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Der Krieg der Elben

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2023 500 Seiten

Zusammenfassung

Elbiana, das neue Elbenreich im Zwischenland, steht vor dem Untergang. König Keandir begegnet übermächtigen Feinden. Sein Sohn Magolas hat sich auf die Seite des dunklen Herrschers Xaror geschlagen und ist zu seinem schlimmsten Gegner geworden. Doch erneut ruht die Hoffnung der Elben auf einem Zwillingspaar. Daron und Sarwen, die Enkel des Elbenkönigs, sind über die Maßen magisch begabt...

Die Elben-Trilogie von Alfred Bekker besteht aus den Bänden DAS REICH DER ELBEN, DIE KÖNIGE DER ELBEN und DER KRIEG DER ELBEN



Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Alfred Bekker

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Der Krieg der Elben

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Dritter Band der Elben-Trilogie

von Alfred Bekker

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Elbiana, das neue Elbenreich im Zwischenland, steht vor dem Untergang. König Keandir begegnet übermächtigen Feinden. Sein Sohn Magolas hat sich auf die Seite des dunklen Herrschers Xaror geschlagen und ist zu seinem schlimmsten Gegner geworden. Doch erneut ruht die Hoffnung der Elben auf einem Zwillingspaar. Daron und Sarwen, die Enkel des Elbenkönigs, sind über die Maßen magisch begabt...

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Die Elben-Trilogie von Alfred Bekker besteht aus den Bänden DAS REICH DER ELBEN, DIE KÖNIGE DER ELBEN und DER KRIEG DER ELBEN

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Erstes Buch: Könige in Dunkelheit

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Ein König des Schwertes.

Ein König der Schatten.

Ein König des Geistes.

So hieß man in jener Zeit die Könige der Elben.

Einer gründete das Elbenreich mit dem Schwert Schicksalbezwinger und der dunklen Kraft, die seiner Seele innewohnte, seit er dem Augenlosen Seher von Naranduin begegnet war – das war Keandir.

Einer, erfüllt von der dunklen Kraft wie sein Vater Keandir, schuf sich sein eigenes Reich und herrschte über die Rhagar-Länder Aratan, Norien, Südwestlande und Karanor. Doch die Liebe zu einer Menschenfrau machte ihn zum Sklaven von Xaror, dem Herrn der Schatten, dem Gebieter der Nachtkreaturen – das war Magolas.

Einer floh in die Gefilde der reinen Erkenntnis und in die Einsamkeit der Berge von Hoch-Elbiana. Ein König des Geistes war er, ein Magier, wie das Volk der Elben keinen zweiten hatte. Doch war er auch eine einsame Seele, die nichts so sehr fürchtete, als dass auch in ihm die Kraft der Dunkelheit erwachte, die sich in seinem Vater Keandir so stark und in seinem Zwillingsbruder Magolas noch stärker manifestierte – das war Andir.

Die Verbotenen Schriften

(früher bekannt als: Das Buch Branagorn - Codex II, abweichende und vermutlich durch Redaktor B ergänzte Fassung)

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Zwei Menschengeschlechter aber gab es im Zwischenland: Die Tagoräer, die in Tagora, Perea, Soria und Tebana siedelten – und die Rhagar, deren barbarische Heimat die unwirtlichen Sandlande von Rhagardan waren, bevor sie das Pereanische Meer überquerten und unter der Führung des Eisenfürsten Comrrm von Cosanien viele Länder eroberten.

Die Rhagar waren ein wüstes, grobes und sehr primitives Menschenvolk, das sich von den kultivierten Tagoräern in jeder nur erdenklichen Weise unterschied. Ihre Neigung zur Gewalt und ihr Eroberungswille zeigten sich schon früh, wie auch ihre Wissbegier und ihre Lernfähigkeit. Verehrten sie das Elbenvolk zunächst als Lichtgötter, so zogen sie später unter der Führung des Eisenfürsten gegen das Elbenreich ins Feld und brachten es in der Schlacht an der Aratanischen Mauer an den Rand des Abgrunds.

Inzwischen leben viele Rhagar auf der elbischen Seite dieses Schutzwalls, vor allem in den südlichen Herzogtümern Nuranien und Elbara. Und auch in den nördlichen Herzogtümern Nordbergen und Meerland sowie in dem Herzogtum Noram, das König Keandir dereinst als Bollwerk gegen die Trorks des Wilderlandes gründete, bauen sie ihre Häuser, zeugen ihre Kinder und sterben nach einem kurzen, bedeutungslosen Dasein. Noch findet man sie kaum in Elbiana, dem unter direkter Herrschaft von König Keandir stehenden Kernland des Elbenreichs. Doch auch das wird sich mit der Zeit ändern, denn ihre Frauen sind gebärfreudig, und ihre Zahl nimmt ständig zu, während die der Elben stagniert.

Manch Elb blickt auf diese Elben-Rhagar hochmütig herab. Aber er sollte dabei bedenken, dass es auch ihre Krieger sind, die das Elbenreich an der Aratanischen Mauer verteidigen.

Aus den Schriften Hyrondisils des Vielwissenden

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Und Magolas schuf ein Reich, das größer war als alle Menschenreiche, die es bis dahin gegeben hatte, und man verglich ihn alsbald mit dem legendären Eisenfürsten von Cosanien, der es Zeitalter zuvor gewagt hatte, das Elbenreich herauszufordern.

Zuerst nahm sich Magolas, der Sohn König Keandirs von Elbiana, die Tochter des Königs von Aratan zur Gemahlin und herrschte alsdann als König von Aratan. Schon bald entriss er dem Kaiser der Südwestlande die Provinz Norien und machte sich schließlich sogar dessen gesamtes Reich untertan. Auch das Land Karanor fiel ihm zu, und später besiegte sein Heer die Armee des Rhagar-Reichs von Aybana, das er seinem Imperium ebenfalls einverleibte.

Bei der Stadt Milorn im Land Kossarien besiegte Magolas die Armeen des mächtigen Reichs von Kossar, dessen Bewohner es fortan vorzogen, ihm Tribut zu entrichten, statt dass seine Krieger ihr Land verwüsteten. Auch vom Reich der Halblinge in Osterde nahm Magolas Tribut, und die Rhagar-Herrscher von Haldonia und Marana schlossen sich ihm als Verbündete an, während die Tagoräer im Süden vor seiner Macht zitterten. Ihnen nahm er das Land Soria fort und gliederte es in sein Reich ein.

Einen Großkönig nannte man Magolas oder auch einen König der Könige, und sein Imperium wurde das Magolasische Reich genannt. Das Schicksal wollte es, dass einzig das Elbenreich seines Vaters Keandir in der Lage war, seinem Eroberungswillen die Stirn zu bieten. Doch war es Magolas prophezeit worden, dass sein Schwert einst den Namen Elbentöter erhalten würde, und inzwischen erschien dies dem langlebigen Elbenherrscher eines von kurzlebigen Menschen bewohnten Reichs keineswegs mehr absurd.

Mit der Rhagar-Prinzessin Larana aber zeugte er die magisch über die Maßen begabten Zwillinge Daron und Sarwen und setzte so die Blutlinie der Elbenkönige Péandir, Eandorn und Keandir fort.

Die Chronik von Elbara

(ursprüngliche Fassung vor der Redaktion unter Herzog Deranos I., den ersten Rhagar-Herrscher von Elbara)

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Nur ein Jahr später ward Larana schwanger, und so erfüllte sich ihr sehnlichster Wunsch. Magolas aber spürte das heraufdämmernde Verhängnis so deutlich, als wäre es schon geschehen. Die Finsternis, die seine Augen auf einmal ständig ausfüllte, war das äußere Zeichen dafür, dass er zum Sklaven der dunklen Kräfte geworden war.

Es war die Liebe zu der Rhagar-Prinzessin Larana, die ihn zum Diener des Schattenherrschers Xaror und zum Feind seines Vaters hatte werden lassen. Denn nur Xarors Magie konnte Laranas kurze menschliche Lebenspanne über das naturgegebene Maß hinaus verlängern. Und diese Magie war es letztendlich auch, die dafür verantwortlich war, dass Larana in einem Alter, in dem von einer gewöhnlichen Rhagar-Frau nur noch bleiche Gebeine geblieben wären, mit Zwillingen gesegnet wurde.

Der Großkönig hatte keine andere Wahl, als Xarors Willen zu erfüllen und dem ehemaligen Herrscher des Dunklen Reichs die Rückkehr aus dem Limbus zu ermöglichen, in den es ihn vor vielen Zeitaltern durch ein fehlgeschlagenes magisches Experiment verschlagen hatte. Und die beiden Zwillinge, die ihm sein Weib gebar, trugen den Keim der Finsternis in sich. So waren sie wie geschaffen, um Xarors willfährige Diener zu werden.

»Was wir aus Hass tun, ist furchtbar, aber noch furchtbarer ist das, was wir manchmal aus Liebe tun«, so sprach Großkönig Magolas einmal, und dieser Gedanke bewegte ihn wohl auch, als er an die Betten seiner Kinder trat, um ihnen mit dem schwarzen Blut einer aybanitischen Giftkröte jene magischen Zeichen auf die Stirn zu malen, die Xaror ihm in den Mauern seines sechstürmigen Tempels im Wald von Karanor gezeigt hatte. Dazu sprach er jene Worte im Idiom des Volkes der Sechs Finger, die Xaror, der ehemalige Herrscher des Dunklen Reichs, in seinen Geist gebrannt hatte.

In zwei aufeinanderfolgendenden Generationen war die Blutlinie von König Keandir mit der Geburt von Zwillingen gesegnet worden. Auf Andir und Magolas, einem Sohn des Lichts und einem Prinz der Finsternis, hatte lange Zeit die Last einer Prophezeiung gelegen, der zufolge sie das Schicksal der Elbenheit bestimmen würden. Daron und Sarwen, ein Junge und ein Mädchen, waren Halbelben nur und doch mit einer magischen Kraft versehen, wie sie seit langem in der Elbenheit nicht mehr vorhanden gewesen war.

Nachdem das Ritual vollendet ward, fand Magolas keinen Schlaf mehr in jener Nacht. Er stieg auf den Hauptturm des Königspalasts seiner Hauptstadt Aratania und rief gleichermaßen die Namenlosen Götter der Elben als auch den Sonnengott der Rhagar an: »Soll sich denn abermals der Segen einer Zwillingsgeburt in einen Fluch verwandeln, wie es bei meinem Bruder und mir der Fall gewesen ist? Sollen aus lichten Elbenseelen Kinder der Finsternis werden?«

Aber die Götter blieben stumm.

Und gleichgültig.

Sowohl die elbischen als auch jener der Rhagar.

Großkönig Magolas hatte in der Öffentlichkeit den barbarischen Glauben an den Sonnengott angenommen, damit ihn seine Rhagar-Untertanen als dessen Sohn verehrten, wie sie es schon bei dem Eisenfürsten Comrrm getan hatten. Doch ohnehin schienen die primitiven Idole der Rhagar den angeblich so hehren Namenlosen Göttern der Elben nicht unähnlich, zumindest hinsichtlich ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Sterblichen. Weder inbrünstige Anbetung noch aufwendige Opferrituale vermochten sie zu veranlassen, zumindest ein Zeichen ihres Mitleids zu geben. Doch obwohl Magolas von Aratan wusste, dass er etwas Kaltes, Gleichgültiges und Unpersönliches verfluchte, erleichterte dies seine Seele zumindest für den Moment.

Und Magolas sprach: »Unsterblicher König der Könige nennt man mich oder auch einen Gott in Herrschergestalt – und doch bin ich nichts als ein Sklave!«

Die Götter schwiegen, nur der heulende Wind und das Rauschen des Zwischenländischen Meeres antworteten ihm.

Das Buch Magolas

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Was König Keandir über seinen Sohn Magolas dachte, ließ er nie wirklich nach außen dringen. Allerdings traf er sich einmal mit ihm an der Aratanischen Mauer. Sie schritten aufeinander zu, dann aber wich Keandir zurück, so entsetzt war er, als er die dauerhaft von Schwärze erfüllten Augen seines Sohnes sah.

»Schaudert nicht«, sagte dieser. »Ihr müsstet sonst vor Euch selbst schaudern.«

Das Jüngere Buch Keandir

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Der Krieg zwischen dem Reich der Elben und dem Magolasischen Reich war unvermeidbar. Er dämmerte herauf wie die blutfarbene Glut der Morgensonne, wenn sie hinter den Bergmassiven von Hoch-Elbiana aufstieg.

Geschöpfe des Lichts hatte man die Elben genannt – doch ihre Existenz wurde nicht nur durch die uralten Geschöpfe der Finsternis bedroht, sondern vor allem durch die Finsternis in den Seelen ihrer Könige. Ja, Letzteres war die größere Bedrohung.

Das Ältere Buch Keandir

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Ein Elbenkönig der Schatten, der zum Diener der Finsternis wurde.

Ein Elbenkönig des Schwertes, der die Finsternis mit Finsternis bekämpfen wollte.

Ein Elbenkönig des Geistes, der seine Seele frei von Finsternis wähnte und den die Furcht vor ihr fest im Griff hatte.

Könige in Dunkelheit waren sie.

Alle drei.

Aus den »Gesängen der Verdammten«

(in den Apokryphen des Jüngeren Buchs Keandir)

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1. Kapitel: Ein Schwarm Raben

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Einige Meilen von Elbenhaven entfernt lag auf einem Felsmassiv, das aufgrund seiner annähernd zylindrischen Form auch als »Elbenturm« bezeichnet wurde, die Manufaktur des elbischen Waffenmeisters Thamandor, den man inzwischen auch Thamandor den Erfindungsreichen nannte.

Dass man die Waffenmanufaktur des Thamandor einst aus den Mauern der Hauptstadt Elbenhaven verbannte, hatte seinen guten Grund, denn es war wiederholt zu folgenschweren Unfällen gekommen, sodass die Elbenbürger der Stadt nicht mehr bereit gewesen waren, dieses Risiko in Zukunft hinzunehmen. Ganze Gebäude waren durch den Brand magischen Feuers zerstört worden, und der Gedanke an die zum Teil hochgiftigen Essenzen, die der Waffenmeister in seiner Werkstatt aufbewahrte, hatte die Einwohner Elbenhavens schaudern lassen.

Seitdem befand sich die Manufaktur auf dem Gipfelplateau des Elbenturms. Schmale, beschwerliche Pfade führten dorthin. Teilweise hatte man sie mithilfe von Magie in den Fels fräsen müssen, denn schließlich war die Manufaktur darauf angewiesen, dass Transportgespanne sie erreichten. Aber die Lage der Manufaktur machte es auch Rhagar-Spionen schwerer, dorthin zu gelangen und vielleicht Einzelheiten über die Produktion von Flammenspeeren und Einhandarmbrüsten zu erfahren. Viel genutzt hätte den Menschen-Barbaren dieses Wissen wahrscheinlich aber nicht, waren doch ihre technischen Fähigkeiten im Vergleich zu denen der Elben nach wie vor recht begrenzt.

König Keandir befand sich mit einem kleinen Trupp auf dem Weg zur Manufaktur des Thamandor. Sie durchquerten dabei eine lang gezogene Schlucht, durch deren Talsohle inzwischen eine breite Straße ins Landesinnere führte. Rechts und links erhoben sich schroffe Felsenhänge. Und hinter den Kämmen der nächsten Anhöhen überragte der Elbenturm das Land.

Der König hatte wichtige Dinge mit Thamandor dem Waffenmeister zu beratschlagen. Dinge, die mit der Sicherheit des Elbenreichs zu tun hatten. Davon abgesehen hatte es sich Keandir zur Gewohnheit werden lassen, der Manufaktur mehr oder minder regelmäßig einen Besuch abzustatten, um sich persönlich von den Fortschritten zu überzeugen, die dort bei der Herstellung noch wirksamerer Waffen gemacht wurden. Das Elbenreich hatte schließlich mächtige Feinde, und ein kommender Krieg dämmerte bereits wie ein unvermeidliches Verhängnis herauf. Dass sein eigener Sohn die Heere der Rhagar anführte, versetzte Keandir jedes Mal einen schmerzhaften Stich, wenn er nur daran dachte.

Er selbst hatte sich auch ein eigenes Reich geschaffen, versuchte er sich dann immer wieder vor Augen zu halten. Wie hätte er also allzu hart über Magolas urteilen können, wenn er nicht auch gleichzeitig ein Urteil über sich selbst fällen wollte.

König Keandir sog die kühle Bergluft in seine Lungen. Die Sonne schien, aber der König und sein Gefolge aus zwei Dutzend Reitern bewegten sich gerade durch eine Zone innerhalb der Schlucht, die im Schatten lag. Eisig war es dort, und obgleich Elben Kälte wenig ausmachte, fühlte der König von Elbiana ein Frösteln. Es war ein kalter Hauch, der selbst das tiefste Innere seiner Seele zu erfassen schien.

Seine Augen wurden schmal. Er wandte den Kopf und ließ den Blick über die Felsen schweifen. Da war etwas in der Nähe. Etwas Kaltes, Böses.

Er spürte die Unruhe seines Pferdes und strich dem Tier über den Hals, woraufhin es sich etwas beruhigte; der Herzschlag des Rosses aus edler Elbenzucht verriet es. Für ein Elbenohr bedeutete es keine Schwierigkeit, das Pochen des Tierherzens aus der Unzahl von Naturgeräuschen herauszuhören.

»Wenn wir hundert Flammenspeere hätten, wäre das Elbenreich zumindest für das nächste Jahrtausend nicht mehr in Gefahr!« Es war die Stimme von Siranodir mit den zwei Schwertern, die Keandir aus seinen Gedanken riss, und auch das kalte Etwas, dieser Hauch des Bösen, war plötzlich wie verflogen.

Wurde er bereits zu misstrauisch? Sah er schon überall Mächte am Werk, die aus dem Verborgenen heraus daran arbeiteten, ihm die Herrschaft über sein Schicksal zu entreißen und die Elbenheit wieder in jene Lethargie des Lebensüberdrusses versinken zu lassen, aus der Keandir sein Volk befreit hatte, indem er das neue Elbenreich im Zwischenland gegründet hatte?

Ein Ruck ging durch den König. Er sah seinen getreuen Gefolgsmann Siranodir an und sagte: »Verzeiht, ich bin nicht sehr aufmerksam.«

»Wir müssen Thamandor dazu bringen, dass er seinen Drang nach Perfektion zügelt und endlich mit der Massenproduktion beginnt.«

Der von Thamandor entwickelte Flammenspeer war inzwischen zur Gänze ausgereift. Während des Feldzugs gegen die Trorks im Wilderland war er wiederholt eingesetzt worden und hatte jene ungeschlachten augenlosen Barbaren, die wie eine groteske Mischung aus Trollen und Orks wirkten, das Fürchten gelehrt. Nur dem Einsatz von Thamandors Flammenspeer war es zu verdanken, dass die nordbergische, an den Ufern des Nur-Quellsees gelegene Elbenstadt Turandir gehalten werden konnte und die Angreifer zurückgeschlagen wurden.

Inzwischen hatte Thamandor bereits einen weiteren Speer fertig gestellt. Eine ganze Jahrhunderthälfte hatte der Waffenmeister dazu gebraucht, denn der Mechanismus dieser Waffe war äußerst kompliziert, und für seine Akribie war Thamandor der Waffenmeister ebenso bekannt wie für seinen Erfindungsreichtum. Aber um wirklich eine Massenproduktion dieser Waffen beginnen zu können – gedacht war an mindestens fünf Waffen pro Jahrhundert – musste zunächst die Versorgung mit einer Substanz sichergestellt werden, die man »Naranduinitisches Steingewürz« nannte, und deren Hauptbestandteil war ein pulverisierter Stein des Magischen Feuers, der auf der Insel Naranduin zu finden war. Ohne diese Substanz war ein Flammenspeer in keinem Fall funktionsfähig.

Thamandor hatte seinerzeit einen einzigen dieser Steine in seinen Besitz gebracht und für die Entwicklung des Flammenspeers benutzt. Doch die Vorräte an diesem Pulver waren inzwischen verbraucht, und selbst bei dem bisher einzigen funktionstüchtigen Exemplar dieser Waffe – für den zweiten Flammenspeer hatte das Steingewürz nicht mehr gereicht - konnte man sich nicht sicher sein, wie lang sie funktionierte.

Thamandor forderte seit langem, dass man Naranduin, diese Insel namenloser Schrecken, erneut aufsuchen müsse, um sich weitere Steine des Magischen Feuers zu beschaffen. Dabei hatte er allerdings nicht nur die Massenproduktion von Flammenspeeren im Auge, die er insgeheim wohl noch für verfrüht hielt; er träumte davon, diese Steine zur Herstellung weiterer magischer Substanzen mit verwandten Eigenschaften zu verwenden.

Doch König Keandir hatte es stets abgelehnt, noch einmal nach Naranduin zurückzukehren, jene von einer düsteren, bösen Aura umgebenen Insel, an deren Küste die Elbenflotte nach ihrer Ewigkeiten dauernden Odyssee durch das zeitlose Nebelmeer gelandet war. Jeder kannte die Geschichte jener fünfzig Elbenkrieger, die seinerzeit ihrem König ins Innere der Insel gefolgt und mit dem namenlosen Grauen konfrontiert worden waren. Keandir hatte sogar ein Gesetz erlassen, dass jedem Elben das Betreten der Insel untersagte, denn es stand zu befürchten, dass der Besucher des verwunschenen Eilands sonst unter den Einfluss der finsteren Magie fiel, die diese Insel beherrschte.

Auf einmal vernahm Keandir das Krächzen eines Raben. Es klang ganz leise; offenbar befand sich das Tier noch in großer Entfernung. Keandirs Linke umschloss den Griff des Schwerts mit dem Namen Schicksalsbezwinger an seiner Seite, während sich die Rechte um einen kleinen Lederbeutel legte, den er an einer Kordel aus geflochtenem Elbengarn vor der Brust trug. Ein Schimmern durchdrang seine Handfläche und ließ sie für einen Moment transparent erscheinen, sodass jeder einzelne Handknochen sichtbar wurde.

Fünf der sechs Elbensteine befanden sich in diesem Beutel; eines dieser magischen Juwelen, die das Elbentum symbolisierten, fehlte, war unwiederbringlich verloren, aber die anderen fünf hatte Keandir sich zurückerobert, nachdem sie geraubt worden waren. Und seitdem erfüllte ihn wieder die alte Kraft und Entschlossenheit, mit der er einst das Reich der Elben im Zwischenland gegründet hatte.

Um das Pferd zu lenken, auf dessen Rücken er saß, genügte ein Gedankenbefehl. Pferde aus Elbenzucht waren sensibel genug, solche geistigen Befehle sofort zu erfassen; der Reiter musste seine Gedanken nur soweit disziplinieren, dass das Tier sie nicht missverstehen konnte.

Während zur Rechten des Königs Siranodir mit den zwei Schwertern ritt, begleitete ihn zur Linken Prinz Sandrilas, der einer Seitenlinie des Königshauses entsprang und für den König stets eine Art väterlicher Mentor gewesen war. Während der Prinz vor Urzeiten sein rechtes Auge verloren hatte, angeblich im Kampf gegen jenes legendäre Menschenvolk, das einst in Athranor gelebt haben sollte, hatte Siranodir während der Schlacht von Turandir eine Verletzung am Ohr erlitten und dadurch einen Teil seines Gehörs eingebüßt. Normalerweise war das elbische Gehör viel empfindlicher als das eines Menschen, doch Siranodir konnte wegen der Verwundung nicht mehr besser hören als ein Rhagar, sodass er nach elbischer Empfindung nahezu taub war.

Darüber hinaus wurde der König von einem Trupp berittener Einhandarmbrustschützen begleitet, über zwanzig an der Zahl, die unter dem Kommando von Hauptmann Rhiagon standen. Die Sicherheit des Königs hatte allerhöchste Priorität, und obgleich Keandir kein furchtsamer Mann war und diese Eskorte nur wenige Meilen von seiner Hauptstadt entfernt für völlig übertrieben hielt, hatte der gewissenhafte Prinz Sandrilas darauf bestanden.

»Das Magolasische Reich wird alles tun, um Elbiana zu vernichten, mein König«, sagte Prinz Sandrilas in die Stille hinein, die wieder entstanden war, nachdem Siranodir gesprochen hatte. Der einäugige Elbenprinz lächelte, und sein uraltes, aber auf gewisse Art zeitloses Gesicht bekam dabei harte Konturen. »Ihr solltet Euch dieser Tatsache stellen.«

»Aber was auch immer unsere Reiche trennen mag – Magolas ist mein Sohn«, hielt Keandir dem entgegen. »Er wird kein Attentat auf seinen eigenen Vater befehlen, davon bin ich überzeugt!«

»Ich glaube, da schätzt Ihr die Lage nicht richtig ein, mein König.«

»So?«

»Magolas steht im Bann einer dunklen Magie«, stellte Sandrilas fest. »Wer mag schon wissen, in wiefern er tatsächlich noch Herr seiner Entscheidungen ist oder nur das Werkzeug einer finsteren Macht. Xaror will sein dunkles Reich erneut errichten, so wie es in seiner morbiden Pracht wohl vor langer Zeit bereits existiert hat. Da er aber bisher nicht in dieser Welt agieren kann, missbraucht er Magolas als seinen Helfershelfer.«

Insgeheim gab Keandir seinem Mentor ja recht, aber der König der Elben weigerte sich einfach, das Offensichtliche zu akzeptieren. Obwohl die Nachrichten, die Keandir aus Aratan erhielt, eigentlich keine Zweifel ließen. Die Heilerin Nathranwen war vor einiger Zeit aus Magolas’ Hauptstadt Aratania zurückgekehrt, wo sie in den Diensten des Großkönigs gestanden hatte. Über das neutrale Reich des Seekönigs von Ashkor und Terdos hatte sie sich einschiffen müssen, da es schon seit Längerem keine direkten Schiffsverbindungen mehr zwischen den Häfen der Rhagar und dem Elbenreich gab. Nathranwen hatte Larana bei der Geburt ihrer Zwillinge geholfen, aber schon recht bald war ihr der Kontakt zu den Säuglingen verwehrt worden. Man fürchtete offenbar ihren Einfluss auf die Enkel König Keandirs und hatte Nathranwen fortgeschickt.

Von düsteren Ritualen hatte sie berichtet, an denen die Kinder teilnehmen mussten – und davon, dass die Menschenfrau Larana offenbar von der Einnahme eines magischen Tranks abhängig war, der ihr Leben verlängerte. Keandir erfasste kalter Grimm, wenn er daran dachte. Offenbar war Magolas dazu bereit, alles zu opfern - selbst seine Kinder -, um seiner geliebten Gemahlin Larana ein Leben über das von den Namenlosen Göttern gesetzte Zeitmaß hinaus zu ermöglichen.

Erneut ließ ein fernes Krächzen den Elbenkönig aufhorchen. Wieder umfasste er den Beutel mit den Elbensteinen und fühlte einen angenehmen Strom der Kraft, der von ihnen ausging und seinen gesamten Körper durchflutete.

Kurz danach nahmen alle Reiter des Elbentrupps die krächzenden Laute wahr – abgesehen von Siranodir mit den zwei Schwertern, der etwas verwirrt dreinblickte. Er würde sich nie daran gewöhnen, allenfalls noch über das Hörvermögen eines Menschen zu verfügen, und es war ihm kein Trost, dass Gesinderis, der größte Komponist der elbischen Geschichte, tatsächlich völlig taub gewesen war.

Er drehte sich im Sattel um und erkannte, dass bis auf ihn sämtliche Elben des Trupps etwas gehört haben mussten; sie wirkten angespannt und lauschten. Nach dem teilweisen Verlust des Gehörs hatten sich Siranodirs andere Sinne zwar leicht geschärft, doch das konnte seine Beeinträchtigung nicht ausgleichen. Er sog die kühle, klare Bergluft durch seine Nasenlöcher ein, aber da war nichts Auffälliges zu riechen. Mit den Augen suchte er die Ränder der Schlucht ab und entdeckte ebenfalls nichts.

»Das muss das Krächzen eines Raben gewesen sein, der hinter einem dieser Berge seine Kreise zieht«, sagte Prinz Sandrilas, und doch ließ er die Hand am Schwertgriff.

»Das Krächzen eines Raben?«, mischte sich Hauptmann Rhiagon ein und schüttelte den Kopf. »Das ist ein ganzer Schwarm, mindestens hundert!«

»Wenn es nur Raben wären«, murmelte König Keandir. Da war noch etwas anderes, das seine sensiblen Sinne auffingen. Eine Aura von Finsternis und Tod. König Keandir konzentrierte sich darauf und nahm sie in aller Deutlichkeit wahr. Eine Aura der Magie!, durchfuhr es ihn, dann sah er den Rabenschwarm hinter einem der nahen Gipfel auftauchen.

Die Pferde der Elben wurden unruhig; sie schienen die Aura ebenfalls zu fühlen. Keandir murmelte eine kurze Beschwörungsformel, die vor dem Einfluss schwarzer Magie schützte, und für einen Moment wurden die Augen des Königs völlig schwarz, so wie es die seines Sohnes inzwischen stets waren, wie Keandir bei einem Treffen mit Magolas an der Aratanischen Mauer mit Bestürzung hatte feststellen müssen.

Die Raben kamen rasch näher, flogen unnatürlich schnell. Schon bald waren für die scharfen Elbenaugen Einzelheiten zu erkennen: Jeder dieser Vögel hatte die Größe eines Adlers, und doch handelte es sich ihrer Form und ihrem Gefieder nach zweifellos um Raben.

Die magische Aura ... Der eisige Hauch ...

Ein Wiehern hallte zwischen den Felshängen wider. Der König zügelte sein Pferd, das durchzugehen drohte, da es die Ausstrahlung des Bösen ebenso deutlich spürte wie sein Reiter. Mit einer weiteren Formel versuchte Keandir, den schwachen Geist des Tieres gegen den magischen Einfluss abzuschirmen, aber es fiel ihm schwer, seine Gedanken zu konzentrieren.

Vater ...

Da war eine Gedankenstimme, die zu ihm sprach. Die Stimme von jemandem, der ihm gleichermaßen vertraut und fremd war.

Magolas - mein Sohn ...

Für einen kurzen Moment spürte er eine geistige Verbindung zu ihm – und das mit einer Intensität, wie sie schon lange nicht mehr zwischen ihnen geherrscht hatte.

Schmerz! Unerträglicher Schmerz ... Verzeih mir, Vater ...

»Magolas!«, rief Keandir so laut, dass es zwischen den schroffen Felswänden des hoch-elbischen Gebirges widerhallte.

Die ersten Riesenraben waren heran. Sie erinnerten Keandir unwillkürlich an Ráabor, ein riesiges Vogelmonstrum, das in den Felsen von Naranduin seit Urzeiten gehaust hatte und schließlich durch einen Schuss aus Thamandors Einhandarmbrust getötet worden war.

Die Raben bildeten eine keilförmige Formation. Ihre krächzenden Schreie wurden so durchdringend, dass sie für empfindliche Elbenohren beinahe unerträglich waren. Schreie, in denen eine besondere Form der Schadensmagie liegen musste, denn sie verursachten höllische Schmerzen, die von den Ohren und dem Kopf aus den gesamten Körper durchfluteten.

Die Elbenpferde, deren Sinne durch eine lange Zuchtfolge geschärft waren, auch wenn sie nicht an die Empfindlichkeit der Elben heranreichten, scheuten, halb wahnsinnig vor Schmerz und Furcht, richteten sich auf und bockten. Die gedankliche Lenkung durch den Reiter versagte vollkommen. Das Einzige, was die Tiere noch erfüllte, war heillose Panik.

Keandir griff nach den Zügeln, die von elbischen Reitern normalerweise kaum benutzt wurden; mitunter verzichteten sie sogar ganz darauf, da die Führung durch einen halbwegs disziplinierten Elbengeist viel sicherer war als jener Grad des Gehorsams, den man durch Zügel bei einem Reittier erreichen konnte.

Ein besonders intensives Krächzen schnitt wie ein scharfes Messer in Keandirs Seele. Er konnte für Augenblicke keinen klaren Gedanken fassen. Vor seinen Augen wurde es zuerst schwarz und dann grellrot, so als würde er sich mit geschlossenen Lidern der Sonne zuwenden.

Der Elbenkönig kippte aus dem Sattel, als sich sein Pferd auf die Hinterhand stellte, und schlug zu Boden. Den Schmerz des Aufpralls spürte er kaum. Schicksalbezwinger entglitt seiner Hand.

Sammle die Kraft der Finsternis deiner Seele!

Er rappelte sich auf. Ihm war schwindelig, er fühlte sich wie betäubt, und die krächzenden Schreie der Riesenraben hörte er wie aus weiter Ferne. Nur verschwommen vermochte er seine Umgebung wahrzunehmen. Seine Hand zuckte zu den Elbensteinen. Er umfasste sie, und ein Kraftstrom durchflutete ihn und drängte die grausamen Schmerzen zurück. Er schaute sich schnell um, sah Schicksalsbezwinger auf dem Boden liegen. Das Pferd, auf dem er geritten war, war in Panik davongestoben und schien völlig den Verstand verloren zu haben, denn es versuchte, einen der Steilhänge emporzulaufen. Das Tier rutschte ab und ließ dabei ein markerschütterndes Wiehern hören, ein Laut, derart erfüllt von Schmerz, Qual und Todesfurcht, dass er einem durch Mark und Bein ging.

Lass die Finsternis dich ganz und gar ausfüllen. Denn nur die Finsternis hilft gegen die Finsternis ...

Er fasste Schicksalbezwinger mit beiden Händen, so fest, dass es beinahe schmerzte und die Handknöchel unter der blassen Haut deutlich hervortraten, und blickte sich um. Elben und Elbenpferde wälzten sich am Boden. Manche der Pferde waren schon nicht mehr am Leben, und mit einem zweiten Blick stellte Keandir voller Entsetzen fest, dass auch einige der Elben den fürchterlichen Zauberschreien der Riesenraben zum Opfer gefallen waren; reglos und mit weit aufgerissenen, starren Augen lagen sie da, der Geist zerstört durch die Magie der Rabenschreie.

Noch immer war es für Keandir kaum möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sandrilas war offenbar ebenfalls vom Pferd geworfen worden; er erhob sich schwankend. Hauptmann Rhiagon schoss seine Einhandarmbrust ab und traf damit einen der Riesenraben. Doch in dem Moment, als der Bolzen auftraf und der feine Mechanismus eigentlich das magische Gift hätte freigesetzt müssen, löste sich der Riesenrabe auf; er zerfiel in Dutzende von Rabenwinzlingen, die kaum größer waren als ein Elbendaumen. Ihre Schreie aber waren ebenso schrill, dass sie sich wie glühende Nägel in den Geist der Elben bohrten. Rhiagon stöhnte sogleich schmerzerfüllt auf.

Auch andere Mitglieder der Einhandschützengarde des Königs setzten ihre Waffen ein. Manche waren vor Schmerzen kaum in der Lage, einigermaßen zu zielen. Andere schafften es trotz der Beeinträchtigung durch die Rabenschreie, eines dieser magischen Wesen zu treffen. Aber die Wirkung ging stets ins Leere: Bevor das Gift des Bolzens seine Wirkung entfalten konnte, zerfiel der jeweilige Vogel in Rabenwinzlinge, die wenige Augenblicke später wieder zu einem Riesenraben verschmolzen. Manche von ihnen waren noch größer als die ursprünglichen Vögel. Hier und dort vereinigten sich auch Riesenraben zu noch größeren Wesen.

Doch sie griffen nicht an – abgesehen davon, dass sie den Elbentrupp mit ihren magischen Schreien traktierten. Stattdessen kreisten sie über den Elben und warteten ab, was geschah.

Keiner der Elben saß noch auf dem Rücken seines Pferds. Ein Drittel lag reglos am Boden, ein weiteres Drittel rührte sich zwar noch, war aber schwer angeschlagen. Nur wenige hielten sich noch auf den Beinen.

Einzig Siranodir mir den zwei Schwertern wirkte vollkommen unbeeindruckt.

»Was ist los mit Euch?«, rief er, denn er war nicht betroffen von den Auswirkungen der Zauberschreie; er konnte sie offenbar nicht einmal wahrnehmen. Die Schwäche seines Gehörs, über die er sich schon so oft gegrämt hatte, war in diesem Fall ein Vorteil.

Siranodir griff nicht zu den beiden auf dem Rücken gegürteten Klingen, denen er die Namen »Hauen« und »Stechen« gegeben hatte, sondern sprang von seinem bockenden und ausschlagenden Pferd, schnappte sich die Einhandarmbrust eines am Boden liegenden Elbenkriegers und zielte auf eines der größten am Himmel kreisenden Rabengeschöpfe; das hatte etwa die Ausmaße von anderthalb Elbenpferden angenommen, und immer noch verschmolzen Rabenwinzlinge mit ihm auf magische Weise.

Obwohl er kein geübter Einhandschütze war, traf er das monströse Geschöpf, und das magische Gift im Inneren des Bolzens wurde durch den hochempfindlichen Mechanismus freigesetzt. Ein zischender, säureartiger Brand breitete sich aus, Flammen schlugen hervor, doch abermals teilte sich das Monstrum in Hunderte von Winzlingen. Einige von ihnen fielen als amorphe Klumpen zu Boden, von dem magischen Gift völlig verformt. Diesmal hatte der Teilungsprozess mit einer kleinen Verzögerung stattgefunden, aber den meisten Winzlingen konnte der Giftbrand nichts anhaben, denn sie lösten sich rechtzeitig von der Kreatur, die sie eben noch gebildet hatten.

Die Rabenungetüme kreisten immer schneller, teilten sich in immer kleinere Winzlinge, sodass sie aus der Ferne wie ein Schwarm Fliegen wirkten. Ein Strudel entstand in dieser schwarzen Wolke, und dann erfolgte ein weiterer Angriff.

Die Winzlinge stürzten sich auf die noch lebenden Elbenkrieger. Der Großteil der Elben war kaum fähig, sich zu wehren, und die Rabenwinzlinge verstärkten ihre magischen Schreie noch; Keandir glaubte, dass ihm der Schädel zerspringen müsse.

Die Angreifer stürzten sich auf ihn und stachen an Dutzenden Stellen mit ihren Schnäbeln zu. Ganz besonders hatten sie es aber auf die Augen abgesehen. Keandir hieb mit Schicksalsbezwinger um sich. Manche der Angreifer zerteilte die scharfe Klinge im Flug, aber es waren zu viele, und sie waren zu klein, um sie alle abzuwehren. Dazu kam, dass der Elbenkönig durch die Schreie der Angreifer in seinem Reaktionsvermögen erheblich beeinträchtigt war.

Taumelnd schlug er blindlings um sich, um sich so gut wie möglich vor den Rabenwinzlingen zu schützen, die ihn umschwirrten. Was mit Siranodir, Sandrilas und den anderen noch lebenden Mitgliedern des ihn begleitenden Elbentrupps war, bekam er kaum mit.

Vater ...

Wieder war da die Gedankenstimme seines Sohnes Magolas. Keandir erkannte sie diesmal sofort, und der Schmerz, der sich in ihr ausdrückte, erschrak den Elbenherrscher bis tief in die Seele.

Was ist mit dir geschehen, mein Sohn?

Als Herrscher verschiedener Reiche standen sie sich seit mehr als einem Menschenalter gegenüber – aber es waren die Umstände, die sie getrennt hatten, nicht die Gefühle, die Vater und Sohn füreinander empfanden. Auch wenn Magolas inzwischen von den Menschen als Großkönig verehrt wurde und durch seine Liebe zu der Menschenprinzessin Larana dunklen Kräften verfallen war, die ihn zu einem willfährigen Diener machten, Keandirs Sorge um seinen Sohn war damit nicht erloschen, ganz im Gegenteil.

Mein Sohn, was tut man dir gerade an?

Keandir gelang es, eine magische Formel zu murmeln. Sammle dich, Finsternis meiner Seele ... Er versuchte, den höllischen Schmerz in seinem Kopf zu ignorieren, und dies gelang ihm sogar ein wenig, während er gleichzeitig mit dem Schwert nach den immer wieder auf ihn herabstoßenden Rabenwinzlingen schlug, deren Gekrächze daraufhin aber nur um so schriller und schmerzhafter wurde.

Der durchdringende Schrei eines Elben ließ ihn im nächsten Moment beinahe das Blut in den Adern gefrieren. Es war Hauptmann Rhiagon.

»Meine Augen!«, schrie er heiser. »Meine Augen!«

Keandir spürte, wie die dunkle Kraft, die seit seinem Zusammentreffen mit dem Augenlosen Seher von Naranduin in ihm war, ihn wieder vollkommen erfüllte. Sie schwächte den Schmerz durch das Krächzen der Rabenwesen enorm ab, drängte die Schreie in den Hintergrund, und seine Augen füllten sich mit Dunkelheit; nichts Weißes blieb dort noch.

Doch dann geschah etwas, was bisher noch nicht geschehen war: Die Finsternis, dieses schwarze Etwas, drang ihm in Form winziger insektengleicher Teilchen aus Augen, Mund und Nase. Ein Schwarm aus unruhig durcheinander schwirrenden Teilchen, der an schwarzen Rauch erinnerte, breitete sich aus und hüllte einen Teil der Rabenwinzlinge ein. Deren Krächzen verwandelte sich in einen kreischenden Laut, dessen Schrillheit zwar noch immer eine Qual für jedes Elbengehör war, dem aber die Schadensmagie völlig fehlte. Hunderte von Rabenwinzlingen fielen wie Steine zu Boden. Sie waren hart gefroren, als wären sie in einem der sehr kalten Winter Nordbergens der Witterung zum Opfer gefallen.

Diejenigen Rabenwesen, die noch existierten, stoben augenblicklich davon und vereinigten sich - offenbar einem inneren Instinkt folgend - zu größeren Rabenungeheuern.

Siranodir hatte sich noch am besten gegen die Angriffe der Winzlinge zur Wehr setzen können, indem er Hauen und Stechen mit einer so großen Geschwindigkeit durch die Luft hatte wirbeln lassen, dass er Hunderte von ihnen regelrecht zersäbelt hatte. Schwarzes Gefieder unterschiedlichster Größe sowie zerschnittene und zerhackte Vogelkörper lagen um ihn herum am Boden und legten davon Zeugnis ab.

Aber im Gegensatz zu seinen Gefährten war Siranodir mit den zwei Schwertern auch im Vollbesitz seiner Kräfte und daher seine Schnelligkeit nicht beeinträchtigt. Seit der Verletzung, als deren Folge sich sein Gehör dauerhaft auf das erbarmungswürdige Niveau eines Menschen herabgesenkt hatte, waren seine Augen merklich schärfer geworden, sodass er seine beiden Klingen noch präziser einsetzen konnte. Ein Objekt von der Größe einer Fingerkuppe im freien Fall mit dem Schwert zu zerteilen war für ihn keine Schwierigkeit. Dementsprechend tödlich war seine Bilanz gegenüber den Rabenwinzlingen.

Allerdings hatte auch Siranodir einige üble Schnabelverletzungen davongetragen, denn aufgrund der großen Zahl der Angreifer war es auch ihm nicht möglich gewesen, alle Angriffe abzuwehren. Am Hals klaffte eine blutende Wunde, die sich nur allmählich schloss, obgleich Siranodir den Heilungsprozess mit ein paar entsprechenden Zauberformeln unterstützte.

Er stellte sich vor den am Boden kauernden, völlig hilflosen Hauptmann Rhiagon, dessen Augen durch die Schnäbel der Raben völlig zerstört waren. Blut rann Rhiagon übers Gesicht, und er war halb wahnsinnig vor Schmerz. Die Einhandarmbrust lag auf dem Boden, und mit dem Schwert versuchte er sich gegen die angreifenden Rabenwinzlinge mehr schlecht als recht zu verteidigen.

Prinz Sandrilas war ebenfalls schwer verletzt. Der einäugige Elbenprinz hieb mit seinem Schwert um sich und versuchte auf diese Weise, die Angreifer zu verscheuchen. Nur selten traf er einen von ihnen, denn in der Abschätzung von sich bewegenden Objekten war er aufgrund seiner Einäugigkeit längst nicht so gut wie Siranodir. Außerdem hatten ihm die Schreie zu Anfang mehr zugesetzt als vielen anderen Elben. Nur die Erfahrung eines selbst für elbische Verhältnisse schon sehr langen Lebens hatte Sandrilas vor der Zerstörung seines Geistes bewahrt. In den Jahrtausenden, die seit seiner Geburt in der alten Heimat Athranor vergangen waren, hatte er gelernt, seine Sinne im Notfall abzuschirmen, um sich gegen zu intensive Empfindungen zu schützen – eine Fähigkeit, über die jeder Elb verfügte, aber mit zunehmendem Alter pflegten Elben sich darin zu perfektionieren. Es war letztlich eine Frage der Erfahrung.

Die Folgen Dutzender Schnabelattacken waren an Sandrilas Körper unübersehbar. Vor allem an der rechten Seite, die er den Angreifern zugewandt hatte, um sich zu verteidigen, hatte er zahlreiche, zum Teil schwere Verletzungen davongetragen. Das Blut rann ihm vom Hals und an der Schulter herab. Der Ärmel seines Wamses war blutdurchtränkt, und manch einem dieser kleinen Ungeheuer war es sogar gelungen, seinen Kopf und das Gesicht zu attackieren. Knapp oberhalb seines einzigen Auges klaffte eine Wunde. Das Blut rann ihm übers Gesicht, und die Heilzauber halfen nur unzureichend.

Die Wolke aus schwirrenden dunklen Teilchen, die König Keandir entwichen war, kündeten jedoch die Wende an. Sie breitete sich aus und hüllte immer weitere Gruppen von Raben ein, die daraufhin gefroren und hart wie Stein zu Boden fielen.

Ein Gefühl der Kraft durchströmte Keandir erneut. Er hob sein Schwert Schicksalsbezwinger, reckte es in die Höhe, und erneut kam ein Schwall purer Finsternis aus Mund, Nase, Ohren und Augen. Dieser Schwarm aus winzigsten Teilchen bildete zunächst eine gestaltlose Wolke, die zur Spitze Schicksalsbezwingers strebte. Dort begann sich die Wolke zu drehen und einen Strudel zu bilden. Dieser Strudel glitt die Klinge hinab – genau bis zu jener Stelle, an der Schicksalsbezwinger einst während Keandirs Kampf gegen den Furchtbringer geborsten war.

Das Tempo, in dem die kleinsten Partikel um die Klinge schwirrten, wurde immer rasender. Ein dumpfer, summender Laut entstand dabei. Die feinen Partikel verdichteten sich, wurden erneut zu einer Schwärze, die das Sonnenlicht nicht zu durchdringen vermochte. Dann schoss dieser finstere Wirbel die Klinge entlang, über die Schwertspitze hinaus und fuhr auf den bereits ziemlich zerstobenen Rabenschwarm zu. Jene, die von dieser Finsternis berührt wurden, wurden in die Schwärze gesogen und völlig von ihr verschlungen. Ein offenbar unentrinnbarer Sog entstand, dem sich selbst jene Rabenwinzlinge, die schon ein ganzes Stück davongeflogen waren, nicht entziehen konnten. Ihrem Kreischen wohnte keinerlei Schadenszauber mehr inne. Es waren Schmerzens- und Schreckenslaute.

Während sie unaufhaltsam in den dunklen Schlund gezogen wurden, vereinigten sie sich teilweise zu größeren Rabenvögeln – offenbar in der Hoffnung, dem magischen Sog auf diese Weise widerstehen zu können. Doch das Gegenteil war der Fall. Ein Rabenungeheuer von der Größe eines Pferdes wurde regelrecht zerrissen, bevor die Einzelteile und selbst das zunächst in alle Richtungen spritzende Blut in den dunklen Schlund gezogen wurden.

Das summende Geräusch, das an ein zorniges Hornissenvolk erinnerte, verklang, sobald die gesamte magische Rabenbrut verschlungen war.

Keandir fühlte sich leer und kraftlos. Er sank auf die Knie und stützte sich auf Schicksalbezwinger, dessen Spitze er in den Boden gerammt hatte. Dabei fiel sein Blick auf seine Hände, die den Knauf des Schwerts umklammerten. Sie wirkten wie die Haut eines Menschen, der dem Tode nahe war. Da war nur spröde, von unzähligen Falten durchfurchte Haut, die sich wie brüchiges Pergament über die Knochen spannte.

Kein bekannter Elb hatte jemals solche Hände gehabt. Nicht einmal Brass Elimbor, der dem Ende der natürlichen Lebensspanne eines Elben schon sehr nahe gekommen war, als ihm sein letzter Versuch, die Namenlosen Götter und die Jenseitigen zu beschwören, die letzte Lebensenergie genommen hatte.

Keandir war zu schwach, um sich zu erschrecken. Aber er nahm den Schrecken in Siranodirs Blick wahr.

Keandirs Augen waren noch immer pechschwarz wie die Nacht. Er zitterte. Seine Gedanken waren leer. Er suchte in ihnen nach der Stimme seines Sohnes Magolas, aber er fand sie nicht. Die Dunkelheit, die die Raben verschlungen hatte, vereinigte sich mit der Wolke aus rauchartigen Teilchen, die sich schon so sehr verteilt hatte, dass sie kaum noch zu erkennen gewesen war. Beides strömte wieder auf Keandir zu, drang durch die Öffnungen seines Kopfes in ihn hinein, und der König fühlte sich alsbald wieder von Kraft erfüllt.

Er steckte Schicksalsbezwinger in die Scheide und betrachtete anschließend erneut seine Hände. Sie hatten wieder Muskulatur und Fleisch, so wie er es gewohnt war. Er hatte nicht gewusst, dass eine solche Kraft in ihm steckte.

Da antwortete ihm wieder die Gedankenstimme seines Sohnes Magolas: So teilen wir in dieser Hinsicht ein Schicksal!

Keandir nahm diese Stimme wie aus weiter Ferne wahr.

»Magolas«, flüsterte er.

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2. Kapitel: Ein Schlachtfeld

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»Ihr habt gerade ausgesehen wie ein mumifizierter Leichnam, mein König«, stellte Siranodir mit den zwei Schwertern fest. »Und Eure Augen ... Sie sind so schwarz wie damals auf Naranduin, als das Böse aus dem Augenlosen Seher in Euch fuhr!«

»Ja, möglich ist dies, werter Siranodir. Aber Ihr solltet nicht solches Grauen empfinden gegenüber Eurem König, wie ich es in Euren Zügen lese, denn diese Finsternis, die Ihr in meinen Augen seht, rettete Euch und unseren Gefährten das Leben.«

Doch lange hielt sich die Schwärze in Keandirs Augen nicht; er blinzelte zwei, drei Mal, und sie war verschwunden. Daraufhin ließ der Elbenkönig den Blick über das Schlachtfeld schweifen, und was er sah, bereitete ihm nacktes Grauen: Die Elbenpferde lagen tot am Boden, und von den Elbenkriegern, die sie begleitet hatten, hatten nur Siranodir, Sandrilas und Hauptmann Rhiagon den Angriff überlebt: Siranodir aufgrund der Schwäche seines Gehörs; Sandrilas, weil er als ein noch in Athranor geborener Elb besser als seine jüngeren Gefährten in der Lage war, seinen Geist gegen zu intensive Sinneseindrücke abzuschirmen; und Keandir ...

Ihn hatte die Finsternis in seiner Seele gerettet. Eine Macht, die er nicht einmal im Ansatz beherrschte. Doch er würde es lernen müssen, wenn er nicht riskieren wollte, dass diese Macht eines Tages ihn beherrscht, wie es bei Magolas offenbar der Fall war ...

Und Rhiagon?

Keandir sah seinen Hauptmann an. Selbst die hoch entwickelte elbische Heilkunst würde ihm das Augenlicht nicht zurückgeben können. Die Augäpfel waren zerstört, die Augenhöhlen blutige Löcher.

In den blutüberströmten Zügen des Hauptmanns spiegelte sich blankes Entsetzen. »Was ist geschehen?«, stieß er hervor und fuchtelte noch immer mit dem Schwert in der Luft herum. Aber die Stille, die eingetreten war, sagte ihm, dass der Kampf vorbei war, und so ließ er die Klinge schließlich sinken.

»Die Kreaturen, die uns angegriffen haben, sind vernichtet«, erklärte ihm Sandrilas. Dann murmelte er einen Heilzauber, um die Wunde an seiner Schulter, durch die er viel Blut verloren hatte, schneller zu schließen.

»Ich bin blind!«, flüsterte Rhiagon. Er schluckte, schüttelte den Kopf - und dann richtete er die Spitze seines Schwertes gegen den eigenen Oberkörper. Siranodir reagierte schnell genug, um ihn davon abzuhalten, sich selbst zu entleiben, er fasste ihn beim Arm, als sich der Hauptmann der Einhandgarde das Schwert in die Brust stoßen wollte.

»Nein, Hauptmann, tut das nicht!«, stieß er hervor. »Gebt nicht einem plötzlichen Anfall von Lebensüberdruss nach, nur weil Ihr angesichts Eurer Blindheit verzweifelt! Vielleicht gibt es ja einen Heiler, der Euch zu helfen vermag.«

»Ihr selbst habt doch die Grenzen elbischer Heilkunst schmerzlich erfahren müssen, werter Siranodir«, erwiderte Rhiagon mit klagender Stimme.

»Zumindest wird Euch ein Schmerzzauber aus der Alten Zeit vorübergehend Linderung verschaffen«, meinte Sandrilas. Er murmelte ein paar Worte in jenem alten Dialekt, wie man ihn einst in Athranor gesprochen hatte, der aber selbst unter den Athranor-Geborenen nicht mehr gebräuchlich war.

Keandir deutete hinauf zum Elbenturm. »Waffenmeister Thamandor lässt für gewöhnlich Posten aufstellen, die die Umgebung beobachten. Sehr wahrscheinlich ist der Angriff des Rabenschwarms beobachtet worden, und man schickt uns eine Eskorte entgegen.«

»Trotzdem sollten wir uns nicht darauf verlassen und uns auf den Weg zur Manufaktur machen«, drängte Sandrilas, dessen Wunden zusehends verheilten. Einige der tieferen Verletzungen würden ihm allerdings wohl noch eine Weile Schmerzen bereiten.

In der Manufaktur jedoch gab es einen Heiler, das wusste Keandir, denn er hatte gegenüber seinem Waffenmeister darauf bestanden, dass sich ständig ein Heiler dort aufhielt, falls es zu einem Unfall kam mit den gefährlichen Substanzen, mit denen dort gearbeitet wurde. Auch wenn die Arbeit in der Waffenschmiede des einfallsreichen Erfinders und Konstrukteurs keineswegs so gefährlich war, wie viele behaupteten, so hatte es hin und wieder Vorfälle mit schlimmen Folgen für die Elben in unmittelbarer Nähe gegeben.

Sandrilas wandte sich an Keandir. »Ich habe Euch mehrfach den Namen Eures Sohnes aussprechen hören. Hat er etwas mit dieser Magie zu tun, die uns auf so grausame Weise heimgesucht hat?«

»Ich fürchte ja«, bestätigte Keandir.

»Dann hätte Euer Sohn Euch beinahe getötet, mein König. Daran solltet Ihr denken, wenn Ihr ihm das nächste Mal gegenübertretet.«

»Er tat es nicht freiwillig!«, stellte Keandir klar. »Finstere Mächte haben ihn im Griff. Xaror, dessen Dunkles Reich vor langer Zeit einmal das Zwischenland beherrschte, erpresst ihn.«

»Er hätte sich niemals mit dieser Rhagar-Prinzessin einlassen dürfen«, sagte Sandrilas anklagend. »Aber er war nicht willensstark genug, um dieser Versuchung zu widerstehen, so wie er später nicht akzeptieren konnte, dass die Lebenspanne einer Menschenfrau nun einmal sehr kurz ist.«

»Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre ich in Magolas Situation gewesen«, erwiderte König Keandir. »Denkt daran, es ist tiefe, innige Liebe, die ihn an diese Menschenfrau bindet.«

»Ihr verteidigt ihn, weil Ihr sein Vater seid«, hielt ihn Sandrilas vor.

»In erster Linie bin ich der König aller Elben«, entgegnete Keandir, »und ich werde im Sinne der Elbenheit handeln, gleichgültig gegen wen.«

»Auch wenn dies bedeutet, dass Ihr gegen Euren Sohn in den Krieg ziehen müsst, mein König?«

»Ja.«

Diese Antwort kam sehr schnell und wirkte entschlossen, denn Keandir hatte über die Frage, die sein Mentor Prinz Sandrilas ihm gestellt hatte, bereits längere Zeit nachgedacht, und er hatte eine klare Entscheidung gefällt.

Sandrilas hoffte nur, dass Keandir auch die innere Stärke hatte, zu diesem Entschluss im Falle einer Konfrontation zu stehen. Und das mit allen Konsequenzen. Der Elbenprinz gab sich selbst eine Mitschuld daran, dass es zur Entstehung des Magolasischen Reichs gekommen war. Sandrilas erinnerte sich noch gut daran, wie der greise König von Aratan mit seiner reizenden und vor allem blutjungen Tochter Larana am Kai von Elbenhaven gelandet und von Bord des Flaggschiffs seiner Flotte gestiegen war. König Keandir war seinerzeit auf seinem Kriegszug gegen die Trorks gewesen, die Turandir belagert hatten; er hatte mit seinen Elbenkriegern die Stadt befreit und war gemeinsam mit Herzog Isidorn von Nordbergen bis ins Wilderland vorgedrungen, die wilde Heimat der Trorks, um die Invasoren so weit wie möglich zurückzudrängen und zu verhindern, dass sie in nächster Zeit noch einmal einen Eroberungszug ins Land der Elben wagten.

Dabei war man auf das Reich Estorien gestoßen, das von jener Handvoll Elben gegründet worden war, die es abgelehnt hatten, ein neues Elbenreich im Zwischenland zu gründen. Stattdessen hatten sie unter der Führung Fürst Bolandor weiter nach Bathranor suchen wollen, den Gestaden der Erfüllten Hoffnung. Doch schließlich hatten auch sie irgendwann eingesehen, dass diese Suche sinnlos war, und sich in jenem Landstrich an der Ostküste des Zwischenlands angesiedelt, den man fortan Estorien nannte. Da sie jedoch viel zu wenige waren, um tatsächlich ein Reich zu gründen, hatten die estorischen Elben die Eldran beschworen, jene Bewohner des Reichs der Jenseitigen Verklärung, in das die meisten Elbenseelen eingingen, wenn sie die diesseitige Welt verließen. Nun existierten sie in einem Zustand zwischen Leben und Tod und wandelten über das Land, um es gegen Feinde wie die Trorks zu verteidigen.

Land der Geister – so nannten die Trorks die Küste Estoriens, und die Bezeichnung war gar nicht so verkehrt. Aber die Anwesenheit so vieler Eldran in der diesseitigen Welt hatte schwerwiegende Konsequenzen. Die Zeit verlief in diesem Land sehr viel langsamer, und so waren während Keandirs Aufenthalt in Estorien zu Hause in Elbenhaven, wo seine Gemahlin Ruwen auf ihn gewartet hatte, Jahre vergangen.

In dieser Zeit hatte man im Königreich Elbiana drängende Entscheidungen treffen müssen, auch wenn der König nicht anwesend war. Und eine dieser Entscheidungen war gewesen, die Bitte des aratanischen Königs um ein Bündnis positiv zu bescheiden. Nur so hatte man den aufstrebenden Kaiser der Südwestlande in seine Schranken verweisen können. Inzwischen waren die Südwestlande nur noch eine Provinz von vielen des Magolasischen Reiches.

König Keandir wandte sich von seinem Mentor ab und schritt zwischen den toten Einhandschützen aus Hauptmann Rhiagons Garde dahin, die nahezu alle durch die Schreie der Riesenraben ihr Leben verloren hatten. Bei dem ein oder anderen ging er aufs Knie und drückte ihm die Augen zu – soweit die überhaupt noch vorhanden waren.

»Die Schreie haben ihren Geist zerstört, bevor ihr Körper den Tod fand«, stellte Sandrilas fest. »Die Überlieferung sagt, dass solche Elbenseelen niemals Eldrana erreichen; sie erhalten keinen Zutritt ins Reich der Jenseitigen Verklärung. Im besten Fall gehen sie ins Reichs der Verblassenden Schatten ein und werden zu Maladran.«

»Das ist grauenvoll«, murmelte Siranodir mit den zwei Schwertern.

»Ich halte es allerdings auch für möglich«, fuhr Prinz Sandrilas fort, »dass sich ihre Seelen vollkommen aufgelöst haben und nichts von ihnen geblieben ist.«

Für einen Elben war das ein entsetzlicher Gedanke.

»Es war eine sehr mächtige Magie, die mit diesem Rabenschwarm verbunden war«, stellte Keandir fest, der gerade wieder vor einer Leiche aufs Knie gesunken war; die Augen des Toten waren von den Raben ausgehackt worden, nur noch zwei blutige Höhlen waren geblieben. Keandir schaute auf und wandte Sandrilas mit einer ruckartigen Bewegung das Gesicht zu. »Ich frage mich, was er damit bezweckte.«

»Sprecht Ihr von Eurem Sohn Magolas«, fragte Sandrilas, »oder von Xaror, dem Herrn der Schatten, auf dessen sechstürmigen Tempel Lirandil während seiner Reisen stieß?«

»Das macht in diesem Fall wohl keinen Unterschied«, antwortete Keandir betrübt. Er berührte den Beutel mit den Elbensteinen, der ihm vor der Brust hing. Er hatte sich dem Axtherrscher, ein Diener Xarors und ein Gott der Trorks, im Wilderland stellen müssen, um die Steine zurückzuerobern.

»Ihr werdet auf jeden Fall auf der Hut sein müssen«, sagte Prinz Sandrilas. »Die Magie, die von den Feinden der Elbenheit angewandt wird, ist mächtig genug, um Euch überall und zu jeder Zeit erneut anzugreifen, mein König. Auch dann, wenn Ihr es am wenigsten erwartet.«

»Ja, dessen bin ich mir bewusst«, murmelte Keandir. Er ließ den Blick noch einmal über das grausige Schlachtfeld schweifen. Bei manchem der gefallenen Elbenkrieger war das Gesicht derart zerstört, dass der Tote nicht einmal mehr zu identifizieren war.

––––––––

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Zur selben Zeit.

An einem anderen Ort.

Magolas stöhnte laut auf, doch in diesem Moment zog sich die dunkle Hand, die aus purer Finsternis zu bestehen schien, wieder zurück. Ein dumpfer Schrei durchdrang die Hallen des sechstürmigen Tempels, der mitten in den dichten Wäldern Karanors an einem geheimen Ort lag. Ein Schrei des Zorns über eine Niederlage. So zumindest interpretierte Magolas diesen Laut.

Er stand ungefähr zehn Schritte von dem Altar entfernt, der aus einem großen Steinquader bestand und mit magischen Artefakten überhäuft war, darunter auch die beiden Zauberstäbe des Augenlosen Sehers. Auch an den steinernen Wänden waren Artefakte aller Art angebracht, und von der Decke hingen Totenschädel unterschiedlicher Form und Herkunft an fein gesponnenen, fast unsichtbaren Fäden sowie ein groteskes, grausiges Mobile aus bleichen Knochen, das sich beim kleinsten Lufthauch innerhalb der Tempelmauern bewegte und klapperte.

Auch die Elbensteine hätten in diesen Tempel gehört, wenn es nach Xaror gegangen wäre, der seit einem misslungenen magischen Experiment im Limbus gefangen war und darauf wartete, in die diesseitige Welt zurückkehren zu können. Genau dazu dienten all diese mit Zauberkraft gefüllten Gegenstände, die der Bruder des Augenlosen Sehers, dessen Dunkles Reich für ganze Zeitalter das Zwischenland beherrscht hatte, durch ihm hörige Wesen im Laufe der Zeit hatte sammeln lassen.

Der von den Trorks des Wilderlands als Gott verehrte Axtherrscher war zusammen mit seiner Horde von sechsfingrigen Gnomen Magolas’ Vorgänger gewesen, und jene Gnome, die vor dem sechstürmigen Tempel Wache gehalten hatte, waren von Magolas' Soldaten erschlagen worden. Nun bewachten Rhagar-Soldaten den Tempel und schirmten ihn weiträumig gegen jeden ab, der es wagte, sich in die Nähe dieses Gebäudes zu begeben.

Dieser Tempel war zum wahren Zentrum jenes Reichs geworden, das Magolas mit dem Schwert geschaffen hatte, und dies ausgerechnet mit der Unterstützung eines Elbenheers, dessen Oberbefehlshaber zudem noch der treue Prinz Sandrilas gewesen war. Denn eigentlich hatte das Königreich Aratan zum Bollwerk werden sollen gegen die von den Südwestlanden ausgehende Gefahr eines neuen geeinten Rhagar—Imperiums; doch unter Magolas’ Herrschaft war es ironischerweise zum Mittelpunkt eines eben solchen Menschenreichs geworden. Ein Menschenreich, das Magolas inzwischen nur noch vorkam wie der Vorposten einer noch viel größeren Macht, die nur darauf wartete, sich im Zwischenland wieder voll entfalten zu können.

Ein Statthalter auf Zeit war er, ging es Magolas durch den Sinn. Und noch dazu ein Statthalter des Bösen ...

Aber er hatte keine andere Wahl, denn wenn er Xaror die Gefolgschaft versagte, bestand keinerlei Hoffnung für seine geliebte Larana, deren lächerlich kurze menschliche Lebensspanne längst ihr Ende gefunden hätte, wäre diese nicht durch Xarors Magie künstlich verlängert worden.

Die Hand aus purer Finsternis hatte für einen Zeitraum, den Magolas im Nachhinein kaum bestimmen konnte, den Kopf des Großkönigs vollkommen umfasst. Nun zog sie sich in den großen schwarzen Fleck zurück, der sich vor dem Altar auf dem Boden befand. Selbst ein Elb mit seinen scharfen Augen vermochten die Natur dieses ungefähr fünf Schritte durchmessenden Flecks nicht näher zu bestimmen. Er wirkte wie eine Öffnung ins Nichts, eine Wunde in der Struktur der Wirklichkeit. Ein Schlund, der bodenlos erschien und der bei jedem von Magolas' Besuchen im Tempel immer größer wurde.

Bisher war Xarors böser Geist nur im Inneren des Tempels aktiv gewesen; außerhalb der mächtigen Mauern des sechstürmigen Gebäudes konnte er kaum handeln. Dieser Tempel, der wohl einst vom Volk der Sechs Finger errichtet worden war, um seinem gottgleichen Herrscher zu huldigen, war auf lange Zeit sein Gefängnis gewesen. Doch der einstige Herr des Dunklen Reichs bereitete sich offenbar darauf vor, auch körperlich in die Welt der Lebenden zurückzukehren und die Herrschaft über das Zwischenland erneut an sich zu reißen.

Was würde Magolas dann bleiben? Der Status eines Vasallen?

Aber dafür würde Laranas Leben ewig währen. So lange, wie Xaror seinem Diener Magolas jenen Zaubertrank lieferte, den er die »Essenz des Lebens« nannte.

Über die Möglichkeit, diesen Trank oder ein magisches Pendant dazu selbst herzustellen, wagte Magolas innerhalb der Mauern des Tempels nicht einmal nachzudenken, denn er wusste, dass Xarors Macht längst groß genug war, um seine Seele zu durchdringen. Es gab keine Geheimnisse vor dem einstigen Herrn des Dunklen Reichs. Zumindest nicht innerhalb der Tempelmauern. Wie weit sein geistiger Einfluss inzwischen tatsächlich reichte, vermochte Magolas nicht abzuschätzen. Jedenfalls wuchs dieser Einfluss ständig. Und Magolas trug dazu bei, indem er den Befehlen seines Herrn willig folgte und weitere magische Artefakte aus allen Teilen des Magolasischen Reichs herbeischaffen ließ, damit deren Kraft Xaror zufließen konnte.

Magolas fühlte Schwindel. Alles drehte sich für einige Momente vor seinen Augen. Aber er hielt sich auf den Beinen. Wie groß seine Macht war, hatte Xaror soeben gezeigt, indem er den Großkönig dazu benutzt hatte, über die geistige Verbindung und das seelische Band zwischen Magolas und seinem Vater den Elbenkönig ausfindig zu machen und diesen einem magischen Angriff auszusetzen.

»Sind die Elbensteine denn so wichtig?«, fragte Magolas. »Du hast die Zauberstäbe deines Bruders, des Augenlosen Sehers von Naranduin, in deinem Besitz. Sie dürften viel mächtiger sein als die Steine – zumal dein Sklave, der Axtherrscher, ziemlich leichtfertig den Elbenstein Athrandil vernichtete.«

»Die Elbensteine sind ein Symbol«, antwortete die Gedankenstimme Xarors. »Um meinen Plan zu verwirklichen, in die Welt der Lebenden und ins Zwischenland zurückzukehren, wären sie mir zwar nützlich, aber nicht zwingend notwendig, da – wie du richtig festgestellt hast – ihre Magie ohnehin durch den unwiederbringlichen Verlust eines der Steine stark geschwächt wurde. Aber ich sehe die Linien des Schicksals. Eines Schicksals, das dein Vater durch die Macht seines Schwerts bis in die Zukunft hinein zu bestimmen versucht. Das Elbenreich ist das größte Hindernis auf dem Weg, meine alte Macht wiederzuerlangen. Doch ohne seinen König wird das Elbenreich sehr wahrscheinlich zerfallen oder in Agonie versinken; einige sehr starke Schicksalslinien deuten in diese Richtung. Je schneller er beseitigt ist, desto besser für mich – und auch für dich, Magolas.«

»Er ist mein Vater«, gab Magolas zu bedenken.

»Und doch steht er dir im Weg, denn er hätte dich auf Zeitalter hinaus niemals seine Nachfolge antreten lassen.« Ein glucksender Laut drang aus der Tiefe des finsteren Schlunds. Ein Laut, der entfernte Ähnlichkeit mit einem Kichern hatte. »Mit zunehmender Dauer einer Herrschaft tendiert der Herrscher dazu, sich für unentbehrlich zu halten. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Glaub mir, du wärst niemals König der Elben geworden!«

»Darum habe ich mir mein eigenes Reich geschaffen.«

»Ein Reich, dass du mir bereitwillig zu Füßen gelegt hast, um das Leben deiner Geliebten zu verlängern«, erwiderte Xaror. »Daran siehst du, wie groß die Macht der Gefühle über deine Seele ist. Aber im Fall deines Vaters solltest du dich nicht von ihnen leiten lassen. Du gefährdest damit das Leben deiner geliebten Menschenprinzessin!«

Magolas versetzte die Drohung einen Stich. Xaror schien sich der Loyalität des Großkönigs – den er mit Sklave zu bezeichnen beliebte – noch nicht völlig sicher zu sein und es daher als notwendig zu erachten, Magolas eindrücklich an die Machtverhältnisse zu erinnern: Xaror konnte seine geliebte Larana sterben lassen oder ihr ein Weiterleben über Zeitalter hinweg ermöglichen.

»Die Kraft der Finsternis ist sehr stark in deinem Vater«, stellte er fest.

»Das Gleiche sagt man von mir – und es zeigt sich inzwischen auch in der Schwärze meiner Augen.«

»Ja, denn du hast dieser Kraft immer viel offener gegenübergestanden als König Keandir. Du bist von Anfang an ein Kind der Finsternis gewesen, während er immer noch glaubt, ein König des Lichtes sein zu können.«

Manchmal erschreckte es Magolas, dass der einstige Herrscher des Dunklen Reichs inzwischen offenbar sein gesamtes Wissen in sich aufgesogen hatte. Bei seinen Besuchen im Tempel hatte Magolas gespürt, wie die geistigen Fühler Xarors seine Seele erforscht hatten - bis zu ihrem Grund. Xaror wusste über König Keandir all das, was seinem Sohn bekannt war. Bei dem Gedanken, dass er allein dadurch schon Xaror entscheidende Vorteile im Kampf gegen den Elbenkönig verschaffte, zog sich Magolas der Magen zusammen.

Er musste an die Prophezeiung des Axtherrschers denken, wonach man sein Schwert dereinst »Elbentöter« nennen würde. Im übertragenen Sinn war er selbst bereits zu einem Elbentöter geworden, denn sein Wissen und die geistige Verbindung zu seinem Vater hatten es ermöglicht, dass ein Trupp von Elbenkriegern, der den König auf seinem Weg durch die Berge von Hoch-Elbiana begleitet hatte, bis auf wenige Überlebende ausgelöscht worden war.

Rauch stieg aus dem finsteren Schlund auf. Er verdichtete sich zu einem Schwarm kleiner schwarzer Teilchen, die zuerst sehr unruhig durcheinander schwirrten und dann miteinander zu verklumpen schienen. Diese Wolke aus Finsternis schwebte zum Altar und setzte sich an der vorderen Kante des Steinquaders fest. Einige der Artefakte gerieten in Bewegung, manche fielen von der Steinplatte. Ein Kelch, verziert mit den Totenköpfen von Eidechsen, deren Augen mit Rubinen und Bernstein besetzt waren, rollte über den Boden und verschwand in dem dunklen Schlund; das Gefäß wurde von Finsternis umfangen und war nicht mehr zu sehen. Ein Geräusch, das einem zufriedenen Aufstoßen ähnelte, drang daraufhin aus der Tiefe.

Dann löste sich die dunkle Wolke auf und gab den Blick auf ein kolbenförmiges Tongefäß frei, das mit einem Korken verschlossen war.

Die Essenz des Lebens!, erkannte Magolas. Jener magische Trank, der seiner Gemahlin das Leben gegeben und die Geburt ihrer Kinder Daron und Sarwen überhaupt erst ermöglicht hatte.

»Nimm dir, weswegen du mich in meiner Einsamkeit aufgesucht hast«, forderte Xaror den Großkönig des Magolasischen Reichs auf. »Nimm dir, was dir zusteht für deine Dienste, Sklave!«

Ein schauderhaftes Gelächter hallte in Magolas’ Kopf. Gleichzeitig drangen glucksende Laute aus dem dunklen Schlund, die nahezu unerträglich widerlich für das feine Empfinden eines Elben waren. Ein kühler Luftzug wehte aus dem Schlund. Ein Eishauch, der das schaurige Knochenmobile unter der Tempelkuppel zum Klappern brachte. Gleichzeitig stieg der Gestank von Verwesung und Fäulnis aus der bodenlosen Tiefe. Eine Aura unverstellbaren Alters schien sich von dort aus auszubreiten und den gesamten Tempel auszufüllen.

Magolas presste die Lippen aufeinander und dämpfte seine Sinne, um nicht der vollen Gewalt dieser schauderhaften Eindrücke ausgesetzt zu sein.

Aber trotz all der Fremdheit, die er diesem Wesen gegenüber empfand, dessen eigene Hybris es in den Limbus verbannt hatte, gab es doch auch etwas wie ein Band zwischen dem ehemaligen Herrscher des Dunklen Reichs und Magolas. Ein Band, das über die Tatsache hinausging, dass Xaror ihn jederzeit mit dem Leben seiner Gemahlin zu erpressen vermochte.

Die Finsternis, erkannte Magolas. Es war die Finsternis der Seele, die sie bei allem, was sie ansonsten trennen mochte, gemein hatten ...

»Du hast lange gebraucht für diese Erkenntnis, Sklave!«, lautete Xarors von einem spöttischen Lachen begleitete Antwort.

Magolas ging zum Altar und umrundete dabei den dunklen Schlund, dessen Gestank trotz der Sinnesdämpfung unerträglich zu werden drohte. Augenblicke später umfasste seine Hand das Gefäß mit der Essenz des Lebens und nahm es von der Steinplatte. Laranas Weiterleben war damit für einige Zeit gesichert. Für wie lange, war schwer vorhersehbar. Manchmal war ihr Bedarf an der Essenz sehr groß, und sie brauchte bereits nach wenigen Wochen mehr davon. Es kam aber auch vor, dass die Menge für Monate oder gar Jahre vorhielt, je nachdem, wie heftig der Tod versuchte, sie in sein finsteres Reich zu ziehen, und wie schnell ihre mitunter erschreckend schwachen Kräfte schwanden. Magolas war sich nicht einmal sicher, ob Xaror die Wirksamkeit der Essenz nicht auf irgendeine Weise abschwächen konnte, wenn er wollte, dass der Großkönig in seinem Tempel erschien.

Magolas wich von dem Altar zurück und stellte sich wieder in einiger Entfernung hin.

»Bevor du gehst, möchte ich dir etwas zeigen, Sklave«, kündigte Xaror an.

»Ich werde mir aufmerksam anschauen, was immer du mir vor Augen führst, Gebieter«, antwortete Magolas gehorsam.

»Es sind die Wege des neuen Schicksals. Eines Schicksals, das nicht mehr maßgeblich von deinem Vater beeinflusst wird. Was ich dir zeigen will, Sklave, ist das, was geschehen wird!«

Die Schwärze des Schlunds spiegelte plötzlich das Licht wider und wirkte auf einmal wie die Oberfläche einer öligen Flüssigkeit. Bilder erschienen auf dieser Fläche. Marschierende Kolonnen von schwer gerüsteten Soldaten waren zu sehen. Es waren Rhagar, und sie führten gewaltige Kampfmaschinen mit sich: Katapulte, wie sie schon in der Armee des Eisenfürsten Comrrm verwendet worden waren.

Doch dann veränderten sich die bewegten Szenen, und Magolas sah ganze Züge von Monstren, ebenfalls in Rüstungen und schwer bewaffnet. Kreaturen, deren Ungeschlachtheit an die Riesen Zylopiens oder die Trorks des Wilderlands erinnerten. Aber ihre Waffen und ihre Rüstungen hatten nichts mit den primitiven Steinwaffen der Trorks gemein: Leicht gebogene Schwerter von monströser Größe, Armbrüste, Bögen, Schleudern und Morgensterne sah Magolas, aber auch Hellebarden und Pieken. Die Köpfe der Kreaturen glichen denen von Stieren. Ihre Kavallerie saß auf gewaltigen Pferden, die an die Rösser erinnerten, auf denen der Axtherrscher und seine Gnomenkrieger geritten waren. Dann folgten Krieger mit Katzenköpfen und Kreaturen, die so absonderlich waren, dass sie wie Ausgeburten einer unbekannten Hölle wirkten, groteske Parodien primitiver Gottheiten, wie die Rhagar sie in ihrer Frühzeit verehrt hatten, bevor sie angefangen hatten, dem Sonnengott zu huldigen.

»Das sind die Geschöpfe des Limbus«, erklärte Xaror. »Ich habe sie um mich geschart und die Äonen meines Exils genutzt, um sie meinem Willen zu unterwerfen. Sie gehen, wohin immer ich sie befehle. Sie sind von der gleichen Finsternis erfüllt wie du, Sklave – und ihre Arme erlahmen im Kampf nie. In Kürze wird meine Kraft groß genug sein, um die Ersten von ihnen in die Welt der Lebenden zu entlassen. Sie werden die Boten meiner kommenden Herrschaft sein, und selbst das Elbenreich wird ihnen nichts entgegenzusetzen haben. Du kannst an meiner Herrschaft teilhaben, Sklave. Als mein Wesir, denn die Finsternis in dir ist sehr stark, sodass ich keinen Zweifel habe, dass du dieser Aufgabe gewachsen bist. So wie auch deine Kinder.« Erneut erklangen kichernde Laute. »Vasallen der Finsternis werden sie sein, wie ihr Vater und ihr Großvater. Du hast den Strom der Zukunft gesehen. Die Wogen des Schicksals werden dich empor tragen oder verschlingen, das liegt ganz in deiner Hand – so wie auch das Leben deiner Rhagar-Prinzessin. Aber darüber brauchen wir wohl kein Wort mehr zu verlieren, Sklave ...«

»Ich bin dein gehorsamer Diener, Xaror«, versicherte Magolas.

»Das weiß ich. Denn glaube mir, wenn ich nur den geringsten Zweifel daran hätte, wärst du nicht mehr am Leben.«

Dann gestattete Xaror dem Großkönig, sich zu entfernen. Dies geschah durch einen einfachen Gedanken, der nicht in Worte gefasst war, sondern eher einem Zeichen glich, das Magolas bedeutete, dass der einstige Herr des Dunklen Reichs ihn entließ.

Schauder hatte Magolas angesichts der Heere erfasst, die Xaror aus den Kreaturen des Limbus gebildet hatte. Doch schauderte ihm auch, weil er ahnte, welche Rolle er selbst in der künftigen Auseinandersetzung um die Herrschaft im Zwischenland innehatte.

Er schritt auf das Haupttor des Tempels zu, während über ihm das Knochenmobile durch einen stinkenden Eishauch aus der Tiefe des dunklen Schlunds ungewöhnlich laut klapperte; Magolas kam es vor, als wäre es das widerliche Lachen Xarors.

Auf halbem Weg zum Tor der gewaltigen Haupthalle blieb er jedoch stehen und drehte sich noch einmal um. »Beantworte mir eine Frage, Xaror!«

»Frag, Sklave!«

»Hat dein Bruder die Finsternis in die Seele meines Vaters gepflanzt, oder war sie dort schon immer vorhanden?«

»Du wirst die Antwort auf diese Frage einst selbst finden, Sklave. Ganz sicher.«

Die Tore des Tempels sprangen auf einmal auf, und grelles Sonnenlicht strahlte herein, das Magolas eigenartigerweise als höchst unangenehm empfand.

Aber er verstand, was der ehemalige Herr des Dunklen Reichs ihm damit deutlich machen wollte.

»Im Moment bin ich deiner Anwesenheit überdrüssig, Sklave!«

––––––––

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Magolas trat vor die Tore des sechstürmigen Tempels. Hinter ihm schlossen sich diese wie von Geisterhand bewegt. Eine Gruppe von Kriegern der Norischen Garde bewachte den Tempel, seit Magolas auf ihn durch den weit gereisten elbischen Kundschafter Lirandil gestoßen war, der im Auftrag von Magolas' Vater die Länder der Rhagar erforscht hatte.

»Hauptmann Pantall!«, wandte er sich an den Kommandanten der Truppe, die auf der Lichtung um das Tempelgebäude herum in Zelten kampierten. Manche dieser Männer hatten Jahre mit der Bewachung des Tempels verbracht. Und in den karanorischen Wäldern, die dieses Relikt aus einer unvorstellbar fernen Epoche umgaben, waren weitere Verbände des magolasischen Heeres stationiert. Zusätzlich lauerten siebenhundert dariianische Bogenschützen in den Wäldern Karanors und machten jeden nieder, der es wagte, sich dem Tempel zu nähern.

Der angesprochene Hauptmann fiel auf die Knie; eine Ehrbezeugung, die angeblich früher unter dem legendären Eisenfürsten Comrrm üblich gewesen war und die man Magolas immer häufiger entgegenbrachte. Er forderte diese Ehrbezeugung nicht, doch die meisten Rhagar sahen in ihm den Sohn des Sonnengottes, so wie es auch bei Comrrm der Fall gewesen war.

Magolas ließ es zu, dass er auf diese Weise verehrt wurde. Dass er in der Öffentlichkeit den Glauben an den Sonnengott angenommen hatte und regelmäßig die Sonnentempel von Aratania und Rajar besuchte, war von den Rhagar sehr positiv aufgenommen worden. Er war dadurch in gewisser Weise einer der ihren geworden, ohne seine Sonderstellung als beinahe unsterblicher Herrscher von göttlicher Herkunft zu verlieren. Seit die Länder Karanor und Aybana zu seinem Machtbereich gehörten, besuchte er genauso regelmäßig die heiligen Stätten von Jarakor und Om-Dagar, wo ebenfalls seit den Tagen des Eisenfürsten der Sonne gehuldigt wurde. Seine Kinder Daron und Sarwen hatte Magolas nach dem rhagaräischen Ritus in einer großen festlichen Zeremonie dem Sonnengott weihen lassen, was ihm ebenfalls große Sympathien unter seinen Untertanen eingebracht hatte.

Dass er ein Elb war, daran störte sich niemand – zumal sich die Blutlinien der Rhagar und Elben ja in den Kindern des Großkönigs vereinigt hatten. Davon abgesehen verfügte Magolas über ein gut funktionierendes Heer sowie eine ebenso effektive Geheimpolizei, die jede Form von Aufruhr – und sei es nur Kritik an der Art und Weise, wie er über sein Reich herrschte - im Keim erstickte. Der traditionell so aufmüpfige aratanische Adel hatte jedenfalls schon seit einer Jahrhunderthälfte keinen Aufstand mehr geprobt, und damit war Magolas der erste aratanische Regent seit Menschengedenken, der von sich behaupten konnte, dieses Problem in den Griff bekommen zu haben.

»Erhebt Euch, Hauptmann Pantall!«, befahl der Großkönig.

Der Norier kam dem sofort nach. Wie alle Angehörigen der Norischen Garde trug er die charakteristische flache Lederkappe, die seit Jahrhunderten das Kennzeichen dieser Eliteeinheit war. Deren ursprüngliche Aufgabe war eigentlich die Verteidigung des Palastes und des Königshauses gegen Putschisten aus den Reihen des aufmüpfigen Adels oder des eigenen Militärs. Manchmal wünschte es sich Magolas geradezu, sich nur mit so vergleichsweise harmlosen Problemen befassen zu müssen, mit denen sich seine Vorgänger im Amt des Königs von Aratan herumgeschlagen hatten. Keiner von ihnen hatte Entscheidungen von solcher Tragweite treffen müssen wie Magolas. Und keiner von ihnen war eine Geisel des ehemaligen Herrschers des Dunklen Reichs gewesen.

»Gab es irgendwelche besonderen Vorkommnisse in der Zeit meiner Abwesenheit?«, fragte Magolas.

»Nein, Herr. Abgesehen von ein paar Gnomen aus Hocherde, die hier auftauchten und herumspionierten. Trotz Folter ließen sich ihnen keinerlei Informationen entlocken. Wir haben die Leichen schließlich im Wald verscharrt.«

»Waren es sechsfingrige Gnomen?«, erkundigte sich Magolas.

»Nein«, versicherte Hauptmann Pantall. »Es waren ganz gewöhnliche Gnomen, wie sie zu Hunderten aus Hocherde zu den Märkten von Aratania oder Cadd strömen, um mit Mineralien zu handeln.«

»Dann wird sie wahrscheinlich nur der Zufall in diese Gegend geführt haben«, glaubte Magolas. Dieser Ort war das geheime Machtzentrum seines Imperiums – ebenso wie des künftigen Dunklen Reichs, das Xaror wieder aufzubauen gedachte, und Magolas wollte nicht, dass es ihm als Xarors Diener so erging wie dem Axtherrscher, der Magolas’ Vorgänger gewesen war. Nachdem Magolas dessen sechsfingrige Gnomendiener hatte erschlagen lassen, übte er zumindest die äußere Kontrolle über den Tempel aus. Wie Magolas später erfahren hatte, war der Axtherrscher selbst zu diesem Zeitpunkt von Keandir getötet worden, sodass es Magolas nur noch mit den Lakaien zu tun gehabt hatte.

Wie auch immer, du bist gewarnt ...

»Achtet vor allem auf Spione, die von meinem Volk sind!«, forderte Magolas den Hauptmann auf. »Spitze Ohren und elfenbeinfarbene Haut - darauf solltet Ihr besonders achten.«

»Ja, Herr.«

In den letzten Wochen hatte Magolas immer wieder im Traum das Gesicht seines Bruders vor sich gesehen, und inzwischen erschien es ihm auch am Tag. Zweifellos suchte sein älterer Zwillingsbruder eine geistige Verbindung zu ihm, aber Magolas versuchte sich dagegen abzuschirmen. Es war durchaus denkbar, dass der mächtigste Magier der Elben zu einem gefährlichen Gegner wurde, wenn er seine selbst gewählte Isolation erst einmal aufgab.

Er vermochte jederzeit herauszufinden, wo sich Magolas aufhielt, erinnerte sich der Großkönig. Vielleicht hatte er sogar wahrgenommen, was im Tempel vor sich gegangen war. An diese Möglichkeit dachte Magolas mit Schaudern. Wenn sein edler Bruder, der überzeugt davon war, dass es in seiner Seele keinen finsteren Fleck gab, Einzelheiten über Xaror und seine Pläne erfuhr, konnte es durchaus sein, dass er sich berufen fühlte, dagegen vorzugehen.

Magolas befahl sein Pferd durch einen Gedankenbefehl zu sich. Er bevorzugte nach wie vor Pferde aus Elbenzucht, doch aufgrund der außenpolitischen Spannungen zwischen dem Magolasischen und dem Elbenreich, die den Handel zwischen beiden Machtblöcken so gut wie zum Erliegen gebracht hatte, musste Magolas Zuchttiere über das neutral gebliebene Reich des Seekönigs von Ashkor und Terdos beziehen.

Das Pferd aus Elbenzucht kam herbei. Vorn am Sattel befand sich ein Futteral, das so geformt war, dass es das Gefäß mit der »Essenz des Lebens« aufnehmen konnte. Das Leder schmiegte sich passgenau an dessen Oberfläche.

Der Großkönig schwang sich in den Sattel. Seine Begleiter – ein Trupp, der aus den besten Kämpfern der Norischen Garde bestand – standen schon bereit.

Magolas spürte die Unruhe seines Pferdes, das sensibel genug war, um die Anwesenheit eines fremden, beobachtenden Geistes zu spürte ...

Nein, nicht fremd, dachte Magolas. Genau genommen war es – zumindest für ihn – ein sehr vertrauter Geist. Er drehte sich im Sattel, weil auch er sich beobachtet fühlte.

»Ist irgend etwas, Herr?«, fragte Hauptmann Pantall.

»Nein«, murmelte Magolas.

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3. Kapitel: Lichte Höhen, finstere Schatten

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Von den Mauern, welche die Manufaktur auf dem Gipfelplateau des Elbenturms umgaben, hatten die ständig patrouillierenden Posten den Überfall auf König Keandir und seine Eskorte beobachtet und dies sofort gemeldet.

Thamandor der Waffenmeister hatte zunächst erwogen, mit dem Flammenspeers einzugreifen, denn die Schlucht, in der sich der grausige Angriff des magischen Rabenschwarms ereignete, lag keineswegs außerhalb der Reichweite dieser Waffe. Aber Yirantil der Scharfäugige, ein relativ junger Elbianiter, der aus Tirasor in Mittel-Elbiana stammte und Thamandor als Kommandant der Wachmannschaft zugeteilt worden war, hatte den Waffenmeister schließlich vom Einsatz seiner Erfindung abhalten können. Das Risiko, den König mit dem Feuerstrahl zu treffen, sei einfach viel zu groß.

So war Yirantil der Scharfäugige sofort mit allen verfügbaren Elbenkriegern aufgebrochen, um dem König zu Hilfe zu eilen. Waffenmeister Thamandor begleitete den Trupp. Neben den beiden Einhandarmbrüsten links und rechts an seinem Gürtel sowie dem über den Rücken geschnallten monströsen Schwert mit dem Namen »Der Leichte Tod« führte der größte Erfinder der Elbenheit natürlich auch jenen Flammenspeer mit sich, mit dem er die Schlacht um Turandir entschieden hatte. Die Waffe steckte in einem vorn am Sattel befestigten Futteral, aus dem der obere Teil herausragte. Ein Griff genügte, um den Speer hervorziehen.

Den Elbenpferden wurde alles abverlangt, als sie den steil abfallenden und in Serpentinen verlaufenden Weg hinabpreschten.

Als Thamandor und sein Trupp den Ausgang jener Schlucht erreichten, in der das Gemetzel stattgefunden hatte, kamen ihnen bereits König Keandir, Prinz Sandrilas, Siranodir mit den zwei Schwertern und der erblindete Hauptmann Rhiagon entgegen. Siranodir führte den blinden Rhiagon, obwohl er selbst üble Verwundungen davongetragen hatte, vor allem die am Hals; sie bluteten zwar nicht mehr, doch jeder wusste, dass von dunkler Magie geschlagene Wunden nur sehr schwer verheilten.

»Mein König!«, stieß Thamandor hervor, und sein Entsetzen stieg noch, als er erfuhr, dass es außer diesen Vieren keine Überlebenden gab.

»In unserem König schlummert ein mächtiger Magier«, sagte Prinz Sandrilas. »Seine Kräfte sind vielleicht sogar jenen seiner Söhne ebenbürtig. Nur dieser Tatsache ist es zu verdanken, dass überhaupt noch jemand am Leben ist.«

König Keandirs Hand umschloss unwillkürlich den Beutel mit den Elbensteinen. Hatten es die Angreifer nur darauf abgesehen gehabt, oder hatten sie den König der Elben vernichten sollen? Die Finsternis fürchtete die Finsternis – so konnte man in den uralten magischen Schriften lesen, die an Bord der Elbenschiffe den Weg aus der alten Heimat Athranor ins Zwischenland gefunden hatten, das die Elben Ethranor nannten.

»Unsere Pferde können gut zwei Reiter tragen«, erklärte Yirantil. »Zumal wir auf dem Rückweg keine besondere Eile haben.« Er gab einigen der Elbenkrieger den Befehl, von ihren Pferden zu steigen und sich hinter ihre Kameraden in die Sättel zu setzen, sodass die Überlebenden des Rabenangriffs Reittiere bekamen.

»Bitte sorgt baldmöglichst für die Bestattung der Toten«, sagte König Keandir, nachdem er aufgesessen war.

»Ich werde das sofort persönlich veranlassen«, erwiderte Yirantil.

»Außerdem möchte ich, dass ein Bote nach Elbenhaven geschickt wird. Er soll Brass Shelian holen. Möglicherweise kann unser Oberster Schamane etwas für die Geister der Toten tun.«

Auf Thamandors ansonsten sehr glatter Stirn bildete sich die für den Waffenmeister charakteristische Falte. Die Anwesenheit eines Schamanen war für ein Totenzeremoniell nicht unbedingt erforderlich; die Seelen der Elben fanden normalerweise auch so ihren Weg nach Eldrana, das Reich der Jenseitigen Verklärung. Und die Verdammten, die es nach Maldrana, dem Reich der Verblassenden Schatten, verschlug, hatten den verhängnisvollen Weg dorthin zumeist schon in ihrem Leben eingeschlagen.

Aber in diesem Fall war fraglich, ob die Gefallenen die Gefilde der Jenseitigen überhaupt erreichten, wie Keandirs nächste Worte offenbarten. »Die Geister der Toten wurden durch die magischen Schreie der Rabenwesen zerstört«, erklärte er.

Thamandor schluckte schwer. »Dann ist ihnen weit Schlimmeres als der Tod widerfahren.«

Keandir nickte. »Ich habe wenig Hoffnung für ihre Seelen, dennoch möchte ich, dass sich ein Schamane an den Ort des Geschehens begibt, um vielleicht doch noch etwas auszurichten.«

»Ihr solltet damit Euren Sohn Andir beauftragen«, meinte Prinz Sandrilas. »Er ist der mächtigste Magier der Elbenheit, während andere Magier als auch Schamanen von dieser spirituellen Schwäche befallen sind, die unter uns Elben grassiert, seit wir uns im Zwischenland niedergelassen haben.«

»Ich weiß«, murmelte Keandir.

»Ihr könntet versuchen, mit Eurem Sohn in geistigen Kontakt zu treten und ihn zu rufen«, schlug Sandrilas vor.

Aber Keandir schüttelte den Kopf. »Mein Sohn hat den Weg der Einsamkeit gewählt, und ich habe nicht das Recht, ihn hierher zu beordern.«

In den letzten Jahren war Andir zwar immer wieder für kurze Zeit auf Burg Elbenhaven erschienen, vornehmlich um nach seinem Vater und seiner Mutter, der Königin Ruwen, zu schauen, aber diese Besuche waren immer seltener geworden. Keandir hatte lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass Andir dem Elbenreich den Rücken gekehrt hatte, um in der Einsamkeit seine eigene Seele zu erforschen. So hatte er sich nicht nur seinen Eltern, sondern im Grunde der gesamten Elbenheit entfremdet.

In der Alten Zeit von Athranor hatte es Schamanen gegeben, deren Vergeistigung soweit fortgeschritten gewesen war, dass sie irgendwann auf direktem Weg ins Reich der Jenseitigen Verklärung eingegangen waren. Sie hatten den Tod als ansonsten notwendigen Übergang nach Eldrana nicht gebraucht. Als Eldran hatten sie dann zumeist noch eine Weile die Nähe der diesseitigen Elben gesucht, bevor sie mehr und mehr eins geworden waren mit den jenseitigen Gefilden und sich schließlich allenfalls noch durch mächtige Beschwörungen herbeirufen ließen. Dies aber war schon lange nicht mehr möglich, da die gegenwärtige Elbenheit den spirituellen Kontakt sowohl zu den Namenlosen Göttern als auch zu den jenseitigen Eldran verloren hatte. Doch wenn dies Andirs Weg war, so würde Keandir auch das akzeptieren müssen.

Yirantil ritt mit dem Gros der Elbenkrieger weiter hinein in die Schlucht, um die Gefallenen zu bestatten. An Land übergab man die Leichen üblicherweise dem Feuer, während man sie auf See in die Tiefen des Meeres versenkte.

Unter den Reitern, die bei Thamandor und König Keandir blieben, war auch der Heiler Piandolas. Dieser nahm sich insbesondere Rhiagon an.

»Ihr könnt offen zu mir sein«, sagte Rhiagon mit heiserer Stimme. »Weder Ihr noch irgendein anderes Mitglied der Heilerzunft könnt mir mein Augenlicht zurückgeben.«

»Wir werden sehen«, erwiderte Piandolas, der die Verwundungen Rhiagons mit einer Paste aus dem Extrakt von einem guten Dutzend Heilpflanzen behandelte und ihm anschließend einen Verband anlegte, wozu er einige sehr mächtige Heilformeln sprach.

Rhiagon atmete tief durch. »Es lindert die Schmerzen, und die Wunden werden sich gewiss schließen. Aber mehr werdet Ihr nicht erreichen.«

»Ihr solltet mehr Zuversicht haben, Hauptmann, denn die Zuversicht fördert die Heilung«, entgegnete Piandolas.

Ein raues Lachen entrang sich den Lippen des Kommandanten der königlichen Einhandgarde. »Ihr verwechselt Zuversicht mit grundloser Hoffnung. Es ist keineswegs nötig, mich über die Wahrheit mit schönen Worten hinwegzutrösten.«

Einer der Elbenkrieger führte Rhiagon zu dem Pferd, das man für ihn bereitgestellt hatte, und half ihm, in den Sattel zu steigen. Dann machte sich der Trupp auf den Weg zur Manufaktur.

König Keandirs Gedanken waren bei Ruwen, seiner Gemahlin, die im nahegelegenen Elbenhaven sicherlich etwas vom Angriff des Rabenschwarms und der Bedrohung, der ihr Gemahl ausgesetzt gewesen war, gespürt hatte. Wie ihre Liebe, so war auch die geistige Verbindung zwischen ihnen im Lauf der Jahrhunderte immer noch stärker geworden, und so war es vollkommen undenkbar, dass sie nicht wenigstens etwas ahnte von den schrecklichen Ereignissen in der Schlucht.

»Ruwen!«

»Geliebter Kean! Du lebst! Es waren so schreckliche Bilder, die mir plötzlich erschienen.«

Es war eine stumm geführte Unterhaltung; manchmal war ihre Verbindung so stark, dass ihnen dies auch über weitere Entfernungen hinweg gelang.

»Es besteht kein Grund zur Sorge, Ruwen. Wir sind auf dem Weg zur Manufaktur.«

»Die Gefahr ist noch nicht vorüber, geliebter Kean. Die Macht, die dich vernichten will, hat jetzt erst erkannt, wie gefährlich du bist. Sie wird erneut versuchen, dich zu töten!«

»Sei unbesorgt. Ich bin stärker als je zuvor, Ruwen ...«

Als König Keandir und seine Begleiter die Manufaktur erreichten, hatte sich bereits die Dämmerung wie grauer Spinnweben über Hoch-Elbiana gelegt, Dunst hatte sich in den Tälern und Schluchten gebildet, und Nebelschwaden stiegen wie böse Gedanken aus der Tiefe empor. Das sonst so imposante Farbenspiel, das entstand, wenn die untergehende Sonne die schneebedeckten Gipfel beschien, blieb aus. Stattdessen bildeten sich auch um die Gipfelregionen herum Dunstschleier.

Keandir stieg vom Pferd, und ein Bursche kümmerte sich um das edle Tier aus elbischer Zucht. Der König indes trat an die Zinnen der Wehrmauer, welche die Manufaktur begrenzten. Von dort aus waren die Totenfeuer zu sehen, die von Yirantil dem Scharfäugigen und seinen Kriegern entzündet worden waren. Es war gut möglich, dass Ruwen mit ihren Ahnungen recht behielt. Dieser Gedanke beschäftigte Keandir und ließ ihn nicht los.

Thamandor und Sandrilas begaben sich zu ihrem König, während sich Siranodir mit den zwei Schwertern zusammen mit dem Heiler Piandolas um den erblindeten Rhiagon kümmerte.

»Wir werden zweifellos eine größere Anzahl von Flammenlanzen benötigen, wollen wir die Grenzen des Reiches gegen die Übermacht unserer Feinde sichern«, sagte Sandrilas, dann wandte er sich dem Waffenmeister zu. »Ich will offen zu Euch sein, werter Thamandor: So sehr ich Eure Erfindungsgabe schätze, so sehr beunruhigt es mich, dass die Produktion der Flammenspeere noch immer nicht angelaufen ist.«

»Vielleicht ist es angemessener, diese Dinge später zu besprechen«, antwortete der König anstelle des Waffenmeisters, der angesichts dieser offenen Kritik doch ziemlich erstaunt wirkte; er hatte den Mund zwar geöffnet, aber noch keinen Ton hervorgebracht, als der König das Wort ergriff.

»Nein, dieses Problem können wir nicht länger vor uns herschieben, mein König«, widersprach Prinz Sandrilas. Niemand außer dem Einäugigen konnte es sich erlauben, so mit dem Elbenherrscher zu reden. Sandrilas nahm kein Blatt vor den Mund – auch dann nicht, wenn er den König kritisierte. Und Keandir wusste auch, dass es seinem väterlichen Mentor bei allem, was er tat und sagte, immer nur um eines ging: Das Wohl des Elbenreichs.

»Gut, dann besprechen wir die Sache hier und jetzt!«, sagte Thamandor leicht aufgebracht. »Wir müssen noch einmal nach Naranduin, sonst können wir nicht nur die Massenproduktion der Flammenspeere, sondern überhaupt die Produktion dieser Waffe vergessen, mag sie nun langsamer oder schneller, mit viel oder wenig Akribie vonstatten gehen. Ich habe Dutzende von fähigen Fachleuten in die umliegenden Berge geschickt, in der Hoffnung, dass jene magischen Steine, von denen ich einen von Naranduin mitbrachte, vielleicht auch in dieser Gegend zu finden sind. Schließlich sind die Gebirge von Hoch-Elbiana mit jenen auf Naranduin in Form und Beschaffenheit vergleichbar, wie jeder sehen kann, der auch nur ein wenig davon versteht. Aber leider hat sich meine Hoffnung nicht erfüllt.«

»Dann haben Eure so genannten Fachleute nur nicht an den richtigen Stellen gesucht«, hielt Keandir ihm vor. Allein der Gedanke, noch einmal zu jener Insel zurückzukehren, ließ ihn schaudern. Dort war er einst dem Augenlosen Seher begegnet und hatte sowohl den Furchtbringer als auch den Feuerbringer vernichtet, woraufhin er in die Lage versetzt worden war, sein und der Elbenheit Schicksal selbst zu bestimmen, anstatt länger auf eingefahrenen, vorgezeichneten Wegen zu wandeln. Dennoch erfüllte ihn allein die Erinnerung an die damaligen Ereignisse mit Schrecken.

Unwillkürlich umfasste der Elbenkönig den Griff seines Schwerts Schicksalsbezwinger und krampfte seine Hand so stark darum, dass die Knöchel unter der hellen Haut deutlich hervortraten. Er sah ihn wieder vor sich, den Augenlosen Seher, wie er sich auf seine beiden Zauberstäbe gestützt hatte, und er hörte ihn wieder erzählen von seiner Verbannung durch seinen eigenen Bruder Xaror, der auf dem zwischenländischen Festland das Dunkle Reich hatte allein regieren wollen und dies wohl auch über viele Zeitalter hinweg getan hatte. Der Augenlose Seher war schließlich von Sandrilas erschlagen worden, aber seit damals war die Finsternis in Keandirs Seele, eine dunkle Kraft, die ihn wahrscheinlich sogar erst in die Lage versetzt hatte, das Elbenreich zu gründen und aufzubauen, vor der er sich aber nach wie vor fürchtete.

»Ich kann nicht mein eigenes Gesetz missachten und Naranduin ansteuern, nur um ein paar Steine zu suchen«, sagte er düster.

»Euer Gesetz ist falsch, mein König!«, hielt Sandrilas mit plötzlicher Heftigkeit dagegen. »Den Schatten der Vergangenheit sollte man sich stellen. Ich fürchte, Ihr werdet schon sehr bald keine andere Wahl haben!«

Keandir schwieg einen Moment, bevor er leise sagte: »Ja, da mögt Ihr recht haben.« Dann hob sich seine Stimme wieder. »Dennoch will ich alles gut bedenken und nichts überstürzen.«

»Die Schlachten von morgen werden gewonnen oder verloren durch die Entscheidungen, die wir hier und jetzt treffen, mein König«, sagte der Prinz. »Dass solltet Ihr nicht vergessen!«

––––––––

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Königin Ruwen fühlte zur selben Zeit tiefe Erleichterung.

»Mein geliebter Kean! Es geht ihm gut«, sagte sie und seufzte tief auf. »Er hat überlebt, und ich fühle, dass die Gefahr zumindest für den Moment vorüber ist.«

Ruwen erhob sich von ihrem Platz. Das lange dunkle Haar fiel ihr offen über die Schultern. Sie war von zeitloser Schönheit, ihr elfenbeinfarbenes Gesicht fein geschnitten, und ihre Figur entsprach dem Ideal einer Elbin. Mit ihr zusammen weilte die Heilerin Nathranwen im großen Kaminzimmer im Palas von Burg Elbenhaven. Sie war seit langem eine Vertraute der Königin, und auch der Umstand, dass sie eine Zeitlang am Hof des Großkönigs Magolas in Aratania gedient hatte, änderte daran nichts. Im Gegenteil: Da Ruwen ihre Enkel Daron und Sarwen noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, lauschte sie gern Nathranwens Berichten, auch wenn sie jeden davon schon dutzendfach gehört hatte und vieles von dem, was die Heilerin aus ihrer Zeit am Hof von Aratania erzählte, Anlass zu großer Sorge bot. Doch Nathranwens Worte erleichterten es Ruwen, eine geistige Verbindung zu ihren Enkeln aufzunehmen und sich ihre Gesichter vorzustellen.

Manchmal war diese innere Verbindung so stark, dass sie mit den Augen der Säuglinge zu sehen vermochte. Aus der Wiege heraus blickte sie dann in die Gesichter ihres Sohnes Magolas und jener Rhagar-Prinzessin, die ihr Sohn zur Frau genommen hatte. Während eines Besuchs des greisen Königs von Aratan in Elbenhaven hatte Magolas sie kennengelernt, und die Leidenschaft hatte ihn gepackt. Ruwen verfluchte innerlich den Tag, an dem dies geschehen war. Schon damals hatten Visionen sie heimgesucht, in denen sie gesehen hatte, wie sich Larana in eine groteske Schattenkreatur verwandelte. Fast eine Jahrhunderthälfte lang hatte sie diese Visionen nicht mehr gehabt, doch seit der Geburt der Zwillinge waren sie wieder häufiger aufgetreten.

Wenn Ruwen mit den Augen ihres Enkels Daron und ihrer Enkelin Sarwen aus der Wiege schaute, wurde sie auch Zeuge der düsteren Rituale, denen die beiden Kinder unterzogen wurden. Der Blick von Magolas’ vollkommen schwarzen Augen ruhte dann auf den Kindern, während er Zauberformeln murmelte, die nichts mit der Magie der Elben gemein hatten, und ihnen Hexenzeichen auf die Stirn und die Hände malte.

In jenen Augenblicken spürte Ruwen die dunkle Kraft, die nach den Seelen ihrer beiden Enkel griff, und schauderte dabei bis tief ins Mark. Es war unerträglich für sie, dass es nichts gab, was sie dagegen tun konnte, denn sie spürte deutlich, wie die Dunkle Macht Einfluss über die Zwillinge gewann.

Ruwen fühlte das Unheil nahen, so als wäre es bereits geschehen. Ein Schatten verdunkelte ihrer aller Schicksal.

»Euer Herz ist nicht wirklich erleichtert«, stellte Nathranwen fest, die als Heilerin ein gutes Auge sowohl für die körperliche als auch für die seelische Verfassung ihrer jeweiligen Gesprächspartner hatte. Dabei spiegelte sich das eine im anderen, und oft genügte es Nathranwen schon, wenn sie den Klang einer Stimme hörte oder das kaum sichtbare Zucken gewisser Muskelpartien im Gesicht eines anderen sah.

»Ich fürchte, dieser Angriff auf meinen Gemahl war nur der Anfang des großen Krieges, den wir seit langem heraufdämmern sehen«, gestand die Königin. »Und natürlich bedrückt es mich über die Maßen, dass mein geliebter Sohn Magolas zum Feind der Elbenheit und zum Diener der Finsternis geworden ist.«

»Es liegt mir fern, Magolas zu verteidigen«, antwortete Nathranwen. »Schließlich hat er mich von seinem Hof verbannt, damit ich keinen Umgang mehr mit den Zwillingen habe. Aber was er tat, tat Magolas aus Liebe zu Larana.«

»Sie ist seine Unglücksbringerin; das weiß ich seit langem.« Ruwen drehte mit einer für sie ungewohnt heftigen und wenig fließenden Bewegung das Gesicht in Richtung der Heilerin. Auch darin erkannte Nathranwen ein Zeichen der inneren Unausgeglichenheit der Königin – wie auch in der Tatsache, dass Ruwen befohlen hatte, das Feuer im Kamin zu entfachen. Elben waren sehr temperaturunempfindlich, und insbesondere Kälte machte ihnen wenig aus. Auch wenn inzwischen die ersten Herbststürme von Norden her über das zwischenländische Meer peitschten und die Schneegrenze in den Bergen Hoch-Elbianas deutlich gefallen war, so war es doch noch weit davon entfernt, dass ein Elb normalerweise ein Kaminfeuer hätte entzünden lassen. Doch es war Ruwens Seele, die angesichts ihrer furchtbaren Ahnungen gewärmt werden wollte, nicht ihr Körper.

»Meine Enkel tun mir leid«, sagte Ruwen. »Obgleich sie von ihrer Herkunft her nur Halbelben sind, spüre ich ihr magisches Talent jedes Mal, wenn es mir gelingt, eine flüchtige geistige Verbindung zu ihnen herzustellen. Ich fürchte, sie werden zu Dienern des Bösen - wie ihre Eltern.«

»Magolas und Larana stehen nicht freiwillig auf der Seite Xarors«, erinnerte Nathranwen nachdrücklich. »Sie haben keine Wahl.«

»Es hätte sicher eine andere Möglichkeit gegeben.«

»Um Laranas Leben zu verlängern?« Nathranwen schüttelte den Kopf. »Ich versichere Euch, meine Königin, es ist alles versucht worden. Aber nichts von den Bemühungen, an denen ich ja auch einen gewissen Anteil hatte, war von Erfolg gekrönt. Ihr hättet die Verzweiflung im Gesicht Eures Sohnes sehen sollen, als wir Heiler ihm schließlich jede Hoffnung nehmen mussten, das Leben seiner geliebten Gemahlin zu verlängern. Euer Sohn verfügt ja selbst über erhebliches magisches Talent, und auch er hat wirklich alles in seiner Macht Stehende versucht. Ich weiß nicht, wie ich an Magolas Stelle gehandelt hätte. Er musste eine schreckliche Wahl treffen ...«

Ruwen nickte. Dann fragte sie mit belegter Stimme: »Urteile ich zu hart?«

Nathranwen zögerte mit der Antwort. »Es waren so große Hoffnungen, die wir alle seinerzeit mit der Geburt von Andir und Magolas verbanden«, sagte sie schließlich. »Und ich gebe zu, dass sich manche dieser Hoffnungen in ihr Gegenteil verkehrt haben. Das bewirkt harte Urteile.«

»Ja, da habt Ihr zweifellos recht«, gab Ruwen zu. »Nicht nur im Hinblick auf Magolas ...« Ihre Gedanken wanderten in der Zeit zurück. Welch ein ungeahntes Glücksgefühl hatte sie durchströmt, als Nathranwen ihr verkündet hatte, sie selbst – Ruwen – würde Zwillinge erwarten. Der ganzen Elbenheit war dies als ein gutes Omen erschienen. Ein Zeichen, das König Keandirs Volk förmlich dazu aufgefordert hatte, im Zwischenland zu bleiben und dort ein Elbenreich zu gründen, das größer und schöner hatte sein sollen als alle Elbenreiche, die es in der Alten Heimat Athranor je gegeben hatte.

»Ich verstehe nicht, dass Andir das Schicksal der Elbenheit so gleichgültig sein kann«, äußerte Ruwen nach einer längeren Pause. »Ich habe immer wieder versucht, geistige Verbindung mit ihm aufzunehmen. Aber er scheint schon zu entrückt, um das noch wahrnehmen zu können; anders kann ich mir nicht erklären, dass er mir nicht geantwortet hat und seine Besuche in Elbenhaven immer seltener geworden sind. Dabei sind seine magische Fähigkeiten einzigartig in der gesamten Elbenheit.«

»Auch Andirs Suche nach seiner Selbst und der Wahrheit wird irgendwann beendet sein«, entgegnete Nathranwen. »Ihr solltet nicht vergessen, wie viel er dem Königreich Elbiana gegeben hat. Die Brücke über den Nur bei Minasar ist sein Werk, ebenso wie die Aratanische Mauer, die uns seit einem Zeitalter vor den Rhagar schützt. Kein anderer Magier hat so viel geschaffen wie er. Und in der Schlacht gegen den Eisenfürsten war er es, der die Magier und Schamanen der Elbenheit anführte, um aus dem Nichts heraus Gesteinsbrocken erscheinen und sie auf die Reihen des Feindes stürzen zu lassen.«

»Aber jetzt schlägt erneut eine schwere Stunde für die Elbenheit«, sagte Ruwen. »Und er ist nicht da! Statt dem Reich, dem auch er alles verdankt, zu helfen, zieht er sich zurück, um sich der Wahrheitsfindung, der Selbstfindung, der Reinigung seines Geistes und dergleichen mehr zu widmen.« Ruwen schüttelte den Kopf. »Manchmal will es mir scheinen, als hätte ich in der Erziehung meiner Söhne kläglich versagt.«

»Ihr seid allzu selbstkritisch, meine Königin«, widersprach Nathranwen.

Ruwen erwiderte nichts mehr auf die Worte der Heilerin. Stattdessen erinnerte sie sich daran, wie Andir und Magolas einst, jeder mit einem der Zauberstäbe des Augenlosen Sehers bewaffnet, im Alter von acht Jahren aufeinander losgegangen waren. Vor ihrem inneren Auge verwandelten sich die beiden Kontrahenten dabei in Männer.

Ruwen erschrak, und sie begann sich zu fragen, ob es tatsächlich wünschenswert war, dass Andir aus seinem selbst gewählten Exil zurückkehrte und in die Geschehnisse eingriff, oder ob dadurch das Ausmaß des tragischen Verhängnisses nicht nur noch schlimmer wurde ...

Andir, mein Sohn ... Vielleicht sind es ja diese Zweifel, die dich davon abhalten, uns in unserer Not zu helfen!

––––––––

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Ein schneidend kalter Wind durchdrang die Kutte aus grauweißem Elbenzwirn, an der jeglicher Schmutz abperlte. Doch Andir störte die Kälte nicht. Er spürte sie nicht mal, so wie er insgesamt den unmittelbaren sinnlichen Kontakt zur Welt des Diesseitigen stark eingeschränkt hatte, um der Erkenntnis näher zu kommen.

Er befand sich in der schneebedeckten Gipfelregion eines hoch-elbianitischen Bergmassivs, das man das »Horn von Eldrana« nannte. Die Luft war bereits so dünn, dass ein Rhagar ebenso wenig hätte atmen können wie all die größeren und kleineren Tiere, die in der hoch-elbianitischen Bergwelt beheimatet waren. In diesen Höhen war man selbst vor den Riesenzahnkatzen sicher, nicht einmal die Berggeier wagten sich so hoch hinauf, und die Kälte hätte unter normalen Umständen selbst einen Elb erfrieren lassen. Aber Andir hatte in der Zeit seiner Einsamkeit gelernt, den eigenen Körper auf eine so vollkommene Weise zu beherrschen, wie er es früher nie für möglich gehalten hätte.

Seit Tagen hatte er nichts gegessen, vielleicht auch schon seit Wochen. Doch er spürte den Hunger ebenso wenig wie die klirrende Kälte. Die Kraft des Geistes hielt ihn aufrecht. Für sein großes, spirituelles Ziel war er bereit, auch einiges zu riskieren.

Hierher könnt ihr mir nicht folgen, ihr Schatten des Bösen, ging es ihm durch den Sinn.

Ihm war, als würde ein heiseres, spöttisches Gelächter in seinem Kopf widerhallen. Es war der spontane Kommentar eines Teils seiner Seele, jenes Teils, der sich nicht länger weigerte, das Existierende als gegeben hinzunehmen, der sich nicht länger an Illusionen festklammern wollte.

Andir hatte sein Elbenpferd weiter unten zurückgelassen, denn auch das geschickteste Tier wäre nicht in der Lage gewesen, ihm in diese Höhen zu folgen; es stand auf einer der Hochalmen, wo es genug Gras und Wasser gab. Falls er es brauchte, konnte er es nach seinem Abstieg jederzeit mit einem Gedankenbefehl zu sich rufen. Seine geistige Kraft reichte aus, um auch über größere Distanzen hinweg ein ihm vertrautes Pferd zu erreichen.

Mit nichts weiter als seinem Gewand und einem kleinen Lederbeutel, den er am Gürtel trug, war er hinauf in diese atemberaubenden Höhen gestiegen. In dem Beutel befanden sich Kristalle, auf die er einst mit Hilfe eines Zaubers das Wissen aus seiner Bibliothek in Elbenhaven gespeichert hatte. Von allem hatte er sich befreit, nur davon nicht. Aber eines Tages würde er vielleicht auch dazu die Kraft finden.

Ein dumpfer, summender Laut, der sich in ein qualvolles Stöhnen wandelte, ließ den Magier den Kopf wenden, und sein Blick schweifte über die Umgebung. Vom zerklüfteten Bergland Hoch-Elbianas war kaum etwas zu sehen; eine grauweiße Decke hüllte das Land ein, und nur hier und dort durchstieß ein einsamer Gipfel den dichten Dunst. Das »Horn von Eldrana« aber ragte weit aus der Nebeldecke hervor.

Dort waren sie – die Schatten, das Dunkle. Er würde sich den Mächten der Finsternis stellen müssen; er hatte es lange geahnt, und der Zeitpunkt war schließlich gekommen.

Aufmerksam suchte Andir mit seinen Blicken die Umgebung ab. Er fühlte Schauder bis ins Mark. Diesen Tag hatte er gefürchtet wie nichts anderes.

Es war beinahe lautlos. Und die das Horn umgebende Nebeldecke vermittelte die Illusion, dass er allein in einer bizarren Fantasielandschaft war, die aussah, als wäre sie den dramatischen Darstellungen von Mindoril dem Wahnsinnigen entsprungen. Mindoril war in der Alten Zeit ein elbischer Maler in Athranor gewesen; seine Gemälde hatten ganze Felswände bedeckt und waren bereits aus einer Entfernung von mehreren Meilen zu bestaunen gewesen. So perfekt waren sie in die Landschaft eingepasst, dass man die auf ihnen dargestellten Fantasmen für real hatte halten können; selbst die scharfen Elbenaugen waren vor dieser Illusion nicht gefeit gewesen. Während Mindorils Gemälde einerseits die positive Eigenschaft gehabt hatten, die ziemlich aggressiven athranorischen Trolle auf Distanz zu halten, hatten sie auf manche besonders empfindsame Elben eine geradezu verheerende Wirkung ausgeübt: Immer wieder hatten sich Betrachter in ihrem Anblick verloren, und es hatte der Kunst eines Heilers oder Schamanen bedurfte, den Betreffenden wieder aus dem Einfluss des jeweiligen Bildes zu befreien.

Den Überlieferungen nach hatte dies zu einer zweitausend Jahre dauernden Spaltung des athranorischen Elbenreichs und zu einem erbitterten Krieg geführt, der zwischen langen Unterbrechungen immer wieder aufgeflammt war: Während im Reich der Ostelben die Malerei ihrer angeblichen Gefährlichkeit wegen vollkommen verboten worden war, blieb sie im Reich der Westelben eine angesehene Kunstform, und man vertrat dort die Ansicht, dass es der geistigen Disziplin und spirituellen Stärke des Einzelnen oblag, sich nicht in der Betrachtung solcher Gemälde zu verlieren, mochten sie noch so eindrucksvoll sein.

Mindoril der Wahnsinnige – dieser Name wurde jenem Künstler von der in dieser Zeit dominierenden Überlieferung Ostelbenreichs gegeben, während man ihn im Westelbenreich wechselweise Mindoril den Genialen oder Mindoril den Sichtbarmachenden nannte. Er hatte seinem Leben selbst ein Ende gemacht, da er es nicht länger ertragen hatte, der Grund für die Spaltung der athranorischen Elbenheit zu sein.

Bis zu einem Friedenschluss der beiden Reiche hatte es ein weiteres Jahrtausend gedauert, und bis es dann zu einer Aufhebung des Bilderverbots im Osten und einer Wiedervereinigung der Elbenheit in einem einheitlichen Reich kam, folgten noch anderthalb Jahrtausende mehr oder minder intensiver Verhandlungen – eine Zeit der Zersplitterung, denn es spalteten sich zeitweilig weitere Elbenreiche ab, in denen abweichende Auffassungen zum Bilderstreit vertreten wurden. So gab es besonders sektiererisch eingestellte Teilreiche, in denen selbst das absolute Bilderverbot des Ostelbenreichs als zu liberal angesehen wurde und man folgerichtig auch Beschreibungen von Bildern als gefährlich einstufte.

Diese Beschreibungen hatten im Ostelbenreich schon ziemlich bald nach dem Verbot der Malerei kursiert. Abschriften jener Manuskripte waren zu Höchstpreisen gehandelt worden, und der Legende nach war ein Magier namens Asirindis der Trickreiche zu einem gewaltigen Vermögen gekommen, indem er einen Zauber zur Kopie dieser Schriften erfand, der es ihm erlaubte, in kürzester Zeit derart viele Exemplare dieser Beschreibungen zu produzieren, dass sie bald im gesamten Ostelbenreich stärkere Verbreitung fanden als die Propagandaschriften derjenigen, die vor den Gefahren warnten, die angeblich von den Bildern ausgingen.

Einige dieser Beschreibungen von der gigantomanischen und höchst eindrücklichen Kunst von Mindoril dem Wahnsinnigen und einer Schar weniger begabter Künstler hatten in Büchern und auf Schriftrollen Jahrtausende später die große Seereise der Elben durch das zeitlose Nebelmeer mitgemacht und auf diese Weise die Küste des Zwischenlandes erreicht, wo sie Bestandteil der Bibliotheken von Elbenhaven geworden waren.

Andir hatte diese Beschreibungen gelesen, und obgleich sie nicht ein Ersatz für den tatsächlichen Anblick eines der Kunstwerke Mindorils sein konnten, hatte er den Schauder durchaus nachempfinden können, den die Elben in der Alten Zeit beim Betrachten der gewaltigen Felsgemälde gespürt haben mussten. Wahrscheinlich waren diese riesigen Kunstwerke längst dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen, doch er fragte sich, was diese uralten Beschreibungen wohl in ihm selbst angesprochen hatten, dass er sich so intensiv mit ihnen beschäftigt hatte und sich ihm die Erinnerung daran ausgerechnet in diesem Moment höchster Bedrohung aufdrängte. Er hatte die Beschreibungen der Bilder Mindorils des Wahnsinnigen seinerzeit so genau studiert, dass er bisweilen schon geglaubt hatte, jener Gemälde tastsächlich ansichtig geworden zu sein.

Es ist der Schauder, der beides verbindet. Spürst du es nicht? Die Felsgemälde des Mindoril sprechen denselben wunden Punkt in deiner Elbenseele an wie die Ausgeburten der Finsternis, von denen du dich verfolgt glaubst ...

Andir versuchte diesen Gedanken zu verscheuchen wie ein lästiges Insekt, dessen Geist zu primitiv war, um ihn sich mit einem geistigen Befehl unterwerfen zu können. Da vernahm er wieder das qualvolle Stöhnen, das sich in das Grollen eines wilden Tieres verwandelte und sehr bedrohlich klang.

»Ihr Namenlosen Götter, sagt mir, was ich tun soll!«, rief er in dem Bewusstsein, dass sie ihn weder hörten, noch Interesse an seinem Schicksal hatten. Wie verzweifelt musste er sein, wenn er sich schon dazu hinreißen ließ, diese ätherischen Idole anzurufen, von denen er keinerlei Mitgefühl erwarten durfte? Brass Elimbor, der legendäre Schamane, war ihm in seiner Einsamkeit wiederholt und in unterschiedlichster Form erschienen. Aber auch der ehemalige Obere des Schamanenordens, dessen sterbliche Hülle auf einem Felsplateau in der Nähe von Elbenhaven hockte, durch einen Zauber vor der Verwesung geschützt und den Blick ins Landesinnere gerichtet, meldete sich nicht bei ihm; er schwieg, obwohl er den Elben von allen Jenseitigen gegenwärtig ganz gewiss am nächsten war.

Wundert dich das wirklich?, meldete sich abermals jener spöttische Kommentator aus den Untiefen von Andirs Seele zu Wort. Immer wieder hatte diese Stimme in letzter Zeit Andir darauf hingewiesen, dass es auch in seiner Seele blinde Flecken gab, die er bisher nicht anzusehen gewagt hatte. Angeblich bist du doch hier, weil du auf der Suche nach der reinen Erkenntnis bist – vor allem natürlich der Erkenntnis deiner selbst. Und da erwartest du Hilfe von Brass Elimbor oder den Namenlosen Göttern? Das ist nicht dein Ernst, größter aller Magier!

Es dauerte seine Zeit, bis Andir diesen Gedanken überwunden hatte, dann setzte er seinen Aufstieg fort. Er stakste durch den Schnee und stellte fest, dass ihm die Leichtfüßigkeit fehlte, die für einen Elben eigentlich selbstverständlich war. Statt über die Schneedecke zu wandeln, versank er bisweilen bis zu den Knien darin. Ein unsichtbares Gewicht schien auf ihm zu lasten und ihn niederzudrücken.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und Andir fürchtete sich vor der Nacht, denn dann vermochten selbst seine scharfen Elbenaugen das schattenhafte Etwas, das ihm folgte, nicht schnell genug zu sehen, falls es sich ihm weiter näherte oder ihn sogar angriff. Auf seine magischen Sinne mochte sich Andir lieber nicht verlassen. In letzter Zeit hatte er zu oft feststellen müssen, dass sie ihn täuschten oder nicht richtig funktionierten, was ihn nicht nur erstaunte, sondern auch zutiefst verunsicherte. Seit frühester Jugend hatte er auf seine magischen Sinne bauen können, sie als weitaus präziser empfunden als die gewöhnlichen Sinne wie Sehen oder Hören, über die ja schließlich auch die leicht zu beeinflussenden Tiere verfügten. Andir wusste, wie einfach diese Sinne zu täuschen waren, und hatte daher immer mehr dazu geneigt, die Realität um sich herum mittels der Magie zu erfassen.

Vielleicht ein Fehler!

»Schweig!«, schrie Andir in die Stille der eindrucksvollen Bergwelt hinein. Ein quälender Laut des dunklen Etwas antwortete ihm und verursachte dem Elb beinahe körperliche Schmerzen, sodass er wie unter einem Peitschenhieb zusammenzuckte.

Du kannst deinem eigenen wachen Geist nicht befehlen wie dem einfachen Geist eines Elbenpferds! Dazu müsstest du schon Teile deiner eigenen Seele in tote Parzellen verwandeln. Ich weiß nicht, ob es das ist, was mit deinem Bruder Magolas geschah, aber ich vermute es fast. Wie könnte er sonst zu einem Diener Xarors geworden sein?

Der Hinweis auf seinen Bruder schmerzte Andir so sehr wie jener auf die blinden Flecke seiner eigenen Seele, die er sich anzuschauen bisher geweigert hatte. In letzter Zeit hatte Andir des Öfteren an seinen der Finsternis verfallenen Bruder gedacht, manchmal so intensiv, dass für wenige Augenblicke eine geistige Verbindung zwischen ihnen bestanden hatte. So hatte er seinen Zwillingsbruder geistig in den Tempel der Sechs Türme begleitet und erlebt, wie die aus dem finsteren Schlund geborene Riesenhand nach Magolas’ Kopf gegriffen hatte, um alles aus dessen Seele zu extrahieren, was dem einstigen Herrn des Dunklen Reichs in irgendeiner Form nützlich sein konnte. Alles, was Magolas über seinen Vater Keandir wusste zum Beispiel, über dessen Aufenthaltsort und die Schwächen des Elbenkönigs. Über die geistige Verbindung, die Magolas und Keandir noch immer sporadisch verband, hatte der ehemalige Herrscher des Dunklen Reichs herausfinden können, wo sich der König des Elbenreichs zu welchem Zeitpunkt befand, und er hatte ihn sogar angegriffen. Magolas war sein Kundschafter dabei, ob er nun wollte oder nicht.

In den letzten Nächten hatte Andir auch häufig von seinem Bruder geträumt. Er hatte durch die Augen Magolas' die Zauberstäbe auf dem Altar des Xaror gesehen und in den Träumen den Ritualen beigewohnt, die Magolas an seinen Kindern durchführte, damit auch sie dereinst dem Schattenherrscher folgten. Die Stimme von Brass Elimbor hatte in diesen Träumen regelmäßig zu ihm gesprochen und ihn aufgefordert, seinem Bruder Einhalt zu gebieten. Aber als kundiger Magier war sich Andir sicher, dass es nicht wirklich der Geist Brass Elimbors gewesen war, den er hörte, sondern wohl nur sein eigenes schlechtes Gewissen.

Andirs Gedanken gingen zurück in ihrer beider zehntes Lebensjahr, als er Magolas durch einen Schlag mit dem Paddel daran gehindert hatte, nach Naranduin zu segeln und sich der Faszination der dunklen Magie hinzugeben, die diese Insel auch nach dem Tod des Augenlosen Sehers noch umgab. Einmal habe ich dich vor dem Einfluss der Finsternis bewahren können, mein Bruder. Aber jetzt steht es außerhalb meiner Macht!

Der Kommentator in seinem Kopf gab darauf eine gewohnt spöttische Antwort: Welch eine passende Ausrede, o Weiser aller Weisen!

––––––––

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Einer Nadelspitze gleich stach das Horn von Eldrana in den grau gewordenen Himmel, während die Sonne ihre letzten Strahlen durch das tiefer gelegene Wolkenmeer sandte, in dem sie versank und dabei ihr rötliches Licht einer blutenden Wunde gleich vergoss.

Wie fern wirkten von so weit oben die Probleme der Diesseitigen. Kühl und klar war die Luft, die Andir in seine Lungen sog, auch wenn sie kaum noch Sauerstoff mit sich führte. Er konnte seine Atmung der dünnen Luft anpassen. Eine magische Formel, die er gelegentlich vor sich hinmurmelte, unterstützte ihn dabei. Was hatte er geglaubt, so hoch oben zu finden? Da war nichts; er war allein mit all dem, was seine Seele und seinen Geist ausmachte. Allein mit seinen Erinnerungen und Gedanken, auf dass er das Chaos seiner Seele neu zu ordnen vermochte.

Die eigentliche Gipfelregion des Horns von Eldrana bestand aus einer spitz zulaufenden, einem Dorn ähnlichen Felsnadel, die an ihrem Sockel gerade so dick war, dass zehn erwachsene Elbenmänner sie umfassen konnten, während ihre Spitze einem scharfen Splitter glich. Diese Felsennadel war von einem schmalen Plateau umgeben, kaum zwanzig Schritt breit, dessen Ebene deutlich geneigt war. Fast hätte man glauben können, dass dieser Ort gar nicht natürlichen Ursprungs, sondern eine uralte in den Fels geschlagene Kultstätte wäre.

Andir, der auf dem Plateau stand und den Blick hatte schweifen lassen, drehte sich wieder zu der Felsnadel um, schaute nach oben - und erschauderte. Ein Fleck aus undurchdringlicher Finsternis hatte sich im mittleren Bereich der Felsnadel gebildet. Im ersten Moment waren seine Konturen unklar, doch dann veränderten sie sich und glichen den Umrissen eines kahlköpfigen Elbenschädels. Die spitzen Ohren waren deutlich zu erkennen, und als sich Andir zur Seite wandte, auch die Konturen eines feingeschnittenen Elbengesichts.

Überrascht?

Ein Gefühl der Bedrohung lähmte Andir. Dieses dunkle Etwas war es also, das ihn schon eine ganze Weile verfolgte – zuerst nur in seinen Gedanken und schließlich auch völlig real.

»Weiche von mir, Finsternis!«, rief Andir aus.

Der Magier hatte keine Waffe bei sich – aber es war ohnehin unvorstellbar lange her, dass er sich eines so primitiven Tötungswerkzeugs wie eines Schwerts bedient hatte. Solche Dinge brauchte er nicht. Seine Waffe war die Macht des klaren Geistes. Die stärkste Kraft, die einem elbischen Magier überhaupt zur Verfügung stehen konnte.

Der dunkle Fleck aus purer Finsternis breitete sich aus. Die Schwärze floss wie ein zähflüssiger Sirup die unebene Oberfläche der Felsnadel entlang. Einzelne kleine Flüsse teilten sich, mäanderten in mehreren Windungen dahin und vereinigten sich wieder. Ein Teil dieser Flüsse, die wie mit schwarzem Blut gefüllte Adern wirkten, flossen entgegen den Naturgesetzen nach oben in Richtung der Spitze der Felsennadel. Der Fleck dehnte sich auf diese Weise weiter aus und formte schließlich neue Umrisse: Der riesige Schatten eines Elben in einem langen kuttenartigen Gewand!

Andir schluckte. Wie der überdimensionierte Schattenriss seiner selbst wirkte diese dunkle Gestalt.

Du kannst mir nicht entfliehen. Deine Flucht ist zu Ende. Hier und jetzt fällt die Entscheidung ...

Andir war unfähig, auch nur einen einzigen Ton hervorzubringen. Die Gestalt streckte eine Hand aus, blitzschnell. Der Arm und die Hand wuchsen und umfassten Andirs Kopf, so wie es Magolas im Tempel der Sechs Türme widerfahren war.

Der Magier versuchte, alle Kräfte zu mobilisieren, die in ihm waren. Aber er wurde plötzlich von einer erschreckenden Schwäche befallen. Wie gelähmt war er, sowohl geistig als auch körperlich. Er war zu keiner Bewegung, nicht einmal zu einem klaren Gedankenbefehl und einem herkömmlichen Abwehrzauber fähig. Die Finsternis der dunklen Hand umschloss ihn, und von einem Augenblick zum anderen konnte Andir nichts mehr sehen oder hören. Er fühlte nur eine Form von Kälte, die nichts zu tun hatte mit der auf dem Gipfel des Horns von Eldrana herrschenden Temperatur; diese Kälte drang bis in das tiefste Innere seiner Seele.

In den Schriften der Überlieferung aus der Alten Zeit in Athranor berichteten vornehmlich schamanische Chronisten davon, dass die Maladran einem ähnlichen Kältegefühl ausgesetzt waren, wenn sie ins jenseitige Reich der Verblassenden Schatten eingingen. Sollte das sein Schicksal sein? Sollte aus dem größten Magier, den die Elbenheit seit einem Äon hatte, ein verblassender Schatten in Maldrana werden? Ein Nichts, dessen Namen man vergessen würde?

Er fühlte, wie er von grob zufassenden Händen niedergerissen wurde. Eigentlich hatte er erwartet, im nächsten Moment den harten, rutschigen Felsboden zu spüren, aus dem das Gipfelplateau rund um die Felsennadel bestand. Aber da war nichts; Andir hatte das Gefühl, in purer Finsternis zu schweben. Das dunkle Etwas, das ihn angegriffen hatte, machte sich derweil daran, ihn vollkommen zu durchdringen und jeden Winkel seiner Seele auszufüllen.

So hatte er sich sein Ende nicht vorgestellt ...

Erneut versuchte er sich mit seinen weißmagischen Kräften gegen das zu wehren, was ihm angetan wurde. Aber zum ersten Mal in seinem Leben verweigerten ihm diese Kräfte den Gehorsam; er hatte keine Gewalt mehr über sie. Die Kälte ließ ihn innerlich erstarren und lähmte jeden Gedanken, bis Gleichgültigkeit von ihm Besitz ergriff. Sein Widerstandswillen verflüchtigte sich. Die Agonie des Todes wurde zum beherrschenden Element.

Ergib dich deinem Schatten und lass es zu, dass die Finsternis in deine Seele zurückehrt. Sie war immer dort, von Anfang an ...

Eine traumartige Szene erschien vor Andirs innerem Auge: König Keandir kehrte von Naranduin zurück. Er legte die Hand auf Ruwens Bauch, und die Finsternis fuhr als ein rauchartiger Schwarm kleinster, wie Insekten durcheinander schwirrender Teilchen von der Hand des Elbenkönigs in Ruwens Leib.

Es ist kein Traum.

Es ist eine Erinnerung an Dinge, an die sich normalerweise niemand zu erinnern vermag.

Sei also nicht überrascht.

Alles, was geschieht, hast du bereits einmal durchgemacht, auch wenn es geschah, noch bevor sich deine Seele zur Gänze gebildet hatte.

Da waren nur Dunkelheit und der Schlag eines großen Herzens; in seinen übermächtigen Rhythmus ordneten sich die beiden schwachen, nur für die geübten Ohren der Heilerin Nathranwen überhaupt wahrnehmbaren Pulsschläge der Zwillinge ein.

Andir.

Magolas.

Ihre Namen standen bereits fest. Ihr Schicksal vielleicht auch.

Der Schwarm der Finsternis berührte sie beide und erfüllte ihre Seelen. Die Gedankenschreie der Ungeborenen blieben ungehört.

Die Finsternis war immer in dir, auch wenn du versucht hast, sie einzuschließen und dann ganz aus deiner Seele zu verbannen. Aber je mehr du vor ihr zu fliehen versuchst, desto hartnäckiger wird sie dich verfolgen.

»Nein!«

Andir begriff im ersten Moment nicht, dass er selbst es war, der diesen Schrei voller Qual und Schmerz ausstieß. Er sah die zwei Kinder innerhalb von Augenblicken heranwachsen. Er erlebte mit, wie sie ihre eigene Sprache entwickelten, die nur von ihnen beiden verstanden wurde, wie sie einander im Wachstum und in der Entwicklung nacheiferten, was dazu führte, dass sie sich viel schneller entwickelten, als dies bei Elbenkindern für gewöhnlich der Fall war. Schlaglichtartig sah er den Kampf, den sie sich im Alter von acht Jahren mit den Zauberstäben des Augenlosen Sehers geliefert hatten, woraufhin ihr Vater die Artefakte in einem Verlies unterhalb der Burg von Elbenhaven eingeschlossen hatte. Er sah, wie er mit Magolas in einer Barkasse vor die Küste Naranduins gesegelt war und seinen Bruder niederschlug, um zu verhindern, dass dieser der düsteren Magie der Insel erlag, woraufhin sie für viele Jahre kein Wort mehr miteinander sprachen.

»Kinder der Finsternis sind wir jetzt beide!«, hörte Andir dann eine Stimme sagen, von der er nicht wusste, ob es die seines Bruders oder die seines Vaters war.

Ein weiteres Mal schrie Andir auf.

»Nein!«

Ein verlorener, einsamer Laut in einem Meer aus Finsternis und Kälte – und der letzte Gedanke, zu dem Andir fähig war.

Dann war nur noch das Nichts. Pure Dunkelheit, die ihn wie ein kaltes Leichentuch einzuhüllen schien.

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Die normalerweise elfenbeinfarbene, langfingrige Elbenhand war blau gefroren. Eine Totenhand, von Raureif überzogen, die zunächst leicht zuckte und sich dann zur Faust schloss.

»Steh auf, größter Magier der Elben!«, sagte eine befehlsgewohnte Stimme.

Andir hob den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wie lange er auf dem kalten Felsgrund des Gipfelplateaus gelegen hatte.

»Deine Augen sind schwarz wie die deines Bruders und deines Vaters«, stellte die Stimme fest. »Aber keine Angst, im Gegensatz zu deinem Bruder beherrscht dich die Finsternis nicht ...«

Andir erhob sich, und die vollkommene Dunkelheit, die seine Augen bis dahin erfüllt hatte, verschwand; er konnte es nicht sehen, spürte es aber. Allmählich kehrten auch seine Lebensgeister zurück, und die Kälte wich.

Andir schützte die Augen mit der Hand vor dem grellen Leuchten in seiner unmittelbaren Nähe, in dem der Ursprung der Stimme zu liegen schien. Eine Gestalt aus Licht stand am Rand des Plateaus. Sie leuchtete so stark, dass es Andir zunächst unmöglich war, Einzelheiten zu erkennen. Aber er spürte die Aura, die von dieser Gestalt ausging, und so wusste er, noch bevor sich seine Elbenaugen an das grelle Licht gewöhnt hatten, um wen es sich handelte.

»Brass Elimbor!«, stieß er hervor. »Ich hätte Eure Hilfe früher gebraucht. Die Finsternis erfüllt mich jetzt.«

»Es ist so, wie es zu Anfang war.«

»Mag sein, aber ich kann nicht sagen, dass ich diesen Zustand gutheiße. Ich habe stets darum gerungen, nicht von der Finsternis beeinflusst zu werden und ...«

»Sie war von Anfang an ein Teil deiner selbst, und es hat keinen Sinn, dies länger zu leugnen.«

»Dann war ich von meiner Geburt an ein Diener des Bösen«, sagte der Elbenprinz heftig, »und es wäre besser, ich wäre vom Lebensüberdruss befallen worden und hätte mich von der Kaimauer in Elbenhaven gestürzt!«

»Das ist Unsinn, Andir!«

»So?«, fragte Andir herausfordernd.

»Elbiana braucht die Hilfe seines größten Magiers. Eine furchtbare Gefahr droht der Elbenheit und allen anderen Völkern des Zwischenlandes. Xaror versucht sein Dunkles Reich erneut zu errichten. Die Geschöpfe des Limbus sind ihm untertan und werden alles tun, was er verlangt. Selbst diejenigen, die ihm heute noch dienen, sind nicht mehr sicher.«

»Dunkelheit kämpft gegen Dunkelheit«, murmelte Andir.

»Ist das wirklich alles, was es dazu zu sagen gibt, Andir? Wenn es so ist, dann wird deine Seele wahrhaftig von der Finsternis beherrscht. Aber hast du je darüber nachgedacht, dass etwas Finsternis in jedem sein muss, auch in demjenigen, der die Finsternis bekämpft? Wie könnte er sie sonst verstehen?«

Andir war verwirrt. »Was ... was soll ich tun?«

»Es darf nicht gewartet werden, bis die Kinder des Lichts zu Kindern der Finsternis werden!«

Es war Andir sofort klar, dass Brass Elimbor damit seinen Neffen Daron und seine Nichte Sarwen meinte. Er schloss die Augen, um sich für einen Moment auf die sich anbahnenden Wege des Schicksals zu konzentrieren. Daron und Sarwen ... Sie waren der Schlüssel. Sie waren die zwei, die das Schicksal der Elbenheit bestimmen würden. Sie erfüllten damit, was Andir und Magolas hätten erfüllen sollen ...

Als Andir die Augen wieder öffnete, war die von gleißendem Licht umflorte Gestalt verschwunden, und er war wieder allein auf dem Gipfel des Horns von Eldrana.

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4. Kapitel: Geschöpfe der Nacht

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»Seid still, Männer!«, rief Pantall, der Hauptmann der Norischen Garde, der die Wächter am Tempel der Sechs Türme befehligte.

Es dämmerte, und die Männer hatten ausgelassen schwatzend an ihren Feuern gesessen, doch sogleich verstummten sie – nicht nur, weil der Hauptmann es ihnen befohlen hatte, sondern weil sie merkten, dass im Inneren des Tempels etwas vor sich ging. Dumpfe, summende Geräusche kamen von dort. Laute, die an wütende Insektenschwärme, manchmal auch an einen Chor von Stimmen erinnerten und die bedrohlich anschwollen.

Niemand sprach mehr ein Wort. Die Männer starrten auf die Tore von Xarors Tempel, so als erwarteten sie, dass in Kürze etwas daraus hervorkäme. Etwas, von dem sich keiner der Anwesenden auch nur eine Vorstellung zu machen vermochte.

Pantall spürte, dass seine Soldaten von Angst ergriffen wurden. So manch einer der Elitekrieger der Norischen Garde legte die Hand an den Griff seines Schwertes.

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Im Inneren der Tempelmauern – unsichtbar für Hauptmann Pantall und seine Männer – hatte der schwarze Fleck auf dem Boden der Haupthalle seine Ausdehnung verdreifacht. Die schwarze Pfütze aus einer zähflüssigen, jedes Licht verschlingenden Substanz war zu einem kleinen See geworden, der sich entgegen aller sowohl Rhagar als auch Elben bekannten Naturgesetze die Treppenstufe vor dem Altar emporgedrückt hatte und nun bis auf Schrittlänge an dessen Sockel heranreichte.

Das Knochenmobile begann zu tanzen. Ein eisiger Hauch drang aus der unergründlichen Schwärze hervor, und die magischen Artefakte, die sowohl auf dem Altar lagen, als auch an den Wänden hingen, begannen zu zittern und zu klappern.

Gleichzeitig schwollen die Summgeräusche, die auf irgendeine geheimnisvolle Weise dem dunklen Fleck entstiegen, zu einer Intensität an, die es kaum einem Diesseitigen möglich gemacht hätte, sich in diesem Moment im Inneren des Tempels aufzuhalten.

Die Artefakte auf dem Altar begannen sich zu bewegen, darunter auch die beiden Zauberstäbe des Augenlosen Sehers – Xarors Bruder –, die der Axtkrieger und seine Truppe von sechsfingrigen Kampfgnomen aus König Keandirs Verlies in Elbenhaven gestohlen hatten. Das durch die hohen Fenster einfallende Licht ließ den geflügelten Affen aus Gold an der Spitze des hellen Stabes aufleuchten, sodass der geschrumpfte Totenschädel an der Spitze des dunklen Stabs angestrahlt wurde.

Ein seltsam geformtes Zepter fiel vom Altar zu Boden. Es war aus purem Gold, hatte die Form eines Baums und gehörte zu den zahlreichen Kultgegenständen, die Magolas und sein Heer aus den Sonnentempeln von Karanor geraubt hatten.

Das Zepter blieb nur für einen Moment auf dem Boden liegen, dann rollte es auf die Finsternis zu und verschwand darin. Andere Kultgegenstände purzelten ebenfalls vom Altar und wurden von der Finsternis verschlungen, die sich daraufhin weiter ausdehnte. Blitze zuckten über die Oberfläche des schwarzen Flecks.

Kraft ... So viel Kraft ...

Seit Äonen hatte sich Xaror nicht mehr so mächtig gefühlt. Der Augenblick, da es ihm endlich möglich sein würde, sein unfreiwilliges Exil im Limbus zwischen den Welten zu verlassen, war nahe. Aber ihm war bewusst, dass er vorsichtig zu Werke gehen musste, wenn er den Erfolg nicht gefährden wollte. Es kam auf den richtigen Zeitpunkt an. Einen Zeitpunkt, an dem sich die Zeitlinien kreuzten und verzweigten und ein neues Schicksal in die Wege geleitet werden konnte, das jenes ablöste, welches König Keandir geschaffen hatte.

Es drängte ihn, in die Welt der Diesseitigen zurückzukehren. Die Menge an magischen Artefakten, die seine Sklaven gesammelt hatten – zuletzt der Axtherrscher der Trorks und Magolas -, reichte dazu längst aus. Und doch musste er noch warten, bis der richtige Augenblick gekommen war.

Eine andere Sache aber duldete keinerlei Aufschub mehr. Der Angriff auf den König der Elben und dessen Ausgang hatte ihm dies klargemacht. Die magische Kraft Keandirs wuchs, er wusste die Finsternis seiner Seele inzwischen besser zu nutzen, und was Xaror dabei am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass er selbst ihn durch seinen Angriff erst dazu animiert hatte. Aber entsprach das nicht einem Naturgesetz? Viel Gift tötet. Ein bisschen Gift weckt die Widerstandskraft. Er hatte den Fehler begangen, seinen Gegner zu unterschätzen, und war deshalb mit einer zu geringen Streitmacht gegen ihn vorgegangen. Doch dies ließ sich korrigieren.

Ein halb kichernder, halb glucksender Laut erfüllte die große Haupthalle des Tempels, und einer der Schädel, die an den Fäden von der Decke hingen, zersprang, und Knochensplitter fielen in den dunklen Fleck; Blitze zuckten dort, wo sie in der Finsternis verschwanden.

Xaror würde Keandir bekämpfen müssen. Je länger er wartete, desto größer wurde des Königs Macht. Also würde er Keandir und der Welt eine Vorhut schicken, die von seinem baldigen Kommen künden und seinen Widersacher vernichten würde.

In dem dunklen Schund begann es zu brodeln. Die Oberfläche aus purer Finsternis nahm immer mehr Eigenschaften einer Flüssigkeit an. Blasen bildeten sich und zerplatzten. Aber manche stiegen auch auf, schwebten wie Kugeln aus reiner Dunkelheit empor. Faustgroß waren sie zumeist, und noch während sie kaum die Schulterhöhe eines gewöhnlichen Rhagar-Mannes erreicht hatten, waren sie zur durchschnittlichen Größe eines Schädels gewachsen. Dabei verformten sie sich, fledermausartige Geschöpfe entstanden, die durch die Luft schwirrten und deren schrille Schreie im Tempel widerhallten. Jedes dieser schädelgroßen Flederwesen hatte einen Korb auf dem Rücken, in dem jeweils ein Dutzend winziger Gestalten hockten: Schattenkrieger mit katzenhaften Gesichtern, keiner größer als ein menschlicher Zeigefinger.

Der Schwarm dieser Kampffledertiere wuchs an. Sie flatterten zwischen den von der Decke hängenden Schädeln umher und wirkten sehr unruhig.

»Oh, ich kann eure Sehnsucht verstehen!«, sagte die Gedankenstimme Xarors. »Aber ihr müsst Geduld haben. Und vor allem müsst ihr jetzt einen entscheidenden Schritt tun, um euch diese Welt zu verdienen.«

Die Fledertiere antworteten darauf mit einem Chor noch schrilleren Geschreis.

»Vernichtet den König der Elben. Bringt, wenn möglich, die Elbensteine in euren Besitz, und tötet so viele Elben wie möglich – denn ihr Reich blockiert meine Schicksalslinie!«

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Hauptmann Pantall und seine Männer starrten auf das Tempeltor, sahen, wie die beiden gewaltigen Flügel nach außen gestoßen wurden.

Der Schwarm von Fledertieren drängte heraus. Im ersten Moment waren die Reiter in ihren Körben kaum zu sehen. Aber die Flederwesen und die katzengesichtigen Krieger in den Körben auf den Rücken der Flugtiere gewannen an Größe, wuchsen rasend schnell, sobald sie die Tore des Tempels passiert hatten, bis die Fledertiere die Ausmaße der Riesenmammuts aus Wilderland oder der legendären Großechsen angenommen hatten, die in den karanorischen Wäldern hausten und von den Rhagar zum Transport ihrer Kampfmaschinen benutzt wurden; die katzenartigen Krieger hingegen hatten die Größe hoch gewachsener Elben oder Rhagar angenommen. Ihre fauchenden Kampfschreie ließen selbst den hart gesottenen Männern der Norischen Garde das Blut in den Adern gefrieren.

Die Riesenfledertiere hoben sich in den Abendhimmel. Sie beschleunigten ihren Flug auf magische Weise, sodass von ihnen innerhalb von Augenblicken nur noch dunkle Punkte in der Dämmerung zu sehen waren.

»Nur gut, dass nicht wir ihre Gegner sind«, bekannte Hauptmann Pantall schaudernd, während der Strom der Fledertiere, die noch immer aus dem Tempel drangen, schließlich abbrach. Die Tore schlossen sich wie von selbst, und aus dem Inneren des Gemäuers drang ein Laut, den man sowohl als triumphales Gelächter als auch als das drohende Knurren eines Monstrums interpretieren konnte.

––––––––

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Großkönig Magolas befand sich mit seinem Gefolge der Norischen Garde auf dem Weg nach Aratania. Auf einmal gab er seinem Elbenpferd den Befehl zu stoppen. Der ganze Zug von etwa zwei Dutzend Reitern kam zum Stehen. Vor ein paar Stunden hatten sie mit einer Fähre den Fluss Kar überquert, der im Norden im See der Finsternis entsprang und sich durch die Wälder des Landes Karanor zog. Magolas hatte die Fährverbindung am Oberlauf des Kar einrichten lassen, um jederzeit – auch bei Hochwasser – den Fluss überqueren und zum Tempel des Xaror gelangen zu können. Dass die Fährstationen auf beiden Seiten des Kar zu den am besten bewachten Orten des Magolasischen Reiches gehörten, verstand sich von selbst. Schließlich musste der Großkönig den Tempel schnell und unproblematisch erreichen können, um die Essenz des Leben stets rechtzeitig in Empfang nehmen zu können. Davon abgesehen rief Xaror ihn auch manchmal, damit der Großkönig Befehle für ihn ausführte. Zumeist ging es dabei darum, magische Artefakte aus irgendwelchen Rhagar-Tempeln zu besorgen, die der einstige Herrscher des Dunklen Reichs seiner immensen Sammlung hinzufügen konnte.

Andererseits aber bewachte Magolas den Zugang zum Tempel auch, damit es ihm nicht eines Tages so erging wie dem Axtherrscher der Trorks und er seine Stellung als bevorzugter Diener und Statthalter des Schattenherrschers verlor. Denn das hätte unweigerlich das Ende Laranas bedeutet, denn Magolas konnte sich nicht vorstellen, dass Xaror sie nur aus reinem Mitgefühl noch mit der Essenz des Lebens versorgen würde, sobald er den Großkönig der Rhagar nicht mehr brauchte.

Aber auch dieser Tag würde kommen. Magolas sah ihn bereits heraufdämmern. Xarors Kräfte wurden immer stärker, und es war fraglich, wie lange er noch auf einen Stellvertreter angewiesen war. Einen Platz an seiner Seite hatte er Magolas versprochen, als Vasall und Gefolgsmann.

Doch es würde Xarors Reich sein, was entstehen würde, nicht mehr das Magolas'. Der Großkönig sah seine Situation realistisch. Und doch blieb ihm keine andere Wahl: Er war ein Verdammter, gefangen in einem Netz schicksalhafter Verstrickungen, das andere gesponnen hatten und aus dem er sich nicht mehr befreien konnte.

Der Großkönig wandte zuerst den Kopf und lenkte dann sein Pferd mit einem Gedankenbefehl herum, sodass er in jene Richtung schauen konnte, aus der er und sein Gefolge gekommen waren. Sie befanden sich auf einer grasbewachsenen Ebene an der Grenze zwischen Karanor und Norien. Die Wälder Karanors bedeckten einem grünen Band gleich den Horizont im Osten.

»Was ist los, Herr?«, fragte der Offizier, der den Trupp norischer Söldner anführte. Er hieß Orantos und war von Magolas in den Rang eines Oberst befördert worden, nachdem der vorhergehende Kommandant seiner Leibwache offenbar Verbindungen zu einer Widerstandsgruppe aufgenommen hatte, die vornehmlich aus verbannten Mitgliedern der aybanitischen Sonnenpriesterschaft bestand. Magolas hatte sie aus den heiligen Orten Om-Dagar und Yras vertrieben, und sie hatten zunächst nach Pondia ins Exil gehen müssen, der Hauptstadt des Reichs der Halblinge von Osterde. Dann, nachdem Osterde dem Großkönig tributpflichtig geworden war und die angrenzenden Rhagar-Staaten Marana und Haldonia Bündnisverträge mit dem Magolasischen Reich schlossen, hatte die Bruderschaft der aybanitischen Sonnenpriester Asyl im Reich der Blaulinge gefunden. Aber dort waren sie so weit entfernt, dass Magolas keinen Schaden mehr von ihnen erwartete. Hin und wieder schickte er ihnen ein paar gedungene Assassinen, die er vorzugsweise aus den Reihen der Aybaniter rekrutierte. Aber inzwischen waren die Exil-Priester sehr misstrauisch geworden gegenüber den eigenen Landsleuten, vor allem dann, wenn diese angeblich zu ihnen über die maduanitische Grenze flohen.

Orantos’ Amtsvorgänger war in Aratania öffentlich geköpft worden. Orantos konnte sicher sein, dass es ihm genauso ergehen würde, käme auch nur der kleinste Zweifel an seiner Loyalität auf.

»Spürt Ihr eine Gefahr, Herr?«, fragte Obert Orantos, nachdem ihm Magolas noch immer nicht geantwortet hatte. Natürlich wusste Orantos, dass die Sinne des Großkönigs denen eines Rhagar weit überlegen waren und er darüber hinaus Dinge und Ereignisse auch durch seine magische Befähigung wahrnehmen konnte. Aber Orantos übte sein Amt noch nicht lange aus und hatte zuvor Dienst getan in einer Abteilung der norischen Garde, die mit der Bewachung von Palastgebäuden in Aratania betraut war. So hatte er kaum direkten Kontakt zum Herrscher oder seinen Angehörigen gehabt und war mit den Eigenheiten seines Königs kaum vertraut.

»Schweig!«, zischte dieser zornig, und seine Hand legte sich um den Griff des Schwerts an seiner Seite. Er richtete sich im Sattel gerade auf, und seine Augen wurden sehr schmal, während er zum Waldrand schaute. Dunkle Punkte rasten über den Himmel, so schnell, dass ein menschliches Auge unmöglich Einzelheiten erkennen konnte. Flüchtige Schatten, die einem Schwarm aufgescheuchter Abendsegler ähnelten.

Aber Magolas’ Elbenaugen konnten trotz der großen Geschwindigkeit und der enormen Höhe dieser Schatten erkennen, um was es sich wirklich handelte. Er sah die Schar der Fledertiere und die Körbe auf ihren Rücken, in denen sich die katzenartigen Kreaturen befanden. Dass sie so winzig wirkten und von den Menschen kaum bemerkt wurden, lag an der großen Entfernung. Magolas' Elbenaugen aber konnten die Größenverhältnisse auch bei dieser hohen Distanz richtig abschätzen, und so erkannte er, dass dort ein Heer von fliegenden Ungeheuern durch den grau gewordenen Himmel flog.

Eine Armada der Lüfte, geschaffen um zu töten und zu vernichten! Geschöpfe des Limbus. Kreaturen, die Xaror in diese Welt geholt und denen er einen Auftrag gegeben hatte. Schauder erfassten Magolas. Er hatte die dunkle Aura dieser Geschöpfe schon erspürt, noch eher eines von ihnen am Horizont aufgetaucht war.

»Sieht aus wie Vögel!«, meinte Oberst Orantos, der sie nun ebenfalls sah. »Wenn so viele davon sich sammeln und in dieselbe Richtung fliegen, dann droht meist ein Unwetter.«

Du Narr!, dachte Magolas. Du einfältiger, nahezu blinder Narr! Er sah dem Schwarm der Fledertiere nach, bis sie am nordwestlichen Horizont verschwunden waren, und konnte sich denken, was das Ziel dieser Luftarmada war. Xaror hatte seinen Vater angegriffen und gespürt, dass dieser Gegner nicht so einfach zu vernichten war, wie er es sich vielleicht gedacht hatte. Er würde es noch einmal versuchen, und diesmal mit größerer Schlagkraft. Dass der einstige Herr des Dunklen Reichs bereits eine derartige Masse Geschöpfe aus dem Limbus in die diesseitige Welt befohlen hatte, überraschte Magolas. Es sprach aber dafür, wie sehr der Ausgang der letzten Auseinandersetzung Xaror verunsichert hatte.

»Ich hatte gedacht, dass mir noch Zeit bliebe«, murmelte der Großkönig.

»Herr?«, fragte Oberst Orantos.

»Es ist nichts«, brummte Magolas. »Nichts, was Euch in irgendeiner Hinsicht interessieren sollte, Oberst!«

»Wie Ihr meint, Herr.«

Magolas hob die Hand. »Lasst uns den Weg nach Aratania fortsetzen!«

Larana wartete dort sehnsüchtig auf ihn. Auf ihn – und auf die Essenz des Lebens, die sie zumindest auf Zeit den kalten Klauen des Todes entriss.

Du könntest deinen Vater warnen!

Plötzlich war dieser Gedanke in seinem Kopf, und es kam ihm vor, als wäre es die Stimme Brass Elimbors, die zu ihm sprach.

Es wäre so leicht. Die geistige Verbindung zwischen euch ist nie wirklich abgebrochen. Diese Bestien wurden ausgesandt, um Keandir von Elbiana zu töten. Willst du dies wirklich geschehen lassen?

»Ich kann nicht anders«, murmelte Magolas und trieb sein Elbenpferd an, sodass er Obert Orantos und seine norischen Söldner ein ganzes Stück hinter sich ließ. »Ich habe keine Wahl!«

Denn in einem war sich Magolas vollkommen sicher: Xaror würde davon erfahren, wenn er versuchte, seinen Vater zu warnen.

Aber wenn er stirbt, wirst du auch das spüren!, wusste er.

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Am Abend kehrten die elbischen Wachmänner, die die Feuerbestattungen der königlichen Eskorte vorgenommen hatten, auf den Elbenturm zurück. Die Stimmung unter den Kriegern war gedrückt, was man keinem von ihnen nach Erfüllung ihrer traurigen Pflicht verübeln konnte, und auch König Keandir wurde bei dem Gedanken an die Geschehnisse, die gerade hinter ihm lagen, von einer ungewohnt heftigen Schwermut heimgesucht.

Aber diese Empfindung mischte sich mit noch etwas anderem: Einer Ahnung kommenden Unheils.

Das Unheil kam in Form des Schwarms von Fledertieren, die in rasendem Tempo über das Zwischenländische Meer dahinrasten. Von den Zinnen der Festung Albarée an der Küste Elbaras hätte ein elbisches Auge sie vielleicht sehen können, doch dort hielten inzwischen mehrheitlich Elbareaner Wache, wie man die unter den Elben lebenden Rhagar von Elbara nannte. Die Elben des Landes – Elbaran genannt – vertrauten ihnen nahezu vollkommen, und Herzog Branagorn förderte noch immer ihre Integration in das Heer Elbaras.

Auf einem elbianitischen Handelsschiff, das auf dem Rückweg von dem nuranischen Hafen Hadlanor zu den Inseln West-Elbianas war, wunderten sich einige Besatzungsmitglieder über eine seltsame Himmelserscheinung. Der Kapitän sah die gewaltigen Fledertiere, als sie am Horizont auftauchten. Sie flogen mit unglaublicher Geschwindigkeit, sodass man sie für unnatürlich schnell dahinziehende dunkle Wolken halten konnte. Wo sie auftauchten, verloschen kurz die Sterne.

»Wir sollten eine Brieftaube nach Hochgond oder Elbenhaven schicken, damit man dort gewarnt ist«, schlug der Steuermann des Handelsschiffs vor, denn keinem an Bord war die schwarzmagische Aura entgangen, die von diesen Wesen ausging.

Der Kapitän nickte. »Ein guter Vorschlag.«

Im nächsten Moment steuerte eines der Fledertiere das Schiff an, und dann waren auch die barbarischen, fauchenden Kampfschreie der Katzenkrieger zu hören. Es war kaum vorstellbar, dass diese tierhaften Laute einer Sprache entstammten.

»Sie haben uns bemerkt!«, stellte der Steuermann fest und erbleichte. Sein feingeschnittenes elbisches Gesicht wurde zu einer Maske des Schreckens. »Ihr Namenlosen Götter, steht uns bei!«

Das monströse Reittier flog tief über das Schiff hinweg. Es war nun deutlich auszumachen, denn die katzenhaften Kreaturen in seinem Korb hatten Fackeln entzündet, und während das Fledertier über dem Schiff seine Kreise zog, warf einer der Katzenkrieger seine Fackel auf das Schiff. Sie blieb auf dem Achterdeck liegen.

Der Kapitän murmelte einen Löschzauber, der ein Ausbreiten der Flammen verhindern sollte. Um der Brandgefahr zu begegnen, wurden die Planken von Elbenschiffen schon vor der Verarbeitung entsprechend magisch behandelt, sodass Elbenschiffe nur sehr schwer in Brand gerieten, zumeist dann, wenn man beim Bau des Schiffes nicht sorgfältig genug vorgegangen waren.

Aber bei der Fackel handelte es sich nicht um gewöhnliches Feuer. Die Flammen lösten sich von der Fackel, wurden zu einer mannshohen Feuersäule, und diese wiederum bildete Arme und Beine und tanzte über die Planken des Elbenschiffs.

Das erste Opfer des magischen Flammenwesens wurde der Kapitän. Aus einem der Arme formte sich eine Feuerklinge, wirbelte durch die Luft und trennte den Kopf des Elben vom Rumpf. Er rollte über die Planken, und dort, wo der Hals durchtrennt worden war, tanzten Blitze über die verkohlten Wundränder.

Der Elbenkapitän stand einen Augenblick schwankend da, die Hand am Schwertgriff. Ein weiterer Hieb zerteilte den Rumpf, bevor er zu Boden fiel.

Der Steuermann stieß einen Schrei aus und griff zum Schwert, obwohl er ahnte, dass die Klinge gegen das Flammenwesen nichts ausrichten konnte. Es schnellte auf ihn zu, und er parierte den ersten Streich der Feuerklinge. Ein metallisches Geräusch erklang, als ob Stahl auf Stahl schlug. Glühende Schmelze lief am Schwert des Steuermanns ein Stück die Blutrinne entlang und tropfte dann zu Boden.

Der Steuermann wich zurück. Das Feuerwesen setzte nach. Hieb auf Hieb folgten mit der Flammenklinge.

Als der Steuermann mit seinem Schwert zustieß und der Stahl in den flackernden Körper des Wesens eindrang, glühte die Elbenwaffe rot auf. Aufschreiend ließ der Steuermann sie los.

Aber es gab noch einen weiteren Grund, aus dem er schrie. Die Flammenklinge hatte seinen Leib durchstoßen und trat im Rücken wieder hervor. Das Flammenwesen riss sie empor, wobei sie den Körper des Steuermanns bis zur Schulter durchtrennte.

Die Feuerkreatur wirbelte herum und stürzte sich auf die elbischen Seeleute. Einen nach dem anderen metzelte es nieder. Fast eine Stunde lang gellten schrille Schmerzens- und Todesschreie über das Meer. Niemand überlebte.

Als nur noch ein herrenloses Geisterschiff durch die Fluten des Zwischenländischen Meeres trieb, erlahmte die Kraft des Feuerwesens. Es zerfloss zischend auf den Planken und erlosch. Nur ein schwarzer Rußfleck blieb zurück. Und Tage später wurde ein Totenschiff an die Küste einer der Inseln von West-Elbiana angespült.

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König Keandir und seine Begleiter nächtigten in den Gästegemächern der Manufaktur. Der König aber fand in dieser Nacht kaum Schlaf. Wirre Träume ließen ihn immer wieder erwachen. Vielleicht war ja die Verzweiflung des erblindeten Hauptmanns Rhiagon so groß, dass sie sich auch in die Gedanken der anderen gegenwärtig auf dem Elbenturm weilenden Elben übertrug. Jedenfalls dachte Keandir sehr häufig an das, was dem treuen Rhiagon widerfahren war und sah vor sich immer wieder dessen leere blutige Augenhöhlen vor sich.

Siranodir mit den zwei Schwertern hatte sich zwar des Erblindeten angenommen, doch dieser war schlichtweg untröstlich und äußerte immer wieder, man möge ihn an die Außenmauer der Manufaktur führen, damit er sich vom Elbenturm stürzen könne, um nach Eldrana einzugehen.

Keandir nächtigte allein in einem dem König vorbehaltenen Raum, und als er nun zum vierten Mal in dieser Nacht erwachte, spürte er einen deutlichen Unterschied. Aus irgendeinem Grund dachte er an seinen Sohn Magolas, sah dessen Gesicht mit den vollkommen schwarzen Augen vor sich und spürte gleichzeitig ein Unbehagen, das so übermächtig war, dass Keandir es nicht verleugnen konnte. Die Lippen Magolas' bildeten einen geraden Strich, so als würde Keandirs Sohn sie fest zusammenpressen, um zu verhindern, dass ihm ein unbedachtes Wort entfleuchte.

Das Bild verblasste, aber das Unbehagen blieb. Ein Gefühl drohender Gefahr hatte vom König der Elben Besitz ergriffen. Er trat zum Fenster und öffnete es. Es war nach Süden ausgerichtet. Der Mond schien ungewöhnlich hell, und sein Licht ließ die schneebedeckten Gipfel Hoch-Elbianas leuchten.

Etwas würde geschehen. Etwas war auf den Weg ins Reich der Elben. Etwas Dunkles, Grausames. Etwas, dem die Macht der Finsternis innewohnte so wie Keandir ...

Wenig später gab ein Hornbläser Alarm.

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Vollständig angekleidet und bewaffnet verließ König Keandir das Haupthaus der Manufaktur. Überall entfaltete sich hektische Aktivität unter den Angehörigen der Wachmannschaft.

Siranodir mit den zwei Schwertern und der einäugige Prinz Sandrilas befanden sich bereits im inneren Hof der Manufaktur, und auch Thamandor der Waffenmeister erschien; er hatte in der Werkstatt genächtigt und trug nicht nur sein Schwert, das er den »Leichten Tod« nannte, und seine beiden Einhandarmbrüste, sondern hatte auch das bisher einzige Exemplar des Flammenspeers bei sich.

»Kann mir mal jemand verraten, weshalb Alarm gegeben wurde?«, fragte Thamandor, dessen magische Sinne und Fähigkeiten nicht besonders ausgeprägt waren. Er war vermutlich von dem bedrängenden Gefühl der sich nähernden Gefahr, das König Keandir verspürt hatte, ebenso verschont worden wie von der herzerweichenden Gedankenklage des erblindeten Rhiagon.

Manchmal war Unwissenheit ein Geschenk, überlegte König Keandir, dessen Linke sich um den Griff seines Schicksalsbezwingers gelegt hatte, während er mit der rechten unwillkürlich den Beutel mit den fünf verbliebenen Elbensteinen berührte.

»Leider weiß von uns auch niemand mehr«, erklärte Siranodir mit den zwei Schwertern, der seine beiden Klingen Hauen und Stechen auf dem Rücken trug. »Doch wer auch immer es wagen sollte, uns erneut anzugreifen, wird schon sehen, was er davon hat!«

Einer der elbischen Wachmänner kam herbeigelaufen. »Kommt schnell herbei! Eine Schar von Schattenkreaturen nähert sich dem Elbenturm!«

»Der Angriff des Rabenschwarms war offenbar nur so etwas wie die Ouvertüre der Schrecken«, brummte Siranodir düster und wandte sich Keandir zu. »Der Feind fürchtet wohl, dass Ihr Euch mehr und mehr jener Kräfte bewusst werdet, die seit Eurem Aufenthalt auf Naranduin in Euch schlummern. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich auch alles daran setzen, Euch baldmöglichst zu vernichten, bevor Ihr noch stärker werdet.«

»Noch ist der Feind weit entfernt, sodass nicht die Gefahr besteht, dass wir unsere eigenen Leute verletzen«, sagte Waffenmeister Thamandor und hob den Flammenspeer mit einer bedeutungsvollen Geste an.

»Folgt mir, mein König«, bat der Wachmann aufgeregt. »Im Rohr des Ferngesichts könnt Ihr die Bestien sehen!«

»Gemach, Gemach, werter Shorindorn«, antwortete Thamandor. »Mit dem Flammenspeer bleibt uns Zeit genug, die Gefahr zu beseitigen!«

»Ihr habt diese Bestien noch nicht gesehen«, entgegnete der Wachmann zerknirscht.

Keandir wandte sich an Thamandor. »Das Rohr des Ferngesichts?«, fragte er. »Was soll das sein?«

»Ach, eine kleine Gelegenheitserfindung«, sagte er lapidar. »Es erhöht die Reichweite eines Elbenauges derart, dass man die Oberfläche des Mondes damit bestaunen kann. Und wenn das Gerät gen Süden ausrichtet, könnte man bis zum Zwischenländischen Meer schauen, würden die Höhen von Hochgond einem nicht den Blick auf das verstellen.«

Auf dem höchsten der Aussichtstürme der Manufaktur war dieses durch Thamandors Erfindungsgabe geschaffene Wunderwerk installiert worden. Das Gerät glich einem Rohr, das allerlei geschliffenes Glas barg. Das Rohr selbst hatte einen Durchmesser von einem Schritt und war auf ein höchst raffiniertes Gestell befestigt, mit dessen Hilfe man es in jede Richtung schwenken und ausrichten konnte.

Als Keandir hindurchschaute, schauderte ihn.

Yirantil der Scharfäugige befand sich ebenfalls auf dem Turm. Der Hauptmann der Wachmannschaft verneigte sich, bevor er direkt zum König sprach. »Diese Schar von riesigen Fledertieren dient offensichtlich dem Transport von Schattenkriegern, deren Gesichter an Katzenköpfe erinnern. Und die dunkle magische Aura, die diese Wesen umgibt, ist so stark, dass man sie selbst auf diese Entfernung zu spüren vermag, es sei denn, man verfügt nur über sehr schwache magische Sinne.«

Auf Thamandors Stirn bildete sich jene für ihn charakteristische Falte. »Also, ich muss dazu sagen ...« Aber der Waffenmeister brach ab, als die anderen Elben ihn kurz anschauten. Sie alle fühlten das kommende Unheil. Die dunkle, absolut böse Kraft, von der diese Geschöpfe des Limbus erfüllt waren. Den Willen zu töten, die Bereitschaft für ihren Herrn und Meister alles zu tun, was dieser von ihnen verlangte ...

Thamandor wollte nicht als derjenige dastehen, der als Einziger nicht sensibel genug war, diese Dinge zu bemerken, daher schwieg er lieber.

»Der Krieg hat begonnen«, sagte Keandir. »Viel früher, als ich gedacht habe. Aber es kann wohl keinen Zweifel geben.«

»Ich dachte, wir hätten noch Zeit, bis Xaror in unsere Welt zurückkehrt«, sagte Sandrilas.

»Vielleicht ist er das schon«, meinte Siranodir mit den zwei Schwertern. »Was wissen wir schon!«

»Das Heer der fliegenden Bestien nähert sich schnell«, stellte Thamandor fest, als auch er einen Blick durch das Rohr des Ferngesichts warf. »Doch wir sollten sie noch näher herankommen lassen, um sie nicht durch Fehlschüsse zu warnen.«

»Hat Euer Flammenspeer denn nicht genug Reichweite, um diese Kreaturen schon jetzt zu vernichten?«, fragte König Keandir.

Der Waffenmeister zuckte mit den Achseln. »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht, mein König. Ihr selbst habt mir bei Fernschüssen und Experimenten in diese Richtung strenge Zurückhaltung auferlegt.«

»Das ist wahr.«

»Auch wenn es mir schwerfiel, habe ich mich Euren überlegenen Argumenten gebeugt, mein König. Schließlich war die vorherrschende Meinung des Elbenvolks bezüglich der Manufaktur nicht immer ganz ... hm, unproblematisch, um es vorsichtig auszudrücken«, sagte Thamandor. »Nachdem man es schon für unumgänglich hielt, unsere Fabrikation außerhalb der Stadtmauern von Elbenhaven neu zu errichten, wollte ich einen weiteren erzwungenen Umzug möglichst vermeiden, denn das hätte mich in meiner Arbeit um mindestens eine Jahrhunderthälfte zurückgeworfen.«

»Hört auf zu klagen und Entscheidungen des Königs in Zweifel zu ziehen«, mischte sich Prinz Sandrilas ein. »Wie lautet Euer Vorschlag, Thamandor?«

Thamandor spürte leichten Zorn ob der Schärfe in Sandrilas' Tonfall, unterdrückte aber seine Wut und antwortete: »Wir warten, bis sie für das bloße Elbenauge erkennbar sind. Dann werde ich sie mit dem Flammenspeer vom Himmel holen.«

»Das klingt vernünftig«, meinte Prinz Sandrilas.

König Keandir zögerte einen Moment, war aber dann ebenfalls einverstanden. »Gut. Aber wir sollten diese Wesen nicht unterschätzen. Möglicherweise verfügen sie über Eigenschaften, von denen wir gar nichts ahnen. Ich erinnere nur an den Rabenschwarm, dessen Gekreische nur wenige von uns zu überleben vermochten.«

Die Schar der riesigen Fledertiere flatterte inzwischen über den südlichen Bergen Hoch-Elbianas. Das Mondlicht ließ die Schneehänge geradezu erstrahlen, sodass sich die Flugkreaturen davor deutlich als düstere Schatten abhoben. Hunderte waren es, vielleicht sogar Tausende.

Sie flogen sehr schnell, auch wenn sie ihr Tempo mittlerweile etwas verringert hatten, um nicht an ihrem Ziel vorbeizurasen.

»Seien wir dankbar dafür, dass wir Elben sind. Ein Rhagar oder Zentaur hätte diese Bestien erst bemerkt, wenn es zu spät gewesen wäre«, äußerte ein auffallend breitschultriger und kräftig wirkender Elb. Keandir hatte von ihm gehört. Sein Name war Uéndorn der Starke, und schon bei seiner Geburt vor drei Jahrhunderthälften hatte er in Elbenhaven einiges Aufsehen erregt. Seine Mutter hatte nämlich die Hilfe eines nicht der Heilerzunft angehörenden Heilers in Anspruch genommen, und das aus einem sehr fragwürdigem Grund: Sie hatte es der Königin Ruwen gleichtun und Zwillinge gebären wollen. Stattdessen hatte sie nur einem Kind das Leben geschenkt, das schon bei seiner Geburt das Gewicht zweier gewöhnlicher Elbenkinder gehabt hatte und auch später durch seinen ausgesprochen kräftigen Wuchs auffiel, der so gar nicht dem eher grazilen Körperbau der meisten Elben entsprach.

Uéndorns ungewöhnliche Statur führte man auf die Wirkung jener Essenzen zurück, die der nicht zur Zunft gehörende Heiler seiner Mutter verabreicht hatte, und innerhalb der Heilerzunft war daraufhin eine erregte Debatte darüber eingesetzt, ob es ethisch vertretbar war, den Segen einer Zwillingsgeburt mit Hilfe magischer Heilessenzen erzwingen zu wollen.

»Seht«, fuhr er fort, »die Geschöpfe in den Reitkörben der Fledertiere entzünden Fackeln, um sich besser orientieren zu können.«

»Dort oben nutzen ihnen die Fackeln nichts, denn ihr Lichtschein erreicht nicht den Boden«, widersprach Prinz Sandrilas. »Ich fürchte eher, dass irgendeine Teufelei dahintersteckt.«

»Was auch immer es sein mag, wir werden Feuer mit Feuer bekämpfen und ihnen mit dem Flammenspeer den Garaus machen«, verkündete Thamandor. Er nahm ein paar Feinjustierungen an den Schaltern und Hebeln vor, die sich an der Verdickung in der Mitte der Waffe befanden, dann richtete er die Spitze in Richtung der Angreifer.

Doch bevor er den ersten Schuss abgab, beobachtete Keandir durch das Rohr des Ferngesichts, wie mehrere der Fackeln von den Katzenkriegern aus den Körben geworfen wurden. Sie landeten an verschiedene Stellen auf einem der kargen, teilweise schneebedeckten Berghänge. Dort brannten sie weiter, loderten noch heller, schienen die Berghänge hinabzurollen – aber einige rollten merkwürdigerweise auch nach oben. Keandir schaute genauer hin und erschrak: Flammenwesen liefen tänzelnd über den unwegsamen Untergrund.

Er wies Yintaril den Scharfäugigen auf die Feuerkreaturen hin. Daraufhin betrachtete sich dieser die Flammengeister durch das Rohr des Ferngesichts, und seine Miene verfinsterte sich. »Dort liegt die Elbensiedlung Hochheim. Sie besteht nur aus wenigen Gebäuden.«

»Die Flammenwesen wollen sie niedermachen«, erkannte Keandir.

Die Elben auf dem Turm lauschten, und auch Thamandor der Waffenmeister rührte sich für einige Augenblicke nicht. Die Schreie drangen ganz leise bis zum Gipfel des Elbenturms, und jeder außer Siranodir hörte sie; sie ließen den Elben das Blut in den Adern gefrieren.

Grimm erfasste Keandir angesichts der Gnadenlosigkeit, mit der diese Wesen vorgingen. Die Schreie erstarben nach kurzer Zeit. Die Flammenwesen verloschen, so als wäre ihr magisches Feuer aufgebraucht; jedenfalls war nach kurzer Zeit nichts mehr von ihnen zu sehen.

»Wenn jemand noch Zweifel an den Absichten dieser Kreaturen hatte, so dürften die nun wohl ausgeräumt sein«, sagte Sandrilas zerknirscht.

»Welch eine Ironie«, murmelte hingegen Keandir. »Die Mächte der Finsternis kämpfen mit Feuer. In der Tat scheint die Welt aus den Fugen zu geraten.«

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5. Kapitel: Die Schlacht um den Elbenturm

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Thamandor schoss mit dem Flammenspeer. Der Feuerstrahl zog sich gerade wie ein Strich durch die Nacht und traf eines der Riesenfledertiere. Die Flügel gerieten in Brand. Die Kreatur flatterte wild und stieß schrille Schreie aus, die - ähnlich den Rabenschreien - selbst auf die Entfernung in den elbischen Ohren schmerzten. Aber diesen Schreien haftete keine dunkle Magie an, wie es bei den Raben der Fall gewesen war, und so vermochten sie den Geist eines Elben nicht zu zerreißen.

Die Katzenkrieger sprangen brennend in die Tiefe. Das Fledertier stürzte ab und landete auf einer vom Mond beschienenen Schneeflächen, wo die Überreste zu Asche zerfielen und von einem leichten Fallwind in die Gegend verstreut wurden.

Den Sturz aus so großer Höhe überlebten die Katzenkrieger nicht. Einzig die Feuerwesen, die ihren magischen Fackeln entsprangen, existierten noch für eine gewisse Zeit, ehe die magische Kraft, die sie zum Leben erweckt hatte, nachließ und sie eines nach dem anderen einfach verloschen wie flackernde Kerzenlichter im Nordwind.

»Zumindest gibt es keine Magie, die unsere Feinde gegen den Flammenspeer schützt«, stellte der Waffenmeister zufrieden fest und nahm gleich das nächste Riesenfledertier unter Beschuss. Erneut traf der Strahl sein Ziel und vernichtete gleich auch noch ein zweites und drittes Fledertier samt Besatzung.

Wieder gellten Todesschreie zum Gipfel des Elbenturms herüber. Aber diesmal waren es die Schreie der Angreifer, denn Thamandor setzte den Flammenspeer rücksichtslos ein. Der Strahl aus züngelndem Feuer, der die Nacht zeitweilig zum Tag machte, sengte durch die Reihen der Angreiferhorden. Dutzende fielen brennend vom Nachthimmel, und ihr Gekreische bildete einen grausigen Klangteppich.

Unablässig betätigte der Waffenmeister den Abzugshebel des Flammenspeers und sandte den feurigen Tod jenen, die offenbar ganz Ähnliches über die Elbenheit bringen wollten.

Innerhalb weniger Augenblicke hatte der elbische Waffenmeister Dutzende von Fledertiere vernichtet. Aber ihre Zahl war groß. Zu groß vielleicht, um sie mit einem einzigen Flammenspeer auf Dauer abwehren zu können. Und auf ihr eigenes Leben nahmen diese Geschöpfe der Finsternis kaum Rücksicht. Jedenfalls wichen sie nicht zurück, und auch schwerste Verluste hinderten sie nicht daran, ihren Weg unbeirrt fortzusetzen.

Anstatt das Tempo weiter zu drosseln, beschleunigten viele der Fledertiere sogar ihren Flug, da sie offenbar annahmen, dass dies die Wahrscheinlichkeit eines Treffers verringerte. Außerdem fächerten sie ihre Formation auf und bildeten zunächst einen weiten Halbkreis, den sie wahrscheinlich zu einem Ring um den Elbenturm schließen würden, sobald sie die Manufaktur erreicht hatten.

Details

Seiten
Jahr
2023
ISBN (ePUB)
9783738970265
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Januar)
Schlagworte
krieg elben

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Der Krieg der Elben