Zusammenfassung
Juli 1934 - eine Expedition zum Grab des Pharaos Ptolemäus ist für die Teilnehmer nur der Auftagt eines dramatischen Abenteuers. Eine abenteuerliche Verfolgungsjagd durch Gräber und Tempel beginnt im Schatten der Pyramiden.
Es war am Ende eines heißen Tages im Juli des Jahres 1934. Die Sonne stand über dem westlichen Horizont und färbte den Himmel glutrot. Rötlicher Schein lag auf den Mauern des Horus-Tempels von Edfu. Vince Allister und Jane Swanton saßen auf den Resten der Mauer, die einst den Tempel umgeben hatte.
»Die Herren des Tempels waren Horus von Edfu«, erklärte Jane, deren Vater die Ausgrabungen hier leitete, »seine Gemahlin Hathor von Dendera sowie deren beider Sohn Harsomtus.«
Sie schaute Vince von der Seite an. Der Sechzehnjährige blickte gelangweilt drein. »Soll ich jetzt beeindruckt sein?«
»Du kennst ja nur James Fenimore Cooper, Mark Twain und Alexandre Dumas. Hast du eigentlich schon einmal etwas anderes als Abenteuerromane gelesen?«
»Mythologie«, stieß er verächtlich hervor. »Märchen. Es gab keine Götter, weder ägyptische, noch griechische noch sonst welche.«
Jane lachte hell auf, dann hob sie die rechte Hand, streckte den Zeigefinger in die Höhe und sprach mit schulmeisterlich erhobener Stimme weiter. »Horus war der Sohn des Totengottes Osiris und dessen Schwester Isis. Horus' Hauptkultort war die Stadt Edfu. Der Name Horus bedeutet >Der Obenbefindliche< oder >Der Ferne<. Horus wurde als Vater des jeweils regierenden Herrschers angesehen.«
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Im Tempel des Pharao: Roman
von Pete Hackett
Juli 1934 - eine Expedition zum Grab des Pharaos Ptolemäus ist für die Teilnehmer nur der Auftagt eines dramatischen Abenteuers. Eine abenteuerliche Verfolgungsjagd durch Gräber und Tempel beginnt im Schatten der Pyramiden.
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1. Das Grab im Tempel
Es war am Ende eines heißen Tages im Juli des Jahres 1934. Die Sonne stand über dem westlichen Horizont und färbte den Himmel glutrot. Rötlicher Schein lag auf den Mauern des Horus-Tempels von Edfu. Vince Allister und Jane Swanton saßen auf den Resten der Mauer, die einst den Tempel umgeben hatte.
»Die Herren des Tempels waren Horus von Edfu«, erklärte Jane, deren Vater die Ausgrabungen hier leitete, »seine Gemahlin Hathor von Dendera sowie deren beider Sohn Harsomtus.«
Sie schaute Vince von der Seite an. Der Sechzehnjährige blickte gelangweilt drein. »Soll ich jetzt beeindruckt sein?«
»Du kennst ja nur James Fenimore Cooper, Mark Twain und Alexandre Dumas. Hast du eigentlich schon einmal etwas anderes als Abenteuerromane gelesen?«
»Mythologie«, stieß er verächtlich hervor. »Märchen. Es gab keine Götter, weder ägyptische, noch griechische noch sonst welche.«
Jane lachte hell auf, dann hob sie die rechte Hand, streckte den Zeigefinger in die Höhe und sprach mit schulmeisterlich erhobener Stimme weiter. »Horus war der Sohn des Totengottes Osiris und dessen Schwester Isis. Horus' Hauptkultort war die Stadt Edfu. Der Name Horus bedeutet >Der Obenbefindliche< oder >Der Ferne<. Horus wurde als Vater des jeweils regierenden Herrschers angesehen.«
»Du scheinst gut Bescheid zu wissen«, sagte Vince und sein Blick traf sich mit dem des Mädchens. Jane war vierzehn Jahre alt, hatte lange, leicht gewellte Haare von brünetter Farbe, ihre Augen waren grünlich-blau, das schmale Gesicht war gleichmäßig und hübsch und von der Sonne gebräunt. Sie faszinierte ihn immer wieder. Wenn nur ihre schnippisch-vorlaute Art nicht gewesen wäre.
Doch jetzt wirkte sie ziemlich ernst. »Wenn du einen Dad hättest, der sich mit nichts anderem befasst und der von nichts mehr anderem reden kann als von der ägyptischen Hochkultur, wüsstest du auch Bescheid. Ich weiß sogar, wer die Erbauer des Tempels waren…«
Jane brach ab. Der Gesichtsausdruck von Vince hatte sich verfinstert. Er presste die Lippen zusammen. Als Jane von ihrem Dad sprach, wallte bei ihm die Erinnerung hoch. Seine Eltern waren vor einem halben Jahr bei einer Bergtour in den Schweizer Alpen tödlich verunglückt. Vince stand plötzlich ganz alleine auf sich gestellt da. Ben Swanton, ein Cousin seiner Mutter, der in New York lebte, erklärte sich bereit, ihn bei sich aufzunehmen.
Ben Swanton war verwitwet. Sein Leben hatte er der Archäologie verschrieben. Sein Lebenselixier war es, im Staub der Jahrhunderte und Jahrtausende zu wühlen auf der Suche nach Schätzen und neuen Erkenntnissen.
Seit zwei Wochen befanden sie sich nun in Edfu.
»Es tut mir Leid«, murmelte Jane und legte Vince die Hand auf den Arm. Sie hatte seinen düsteren Gesichtsausdruck richtig gedeutet.
Vince winkte ab. »Schon gut. Es ist schon wieder vorbei.« Seine Stimme hob sich. »Was sucht dein Dad überhaupt hier? Die wichtigsten Entdeckungen sind gemacht. Carter entdeckte vor zwölf Jahren das Grab von Tutanchamun, Schliemann grub Troja aus, wir wissen über die alten Kulturen in Mesopotamien und auf Kreta Bescheid, es gibt nichts mehr zu entdecken. Hier ist es tödlich langweilig. Der Kerl, der uns täglich unterrichtet, nervt mich.«
»Du bist ein Banause!«, erregte sich Jane. »Männer wie mein Vater sorgen dafür, dass…«
Aus der Ruine erklang Geschrei. Dort hackten die ägyptischen Arbeiter Ben Swantons den Boden auf und schaufelten das Erdreich in hölzerne Eimer, die über einem Sieb entleert wurden, damit ja keine Tonscherbe oder ein anderes Relikt aus längst vergangener Zeit verloren ging.
»Was ist da los?«, fragte Jane und sprang von dem Mauerrest. Sie war groß für ihr Alter, wohl an die einsfünfundsechzig, schlank und wirkte ausgesprochen geschmeidig. Gekleidet war sie mit einem langen, sandfarbenen Rock und einer blauen Bluse. »Das hört sich an, als wäre ein Streit ausgebrochen.«
Die beiden Jugendlichen liefen in den Säulenhof des Tempels. An diesen Hof schloss sich das so genannte Pronaos an. Hierbei handelte es sich um eine dem Tempelhaus vorgelagerte Säulenhalle. Auf beiden Seiten des Pronaos führte vom Hof aus ein Umgang um das Tempelhaus, welcher wie ein dunkler Graben zwischen der fenster- und türlosen Umfassungsmauer und den Außenwänden entlang lief. Das Sanktuar, in welchem die heilige Statue des Gottes Horus aufbewahrt wurde, war durch das Pronaos zu erreichen.
Im und vor dem Allerheiligsten drängten sich die Arbeiter und Neugierigen, von denen es einige Dutzend gab, die täglich zum Tempel kamen, um den Grabungen beizuwohnen. Verworrener Lärm erhob sich. Vince legte einem der Männer die Hand auf die Schulter. »Was gibt es?«
Der Mann sagte etwas auf Arabisch, das Vince nicht verstand. Dazu gestikulierte er heftig mit den Händen.
»Du musst mit mir Englisch sprechen«, knurrte Vince und verrenkte sich den Hals, um über die Köpfe der Menge hinweg zu sehen, was sich im Allerheiligsten zutrug. Es war vergeblich. Er hüpfte einige Male, was sein Blick erheischte, reichte jedoch nicht aus, um sich irgendeinen Reim zu machen.
Jane drängte sich schon durch die Menschentraube. Vince folgte ihr. Einige der Männer, die er zur Seite drängte, schimpften. Böse Blicke trafen den Jungen. »Sie werden uns gleich lynchen!«, rief Vince, aber Jane reagierte nicht. Sie bahnte sich einen Weg, und dann war sie durch. Ihr Vater und Jonathan Gibson, der Assistent Ben Swantons, standen vor einer etwa einen Meter tiefen Grube. Vince, der etwas außer Atem neben Jane ankam, warf einen Blick hinein. Was er sah, war eine Steinplatte, deren Ränder noch von Erdreich bedeckt waren.
Vince verzog das Gesicht.
»Was habt ihr gefunden, Dad?«, hörte er die erregte Stimme Janes. Vince wurde wieder einmal klar, wie sehr sie die Arbeit ihres Vaters faszinierte. Der Junge hatte kein Verständnis dafür. Technik hatte es ihm angetan; Autos, Flugzeuge, Luftschiffe. Das waren die Dinge, die ihn begeisterten. Alte Tonscherben und geheimnisvolle Inschriften konnten ihm nicht das geringste Interesse entlocken.
»Eine Steinplatte mit einer Inschrift«, sagte Ben Swanton. Er war Mitte der Vierzig und blondhaarig. Der Ägyptologe war ein großer Mann, der ein hohes Maß an Ruhe verströmte und nie unüberlegt handelte. »Vielleicht ein Zugang zu einem unterirdischen Gang«, fügte er hinzu. »Möglicherweise auch ein Grab. Wir werden die Platte freilegen. Und dann werden wir es sehen.«
Swanton wandte sich seinem Assistenten zu. »Wir arbeiten weiter, Jonathan. Sorgen Sie dafür, dass Scheinwerfer herbeigeschafft werden. Ich will wissen, was sich unter dieser Steinplatte befindet.«
»Jawohl, Sir!« Jonathan Gibson schlug die Hacken zusammen und legte die Hände an die Oberschenkel. »Ich lasse Scheinwerfer herbeischaffen. Wir…«
Swanton unterbrach den kleinen Mann mit dem riesigen, schwarzen Schnurrbart und den Koteletten, die bis zu den Backenknochen reichten. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass wir nicht beim Militär sind, Jonathan. Sie brauchen nicht jedes Mal stillstehen, wenn ich Sie anspreche.«
Ein Ruck ging durch Jonathans schmächtige Gestalt. In seinem runden Gesicht – das überhaupt nicht zu seinem Körperbau passen wollte -, zuckte kein Muskel. Er stand kerzengerade da, so, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. »Verstanden, Sir. Ich…«
»Rühren, Jonathan!«, sagte Swanton trocken.
»Jawohl, Sir.« Jonathan schwang mit einer abgezirkelten Bewegung herum. »Ahmed, Ali, Mohammad, holt die Scheinwerfer und das Stromaggregat aus dem Wagen. Wir arbeiten weiter, bis wir wissen, was sich unter der Platte befindet. Marsch, Marsch! Bewegt euch!«
»Treten Sie zurück!«, rief Ben Swanton. »Machen Sie Platz. – Jonathan!«
»Sir!« Jonathan nahm Front zu seinem Vorgesetzten ein und stand stramm.
»Verdammt, Jonathan!«
»Schon in Ordnung, Sir.« Jonathan setzte den rechten Fuß etwas nach vorn und ließ die Arme locker hängen. »Verzeihen Sie, Sir.«
»Sie sind nicht mehr Sergeant bei der glorreichen US-Armee, Jonathan.«
»Ich weiß, Sir. Aber…«
»Kein aber. Sorgen Sie dafür, dass die Leute, die hier nichts zu suchen haben, das Sanktuar verlassen. Wir treten uns hier gegenseitig auf die Füße.«
»Zu Befehl, Sir!« Jonathan schlug die Hacken zusammen und legte die Hände an die Hosennaht.
Ben Swanton verdrehte die Augen. Dann sagte er zu einem der Männer, die eine Schaufel hielten. »Grabt weiter. Aber ganz vorsichtig. Wir legen die Platte frei.«
Jonathan riss beide Arme in die Höhe. Seine etwas krächzende Stimme erklang. »Zurück! Wer nicht zum Grabungsteam gehört, soll nach draußen gehen. Sie werden als erste erfahren, was wir gefunden haben. Bewegen Sie sich! Noch gibt es nichts zu sehen. Sie stehen nur im Weg.«
Jonathan klatschte jetzt in die Hände, als wollte er ein paar Hühner vertreiben, die sich auf sein Pausenbrot gestürzt hatten.
Auch Vince ging nach draußen. Zwischen den hohen Mauern wob schon die Dämmerung. Die Schatten waren verblasst. Er schaute sich nach Jane um. Sie war bei ihrem Vater im Allerheiligsten geblieben. Vince konnte nicht begreifen, dass sich ein hübsches Mädchen wie Jane derart für Archäologie begeistern konnte. Männer gruben sich wie Maulwürfe in die Erde und wühlten im Schutt längst vergangener Zeiten herum. Vince schüttelte für sich den Kopf. Er lebte nicht in der Vergangenheit. Die Gegenwart zählte. Die Zukunft gehörte der Technik.
Vince setzte sich wieder auf die Mauer. Es war warm. Blutsaugende Insekten umschwärmten und piesackten ihn. Drei große Scheinwerfer wurden herangeschleppt, außerdem ein Generator. Bald tuckerte der Motor desselben, Licht fiel aus dem Allerheiligsten, in den Lichtbahnen, die auf den Boden geworfen wurden, bewegten sich die Schatten der Arbeiter, die die Steinplatte freilegten. Kübelweise wurde das Erdreich herausgetragen.
Die Dunkelheit nahm zu. Das dumpfe Gemurmel der Zuschauer, die in Gruppen zusammenstanden und Vermutungen anstellten, erfüllte die hereinbrechende Nacht.
Für Vince schien die Zeit stillzustehen. Er haderte mit seinem Schicksal. Warum hatte ihn Ben Swanton mit nach Ägypten geschleppt? Hier lag der Hund begraben. Keine Mädchen – außer Jane natürlich, kein Baseball, kein Rugby, nichts – nur Langeweile, Hitze und Staub. Vince seufzte. Lieber Gott, was habe ich verbrochen, weil du mich derart strafst?
Gott blieb Vince die Antwort schuldig.
Vielleicht sollte ich Horus fragen, durchfuhr es ihn. Schließlich war er mal Chef hier. He, Horus, alter Knabe…
Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Jane in den Hof stürzte und rief: »Es ist ein Grab, Vince. Der Inschrift nach liegt unter der Steinplatte Ptolemäus III. Euergetes begraben. Er war Mitte des dritten Jahrhunderts vor Christus König von Ägypten und ist einer der Erbauer des Tempels.«
»Sehr interessant«, brummte Vince lakonisch. »Und dafür muss ich mir die Nacht um die Ohren schlagen. Von dem alten Gerippe ist sicher nicht mehr viel übrig.«
»Banause!«, schimpfte Jane und lief in das Sanktuar zurück.
»Kulturtussi!«, blaffte Vince.
Vor dem Allerheiligsten drängten sich wieder die Neugierigen. Das Durcheinander vieler Stimmen, Raunen und Flüstern erfüllten die beginnende Nacht. Eine Fledermaus zog ihre lautlose Bahn auf der Jagd nach Beute. Vince sehnte sich nach seinem Bett, aber er fürchtete, dass diese Nacht noch lange dauern würde. Ben Swanton, dieser Fanatiker, würde die Arbeit erst einstellen lassen, wenn er wusste, was sich ihm unter der Steinplatte bot.
Schnöde Welt einer Wissenschaft, die nicht dein Fall ist, Vince. Schlaf ade. Horus ist dir nicht gnädig gesonnen. Was hast du gegen mich, alter Knabe? Habe ich dich beleidigt? Entschuldige, war nicht so gemeint. Nimm den Fluch der Langeweile wieder von mir und gib, dass ich bald ins Bett komme. Ich bin müde.
Ein Mann bahnte sich einen Weg durch die Rotte der Gaffer vor dem Sanktuar. Er stolperte, fiel auf die Knie, stützte sich mit beiden Armen ab und rief geradezu verzückt: »Es ist das Grab von Ptolemäus III. Euergetes. Ein Fund von unschätzbarem Wert.«
Es war Jonathan Gibson, der Assistent Swantons. Der blasierte Bursche war völlig aus dem Häuschen. Er riss beide Arme in die Höhe und richtete den Blick zum Firmament und es sah so aus, als dankte er dem Himmel.
Na und!, durchzuckte es Vince. Dann weiß man jetzt, wo der Bursche beerdigt wurde. Sicher hat man ihm ein paar tönerne Töpfe mit ins Grab gestellt. Na, Hauptsache Onkel Ben ist glücklich. Vielleicht komme ich jetzt bald ins Bett.
2. Nachts, wenn die Räuber kommen
Vince ging in das Allerheiligste. Er gab sich betont gelangweilt. Demonstrativ gähnte er.
»Wie kannst du jetzt müde sein?«, empfing ihn Jane.
»Der Körper verlangt sein Recht«, versetzte Vince. »Ich bin ein Tagmensch. Nachts brauche ich meinen Schlaf.«
»Pfeife.«
»Ha, ha.«
»Streitet nicht«, sagte Ben Swanton ungeduldig. Er kniete vor der Grube und starrte wie gebannt hinein. Die Arbeiter hatten die Platte abgehoben. Das Grab war etwas zwei Meter lang und einen Meter breit sowie einen Meter tief. Die Wände waren aus Marmor und mit Schriftzeichen übersäht.
»Wo ist die Mumie?«, fragte Vince etwas respektlos. Er sah goldene Gefäße, Figuren, zwei goldene Tafeln, jeweils etwa sechzig Zentimeter hoch und vierzig Zentimeter breit. Sie waren mit Schriftzeichen versehen. Hieroglyphen.
Jane schoss Vince einen vernichtenden Blick zu. »Als Ptolemäus starb, wurden die Toten nicht mehr mumifiziert. Hast du das nicht in der Schule gelernt?«
»Da muss ich wohl gefehlt haben.« Blöde Ziege!
Ben Swanton holte eine der goldenen Tafeln aus dem Grab. »Scheint einen Stammbaum darzustellen«, flüsterte er fast ergriffen. »Vielleicht sind es die Ahnentafeln der Ptolemäer, über die Zeit Alexanders des Großen hinaus bis weit in die makedonische Zeit zurückreichend. Das wäre ein Fund von immenser Bedeutung. Die Geschichte der Ptolemäer ist erst seit 323 vor Christus, seit der Alexanderzeit also, dokumentiert.«
Swanton heftete seinen Blick auf die Tafel. Schließlich stellte er sie in das Grab zurück. Er erhob sich. Der Archäologe verströmte Ehrfurcht. Seine Augen glänzten fiebrig. Triumph prägte jeden Zug seines Gesichts. »Wir decken das Grab wieder ab«, gab er zu verstehen. »Drei bewaffnete Männer werden es bewachen. Morgen setzen wir die ägyptische Altertümerverwaltung in Luxor von dem Fund in Kenntnis.«
Vince sah in der Nähe zwei Männer, die miteinander flüsterten. Einer von ihnen war augenscheinlich Ägypter. Der andere sah aus wie ein Westeuropäer, vielleicht war er auch ein Amerikaner. Er war mit einem grauen Anzug bekleidet und trug einen Hut von derselben Farbe. Die beiden Kerle flüsterten miteinander. Soeben sprach der Mann mit dem europäischen/amerikanischen Aussehen intensiv auf den Ägypter ein. Dieser nickte. Sein Blick suchte immer wieder Ben Swanton. Dann trennten sich die beiden Männer. Während der Ägypter im Tempel blieb, strebte der andere Mann mit langen Schritten dem Ausgang zu, den die beiden riesigen Pylontürme flankierten.
Der Mann erschien Vince verdächtig. Er folgte ihm. Auf dem Weg, der in die Stadt führte, standen einige Autos, darunter zwei Lastwagen. Der Mann stieg in einen blauen Ford Tudor Deluxe, Baujahr 1931, ließ den Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr davon. Vince blickte versonnen hinterher. Bald sah er durch die Dunkelheit nur noch die beiden Rücklichter. Das Motorengeräusch wurde leiser und leiser und versank schließlich.
Vince konnte nicht sagen, warum ihm der Mann verdächtig erschien. Es entzog sich seinem Verstand. Aber das Gefühl war da und ließ sich nicht vertreiben. Der Junge kehrte in den Tempel zurück und hielt nach dem Ägypter Ausschau. Er sah ihn bei den Männern, die für Ben Swanton arbeiteten. Vorher war ihm dieser Bursche nicht aufgefallen. Er prägte sich sein Gesicht ein. Es war ein dunkles, scharf geschnittenes Gesicht mit Augen, die anmuteten wie Kohlenstücke.
Einige Männer hatten die schwere Platte wieder auf das Grab gelegt. Drei Wachposten mit Gewehren blieben im Tempel. Die Arbeiter und Neugierigen verließen den Tempel. Die meisten der Arbeiter stiegen auf der Straße auf einen der Lastwagen, der sie in die Stadt brachte, wo sie wohnten. Auch Ben Swanton, Jonathan Gibson, Jane und Vince fuhren nach Edfu in das Haus, das ihnen von der ägyptischen Altertümerverwaltung für die Grabungsperiode zur Verfügung gestellt worden war. Es verfügte über insgesamt vier Räume. In dem einen Raum schliefen Ben Swanton und seine Tochter, im anderen Vince und der Assistent Swantons. Es gab darüber hinaus ein spartanisch eingerichtetes Wohnzimmer und eine Küche mit einem großen Ofen, den sie jedoch noch nicht benutzt hatten. Sie aßen im Camp draußen beim Tempel.
»Hast du keine Angst, dass in der Nacht das Grab ausgeraubt wird, Onkel«, fragte Vince, als sie das Haus betraten. Es gab hier kein elektrisches Licht. Ben Swanton holte ein Feuerzeug aus der Tasche. Die kleine Flamme verbreitete nur vages Licht. Der Archäologe nahm eine Petroleumlampe von einer Konsole, klappte den Glaszylinder zurück, drehte den Docht höher und setzte ihn in Brand. Die Flamme rußte und flackerte, und erst, als Swanton den gläsernen Windschutz darüber stülpte, brannte sie ruhig. Helligkeit kroch auseinander. Die Schatten der vier Menschen wurden groß und verzerrt gegen die Wände und auf den Fußboden geworfen.
»Wir dürfen aus dem Grab nichts herausnehmen, ehe nicht ein Beamter der Altertümerverwaltung zugestimmt hat«, erwiderte Swanton. »Darum habe ich drei Bewaffnete zurückgelassen, die das Grab bewachen. Aber du hast Recht. Ein gutes Gefühl habe ich nicht. In Edfu hält sich John Carson auf. Er wartet auf seine Grabungslizenz. Sicher platzt er vor Neid – nein, vor Missgunst, wenn er von meinem Erfolg hört.«
»Ich habe zwei Männer beobachtet«, berichtete Vince. »Einer gehört zu den Arbeitern, die du beschäftigst. Der andere war Europäer oder Amerikaner. Sie standen abseits und unterhielten sich sehr angeregt miteinander. Ich folgte dem Kerl auf die Straße. Er fuhr mit einem Auto in Richtung Stadt davon.«
»Das könnte ein Spion Carsons gewesen sein«, knurrte Ben Swanton. Seine Backenknochen mahlten. Sein Gesicht spiegelte Unruhe wider.
»Dann weiß Carson schon Bescheid!«, krächzte Jonathan. Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. »Verdammt will ich sein, wenn Carson, dieser Schuft, nicht irgendetwas im Schilde führt.« Jonathan trat – als folgte er einer jähen Eingebung - vor Ben Swanton hin und nahm Haltung an. »Ich fahre wieder zum Tempel zurück, Sir.«
»Stehen Sie kommod, Jonathan. Und nennen Sie mich nicht ständig Sir. Sagen Sie Ben zu mir. Warum sind Sie ständig so verkrampft, Jonathan?«
»Sir, ich…« Jonathan brach ab und hüstelte. »Ich meine Ben. Verzeihen Sie. Die Jahre beim Militär…«
»In Ordnung, Jonathan. Und jetzt stehen Sie endlich bequem.«
Jonathan entspannte sich. Seine Schultern sanken nach unten. »Wie Sie meinen, Sir.«
»Ben.«
»Wie Sie meinen, Ben.« Jonathan trat von einem Fuß auf den anderen. Er war die Unruhe in Person. Vince fragte sich, ob dem armen Kerl vielleicht jemand Juckpulver in den Kragen geschüttet hatte. Da ließ Jonathan noch einmal seine Stimme erklingen. Er sagte im Brustton der Überzeugung: »Wenn Carson etwas im Schilde führt, werde ich es verhindern.«
»Auf die drei Männer, die im Tempel geblieben sind, ist Verlass«, antwortete Swanton. »Außerdem wird es Carson nicht wagen, seine Hände nach den Schätzen in dem Grab auszustrecken. Er weiß, dass er nie mehr eine Grabungslizenz erhalten würde, wenn er hier in Ägypten gegen das Gesetz verstößt.«
»Wenn Sie gestatten, Sir, dann möchte ich trotzdem zurückfahren und bei dem Grab bleiben.«
Swanton seufzte ergeben.
»Ich heiße Ben. Aber Ihnen das beizubringen, Jonathan, ist wohl vergebliche Liebesmüh.« Der Archäologe zuckte mit den Schultern. »Na schön, von mir aus, Jonathan. Wenn es Ihr Wille ist. Ich will Sie nicht aufhalten.«
»Ich fahre mit Jonathan zurück«, erklärte Vince impulsiv. Er witterte ein Abenteuer und war plötzlich hellwach. »Bitte, Onkel.«
Es klang fast flehend.
Er nannte Ben Swanton Onkel, obwohl sie nur ganz weitschichtig miteinander verwandt waren.
»Was ist in dich gefahren?«, fragte Jane schnippisch. »Vorhin warst du noch desinteressiert und müde. Bist du plötzlich unter die Helden gegangen?«
»Du hast morgen früh Unterricht«, mahnte Ben Swanton, »und wirst nicht ausgeschlafen sein.«
»Ich bin kein Säugling mehr, Onkel.«
»Sieh an!«, spottete Jane. Sie hatte den Kopf schief gelegt und lächelte herausfordernd.
Blöde Kuh! »Darf ich, Onkel?«
»Meinetwegen. – Passen Sie mir auf Vince auf, Jonathan.«
Jonathan knallte die Hacken zusammen, entspannte sich aber sofort wieder, verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und legte den Kopf in den Nacken. »Er ist bei mir so sicher wie in Abrahams Schoß, Sir – ich meine Ben«, versicherte er mit schief gezogenem Mund.
Seine übertrieben zur Schau getragene Lässigkeit ließ Swanton auflachen. »Na, dann gute Nacht, ihr beiden Hüter des Pharaonenschatzes. Lasst euch die Zeit nicht lang werden.«
»Und sei auf der Hut, Vince«, sagte Jane mit dumpfer Stimme. »Es ist nicht auszuschließen, dass der Geist des Ptolemäus über euch kommt, nachdem seine Grabruhe gestört wurde. Huh!«
Sumpfhuhn!
»Auf in den Kampf«, stieg es aus Jonathans Kehle. »Komm, Vince. Carson wird sich an uns die Zähne ausbeißen.«
Sie verließen das Haus.
»Glaubst du auch, dass Carson versucht, die Schätze zu stehlen, Dad?«, fragte Jane.
»Nein. Das kann er sich nicht leisten. Aber lass die beiden ruhig gewähren. Vor allem Vince braucht ein wenig Abwechslung. Hast du gesehen? Er war Feuer und Flamme.«
»Wahrscheinlich hat er zu viele Abenteuergeschichten gelesen. Und jetzt identifiziert er sich mit einem seiner Helden.« Jane kicherte.
»Du solltest vielleicht etwas netter zu ihm sein, Jane. Du weißt, er hat viel durchgemacht. Es ist nicht einfach für einen Jungen von sechzehn Jahren, die Eltern zu verlieren, nach Amerika auszuwandern und mit Dingen konfrontiert zu werden, die er – wenn überhaupt – nur vom Hörensagen kannte.«
»Ich habe nichts gegen ihn, Dad.« In Janes Augen trat ein verträumter Ausdruck.
Ben Swanton entging es nicht.
Währenddessen fuhren Jonathan und Vince den Weg zum Tempel zurück. Die Straße war voller Schlaglöcher und sie wurden durch und durch geschüttelt. Der Tempel lag in Dunkelheit. Nur der Mond, der im Südosten stand, spendete fahles Licht und schien die Mauern zu versilbern. Wolkenschatten zogen über das Land. Die Sterne flimmerten. Jonathan hielt vor dem Eingang des Tempels an, schaltete die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab. Die beiden stiegen aus. Leises Säuseln erfüllte die Luft. Es war der laue Nachtwind, der vom Nil her wehte und sich an den alten Mauern brach. Staub knirschte unter Vinces Schuhsohlen. Der unverkennbare Geruch des Flusses, den der Wind mitbrachte, stieg dem Jungen in die Nase.
Jonathan öffnete den Kofferraum und kramte in einer Kiste herum, dann fand er, was er suchte. Es war ein schwerer Revolver von Smith & Wesson, Kaliber fünfundvierzig. Er klappte die Trommel heraus und überprüfte die Ladung, dann schob er die Waffe vor seinem Bauch in den Hosenbund.
»Kannst du damit umgehen, Jonathan?«, fragte Vince. Jonathan hatte ihm erlaubt, ihn mit du anzusprechen. Manchmal konnte er auch unkompliziert sein.
»Ich war viele Jahre beim Militär«, versetzte Jonathan, und damit beantwortete er die Frage Vinces.
Die beiden schritten durch das Tor in den Hof des Tempels. Zwischen den hohen Mauern war die Dunkelheit dichter. Sie mutete fast stofflich und greifbar an.
»Wer ist da?«, erschallte es auf Arabisch. Ein metallisches Knacken, mit dem ein Karabiner durchgeladen wurde, erklang.
»Nicht schießen!«, rief Jonathan. »Ich bin es – Gibson. Vince begleitet mich.«
Ein Schemen löste sich aus der Dunkelheit, nahm Formen an, und dann sagte der Wachposten in holprigem Englisch: »Alles ist ruhig. Keine besonderen Vorkommnisse. Warum seid ihr zurückgekommen? Misstraut ihr uns?«
»Unsinn«, erwiderte Jonathan. »Aber wir befürchten, dass jemand versucht, die Schätze aus dem Grab zu rauben. Wir sind zu eurer Unterstützung hier, für den Fall, dass sich unsere Befürchtung bewahrheitet.«
»Seid ihr bewaffnet?«
»Ich habe einen Revolver.«
»Sollte sich deine Befürchtung bewahrheiten, dann seht nur zu, dass ihr uns nicht in die Schusslinie kommt.«
»Das werden wir tunlichst vermeiden«, erwiderte Jonathan. Dann wandte er sich an Vince. »Wir setzen uns ins Auto. Komm.«
Der Wachposten hatte sich abgewandt und wurde wieder eins mit der Dunkelheit. Seine mahlenden Schritte verklangen. Jonathan und Vince machten es sich im Auto bequem.
Langsam verrann die Zeit. Der Mond wanderte nach Süden. In der Dunkelheit mutete die Fassade des Tempels noch erhabener und majestätischer an als bei Tageslicht. Das geheimnisvolle Flair des Bauwerkes löste bei Vince einen leichten Schauer aus. Er spürte Gänsehaut als er daran dachte, wie viele Generationen der Tempel überlebt hatte, Menschen, an die nichts mehr erinnerte, die längst zu Staub zerfallen waren.
Leise Schnarchtöne verrieten, dass Jonathan eingeschlafen war. Sein Kinn war auf die Brust gesunken. Auch Vince kämpfte mit der Müdigkeit. Es kostete ihm Überwindung, die Augen aufzuhalten. Immer wieder schreckte er hoch, und irgendwann überwältigte ihn der Schlaf. Es war, als würde ihn eine warme, weiche Wolke erfassen und forttragen.
Er erwachte, als ein peitschender Knall erklang. Einen Augenblick glaubte er, geträumt zu haben. Aber dann krachte es erneut. Die Wände des Tempels schienen die Detonation zurückzuwerfen. Geschrei erklang. Vince sprang aus dem Auto.
»Wa… Was ist?«, rief Jonathan.
»Räuber!«, schrie Vince und rannte schon zum Eingang in den Tempel. Wieder erklang ein Schuss. Ein Querschläger jaulte durchdringend. Die Detonation verhallte mit geisterhaftem Geraune. Vince sah eine schattenhafte Gestalt auf sich zukommen, und schon im nächsten Moment tauchte eine zweite auf. Der Junge sah die hellen Kleckse der Gesichter.
Die beiden Kerle waren heran. Sie griffen an. Vince, der in London eine Judoschule besucht hatte und Inhaber des Braungurtes war, drehte sich in den ersten der beiden Angreifer hinein, streckte das rechte Bein zur Seite weg und warf den Burschen über seine Hüfte. Doch da bekam er einen Schlag gegen den Kopf. Vor seinen Augen schien die Welt zu explodieren. Sein Denken riss und er versank in bodenloser Finsternis.
Jonathan rannte heran. Er feuerte in die Luft. Das trockene Wummern des Revolvers übertönte alle anderen Geräusche. Jonathan stolperte über einen kopfgroßen Stein und krachte der Länge nach auf den Boden. Ein Ton, der sich anhörte wie verlöschendes Schluchzen, entrang sich ihm. Die Dunkelheit unter dem Tor füllte sich mit Leben. Drei finstere Gestalten glitten heran. Jonathan richtete sich auf alle Viere auf. Der Revolver war ihm entfallen. Seine Hände tasteten suchend über den Boden. Er war viel zu sehr mit der Suche nach der Waffe beschäftigt, um Angst zu empfinden. Dann standen die drei Kerle um ihn herum. Ein Schlag mit dem Gewehrkolben warf Jonathan aufs Gesicht. Mach ich denn nie etwas richtig?, war sein letzter Gedanke, dann überspülte Benommenheit sein Bewusstsein und riss ihn in die Tiefe der Besinnungslosigkeit.
3. Der Aufbruch nach Luxor
Vince wurde wach. Er lag auf dem Rücken. Seine erste Wahrnehmung war das Meer von Sternen hoch über ihm. Sein Kopf schmerzte. Die Erinnerung stellte sich ein und heißer Schreck durchzuckte den Jungen. Er richtete den Oberkörper auf. Ein Ächzen entrang sich ihm, eine Welle der Benommenheit löste Schwindelgefühl in ihm aus. Übelkeit kroch in ihm hoch. Seine Hand tastete zur Schläfe, und dort, wo ihn der Schlag getroffen hatte, fühlte er eine große Beule sowie klebrige Feuchtigkeit. Er blutete.
»Jonathan!« Vinces Kehle war trocken. Das Sprechen bereitete ihm Mühe. In seinen Ohren rauschte das Blut. Der Magen krampfte sich ihm zusammen. Es war eine Überwindung, und es kostete all seinen Willen, sich zu erheben. Schwankend, wie ein Schilfrohr im Wind, stand er schließlich. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Seine Beine wollten ihn kaum tragen.
Vince setzte sich in Bewegung. Wie im Trance setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Mond stand im Südwesten und schien höhnisch auf ihn herunterzugrinsen. Vinces Ziel war das schwarze längliche Bündel am Boden. Eine unsichtbare Hand schien ihn zu würgen. Sein Atem ging stoßweise. Der hämmernde Schmerz in seinem Schädel war kaum zu ertragen. Er stöhnte.
Bei dem Bündel am Boden handelte es sich um Jonathan. Er lag auf dem Gesicht. Vince kniete bei ihm ab. Jonathan atmete. Dem Jungen fiel ein schwerer Stein vom Herzen. Er rüttelte den Bewusstlosen an der Schulter. »Jonathan!« Nur nach und nach bekam Vince den Aufruhr in seinem Innersten unter Kontrolle.
Es dauerte einige Zeit, dann hob Jonathan den Kopf. »Verdammt! Ich muss eingeschlafen sein!« Er sprang wie von einer Tarantel gestochen auf die Beine. Ein uriger Laut brach aus seiner Kehle, er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Aaah, mir platzt der Schädel!«
»Wir sind überfallen worden«, erklärte Vince, und seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich. »Es fielen Schüsse.«
»Ich bin gar nicht eingeschlafen«, krächzte Jonathan, bei dem das Begreifen kam. »Diese elenden Lumpen! Mein Gott, das Grab!«
Er setzte sich in Bewegung. Mit der rechten Hand hielt er sich den Kopf. Vince folgte ihm. Ein erstickter Ton erreichte sein Gehör. Er bohrte seinen Blick in die Dunkelheit. Ein Schaben war zu vernehmen, dann wieder der dumpfe Ton. »Mmmh, mmmh.«
Jonathans Feuerzeug flammte auf. Er war beim Grab auf das linke Knie niedergegangen. Licht- und Schattenreflexe zuckten über die Grube hinweg. Die Grabplatte war abgehoben. Das Grab war ausgeräumt worden. Ein versiegender Ton platzte über Jonathans Lippen. Vergessen war der hämmernde Schmerz in seinem Kopf, wie hinweggewischt jede körperliche Not. Jonathans Lippen bebten, formten tonlose Worte, in seinen Mundwinkeln zuckte es.
Vince war den unartikulierten Geräuschen, die nur aus einem menschlichen Mund kommen konnten, gefolgt. Und er fand zwei der Wächter. Sie waren gefesselt und geknebelt. Vince nahm ihnen die Knebel ab und löste ihre Fesseln. Die beiden fluchten und schimpften in ihrer Sprache.
Der Junge ging zu Jonathan hin, der wie zu Stein erstarrt vor dem Grab kniete. »Sie haben alles mitgenommen«, flüsterte Jonathan mit brüchiger Stimme. »Die Tafeln, die Gefäße, die Figuren – alles.« Jetzt richtete er sich auf. Mit gefestigter Stimme stieß er hervor: »Ich habe gekämpft wie ein Löwe. Doch sie waren in der Überzahl. Plötzlich war ich von einem Dutzend dieser Lumpen umringt. Sie haben mich zu Boden gerungen. Vier von ihnen waren notwendig. Etwas krachte gegen meinen Kopf…«
»Wir müssen Onkel Ben benachrichtigen. Kannst du fahren, Jonathan?«
»Ich sehe alles zweimal. Diese Schufte. Wenn ich sie zwischen die Finger kriege. Aaah, sie haben mir fast den Schädel eingeschlagen.« Jonathans Stimme sank herab. »Anders war ich wohl nicht zu bändigen. Ich bin geradezu über mich hinausgewachsen. Mit drei oder vier der Kerle wäre ich spielend fertig geworden. Aber der zehn-, vielleicht sogar zwölffachen Übermacht hatte ich nichts entgegenzusetzen.«
»Übertreibst du nicht ein wenig, Jonathan? Bei mir waren es zwei, die mich fertig gemacht haben.«
»Tja, du verfügst eben nicht über mein Format, Kleiner. Sicher war es die ganze Bande, die nötig war, um mich auszuschalten.« Die beiden Wächter, die Vince von ihren Fesseln befreit hatte, waren herangetreten. »Wo ist euer dritter Mann?«, fragte Jonathan.
»Keine Ahnung. Fort. Wahrscheinlich hat er gemeinsame Sache mit den Räubern gemacht. Wir hatten keine Chance und sind froh, noch am Leben zu sein.«
»Ihr könnt nach Hause gehen«, sagte Jonathan. »Es gibt nichts mehr zu bewachen. Die Schufte haben ganze Arbeit geleistet.«
Vince und Jonathan gingen zum Auto. Vince klemmte sich hinter das Steuer. Jonathan setzte sich auf den Beifahrersitz. Er hielt sich wieder den Kopf. »Wahrscheinlich habe ich eine Gehirnerschütterung davongetragen«, lamentierte er. »Ich werde wohl einige Tage das Bett hüten müssen.«
»Du wirst es überleben, Jonathan. Auch ich habe einen Schlag gegen den Kopf bekommen. Aber sicher fiel der Schlag gegen deinen Eisenschädel viel heftiger aus als der, den ich bekam. Ohne die Anwendung brachialer Gewalt hätten sie dich wohl nie ausschalten können.«
»He, du nimmst mich doch nicht etwa auf den Arm?«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen, alter Recke. Wozu hast du dich eigentlich bewaffnet? Hast du den Revolver überhaupt benutzt?«
»Der Revolver! Richtig!« Jonathan stieg wieder aus dem Auto. Ein lang gezogenes Stöhnen kämpfte sich in seiner Brust hoch und stieg aus seiner Kehle. Obwohl Vince nicht danach zumute war, musste er grinsen. Dass Jonathan zu maßloser Übertreibung neigte, war eine Seite, die Vince an ihm bisher nicht festgestellt hatte. Er ist nicht nur tollpatschig und nervig, sondern auch ein Aufschneider. Wahrscheinlich haben sie ihn gar nicht niedergeschlagen. Er ist über seine eigenen Beine gestolpert und auf den Kopf gefallen…
»Ich habe viermal geschossen«, gab Jonathan zu verstehen, als er sich wieder auf den Beifahrersitz setzte. »Sicher haben sie ihre Toten mitgenommen. Jeder Schuss ein Treffer. Aber dafür war ich schon bei der Armee bekannt.«
Vince startete den Motor und fuhr an. Sicher lenkte er den Wagen nach Edfu. Jedes Mal, wenn es durch ein Schlagloch ging, gab Jonathan einen gequälten Laut von sich. Die Straße war menschenleer. Nirgendwo war ein Licht zu sehen. Einige Palmen am Straßenrand fristeten ein kümmerliches Dasein. Auch das Haus, in dem sie wohnten, lag in totaler Finsternis.
Die Tür war von innen verriegelt. Vince schlug mit der Faust dagegen. Dumpf hallten die Schläge ins Innere. Wenig später erklang eine dunkle Stimme: »Wer ist da?«
»Wir sind es, Vince und Jonathan. Wir wurden überfallen.«
Die Tür schwang auf, Licht flutete ins Freie, und Vince schloss einen Moment lang geblendet die Augen. »Was sagst du da?« Entsetzen schwang in der Stimme Ben Swantons mit. Und Fassungslosigkeit. Ungläubig fixierte er Vince und Jonathan abwechselnd.
Jonathan nahm Haltung an und schnarrte: »Wir konnten es nicht verhindern, Sir. Es waren fünfzehn oder zwanzig Gangster, sie fielen über uns her wie ein Rudel Wölfe. Außerdem scheint festzustehen, dass einer der Wächter zu der Bande gehört. Die beiden anderen wurden ausgeschaltet.«
»Sie – haben – das – Grab – ausgeraubt?«, stammelte Ben Swanton. Sein Herzschlag und seine Atmung hatten sich beschleunigt. Fast hypnotisch hing sein Blick am Mund seines Assistenten.
»Jawohl, Sir. Sie haben nicht ein Stück zurückgelassen. Ich habe den Schuften einen verzweifelten Kampf geliefert, aber…«
Swanton wandte sich ab und taumelte tiefer in den Raum hinein, warf sich auf einen der vier Stühle, die um einen zerkratzen Tisch herum gruppiert waren, und schlug die Hände vor das Gesicht.
Aus dem Schlafraum kam Jane. Ihre Augen glänzten im Licht der Laterne wie Glasstücke. Sie trug ein knöchellanges Nachthemd. »Was ist geschehen?« Ihr Blick heftete sich auf Vince.
Der Junge fühlte sich bemüßigt, Antwort zu geben. »Wir wurden überfallen. Die Schufte haben das Grab ausgeraubt. Jonathan und mich haben sie niedergeschlagen. Die Wächter wurden überwältigt und gefesselt.«
Ein entsetzter Ton kam von dem Mädchen.
Ben Swanton nahm die Hände vom Gesicht. Er war bleich, seine Kiefer mahlten. Sekundenlang starrte er wie geistesabwesend vor sich hin, plötzlich aber sagte er: »Ich danke dem Himmel, dass ihr im Großen und Ganzen unversehrt seid. Wir werden, sobald es Tag wird, Anzeige erstatten. Und dann werde ich John Carson einen Besuch abstatten. Hinter diesem Überfall steckt kein anderer als er. Ich werde ihn zur Rede stellen.«
»Er wird nicht zugeben, der Drahtzieher des Überfalls zu sein, Onkel«, gab Vince zu bedenken.
»Sicher nicht. Aber er soll wissen, dass ich Bescheid weiß. Ich werde die Polizei auf ihn hetzen. Ich…« Swanton verstummte. Seine Schultern sanken müde nach unten. »Wie ich ihn kenne, hat er die Polizei bestochen. Diese Kerle werden keinen Finger rühren. –Verdammt, Jonathan, sie stehen da, als wären Sie zur Salzsäule erstarrt. Rühren!«
»Jawohl, Sir.« Jonathan entspannte sich.
»Setzen Sie sich, Jonathan, Sie machen mich nervös.«
Jonathan machte ein Gesicht, als hätte Swanton nach ihm geschlagen. »Es tut mir Leid, Sir.« Seine Schultern hatten sich wieder gestrafft.
»Verzeihen Sie, Jonathan. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Es war ein Fehler, die Schätze nicht sofort in Sicherheit zu bringen.«
»Damit hättest du gegen bestehende Gesetze verstoßen, Dad«, rief Jane. »Es hätte dir die Grabungserlaubnis gekostet.«
»Du blutest, Vince«, sagte Ben Swanton, ohne auf die Worte seiner Tochter einzugehen.
»Eine Platzwunde von dem Schlag«, erwiderte der Junge.
»Wir müssen die Wunde behandeln«, knurrte der Archäologe und erhob sich. Im trüben Licht wirkten die Linien in seinem Gesicht tief und dunkel. Er schien in den vergangenen Minuten gealtert zu sein. In seinen Augen spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle wider; hilflose Wut, Enttäuschung, Sorge, Bedauern. »Wenn ich das geahnt hätte…«
Swanton verschwieg, was dann gewesen wäre. Er holte Verbandszeug, legte Vince einen Verband an und Jane konnte sich nicht verkneifen, zu sagen: »Jetzt siehst du aus wie ein ägyptischer Eseltreiber.«
Sie erntete dafür einen wütenden Blick von Vince. Und ihr Vater tadelte sie: »Jetzt ist nicht die Zeit, für Späße, Jane. Die Sache ist viel zu ernst.«
»Natürlich, Dad entschuldige.«
»Ich brauche ein Steak«, ließ sich Jonathan vernehmen. Er hatte sich gesetzt, den Ellenbogen auf die Tischplatte gestellt und stützte sein Kinn auf die zu Faust geballte Hand.
»Sie haben Hunger?«, fragte Swanton ungläubig.
»Ich will es auf die Beule legen«, versetzte Jonathan. »Der Appetit ist mir vergangen. Eis würde es auch tun. Aber Eis ist wohl das Letzte, was man in Ägypten bekommen kann.«
»Ein Steak musst du dir aus den Rippen schneiden, Jonathan«, erklärte Jane. »Dörrfleisch kannst du haben. Aber dann kannst du gleich eine Baumrinde auf deine Beule pressen.«
»Welcher Teufel hat mich nur geritten, als ich mich entschloss, mit Ihnen nach Ägypten zu gehen, Sir?«
»Sie haben vergessen, stramm zu stehen, wenn Sie mit mir sprechen«, knurrte Swanton und es klang ausgesprochen sarkastisch. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt. Er war gereizt und schalt sich einen dilettantischen Narren, weil er die Gefahr durch Grabräuber unterschätzt hatte. Er hätte es selbst übernehmen sollen, das Grab zu bewachen.
»Aber, Ben, ich dachte…« Unbeholfen drückte sich Jonathan vom Stuhl hoch. Schief stand er da. Er mutete an wie ein Häuflein Elend.
»Der Schlag auf den Kopf scheint ein Wunder bewirkt zu haben«, grollte Swanton und legte Jonathan die Hand auf die Schulter. »Sitzen bleiben, Jonathan. Mir scheint, der Knoten ist geplatzt.«
Jonathan musterte ihn irritiert.
»Wie viel Uhr ist es?«, wollte Ben Swanton wissen.
Jonathan zog die Uhr aus der Tasche und warf einen Blick auf das Zifferblatt. »Halb vier.«
»Danke. Legen wir uns noch ein paar Stunden nieder, wenn auch an Schlaf nicht mehr zu denken sein wird.«
»Gib acht, dass dein Turban nicht verrutscht, Vince«, sagte Jane.
Dumme Gans!
Vince fand in der Tat keinen Schlaf und drehte sich von einer Seite auf die andere. Sein Kopf schmerzte. Der Gedanke an die Grabräuber brachte sein Blut zur Wallung. Er kannte diesen John Carson nicht, wusste aber von seinem Onkel, dass es um einen zweiundfünfzigjährigen Archäologen aus Boston handelte. Onkel Ben hatte einige Geschichten von Carson erzählt, die diesen Mann bei Vince nicht gerade in ein gutes Licht gerückt hatten. So sollte er Funde unterschlagen und Ausgrabungen anderer Archäologen auf seinen Namen gemeldet haben. »Carson ist wie ein Kuckuck, der seine Eier in fremden Nestern ablegt«, war der Vergleich, den Onkel Ben gezogen hatte – ein Vergleich, der in Vinces Augen zwar ein wenig hinkte, der aber dennoch zum Ausdruck brachte, dass Carson nicht mit reellen Mitteln arbeitete.
Die Stunde, in der sich die Räuber der Nacht zur Ruhe begeben, brach an. Die Sterne verblassten, die Dunkelheit verwandelte sich in trübes Grau. Vince rollte sich zusammen und drückte die Augen zu. Die Müdigkeit steckte ihm bis in den Knochen, und jetzt, da die Zeit zum Aufstehen nahte, spürte er sie mit besonderer Intensität.
Jonathan schnarchte.