritte entgegen und richtete die Schwertklinge auf den Kopf der Kreatur. Es war, als würde Rajin die Absichten des Drachen bereits im Vorfeld erkennen: Er schnellte zur Seite, kurz bevor ein weiterer Feuerstrahl aus dem Maul der Bestie schoss, machte einen schnellen Ausfallschritt, und das Drachenfeuer versengte dort, wo er gerade noch gestanden hatte, den Boden.
Rajin sammelte erneut die verborgene innere Kraft. Gleichzeitig spürte er, wie sich der Drache gegen den lähmenden Einfluss zur Wehr setzte, wie sich seine Seele aufbäumte und zu verhindern versuchte, dass Rajin seinen Willen brach.
Rajin stieß einen Schrei hervor. Einen Schrei, der die innere Kraft zu bündeln vermochte, sodass sie die Drachenseele mit niederschmetternder Wucht traf.
Niemand hatte Rajin gezeigt oder erklärt, wie man das zustande brachte. Er hatte es einfach gewusst. Dieses Wissen gehörte offenbar zu den schlummernden Geheimnissen, die in der Tiefe seiner Seele verborgen waren.
Der Drache brüllte auf. Während Rajin mit einem weiteren durchdringenden Schrei auf seinen Gegner zustürmte, richtete er sich auf, stellte sich auf die Hinterbeine, schüttelte Ziegelsteine, Fetzen von trangetränkter Seemammuthaut und Stützknochen von sich und ruderte mit den vorderen Pranken.
Rajin fühlte, wie die innere Kraft ihn durchströmte, sich durch den Schrei auf einen einzigen Punkt bündelte.
Sie floss seine Arme entlang, fuhr über die Hände in den Schwertgriff und sammelte sich genau in dem Moment in der Spitze der Klinge, als Rajin sie in die rot geschuppte Haut des Drachen stieß. Bis zum Heft trieb er die Waffe aus bestem Feuerheimer Stahl in den Körper der Himmelsbestie. Der Schrei, der Stoß und die Sammlung der inneren Kraft – all das befand sich im perfekten Einklang, war ein harmonisches Zusammenspiel, so als hätte er sich all das schon von klein auf in langen Jahren unermüdlichen Übens angeeignet.
Die Zeit schien für Rajin während seines Angriffs langsamer zu verlaufen. Die Geräusche in seiner Umgebung klangen tiefer, alles bewegte sich träge, so als stünde die Welt kurz vor einer alles erfassenden allgemeinen Erstarrung.
Aber irgendetwas sagte Rajin, dass nicht die Umgebung es war, die sich auf so erschreckende Weise verändert hatte, sondern vielmehr seine Sicht auf seine Umgebung. Es war die innere Kraft, die diese Veränderung hervorrief – jene Kraft, die Rajin der Weisung Liishos Zufolge unbedingt weiter hätte verbergen sollen.
Der Drache beugte den Kopf. In seinen großen Augen spiegelte sich eine Mischung aus Wut, Schmerz, Hass und auch Verwunderung. Das kraftvolle dröhnende Brüllen war zu einem erbärmlichen röchelnden Laut geworden.
Er öffnete das Maul, wollte Rajin mit einem Feuerstoß verbrennen. Aber kein Flammenstrahl entrang sich ihm. Stattdessen würgte er nur einen Schwall übel riechender Gase hervor. Es gab einen Knall, und eine Wolke aus weißem Qualm breitete sich aus, deren beißender Geruch Rajin schier den Atem nahm.
Er zog das Schwert aus dem Drachenkörper und wich ein paar Schritte zurück.
Für einen Moment stand das riesenhafte Geschöpf, das unter seinesgleichen doch nur ein Winzling war, schwankend auf seinen Hinterbeinen, gestützt auf den mächtigen stachelbewehrten Schwanz.
Die Augen des Drachen verdrehten sich, dann brach der Blick. Wie ein gefällter Baum stürzte das Ungeheuer zu Boden.
Rajin war rechtzeitig weit genug zurückgewichen, so als hätte er sogar die Fallrichtung und –weite des gewaltigen Körpers vorausgesehen. Der Kopf lag reglos und mit erstarrtem Blick zu seinen Füßen, während von seiner Klinge noch das Drachenblut troff.
Rajin atmete tief durch. Er fühlte, wie sich die verborgene innere Kraft wieder in jene Tiefen seiner Seele zurückzog, in denen sie so lange geschlummert hatte.
„Du weißt nicht, was du getan hast!", wisperte die Stimme des Weisen Liisho in Rajins Kopf. „Auch wenn man es dir als Heldentat anrechnen wird – es war nichts anderes als pure Dummheit!"
Die Blicke aller waren auf Rajin gerichtet. Der grün-gelb gefleckte Drache zog unterdessen eine Schleife über den Häusern von Winterborg. Aber anstatt einen Angriff zu wagen, stieg er weiter empor. Einige Pfeile, die auf ihn abgeschossen wurden, fielen wieder in die Tiefe, ohne dass sie ihr Ziel hätten erreichen können. Der Pfeil eines guten Reflexbogens konnte auf dreihundert Schritt genau treffen und auf hundertfünfzig noch einen Harnisch aus Feuerheimer Stahl oder ein Kettenhemd, wie es die Krieger im Süden trugen, durchdringen. Aber schoss man senkrecht in Höhe, verhielt sich der Pfeil vollkommen anders, als wenn man ihn waagerecht auf ein Ziel abschoss, und an der Sternenseher-Schule zu Seeborg rätselten die Weisen schon seit mehreren Menschenaltern darüber, welche Kraft man dafür verantwortlich machen konnte, dass es viel schwieriger war, hochfliegende Vögel, Drachen oder ein tajimäisches Luftschiff zu treffen als einen viel weiter entfernten Feind an Land oder zur See. Es musste eine rätselhafte magische Energie sein, die all diejenigen schützte, die fähig waren, sich in die Lüfte zu erheben, und es ärgerte die Gilde der Sternenseher seit Langem, dass ihnen diese Art der Zauberei bislang verschlossen geblieben war.
Inzwischen hatte fast ein Dutzend Männer Pfeil und Bogen schussbereit in der Hand, und noch einmal wurden die Bögen gespannt. Aber auch diese Geschosse verloren nach wenigen Masthöhen bereits an Kraft und fielen dann wirkungslos zu Boden. Sie gingen irgendwo auf den kargen, zumeist von Moos bewachsenen Flächen rund um Winterborg nieder. Der gelb-grün gefleckte Drache aber stieg sicherheitshalber noch ein Stück höher. So hoch, dass er aus der Entfernung kaum größer als eine Ente wirkte. So hatte sein Brüllen auch nicht mehr die bedrohliche Kraft wie zuvor, dafür klang es eher wie höhnisches Triumphgeheul.
Für einen kurzen Moment spürte Rajin die geistige Berührung mit diesem Wesen. Er hätte nicht in Worte fassen können, was der Drache ihm dabei übermittelte. Es war eine seltsame Mischung aus vollkommen fremden Gedanken, Bildern und Eindrücken. Zu fremdartig, um sie auch nur ansatzweise verstehen zu können.
Dafür meldete sich die Stimme des Weisen Liisho umso klarer in seinem Kopf.
„Du hast dich ihm zu erkennen gegeben, Rajin. Mehr hat er gar nicht gewollt ...“
Der Drache zog davon, und niemand wäre in der Lage gewesen, ihn aufzuhalten. Schon nach kurzer Zeit war er weit draußen über dem Meer in einer Wand aus grauem Dunst verschwunden.
––––––––
Wulfgar Wulfgarssohn trat zu Rajin und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ihr habt alle gesehen, was geschehen ist!“, rief er. „Viele von euch haben tief in ihren Herzen immer bezweifelt, ob es eine gute Entscheidung war, das Findelkind, das uns Njordir vor achtzehn Sommern schickte, anzunehmen und aufzuziehen, statt es zurück in Njordirs Reich zu werfen. Ja, so mancher von euch hat Bjonn für einen Unglücksbringer gehalten. Aber heute hat er allen bewiesen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht! Mein Sohn Bjonn Dunkelhaar hat an einem Tag ein Seemammut erlegt und Winterborg vor zwei marodierenden Wilddrachen beschützt, die ein übellauniges Schicksal an unsere Küste lockte. Kein Unglücksbringer ist er – sondern ein Held, über dessen Taten man sich noch Geschichten an den Winterfeuern erzählen wird, wenn seine Gebeine längst in der See versunken und seine Seele bei Njordir eingegangen ist. Und da die Götter ihm die hässliche Form seiner Augen offenbar nicht zum Vorwurf machen, sollte es auch keiner von euch länger tun!“
Hier und dort war zustimmendes Gemurmel zu hören – aber Rajin entging nicht, dass es vor allem aus Wulfgar Wulfgarssohns Sippe und Gefolge kam. Die meisten anderen Bewohner Winterborgs waren fassungslos und starr vor Trauer über die Verluste, die ihre Familien und Sippen erlitten hatten. Sie waren völlig unfähig, sich darüber zu freuen, dass sie selbst überlebt hatten, geschweige denn, dass sie ihrem ungeliebten Retter Dankbarkeit hätten entgegenbringen können.
„Sie werden noch begreifen, was du für sie getan hast“, sagte Wulfgar Wulfgarssohn zuversichtlich zu Rajin. „Glaub mir, Sohn Bjonn. Nur wird es Zeit brauchen.“
„Vielleicht werden sie sich aber auch fragen, wie es möglich war, was hier geschehen ist“, mischte sich der Wilde Aeriggr ein, der in der Nähe gestanden und Wulfgars Worte gehört hatte. Er trat etwas näher, musterte Rajin von oben bis unten, und in seinem Blick lagen nicht nur Verwunderung und Neugier, sondern vor allem Furcht. „Was ist das für eine besondere Zauberei, die es dir möglich machte, den Drachen zu töten, Bjonn?“
„Es war die Kraft meines Arms und die Schärfe meines Schwerts“, behauptete Rajin.
„Scharfe Schwerter aus gutem Stahl besitzen wir alle, sofern wir darauf achten, dass sich nicht der Klingentod in sie hineinfrisst. Und trotzdem glaube ich nicht, dass es einem von uns möglich gewesen wäre, diesen Drachen zu erlegen!“
„Warum wollt ihr nicht Bjonn Dunkelhaars außergewöhnlichen Mut anerkennen, der euch alle gerettet hat?“, rief auf einmal eine sehr helle Stimme. Es war die von Nya Kallfaerstochter.
Der Wilde Aeriggr bedachte sie mit erstauntem Blick, während sie sich neben Rajin stellte. „Bjonn hat sein Leben riskiert, um uns alle zu retten“, fuhr sie fort, „das sollte niemand hier vergessen!“
Aeriggrs Augen verengten sich zu grimmigen Schlitzen, und eine tiefe Furche bildete sich auf seiner Stirn. Er sah sie abschätzig von oben bis unten an. Dass sie ihm widersprochen hatte, war unerhört. Aeriggr war schließlich Mitglied im Kapitänsrat von Winterborg.
„Hast du deiner Tochter keine Manieren beigebracht, Kallfaer?“, rief Aeriggr ihrem Vater zu. „Oder gestattest du ihr, sich ungefragt zu äußern, wenn Krieger und Seefahrer sich unterhalten?“
Kallfaer Eisenhammers Gesicht lief dunkelrot an. „Wenn es um schlecht erzogene Kinder geht, sollten wir vielleicht besser über deine Brut reden, Aeriggr!“
„Und ich schlage vor, diesen Streit euren Weibern zu überlassen!“, fuhr Wulfgar Wulfgarssohn dazwischen. „Falls ihnen danach der Sinn steht und sie nicht lieber die Toten betrauern, was euch auch gut anstünde!“
Aeriggr stieß ein verärgertes Grunzen aus, und in Kallfaers Miene stand blanke Wut. Aber die galt nur in zweiter Hinsicht Aeriggr und Wulfgar. In erster Linie galt sie Rajin, und der war sich dessen nur allzu bewusst.
Kallfaer sah zuerst seine Tochter an, dann den verhassten jungen Mann. Doch er sagte keinen Ton mehr, drehte sich um und ging davon.
„Im Augenblick bist du der große Held, Bjonn Dunkelhaar“, spie ihm Aeriggr zu. „Offenbar reicht dein Zauber, um eine Jungfrau zu beeindrucken, die – so will’s scheinen – die Einfalt ihres Vaters geerbt hat. Aber du kannst dir sicher sein, dass ich dich beobachten werde. Ich verstehe nichts von Zauberei – und schon gar nichts von der bösartigen Art der Magie, wie sie im Lande Magus den Bewohnern eigen ist. Dennoch werde ich dich genau im Auge behalten.“
„Ich kann dir versichern, dass ich keine üblen Absichten hege, Aeriggr“, beteuerte Rajin.
Sein Gegenüber stieß darauf nur ein höhnisches Lachen aus, dann wandte auch er sich ab und stapfte davon.
„Er scheint niemanden bei diesem furchtbaren Drachenangriff aus seiner Sippe verloren zu haben“, sagte Nya zu Rajin. „Andernfalls würde er nicht seinen Retter beschimpfen.“
„Andere haben Angehörige verloren, Nya“, erwiderte Rajin betrübt, „aber auch sie scheinen mir nicht sehr dankbar zu sein für mein Einschreiten.“
Nie zuvor hatte er sich dem Land und dem Ort, in dem er aufgewachsen war, so fremd gefühlt, und selbst Nyas Anwesenheit konnte daran diesmal nichts ändern.
5. Kapitel: Grauen aus der Tiefe
Den ganzen Tag über liefen immer wieder Schiffe aus, um die Toten hinaus in die Bucht von Winterborg zu bringen. Dort wurden sie dem Meer übergeben, wie es Sitte unter den Seemannen war. Kein Toter sollte seine letzte Ruhe an Land finden, es sei denn, er war im Leben verflucht worden.
Das Wehklagen der Frauen war noch bis in den Abend zu hören. Es gab ein Dutzend Legendensänger in Winterborg, die allesamt im Sold des Kapitänsrates standen. An den langen Winterabenden unterhielten sie die Bewohner Winterborgs mit Gesängen und Geschichten, die zum Klang einer Laute vorgetragen wurden. Und da die Seemannen keinen Priesterstand kannten, oblag es auch den Legendensängern, die Totenklagen zu singen.
Häufig war in der Vergangenheit im Kapitänsrat darüber debattiert worden, ob es für eine letztlich doch verhältnismäßig kleine Siedlung wie Winterborg nicht ein allzu großer Luxus war, sich gleich ein Dutzend Legendensänger in Lohn und Brot zu halten. Immerhin kostete es ja einen nicht unerheblichen Betrag in Bruchsilber, diese Zahl von Sängern im kalten Winterborg zu halten – Silber, das mit dem Handel von Stockseemammut erst mühsam erwirtschaftet werden musste. Aber letztlich hatte sich immer jene Gruppe im Kapitänsrat durchgesetzt, die der Auffassung war, eine mangelnde Abwechslung bei den Legendenliedern würde zu Unzufriedenheit und Streitlust während des langen Winters führen, was nun wirklich nicht im Interesse der Kapitäne war.
Nun war man allgemein froh darüber, Sänger in ausreichender Zahl zur Verfügung zu haben, um alle Opfer des Drachenangriffs in einem würdigen Rahmen bestatten zu können.
Nach einem Gebet zu Njordir, aufgesagt vom jeweiligen Sippenoberhaupt, und einem Trauerlied, vorgetragen von einem Legendensänger zum gefühlvollen Lautenspiel, wurde der Tote feierlich in die See versenkt.
Viel Zeit wurde dem Totengedenken nicht gewidmet. Die Umstände ließen das nicht zu. Schließlich musste der Kadaver des angelandeten Seemammuts weiter zerlegt werden, damit das Fleisch nicht verdarb. Mindestens eine Woche würde das dauern. Und je schneller es geschah, desto besser, denn es bestand noch immer die Gefahr eines Angriffs von Wassermenschen, wenn sie der verräterische Gott des Schneemondes zum Kadaver führte. Mochten die mit Fjendurs Zauber versehenen Äxte und Schwerter auch einen einigermaßen wirksamen Schutz gegen diese unerbittlichen und schwer zu tötenden Gegner darstellen – der beste Schutz gegen einen Überfall von Wassermenschen war noch immer das Nichtvorhandensein einer Beute. Sobald das Blut aus dem Fleisch der Meeresriesen herausgekocht war, hatten die Wassermenschen nämlich keinerlei Interesse mehr am Kadaver des Seemammuts. So brannten die Feuer in den Kesselhäusern nahezu ununterbrochen.
Allerdings kündeten die schwarzen Rauchsäulen auch weithin von dem großen Fang, den die Männer von Winterborg gemacht hatten, und wenn der auf den Schneemond verbannte Verrätergott Whytnyr nicht ohnehin schon bemerkt hatte, was sich in der Bucht abspielte, so konnte er es nun wohl kaum noch übersehen. Nun musste man spätestens damit rechnen, dass Whytnyr seine Verbündeten in der Tiefe des Meeres darauf aufmerksam machte, dass am Strand von Winterborg Beute auf sie wartete.
In den nächsten Tagen wurde bis zur fast völligen Verausgabung gearbeitet. Abends saß man schweigend und ermattet an den Feuern in den Langhäusern, aß etwas und gönnte sich anschließend ein paar Stunden Schlaf. Rajin war dann meist so erschöpft, dass ihm der Weise Liisho nicht in seinen Träumen erschien, und so quälte er ihn auch nicht mit Vorhaltungen und salbungsvollen Ratschlägen.
Dass sich Liisho allerdings auch tagsüber nicht mehr an ihn wandte, machte Rajin dann doch Sorgen. War der Weise etwa beleidigt, weil Rajin entgegen seiner Ermahnung die Leben vieler Winterborger gerettet hatte, die ohne sein Einschreiten mit Sicherheit dem Wüten des roten Drachen zum Opfer gefallen wären?
Auch wenn er damit dem eindringlichen Rat des Weisen Liisho zuwidergehandelt hatte, so bereute Rajin dies nicht. Denn er war überzeugt davon, das Richtige getan zu haben.
An einem Abend nahm Bratlor Sternenseher ihn zur Seite und führte ihn in eine Ecke von Wulfgar Wulfgarssohns Langhaus. Das Herdfeuer prasselte, und der Geruch einer kräftigen Suppe aus Seemammutsud weckte ihren Appetit.
Bratlor sprach in gedämpftem Tonfall, als er hervorbrachte: „Du solltest gehen, Bjonn Dunkelhaar.“
„Gehen?“, echote Rajin und sah den Sternenseher fragend an. „Wie meinst du das?“ In Wahrheit wusste er es genau. Zumindest ahnte er es, und wenn er ehrlich sich selbst gegenüber war, dann musste er eingestehen, sogar selbst schon darüber nachgedacht zu haben.
„Du solltest Winterborg so schnell wie möglich verlassen, um kein weiteres Unglück auf deine Stadt und deine Sippe heraufzubeschwören“, stellte Bratlor klar. „Sag nicht, dass du nicht schon selbst erkannt hättest, dass dies die einzige Möglichkeit ist, um weiteres Unglück von den Deinen abzuwenden.“
Bratlor machte eine Pause. Der weiche Schein der Tranfackeln, die das Innere des Langhauses in ihr flackerndes Licht tauchten, fiel in das Gesicht des Sternensehers. Rajin fühlte einen Kloß im Hals. Bevor er etwas erwidern konnte, sagte Bratlor: „Keine Sorge, ich bin dein Freund und werde dich begleiten.“
„Aber ...“
„Du kannst mir nichts vormachen. Ich war in Drachenia und habe gesehen, wie die Drachenreiter dort diese gewaltigen Kolosse bezwingen. Und was ich während des Kampfes mit der roten Bestie gesehen habe ...“
Er brach ab, da Glednir Freistirn dicht an ihnen vorbeiging; er hielt eine Schüssel in der Hand und wollte sich offenbar von der Suppe aus Seemammutsud nachfüllen.
Er richtete kurz den Blick auf Rajin und Bratlor, denn natürlich hatte er bemerkt, dass beide bei seinem Nähertreten plötzlich verstummt waren.
Bratlor wartete, bis Glednir Freistirn gegangen war, ehe er wieder das Wort ergriff. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit dir vielleicht los sein könnte und weshalb du diesen wilden Drachen beeinflussen konntest, und ich nehme an, dass dir das selbst auch nicht klar ist ..."
„Aber du glaubst, dass ich Unglück nach Winterborg bringe", stellte Rajin fest.
Bratlor sah ihn an. „Ich glaube jedenfalls nicht daran, dass sich die beiden Drachen einfach nur so an unsere kalte Inselküste verirrt haben."
Rajin schüttelte verzweifelt den Kopf. „Aber ich würde solche Ungeheuer doch niemals hierherrufen und damit meine Sippe und alle, die mir etwas bedeuten, in Gefahr bringen!"
„Nicht absichtlich vielleicht. Aber da schlummert eine Macht in dir, eine unheimliche Macht, die dich befähigte, den roten Drachen zu töten!“
„Worüber ihr alle froh sein solltet!“
„Natürlich.“
„So habe ich Unglück von Winterborg abgewandt und nicht herbeigerufen!“
„Du solltest nicht damit anfangen, dir selbst etwas einzureden, Bjonn. Niemand weiß, von wem du abstammst oder von welchem Schiff man dich warf, bevor du an den Strand in unsere Bucht gespült wurdest."
„Ich glaube nicht, dass magisches Blut in meinen Adern fließt", flüsterte Rajin. Nein, dachte er, in Wahrheit wusste er es, zumindest wenn er alles das als wahr annahm, was ihm der Weise Liisho eingeflüstert hatte. Aber er konnte noch immer nicht über die Verbindung reden, die es offenbar zwischen ihm und dem Drachenland Drachenia gab, auch wenn dies vermutlich der richtige Zeitpunkt dafür gewesen wäre. Auch das unterlag, so schien es, dem inneren Bann, mit dem Liisho ihn bedacht hatte. Ganz gleich, wie sehr ihm Liisho zürnen mochte oder ob er ihn vielleicht sogar ganz verlassen hatte, dieser Bann, mit dem Rajin belegt war, hinderte ihn immer noch daran, über diese Dinge zu sprechen.
Bratlor Sternenseher schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Barajan nahm den Magiern im Ersten Äon die Fähigkeit, sich die Drachen zu unterwerfen – aber genau das hast du getan, denn sonst wäre es für den Roten ein Leichtes gewesen, dich zu töten. Nein, ich halte es eher für möglich, dass in dir das Blut drachenischer Samurai fließt. Die Form deiner Augen und deine blauschwarze Haarfarbe sprächen dafür – obwohl es auch unter den Bewohnern des Reiches Magus viele geben soll, auf die diese Eigenschaften zutreffen."
Als Rajin darauf etwas erwidern wollte, war seine Zunge wie gelähmt. „Aber ich habe diese Drachen ganz sicher nicht gerufen", brachte er schließlich hervor, „durch welch geheimnisvollen Kräfte auch immer! Ich müsste doch etwas davon bemerkt haben!"
Bratlor Sternenseher schwieg eine Weile, ehe er antwortete: „Vielleicht ist es auch genau umgekehrt"
„Was meinst du damit?"
„Nun, wenn du so überzeugt davon bist, diese Himmelsbestien nicht gerufen zu haben, könnte es dann nicht sein, dass sie dich gesucht haben?"
„Aber warum sollten sie das tun? Es waren wilde Drachen, keine gezähmten, die dem Willen eines Herrn folgen."
Bratlor zuckte mit den Schultern. „Mag sein, dass ich nicht genug davon verstehe. Ich sage dir nur, was mir so im Kopf herumschwirrt. Aber mein Angebot, zusammen mit dir Winterborg zu verlassen, steht – und du solltest darüber nachdenken. Und zwar bevor das nächste Unheil unsere Stadt trifft und man dich dafür verantwortlich macht!“
––––––––
In dieser Nacht suchten die Wassermenschen Winterborg heim – und das so schlimm, wie es seit den legendären Zeiten von Wulfgar Eishaar nicht mehr geschehen war.
Der Verrätergott Whytnyr schien es besonders übel mit den Seemannen zu meinen. Vielleicht neidete er ihnen den Erfolg bei der Seemammutjagd, die er von seinem gleichermaßen unfreiwilligen wie ungastlichen Exil sicherlich beobachtet hatte, zumal der Schneemond derzeit besonders tief am Himmel hing, sodass mancherorts bereits die Befürchtung aufgekommen war, dass das Ende des Fünften Äons, da der Schneemond herabstürzen und die Geschichte der Welt beenden würde, bereits gekommen war.
Glednir Freistirn und Hjalgor Fünfzopf gehörten zu den Männern, die in jener Nacht als Wachen für den Seemammutkadaver eingeteilt worden waren. Die fünf Monde standen in einer Reihe am Himmel, und der Schneemond wirkte – wie schon seit einiger Zeit – besonders groß. Dazu war er von einer verwaschenen Aura umgeben, die ihn noch gewaltiger erscheinen ließ. Der Sternenseher sagte bei solchen Himmelszeichen für gewöhnlich einen baldigen Wetterwechsel voraus. Nur wenige Stunden ruhten die Arbeiten am Kadaver – und zwar in den Stunden, nachdem der rote Blutmond, der der Mondkette voranzog wie ein Anführer seiner Sippe, bereits den Zenit überschritten hatte und sich zum Horizont senkte, während der Augenmond auf seiner Bahn gerade seinen höchsten Punkt erreichte.
Der Gott des Augenmondes war Ogjyr, der den Schlaf, die Träume und den Tod sandte und für den die Zukunft ein offenes Buch war; dessen Seiten waren mit einer Variante der Runenschrift beschrieben, die nur er zu lesen vermochte. Die Stunden des Augenmondzenits gehörten allein ihm, und selbst wenn die Nacht durch den Schein von hundert Tranfackeln und dem Licht der Monde hell genug gewesen wäre, um weiterhin Brocken aus dem Kadaver herausschneiden und zu den Kesselhäusern tragen zu können, hätten sich kaum Männer gefunden, die bereit dazu gewesen wären, einen derartigen Frevel gegen Ogjyr zu begehen.
Denn mit Ogjyr war nicht zu spaßen.
Er erstickte Säuglinge, Wöchnerinnen und Alte im Schlaf, und den anderen sandte er quälende Albträume, sodass sie in ihren Betten keine Ruhe fanden. Wen Ogjyr besonders strafen wollte, dem sandte er im Traum das Wissen über Ort und Umstände des eigenen Todes, sodass das Leben bis dahin vollkommen von der Ahnung des kommenden Endes erfüllt war und zu einem Vorspiel des Todes wurde.
Die Verse der Legendsänger berichteten davon, dass der Hang zur Gemeinheit, der Ogjyrs Charakter bestimmte, darin begründet sei, dass ihn die Menschen des Seereichs in früherer Zeit beleidigt hatten. Zwar war Ogjyr der Gott des Todes, aber niemand wollte nach seinem Ende die Ewigkeit bei ihm auf dem Augenmond verbringen. Stattdessen zogen es die Seemannen vor, in Njordirs feuchtes Reich einzugehen. Dies war noch immer so und der Grund dafür, dass Ogjyr darauf angewiesen war, die Lebenden zu quälen, da ja die Toten unter den Schutz des Meeresgottes flohen.
Es schien, als hätten sich die Wassermenschen die Stunden Ogjyrs mit Bedacht für ihren Angriff gewählt. Der sonst so stetig über das Meer wehende Wind ließ mit einem Mal nach. Schon das ließ Glednir und Hjalgor aufmerken.
„Sieh nur, wie flach das Wasser plötzlich ist“, sagte Glednir Freistirn und deutete hinaus auf die Brandung. Dass der Wind und der Wellengang gleichzeitig nachließen, war ungewöhnlich. Normalerweise geschah das mit einiger Verzögerung, denn es brauchte Tage, bis sich das durch den Wind aufgepeitschte Meer wieder beruhigt hatte, selbst wenn Njordir seinen Windatem ganz plötzlich anhielt.
Die Gruppe der Wächter hatte in Ufernähe gekauert. Glednir erhob sich, und Hjalgor Fünfzopf folgte seinem Beispiel und stellte sich neben ihn. Beide Männer betrachteten aufmerksam die Wasseroberfläche, die fast spiegelglatt geworden war.
Alle fünf Monde spiegelten sich im Wasser und erzeugten auf der Oberfläche verwaschene Lichterscheinungen in ihren jeweiligen Farben.
Glednir wollte schon aufatmen, doch dann verblasste das Licht des Schneemondes, bis sein Spiegelbild auf der Meeresoberfläche nicht mehr auszumachen war. Auch am Himmel selbst war er kaum noch zu erkennen; da schimmerte noch die milchige Aura, die ihn umgab, doch es war, als hätte er sich hinter dichten Wolken verkrochen, die aber die anderen Monde nicht berührten.
„Whytnyr!“, stieß Glednir hervor und ballte die Hände zu Fäusten. „Der Verrätergott versucht sich zu verbergen! Siehst du es auch, Hjalgor?“
Die anderen zur Wache eingeteilten Männer standen inzwischen bei ihnen und sahen, was Glednir meinte.
„Das kann nur eins bedeuten“, sagte Hjalgor. „Die Brut des Verrätergottes ist bereits in der Nähe!“
Der Mann mit den fünf Zöpfen nahm daraufhin das Horn an die Lippen, das an einem zweifingerbreiten Riemen unter seiner Schulter gehangen hatte, und blies damit einen lang gezogenen Ton, dann drei kurze Töne, holte anschließend tief Luft und wiederholte den lang gezogenen Ton.
Das war das Alarmsignal bei einem Wassermenschenangriff. Daran, dass er bevorstand, konnte es keinen Zweifel mehr geben.
Glednir zog sein Schwert. „Wollen wir hoffen, dass der Zauber Fjendurs noch mächtig genug in unseren Klingen wirkt“, knurrte er. Jeden Augenblick musste man damit rechnen, dass das Grauen aus der Tiefe der nordwestlichen See emporstieg.
Ein Stückweit draußen in der Bucht von Winterborg erschien ein dunkler Fleck auf dem Wasser, der beständig größer wurde. Das Licht der Monde spiegelte sich dort nicht mehr. Es schien einfach verschluckt zu werden.
Hjalgor stieß ein weiteres Mal ins Horn, damit die Krieger Winterborgs in ausreichender Zahl zur Stelle waren, wenn der Kampf begann. Von den Häusern her waren bereits aufgeregte Stimmen zu hören.
Die Dunkelheit auf dem Wasser breitete sich wie ein großer Schatten aus und reichte wenig später bereits bis zum Ufer. Dort hoben sich Gestalten aus den Fluten, deren Umrisse an Menschen erinnerten. Sie schienen aus nichts anderem als Wasser zu bestehen, das irgendein düsterer Zauber in diese Form gezwungen hatte. Die grobe Form blieb dabei stets die eines hünenhaften Menschen, der selbst die größten seemannischen Krieger um mindestens zwei Haupteslängen überragte. Die Arme waren im Vergleich zu den eher kurzen, stämmigen Beinen sehr lang, wobei der linke Arm wesentlich kräftiger als der rechte wirkte. Der rechte Arm endete in einer prankenartigen Hand, während der linke einen keulenförmigen Fortsatz bildete, der ebenso wie der gesamte Körper dieser Kreaturen aus Wasser zu bestehen schien.
Aber Glednir wusste aus der Erfahrung von mindestens hundert Kämpfen, in denen er diesen Wesen schon gegenübergestanden hatte, dass der äußere Schein trog. Mochte der Körper des Wassermenschen auch flüssig und nachgiebig sein, der Keulenfortsatz war hart wie Stein. Zumindest dann, wenn man davon getroffen wurde. Schon so mancher seemannische Krieger war von diesen Räubern aus der Tiefe erschlagen worden, und das keineswegs nur an der Küste Winterlands. Der gesamte Westen des Seereichs war von den Überfällen dieser unheimlichen Kreaturen betroffen.
Der erste Wassermensch stürmte auf Glednir zu und schwang wild den Keulenarm. Glednir Freistirn kannte die Kampfweise der Wassermenschen – allzu viele Finessen brauchte man nicht zu fürchten. Ihre Gefährlichkeit lag eher in ihrer großen Zahl und in der Tatsache, dass ihre Keulenarme offenbar niemals ermüdeten. Vielleicht war es der Verrätergott Whytnyr, der seine Getreuen mit dieser unerschöpflichen Kraft ausstattete – und außerdem mit einer vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber der Zahl der Toten in den eigenen Reihen.
Glednir duckte sich, und die Keule zuckte dicht über ihn hinweg. Selbst ein leichter Treffer, bei dem man vielleicht nur benommen zu Boden taumelte, konnte für den getroffenen Krieger schlimme Folgen haben, denn danach versuchte der Wassermensch für gewöhnlich, seinen Gegner mit der Prankenhand des kürzeren und weniger kräftigen rechten Arms zu fassen, und es reichte bereits eine leichte Berührung mit der Prankenhand, um eine tödliche Wirkung zu erzielen. Alles, was die Prankenhand eines Wassermenschen anfasste, zerfloss augenblicklich.
Glednir aber stieß seinem ersten Gegner das von Fjendur mit seiner Zauberkraft gestärkte Schwert in den flüssigen Leib. Der Seemannenkrieger spürte keinerlei Widerstand. Ein zischender Laut war zu hören, vermischt mit einem schmerzerfüllten Brüllen, ausgestoßen von einem Mund, der auf einmal im ansonsten vollkommen konturlosen Wassermenschengesicht erschien. Er wurde weit aufgerissen und zerfloss dann wie die gesamte Kreatur. Mit einem Gurgeln erstickte der Schrei, ehe die Flüssigkeit, aus der das Wesen bestand, die offenbar durch einen unbekannten Zauber aufgezwungene Form verlor und auf den Strand klatschte. Das galt auch für den eisharten Keulenfortsatz des linken Arms, der ansonsten hart genug war, um Schädel platzen zu lassen.
Glednir schwang das Schwert und sah sich seinem nächsten Gegner gegenüber. Wie einer der Dampfhämmer, die man in den Schmieden Feuerheims verwendete, sauste ein Keulenarm auf seinen vorne haarlos gewordenen Schädel nieder.
Gerade noch gelang es dem Seemannen, dem mörderischen Hieb mit einem Ausfallschritt zu entkommen. Die Keule sauste an ihm vorbei, und sofort ging Glednir zum Gegenangriff über. Er versenkte die Klinge seines Schwertes in den flüssigen Körper des Gegners, dessen Körper auseinanderspritzte. Die Stöße und vor allem die Hiebe gegen die Wassermenschen durfte man nicht zu hastig führen, denn dann konnte es geschehen, dass die Klinge die Kreatur wirkungslos durchdrang. Aufgrund ihrer Geschwindigkeit war wohl auch der Einsatz von Pfeilen und Armbrustbolzen beim Kampf gegen die Wassermenschen sinnlos –auch wenn sie zuvor Fjendur geweiht und mit dessen Zauber versehen worden waren, durchdrangen sie den Körper des Wassermenschen zu schnell, sodass ihr Zauber nicht auf das unheimliche Wesen übergreifen konnte.
Glednirs Kampfschrei mischte sich mit dem gurgelnden Laut seines zerfließenden Gegners. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie einer der anderen Männer unter einem Keulenhieb zu Boden ging. Es war Goranxor Aeriggrssohn, der älteste Sohn des Wilden Aeriggr – ein großer, kräftiger junger Mann, der sich inzwischen den Ehrennahmen Windsammelnder Goranxor verdient hatte, weil sich kaum ein anderer Seemanne Winterborgs so gut darauf verstand, die Takelage eines Langschiffs so festzuzurren, dass selbst bei vergleichsweise wenig Wind dessen schwache Kraft optimal ausgenutzt wurde. Da die Abwehr der Wassermenschen vom Kapitänsrat als Gemeinschaftsaufgabe betrachtet wurde, wurden immer zwei Drittel der Wächter aus der Sippe des erfolgreichen Seemammutjägers und ein Drittel aus allen anderen Sippen gestellt – und zu diesem letzten Drittel gehörte eben auch Goranxor Aeriggrssohn. Schließlich gereichte die Beute des einen zum Wohle aller, deshalb sollte sie – zumindest symbolisch – auch unter dem Schutz des örtlichen Kapitänsrates stehen.
Glednir wirbelte herum, um seinem Kampfgefährten beizustehen. Doch der Wassermensch, der Goranxor mit seinem wuchtigen Keulenschlag hatte zu Boden gehen lassen, warf sich nach vorn. Goranxor versuchte noch, trotz seiner Benommenheit die Beine anzuziehen, aber es war zu spät. Die Prankenhand des Angreifers fasste um das Fußgelenk.
Daraufhin zerfloss der Fuß und nahm einen ähnlich liquiden Zustand an wie die Substanz, aus der die Wassermenschen bestanden.
Goranxor schrie, während sich sein Körper auflöste. Innerhalb eines Lidschlags war das gesamte Bein betroffen, dann die rechte Seite von Goranxors Körper. Sein verflüssigter Schwertarm war nicht mehr in der Lage, die Waffe zu heben, die bald inmitten einer Pfütze im Sand lag. Der Schrei aus dem Mund des ältesten Sohnes vom Wilden Aeriggr erstarb, und die Flüssigkeit, zu der er zerfloss, wurde von dem Prankenarm des Wassermenschen aufgesaugt.
Da aber fuhr Glednirs Schwert dem Mörder von Aeriggrs ältestem Sohn in den Rücken und verweilte dort lange genug, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Mit einem gurgelnden Brüllen zerlief auch dieser Gegner.
Für Goranxor kam das allerdings zu spät. In dem Moment, da der Wassermensch sein unheimliches Leben aushauchte, hörte der Prozess der Verflüssigung bei Goranxor zwar auf, aber zurück blieben nur seine linke Schulter und sein Kopf, der allerdings schon halb verflüssigt und schrecklich deformiert war.
Für einen kurzen Moment sah Glednir Freistirn in die vor Entsetzen weit aufgerissenen und im Tode erstarrten Augen, deren Form durch die beginnende Verflüssigung zu ovalen Gebilden verzogen waren. Ein Anblick, der selbst einem so hart gesottenen und mit den Wassern der fünf Meere gewaschenen Seefahrer und Krieger wie Glednir durch Mark und Bein ging.
Dann sah er aus den Augenwinkeln einen weiteren Angreifer. Er wich aus, doch die Keule traf ihn trotzdem noch hart genug, um ihn niederwerfen. Vor ihm erhob sich die hünenhafte Gestalt eines Wassermenschen, durch die das Licht des roten Blutmondes schimmerte. Seine Pranke griff bereits nach Glednir, doch einen wüsten Kampfschrei ausstoßend, war Hjalgor Fünfzopf zur Stelle.
Seine Axt drang von oben in die Gestalt des Wassermenschen ein. Hjalgor versuchte zwar, die Wucht des Hiebes zu bremsen, damit die Klinge mit ihrer Zauberkraft lange genug im Körper der Kreatur blieb, um sie zu vernichten, aber der Schwung war zu groß. Die Axt fuhr in den Boden.
Der Wassermensch brüllte auf. Seine Form veränderte sich. Bizarre Auswüchse entstanden entlang der Linie, wo die Axt seinen Körper durchschnitten hatte. Sein Körper verlor die Form, aber die Verweildauer des Fjendur geweihten Eisens im Leib der Kreatur war noch nicht ausreichend für ihre völlige Vernichtung gewesen.
Glednir riss sein Schwert herum und stieß die Klinge vom Boden aus in das linke Bein des Wassermenschen. Es kam nicht darauf an, wo man sie traf, sondern womit und wie lange.
Der entsetzte gurgelnde Laut, der sich dem furchtbar missgestalteten Maul entrang, erstarb. Der Wassermensch zerfloss, und das Meerwasser, zu dem er wurde, rann Glednirs Klinge entlang und tropfte auf den Boden.
Der Seemannenkrieger rappelte sich wieder auf.
„Danke“, sagte er knapp an Hjalgor gewandt. Sie hatten alle Wasserkreaturen besiegt.
So schien es zunächst.
Doch der Blick meerwärts ließ Glednir, Hjalgor und die anderen überlebenden Wächter erstarren. Hunderte von Wassermenschen erhoben sich aus dem seichten, dunkel gewordenen Uferwasser. Und eine andere Gruppe dieser Kreaturen hatte bereits das Seemammut erreicht. Saugende und schmatzende Laute waren zu hören. Die meisten dieser Räuber befanden sich zwar im Schatten des gigantischen Seemammutkadavers, sodass man gar nicht genau sehen konnte, was sie taten, dennoch war den Seemannen vollkommen klar, was dort geschah: Sie schlugen ihre Prankenhände in den Kadaver, verflüssigten dessen Fleisch, sodass es sich mit dem giftigen Blut vermischte, und sogen es in möglichst großen Mengen in sich hinein.
Einer der Wassermenschen stieg eine der Leitern empor, die die Tagelöhner, die mit dem Zerlegen des Kadavers beschäftigt gewesen waren, stehen gelassen hatten. Mit einem triumphierenden, leicht gurgelnden, aber überraschend hohen Schrei schwang er seine Keule. Im Gegensatz zu seinen gierigen Artgenossen, die sich im Schatten befanden, war er gut und deutlich im Licht der Monde zu sehen. Er ließ sich auf die Knie seiner stämmigen Beine sinken und griff mit der Pranke seiner Rechten in das Fleisch des Seemammuts, das sich sofort verflüssigte. In einem dunklen Strom rann ein Teil davon über die Haut des Kadavers und tropfte in den Sand.
Im Licht des Blutmondes, der ihn von der Seite rötlich anstrahlte, war die Veränderung im bis dahin vollkommen konturlosen Gesicht des Wassermenschen zu sehen. Eine Öffnung tat sich auf, die erst zur wassermenschlichen Entsprechung eines Mundes wurde, bevor sich die Kinnpartie des Kopfes hervorwölbte und sich ein tierhaftes Maul bildete. Sein Triumphschrei wurde tiefer und sehr viel lauter, bevor er sich niederbeugte und dieser Schrei in einem Gurgeln erstarb, als sich das Maul in das Fleisch des Seemammuts grub.
Im Kampf gegen ein lebendes Seemammut konnten sie nicht bestehen. Erfahrene Seefahrer berichteten, dass dies mit den eigentümlichen Tönen zu tun hatte, die diese Meeresriesen von sich gaben und Seemammutjäger einen unangenehmen Druck im Bauch spüren ließen. Die Wassermenschen aber wurden davon förmlich zerrissen, sodass sie es normalerweise niemals wagten, sich einem dieser Kolosse, solange noch Leben in ihm war, auf mehr als eine halbe Meile zu nähern. War er aber tot, so zerlegten sie ihn innerhalb kurzer Zeit. Dabei war ihnen das Blut besonders wichtig. Für sie war es keineswegs giftig, sondern bildete einen wichtigen Bestandteil ihrer Nahrung, um dessentwillen sie sogar bereit waren, sich in das nordwestliche Meer zu begeben, das sie aufgrund seiner kalten Temperatur lieber mieden.
„Diese verfluchten Bestien!“, rief Glednir Freistirn wütend.
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Als am Strand das Hornsignal geschmettert wurde, war Rajin sofort hellwach. Es war nicht das erste Mal, dass die räuberischen Kreaturen aus der Tiefe des Ozeans Winterborg angriffen, und so wusste er gleich, was zu tun war, und gürtete sich das Schwert auf den Rücken.
Im Langhaus von Wulfgar Wulfgarssohn herrschte ein wildes Durcheinander, und aufgeregte Stimmen waren zu hören. Wulfgar klopfte Rajin auf die Schulter. „Bist du bereit? Wir werden jeden Mann brauchen!“
„Ich weiß“, sagte Rajin.
Wulfgar hob die Streitaxt in seiner Linken und rief: „Zerschmettern wir die verfluchte Brut des Verrätergottes! Mag Whytnyr von seinem verhassten Exil aus zuschauen, wie wir sie vernichten!“
Die Männer aus seinem Gefolge riefen ihre Zustimmung, ein lautes, vielstimmiges „Hoo!“ Unter ihnen befand sich auch Wulfgarskint, Wulfgar Wulfgarssohns ältester, gerade vierzehn Jahre gewordener leiblicher Sohn, der sich mit Helm und Streitaxt bewaffnet hatte.
Wulfgar deutete auf die Axt in Wulfgarskints Hand. „Was soll das denn?“ Er wartete die Antwort seines Sohns erst gar nicht ab, da dessen Absichten offensichtlich waren. „Du bist noch zu jung!“
„Vater ...“
„Es bleibt dabei!“
„Ja, und ich war auch noch zu jung, um auf die Seemammutjagd zu gehen!“
„So ist es!“
„Nicht mal als Schiffsjunge hast du mich mitfahren lasen!“
„Du tust einfach, was ich sage, und bleibst hier!“ grollte Wulfgar. Dann stapfte er zur Tür seines Langhauses und stürmte hinaus in die Nacht. Die Männer folgten ihm mit wildem Kriegsgeheul.
Wulfgarskint aber warf Rajin einen zornigen Blick zu. Rajin hatte schon immer eine gewisse unterschwellige Ablehnung gespürt, die ihm Wulfgar Wulfgarssohns ältester leiblicher Sohn entgegenbrachte. „Dich hat er mit vierzehn auf die Jagd mitgenommen“, zischte Wulfgarskint.
Rajin antwortete nicht. Dazu war einfach nicht der rechte Zeitpunkt. Außerdem hatte er keine Lust, sich mit dem vier Jahre jüngeren Wulfgarskint herumzustreiten, der sich vermutlich schon deshalb zurückgesetzt fühlte, weil er nur der Sohn einer Nebenfrau war. Restina hieß sie, und es hatte lange gedauert, bis Rajin die Ablehnung beider gegen ihn verstanden hatte. Wulfgarskint und seine Mutter waren wohl beide der Meinung, dass ihre Position innerhalb der Sippe eine bessere gewesen wäre, würde es dieses Findelkind mit den hässlichen Augen nicht geben, das darüber hinaus von Wulfgars Hauptfrau Kelsine, die bisher lediglich Mädchen das Leben geschenkt hatte, stets wie ihr eigen Fleisch und Blut behandelt wurde.
„Komm, Bjonn!“, rief Bratlor Sternenseher.
„Eines Tages wird sich alles ändern, Bjonn!“, sagte Wulfgarskint zum Abschied, und seine Stimme hatte dabei die Schärfe einer seemännischen Kurzaxt, wie sie vor allem von den Schiffsbauern verwendet wurde, um Hartholzstämme zu spalten.
„Ja“, sagte Rajin, bevor er sich zum Gehen wandte. „Und vielleicht wird das schon viel früher sein, als du glaubst.“
Dann folgte er den anderen.
Vom Strand war bereits Kampfeslärm zu hören, und im Licht der fünf Monde konnte man aus der Ferne schemenhafte Gestalten ausmachen, die erbittert gegeneinander kämpften.
Schaudern erfasste die Männer, als sie die Dunkelheit sahen, die sich fast über die gesamte Bucht von Winterborg ausgedehnt hatte.
„Los, lauft!“, rief Wulfgar Wulfgarssohn. „Kommen wir den Wächtern schnell zu Hilfe, sonst ist es zu spät!“
Während sich die anderen beeilten, um zum Ort des Geschehens zu gelangen, wurde Rajin von Bratlor aufgehalten.
„Was ist?“
„Jetzt wäre der Moment, Bjonn.“
„Der Moment wozu?“
„Um Winterborg zu verlassen. Wir könnten unbemerkt zu den Gehegen der Riesenschneeratten gelangen und hätten genug Vorsprung, sodass eine Verfolgung sinnlos wäre.“
Rajin schüttelte den Kopf. „Jetzt, da sich die Wassermenschen holen wollen, was wir erjagt haben? Gerade jetzt soll ich meinen Vater und die anderen im Stich lassen?“
„Du lässt sie nicht im Stich, Bjonn. Weder von dir noch von mir hängt es ab, ob dein Vater und die anderen Männer die Wassermenschen besiegen oder nicht.“
„Aber ...“
„Außerdem zweifle ich nicht daran, dass sie die Wassermenschen zurück ins Meer treiben werden. Also komm jetzt – es ist eine gute Gelegenheit!“
„Nein, nicht jetzt!“, entgegnete Rajin entschieden.
„Was glaubst du denn, werden Aeriggr und Kallfaer – und außer ihnen auch viele andere – in dem Auftauchen der Wassermenschen sehen? Ein weiteres Unheil, das du über Winterborg gebracht hast! Das außergewöhnlich riesige Seemammut, das du erlegt hast, die Drachen, die zur selben Zeit das erste Mal gesichtet wurden und uns aus heiterem Himmel angriffen – und jetzt die Wassermenschen! Glaubst du wirklich, sie werden das für einen Zufall halten? Dass Groenjyr, der Gott des Schicksals, der in seinem Palast auf dem Jademond den Schicksalsteppich webt, mal wieder so betrunken war, dass ihm ein Fehler unterlief oder er die Arbeit gar unfähigen oder noch betrunkeneren Lehrlingen überlassen musste?“ Er schüttelte den Kopf. „O nein, Bjonn, sie werden dich für all das verantwortlich machen. Zeichen einer geheimen Kraft, Zeichen kommenden Unglücks – vor nichts fürchten sich die angeblich so furchtlosen Seemannen so sehr!“
„Du sprichst, als wärst nicht auch du einer von ihnen!“
„In gewisser Weise trifft das zu, denn im Gegensatz zu den meisten Männern hier kenne ich auch die Häfen anderer Länder.“
Rajin starrte ihn fassungslos an. Bratlor Sternenseher, den er so gut gekannt zu haben glaubte wie sonst nur ganz wenige Menschen, und der immer sein Freund gewesen war, erschien ihm in diesem Augenblick fremder denn je.
Warum meldete sich die Stimme des Weisen Liisho nicht mehr? So oft hatte Rajin ihn gerade in letzter Zeit verflucht. Aber in diesem Augenblick hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht als seinen Rat. Doch der Weise zog es vor zu schweigen, warum auch immer.
„Lass mich zu den anderen!“, sagte Rajin zu seinem Freund Bratlor, und das mit einem Unterton, der deutlich machte, dass er seine Entscheidung gefällt hatte.
Dann eilte er den anderen Männern hinterher. Bratlor folgte ihm. Er unternahm keinen weiteren Versuch, Rajin davon zu überzeugen, dass er Winterborg verlassen musste.
6. Kapitel: Der Kampf mit den Wassermenschen
Liisho könnte ihm wenigstens Glück für den Kampf wünschen, ging es Rajin durch den Kopf, während er das Schwert aus der auf den Rücken geschnallten Lederscheide riss und auf den Strand zulief. Aber der Weise, der all die Jahre sein unsichtbarer Begleiter gewesen war, hatte ihn offenbar verlassen.
Wie oft hatte Rajin diese Stimme verflucht und sich gewünscht, endlich frei von ihr zu sein. Frei auch darin, gegen den Bann zu verstoßen, der ihm auferlegt war. Frei, sich beispielsweise gegenüber Bratlor genauer äußern zu können, wenn es um das Drachenland und die eigene geheimnisvolle Herkunft ging. Gemeinsam hätten sie vielleicht ein paar der Rätsel entschlüsseln können.
Oft genug war Liisho ihm wie ein Tyrann vorgekommen, der unbemerkt von allen anderen die Oberherrschaft über ihn ausübte. Ein Despot, gegen den jeder Widerstand sinnlos war und der im Zweifel die Macht hatte, den eigenen Willen kompromisslos durchzusetzen.
Eigenartigerweise vermisste Rajin auf einmal die Stimme.
Der erste Wassermensch stürmte bereits auf ihn zu. Er schwang den Keulenarm, aber Rajin unterlief den ersten Schlag und stieß sein Schwert in den Leib des Gegners, um ihn zerfließen zu lassen. Gurgelnde, eine Mischung aus Verwunderung und Wut ausdrückende Laute drangen aus dem Mund, der sich kurz vor dem Ende der Kreatur noch bildete, ehe sie zerfloss und im Boden versickerte.
Aber gleich darauf hieb bereits der nächste Wassermensch auf Rajin ein. Er überragte Rajin, und die Reichweite des Keulenarms war immens. Er wirbelte ihn mit einer Geschwindigkeit, die es sehr schwer machte, den Hieben auszuweichen.
Rajin hob instinktiv sein Schwert, und die Keule seines Gegners schlug so hart gegen die Klinge, dass der junge Mann seine Waffe kaum festhalten konnte. Ein rasender Schmerz fuhr ihm durch beide Hände, mit denen er den Griff umklammert hielt. Mit einer Kombination aus weiteren, dicht aufeinanderfolgenden Keulenhieben schlug der selbst für Wassermenschen ungewöhnlich große Gegner auf Rajin ein. Ein schriller Kampfschrei drang dabei aus dem weit geöffneten Mund, der erst Augenblicke zuvor in dem ansonsten konturlosen Gesicht entstanden war. Die Kinnpartie des Wassermenschen wuchs auf die drei- bis vierfache Größe an, während das Wesen den Kampfschrei ausstieß, der immer mehr zu einem hohen Blubbern wurde, das in den Ohren schmerzte.
Rajin versuchte verzweifelt, die wuchtigen Schläge abzuwehren. Immer wieder klirrte die eisharte Keule klirrend gegen das Metall des Schwerts.
Bratlor konnte ihm nicht zu Hilfe kommen, denn er war selbst in einen Kampf verwickelt, sogar mit gleich zwei Wassermenschen, und hatte alle Mühe, sich ihrer zu erwehren.
Der Feind ging nicht planlos vor: Ein Teil der Wassermenschen versuchte zu den vergleichsweise schutzlosen Häusern von Winterborg durchzubrechen, um so die Kraft der Verteidiger zu spalten.
Da Winterborg normalerweise vom Land her keinen Angriff zu fürchten hatte, gab es keinerlei Schutzwall oder dergleichen. Die Häfen des Festlands waren zumindest mit mannshohen hölzernen, oben angespitzten Palisaden befestigt. Und in den südlich gelegenen Teilen des Seereichs – etwa in Gutland, dem Südenthal-Land oder der an der Grenze zu Drachenia gelegenen Provinz Osland – verwendete man zunehmend Stein und errichtete richtige Trutzburgen, um sich vor Feinden zu schützen.
Aber gegen die Wassermenschen hätten Mauern und Palisaden ohnehin nichts genützt. Der Hafen Runborg auf der zum Seereich gehörenden Insel Runland war mit einer Steinmauer befestigt gewesen. Doch es hatte sich gezeigt, dass die Wassermenschen sogar Stein zerfließen lassen konnten, wenn sie ihn mit ihren Pranken berührten. Die schauerlichen Geschichten, die man sich über den Überfall auf Runborg erzählte, ließen selbst die harten Seemammutjäger Winterlands bis ins Mark erschauern. Die Runborger hatten sich zu sicher gewähnt und geglaubt, dass die seinerzeit frisch errichteten Steinmauern ein wirksamer Schutz gegen die Angreifer wären. Ein Irrtum, den der Großteil der Bevölkerung mit dem Leben bezahlt hatte.
Der Wassermensch, der Rajin bedrängte, trieb ihn regelrecht vor sich her. Immer weiter musste Rajin zurückweichen.
Er versuchte einen schellen Ausfall, um dem Gegner das Schwert in den Leib zu stoßen, aber zuvor traf ihn ein furchtbarer Keulenschlag an der Schulter und warf ihn zu Boden. Die Reichweite, die dieser amorphe Krieger hatte, war einfach zu groß; Rajin hatte es nicht geschafft, nahe genug an ihn heranzukommen, um ihn die in der Klinge seines Schwertes wohnende Zauberkraft des Fjendur spüren lassen zu können.
Brüllend stand der Wassermensch vor dem am Boden liegenden jungen Seemammutjäger. Das Licht des Augenmondes schien durch seine transparente Gestalt hindurch. Man konnte fast den Eindruck haben, dass der auf dem Augenmond residierende Totengott Ogjyr in dieser Nacht mit den Angreifern im Bunde stand.
Die Keule sauste nieder. Rajin drehte sich blitzschnell zur Seite, die Keule schlug dumpf in den Boden, und Rajin nutzte diesen Moment: Noch in der Drehung riss er sein Schwert empor und stieß es in den Körper seines Widersachers. Der Kampfschrei des Wassermenschen wurde zu einem schrillen Wimmern, während er zerfloss. Die Flüssigkeit, aus der seine Gestalt bestanden hatte, rann zum Teil Rajins Klinge entlang und benetzte seine Hände.
Rajin sprang auf, wischte die Nässe instinktiv fort. Ein Geruch nach Salz und Algen erfüllte seine Nase. Diese schrecklichen Geschöpfe waren nichts anderes als Meerwasser, das von einer unheimlichen Macht in eine Form gezwungen wurde.
Schon attackierte ihn der nächste Gegner, doch mit dem wurde Rajin schnell fertig. Einen ersten Hieb mit dem Schwert führte er zu schnell und mit zu viel Wucht, sodass die Klinge ohne die beabsichtigte Wirkung durch den Körper des Wassermenschen fuhr. Dessen Mund verzog sich zu einem Grinsen, und ein Laut, der wie ein verzerrtes, höhnisches Lachen klang, drang daraus hervor.
Doch schon beim nächsten Hieb achtete Rajin darauf, dass die Klinge lange genug im Wasserkörper verblieb, um die Kraft von Fjendurs Zauber entfalten zu können.
Während der Wassermensch zu einer schmutzigen Lache zerfloss, sah Rajin, dass Bratlor inzwischen von gleich drei Wassermenschen attackiert wurde, die ihn ein Stück zur Seite abgedrängt hatten. Verzweifelt hieb er um sich und erwehrte sich der Keulenschläge, die in rascher Folge auf ihn niederprasselten.
Einen der Angreifer ließ er Fjendurs Zauber spüren, indem er ihm die Klinge in den flüssigen Leib trieb. Auch der zweite Wassermensch zerfloss, als er sich auf den Sternenseher stürzte; Bratlor rammte ihm die Klinge genau in dem Moment in die Brust, als auch dessen Keule den Sternenseher traf.
Der junge Krieger wurde zu Boden geschleudert, rang nach Luft.
Der dritte Wassermensch stürzte sich auf ihn.
Bratlor hob abwehrend das Schwert. Ein Keulenschlag prellte es ihm aus der Hand und schleuderte die Klinge eine halbe Schiffslänge weit davon. Sie drehte sich zweimal in der Luft und fiel dann klirrend auf die Steine in Ufernähe.
Der Wassermensch stieß einen gurgelnden Triumphschrei aus.
Bratlor war ihm hilflos ausgeliefert – und Rajin war zu weit entfernt, um ihm helfen zu können. Es war unmöglich, schnell genug zur Stelle zu sein, um noch einzugreifen.
Rajin stieß einen Schrei aus. Er spürte für einen Moment die geistige Berührung von etwas sehr Fremdem, dessen unmenschliche Kälte ihn frösteln ließ. Die Seele des Wassermenschen!
Anstatt sich auf Bratlor zu stürzen, nach ihm zu greifen und den am Boden liegenden Sternenseher durch die Berührung mit der Pranke zu verflüssigen und ihn der eigenen Gestalt einzuverleiben, zögerte das Wesen und stieß einen gurgelnden Laut aus, dessen Tonhöhe zunächst sehr tief war, aber immer lauter und schriller wurde. Die Pranke zitterte. Sie verlor für einen kurzen Moment ihre klare Form, bildete einen zusätzlichen Fingerstumpf, dann verschmolzen zwei Finger miteinander. Der Wassermensch schien mit sich selbst zu ringen.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2023
- ISBN (ePUB)
- 9783738971422
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2023 (Februar)
- Schlagworte
- drachenfluch fantasy roman drachenerde saga