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Kommissar Jörgensen und die mörderische Habgier: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

von Chris Heller (Autor:in) Thomas West (Autor:in)
©2022 170 Seiten

Zusammenfassung

Kommissar Jörgensen und die mörderische Habgier: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

Krimi von Thomas West & Chris Heller







Eigentlich wollte der Ex-Bundeswehroffizier Herbert Siebert nur einen Geschäftskredit beantragen, weil er von seinem Partner übers Ohr gehauen wurde, als die Filiale der Hamburger Bank überfallen wird. Die von der Presse sogenannte >Schleierbande< hat erneut zugeschlagen. Während die Kriminalkommissare Uwe Jörgensen und Roy Müller, die vorübergehend bei der Sondereinheit für Banküberfälle eingesetzt wurden, fieberhaft nach den Räubern suchen, hat Siebert eine zündende Idee: Warum nicht diesen perfekt inszenierten Bankraub nachahmen und ihn damit der Schleierbande in die Schuhe schieben …?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Kommissar Jörgensen und die mörderische Habgier: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

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Krimi von Thomas West & Chris Heller

––––––––

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Eigentlich wollte der Ex-Bundeswehroffizier Herbert Siebert nur einen Geschäftskredit beantragen, weil er von seinem Partner übers Ohr gehauen wurde, als die Filiale der Hamburger Bank überfallen wird. Die von der Presse sogenannte >Schleierbande< hat erneut zugeschlagen. Während die Kriminalkommissare Uwe Jörgensen und Roy Müller, die vorübergehend bei der Sondereinheit für Banküberfälle eingesetzt wurden, fieberhaft nach den Räubern suchen, hat Siebert eine zündende Idee: Warum nicht diesen perfekt inszenierten Bankraub nachahmen und ihn damit der Schleierbande in die Schuhe schieben ...?

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author 

Kommissar Jörgensen wurde erfunden von Alfred Bekker

Chris Heller ist ein Pseudonym von Alfred Bekker

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen 

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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“Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was das hier soll”, sagte ich.

“Das ist jetzt einfach Vorschrift, Herr Jörgensen.”

“Ich weiß.”

"Also würde ich sagen, wir fangen an - oder was denken Sie?”

“Von mir aus. Aber das bedeutet nicht, dass ich den Sinn der ganzen Angelegenheit einsehe.”

Der Therapeut sah mich an. Ein Blick, der schwer zu deuten war. Vor allem wirkte dieser Blick verständnisvoll. Sehr verständnisvoll. Man konnte auch sagen übermäßig verständnisvoll. Penetrant veständnisvoll. Dieses penetrante Verständnis schien eine Berufskrankheit dieser Leute zu sein.

Das war mir schon bei anderer Gelegenheit aufgefallen.

Ein gewisses Maß an Zugewandtheit und Verständnis ist sicher wichtig, wenn man therapeutisch tätig ist.

Aber der Grat ist sehr schmal.

Die Grenze wird leicht überschritten und dann wird aus Verständnis überhebliche Herablassung.

“Herr Jörgensen, es ist jetzt Vorschrift, dass Kriminalbeamte, die in so besonderen Tätigkeitsfeldern arbeiten wie Sie, psychologisch betreut und gegebenenfalls therapeutisch unterstützt werden. Das ist der Grund für unser Gespräch.”

“Das weiß  ich. Aber es ist mir nicht bewusst, dass ich irgendwelche Hilfe benötige."

“Wissen Sie, dass das durchaus typisch ist, Herr Jörgensen?”

"Was soll typisch wofür sein?”

“Angehörige helfender Berufe haben häufig die Idee, dass sie selbst keine Hilfe brauchen.”

“Was ist verkehrt daran, selber zurechtzukommen?"

“Daran ist nichts verkehrt, Herr Jörgensen."

“Na, eben!”

“Vorausgesetzt natürlich, es stimmt auch.”

“Warum sollte es nicht stimmen?”

“Weil Angehörige helfender Berufe die Neigung haben, zu leugnen, dass sie Bedarf an Hilfe haben, auch wenn das objektiv falsch ist.”

“Bedarf an Hilfe..."

“Ja?”

“Eine eigenartige Formulierung."

“Finden Sie? Ich glaube, nur Therapeuten sprechen so.”

“Sie finden also, dass die Formulierung Bedarf an Hilfe eigenartig ist.”

“Ja.”

“Könnte man sagen, dass Sie dieser Formulierung ambivalent gegenüberstehen?”

“Man könnte sagen, dass ich dieses ganze Theater für Zeitverschwendung halte”, sagte ich. “Ich sollte jetzt eigentlich ganz woanders sein. Ich sollte Gangster observieren oder Spuren auswerten oder einen ord aufzuklären versuchen. Stattdessen sitze ich hier bei Ihnen und muss mir anhören, dass ich irgendwelche Probleme habe, auf die ich nie von allein gekommen wäre. Das ist nicht unbedingt das, was ich mir so von meinem Beruf vorstelle."

“Was stellen Sie sich denn vor, Herr Jörgensen?”

“Was ich mir vorstelle?"

“Ja.”

“Danach fragen Sie alle Ernstes?"

“Natürlich, Herr Jörgensen.”

“Um mich geht es doch hier gar nicht."

“Natürlich geht es hier um Sie. Um niemand anderen.”

“Wenn es um mich ginge, dann säße ich jetzt nicht hier.”

“Hören Sie...”

“Wenn es wirklich um mich und mein Wohlergehen ginge, dann hätte man mich gefragt, ob ich so einen Mist überhaupt brauche! Vielleicht brauche ich etwas ganz anderes! Vielleicht reicht es mir schon, wenn ich mit jemandem, der einigermaßen vernünftig ist, ein Bier trinken gehe! Aber nein, irgendwer hat entschieden, dass es für mich das Beste ist,wenn ich mit Ihnen hier deine Sabbelstunde abhalte und vielleicht meine Ängste, meine Eltern, meine Kindheit oder was weiß ich spreche. Nur, das alles hilft mir kein bisschen, müssen Sie wissen.”

Es herrschte einige Augenblick lang Schweigen. Niemand hört gerne, dass seine Arbeit eigentlich überflüssig ist. Therapeuten sind da keine Ausnahme. Freundliches Gesäusel hin oder her.

Insgesamt nahm der Therapeut meine kleine Ansprache ziemlich gelassen hin, wie ich fand.

Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.

Dann schlug er sie andersherum übereinander.

Offenbar schien er nicht so genau zu wissen, wie es jetzt weitergehen sollte, was für einen Therapeuten schon etwas erstaunlich ist., An sich ist genau das ja deren Job.

“Tja, was soll ich jetzt sagen”, meinte er. Ein Satz, der so klang, als wollte er ein wenig Zeit gewinnen. Und wahrscheinlich war genau das auch der Sinn des Satzes.

“Wie wär's, wenn wir an dieser Stelle einfach Schluss machen”, schlug ich vor. "Anstatt, dass ich über meine Kindheit und meine Komplexe und meine Albträume rede, könnte ich einfach die Zeitung lesen oder irgendetwas anderes tun und Sie könnten die Bürokratie für die Krankenkasse erledigen. Wir hätten beide was davon. Mehr zumindest, als wenn wir dieses Gespräch fortsetzen.”

Der Therapeut lächelte kurz.

Ganz kurz nur.

Ein Zeichen dafür, dass er insgeheim vielleicht sogar genauso dachte, wie ich. Zumindest verstand er meinen Vorschlag. Da war ich mir sicher.

Dann wurde sein Gesicht wieder  Ernst und er fuhr fort: Herr Jörgensen, Sie haben gerade Albträume erwähnt.”

“Das warf nur ein Beispiel."

“Haben Sie Albträume?”

“Nun fängt das wieder an.”

“Am besten Sie schildern mir entweder Ihren letzten oder Ihren schlimmsten Albtraum.”

“Warum?”

“Dann können wir damit arbeiten."

“Sie können nicht aus Ihrer Haut, nicht wahr?”

“Bei welcher Gelegenheit treten diese Albträume auf? Nur sporadisch oder stehen sie in einem zeitlichem Zusammenhang mit irgendwelchen Ereignissen?"

“Sie können einfach nicht aus Ihrer Haut”, stellte ich fest. “Sie könne es nicht ertragen, wenn ein Gespräch nicht nach dem Schema aus Ihrem Lehrbuch abläuft. Sie können es nicht aushalten, dass jemand vielleicht gar keine Hilfe braucht, denn dass bedeutet im Umkehrschluss ja auch, dass Sie vielleicht überflüssig sein könnten. Sie, Ihre Tätigkeit, die teure Ausbildung die Sie gemacht haben und die qualvolle Selbstanalyse, mit der Sie Jahre Ihres Lebens verschwendet haben.”

“Eigentlich ist das hier so vorgesehen, dass ich Ihnen die Fragen stelle, die Sie dann beantworten.”

“Ich bin das beruflich durchaus auch umgekehrt gewöhnt”, sagte ich.

“Dann verunsichert es Sie, Herr Jörgensen, dass dies eine Situation ist, in der das umgekehrt läuft?"

Ich überlegte, ob eine Antwort lohnte.

Dann entschied ich mich, von meinem Recht, zu schweigen, Gebrauch zu machen.

Übrigens: Mein Name ist Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar und Teil einer in Hamburg angesiedelten Sonderabteilung, die den etwas umständlichen Namen ‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes’ trägt und sich vor allem mit organisierter Kriminalität, Terrorismus und Serientätern befasst.

Die schweren Fälle eben.

Fälle, die zusätzliche Resourcen und Fähigkeiten verlangen.

Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller tue ich mein Bestes, um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu zerschlagen. “Man kann nicht immer gewinnen”, pflegt Kriminaldirektor Bock oft zu sagen. Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat er mit diesem Statement Recht.

*

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Hamburg ist eine wunderschöne Stadt. Doch in den verkehrsreichen Straßen kann es manchmal auch ganz schön chaotisch zugehen. Jeden Morgen um die Rush Hour herum stehen die Autos dicht an dicht und es scheint, als könnte sich keines mehr bewegen. Die Menschen im Stau sind genervt und ungeduldig. Sie hupen und schreien, versuchen aber trotzdem, ruhig zu bleiben.

Doch dann, auf einmal, passiert etwas Unglaubliches: Ein kleines Tier rennt über die Straße und alle Autos bremsen sofort ab. Ein Eichhörnchen, glaube ich. Alle Fahrer sind baff und warten gespannt, was das Tier als nächstes tun wird. Plötzlich aber springt es auf einen Bus auf und setzt sich auf sein Dach. Der Busfahrer fährt langsam weiter und alle anderen Autofahrer folgen ihm vorsichtig.

So geht es eine Weile weiter, bis der Stau plötzlich gelöst ist und alle Menschen froh sind, dass sie endlich weiterfahren können. Dieses kleine Tier hatte mit seiner mutigen Tat die Rush Hour in Hamburg tatsächlich besiegt!

Ich holte meinen Kollegen Roy Müller an der bekannten Ecke ab.

Gemeinsam fuhren wir zum Präsidium.

Das war Morgenroutine.

“Moin, Uwe!”

“Moin, Roy!”

Seine Mutter mochte Roy Black.

Darum heißt mein Kollege nun Roy Müller.

Schicksal eben.

Mein Vater fand Uwe Seeler gut, das Idol des HSV und der deutschen Fußball-Nationalmannschaft.

Darum heiße ich Uwe.

*

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Stress, Hektik und immer wieder diese Schlaglöcher in den Straßen – die Fahrt ins Büro ist für viele Menschen ein täglicher Albtraum. Kein Wunder, dass bei manchen schon der kleinste Stau die Nerven flattern lässt. So auch heute Morgen in Hamburg. An der Ampel zur U-Bahn-Station „Jungfernstieg“ staut es sich wie so oft. Doch diesmal reicht es den wartenden Autofahrern nicht mehr. Sie hupen, schreien und geben dem Fahrer des roten Wagens vor ihnen die Schuld an ihrer misslichen Lage.

Doch der sitzt ruhig am Steuer und scheint sich über die Wutausbrüche seiner Mitmenschen nur zu amüsieren. Als die Ampel auf Grün springt, setzt er gemächlich sein Auto in Bewegung – und blockiert damit die Kreuzung. Die anderen Autofahrer müssen abbremsen und fluchen. Doch dem Fahrer des roten Wagens ist das egal – er hat seinen Spaß!

Hamburg ist eine Großstadt mit vielen Menschen und Autos. An jeder Ecke gibt es Ampeln, an denen der Verkehr oft staut. Die Menschen werden nervös und gereizt, weil sie lange warten müssen.

An diesem Tag kam es zu einem großen Stau an einer Ampel. Viele Menschen hatten bereits ihre Geduld verloren und die Situation eskalierte. Einige begannen, die anderen Autofahrer anzuschreien und zu beschimpfen. Andere stiegen aus ihren Autos und machten sich auf den Weg zu Fuß weiter.

Doch dann passierte etwas Seltsames: Die Ampel blieb einfach stehen - sie war kaputt! Nun stand der ganze Verkehr still und niemand wusste, was er tun sollte. In diesem Moment bewahrheitete sich, was man immer sagt: In Hamburg ticken die Leute aus!

“Immer mit der Ruhe", meinte Roy.

“Sag ich auch immer”, gab ich zurück.

“Wie war denn dein Gespräch?”

“Mit dem Psycho?”

“Genau.”

“Traumatisch, Roy. Traumatisch.”

*

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Norbert Gutzmer zog das weiße Hemd vom Garderobenständer. Während er hineinschlüpfte, ging er langsam zum Tisch. Dort lag neben einem schwarzen Aktenkoffer ein abgegriffenes Taschenbuch.

Gutzmers Hände wanderten die Knopfleiste des Hemdes hinunter. Dabei beäugte er die aufgeschlagenen Seiten des Buches.

"Ein zehn Meter hoher Bambus wird vom Sturm geknickt." Murmelnd prägte er sich die Denksportaufgabe ein. "Drei Meter vom Stamm des Bambus‘ entfernt berührt die abgebrochene Spitze die Erde." Er reckte das Kinn hoch, um den obersten Knopf zu schließen. "In welcher Höhe wurde der Bambus abgeknickt?"

Was andere Leute mit Kaffee oder Morgengymnastik versuchten, bewerkstelligte Norbert Gutzmer mit Denksportaufgaben: Das Hirn in Schwung bringen. Jedenfalls an Tagen, an denen er wichtige Aufgaben zu erledigen hatte. Aufgaben, für die ein hellwaches Gehirn unabdingbar war. Heute lag so eine Aufgabe vor ihm.

Grübelnd ging er in das zweite Zimmer seiner Wohnung und kniete vor seinem Schreibtisch nieder. "Ein zehn Meter hoher Bambus ..." In Gedanken wiederholte er das Problem, während er einen Computer-Tower zu sich heranzog. Mit wenigen Handgriffen löste er die Verblendung vom Gehäuse des PCs.

Aus dem ausgeschlachteten Hohlraum - den 20-Zoll Monitor auf seinem Schreibtisch hatte Gutzmer längst an ein Highend-Notebook angeschlossen - zog er die Einzelteile einer Maschinenpistole.

Er versuchte sich einen abgeknickten Bambus vorzustellen.

"Muss auf jeden Fall unterhalb der Mitte abgeknickt sein." Zurück an seinem Wohnzimmertisch begann er, die Maschinenpistole zusammenzubauen. "Sonst würde die Spitze den Boden ja überhaupt nicht berühren."

Er ließ das Magazin einrasten und wog die MP5 von Heckler & Koch einen Moment lang in seinen Händen, bevor er sie behutsam in den schwarzen Aktenkoffer legte.

Noch einmal beugte er sich über das Buch.

"In welcher Höhe wurde der Bambus abgeknickt ..."

Er zog die silbergraue Krawatte vom Garderobenständer. Vor dem Badezimmerspiegel band er sich sorgfältig den Knoten. Die Vorstellung von dem abgeknickten Bambus stand jetzt so deutlich vor seinen Augen, dass er sein Spiegelbild kaum wahrnahm. Das Spiegelbild eines Allerweltsgesichts: glatt rasiert, schmal, grau-blaue Augen, dunkelblondes, dünnes Haar, das über der hohen Stirn schon einer Glatze zu weichen begann.

"Das ist doch ein geometrisches Problem", murmelte er. "Stamm und Boden bilden einen rechten Winkel." Er ging in seine kleine Küche, aß im Stehen die zweite Hälfte seines morgendlichen Müslis und trank seinen Orangensaft aus.

Wieder im Bad putzte er sich ausgiebig die Zähne. Er griff nach der Parfümflasche und sprühte sich das Duftwasser an Hals und Hemd. Dann zog er seine schwarze Anzugjacke über, schnappte sich seinen Aktenkoffer und setzte einen schwarzen Hut auf. An der Wohnungstür kehrte er noch einmal um, ging zum Tisch zurück, und ließ das Buch in der Außentasche seines Sakkos verschwinden.

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Ein Dreieck, dachte er, während die Lifttür sich auseinanderschob, Stamm, abgeknicktes Stück und die Verbindungslinie zwischen Spitze und Stamm bilden ein rechtwinkliges Dreieck.

Er verließ das Apartmenthaus in Altona-Nord und steuerte die nächste S-Bahnstation an. Er ging nicht schnell, schlenderte fast - wie ein Mann, der kein Ziel hatte.

Ganz in Gedanken versunken stieg er in eine Bahn nach Osten. Sein sonst so gleichmütiges Gesicht nahm einen unwilligen Zug an. Es nervte ihn, schon eine Viertelstunde lang vergeblich nach der Formel zu grübeln, die er zur Lösung seiner Denkaufgabe brauchte.

An der Station Landungsbrücken stieg er aus.

Nick Grüttners blau-weißer alter Opel wartete schon auf dem Parkplatz. Gutzmer stieg zu.

"Du stinkst nach Pferd", begrüßte er den anderen.

"Und du nach Puff." Grüttner fädelte sich in den Mittagsverkehr ein. "Mal wieder eine Überdosis erwischt, he?" Der stämmige, graulockige Mann rümpfte die Nase.

Er kam direkt aus Horn, wo er in der Nähe der Pferderennbahn ein kleines Gestüt besaß. Sein rot-schwarz kariertes Baumwollhemd hing ihm über die fleckigen Jeans. Norbert Gutzmer schielte geringschätzig zu seinen hohen Lederstiefeln hinunter, an denen noch Spuren seiner morgendlichen Stallarbeit klebten.

Freitagmittag - viele Wochenendurlauber strömten bereits aus der Stadt. Der Verkehr schleppte sich zäh dahin. Gutzmer und Grüttner, eingeborene Hamburger, waren nichts anderes gewöhnt.

"Wie lautet der Satz des Pythagoras?", brach Gutzmer das Schweigen.

Der andere sah ihn verständnislos an.

"Phyta...? Der hamburgische Mittelgewichtler aus Altona?"

Gutzmer wandte sich ab und sah missmutig zum Seitenfenster hinaus.

"Vergiss es!"

An der Kreuzung Schaarsteinweg/Herrengraben fuhren sie in ein Parkhaus. Oliver Adam wartete an dem zweiten Wagen, einem grauen Ford-Kombi. Sie stellten den alten Opel ab und stiegen um.

"Ich muss in spätestens zwei Stunden zurück sein." Adam legte seinen braunen Aktenkoffer vorsichtig neben sich auf dem Rücksitz ab. "Sonst ist mein Alibi futsch."

Der kleine, breitschultrige Mann war mit achtundzwanzig der Jüngste der Gruppe. Nach abgebrochenem Medizinstudium arbeitete er zurzeit als Pfleger in der Stadtklinik Hamburg. Er trug ein sportliches, rotes Sakko, Jeans und braune Ledermokassins. Die große schwarze Baseballkappe bedeckte sein dunkles Haar vollständig und störte irgendwie das harmonische Gesamtbild seiner Erscheinung.

Grüttner ließ den Ford aus dem Parkhaus rollen und reihte sich nach Norden in die Straße Herrengraben ein. Über die A4 ging es östlich in die Domstraße.

"Ich hab's", rief Norbert Gutzmer plötzlich. Grüttner reagierte nicht. Adam beugte sich nach vorn und blickte ihn erwartungsvoll von der Seite an. "c2 = a2 + b2 ...!" Grüttner drehte sich zu Adam um und tippte sich an die Stirn. "Und a ist die Entfernung von der abgebrochenen Spitze zum Stamm ..." Er lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen. "a ist gleich drei Meter ..."

Keiner sprach ein Wort, bis sie den Außenbezirk von St. Georg erreichten.

"Okay, ich lass euch hier raus." Grüttner hielt an der Ecke zur Steinstraße. "Ich komme über die Mönckebergstraße und behalte die Bank vom Passage Kino aus im Auge."

Gutzmer reagierte nicht.

Adam griff sich seinen Aktenkoffer.

"Gehst du wieder zuerst rein?" Gutzmer hob die Hand. Immer noch hielt er die Augen geschlossen. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine tiefe Falte eingekerbt.

"Okay!", rief er schließlich, griff in seine Tasche und reichte das Buch nach hinten zu Adams.

"Ganz hinten bei den Auflösungen, Nummer 33", sagte er, "aber verrat mir nicht das Ergebnis, wenn ich falsch liege!"

Grüttner verdrehte die Augen. Adam nahm das Buch entgegen und schlug die Auflösungen auf. Er kannte Norbert Gutzmer seit Jahren und hatte es sich abgewöhnt, über den seltsamen Vogel zu staunen.

"Also", begann Gutzmer fast feierlich. "Der Bambus ist in einer Höhe von 4,55 Meter abgebrochen, und der abgebrochene Teil ist folglich 5,45 Meter lang."

Er hatte sich zu Adams umgedreht und hielt den Atem an, während der die Zahlen verglich. "Korrekt." Adams drückte ihm das Buch in die Hand. "Also - gehst du wieder zuerst rein?"

Gutzmer lächelte zufrieden und nahm den Aktenkoffer mit der Maschinenpistole aus dem Fußraum.

"Ich geh' zuerst rein. Wir machen es wie immer ..."

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Der Mann ging schaukelnd und mit leicht nach vorn gebeugtem Oberkörper. Sein großer, fast kahl geschorener Schädel war seinem kleinen, athletisch gebautem Körper immer ein Stück voraus - als würde er einen unsichtbaren Gegner umrennen wollen.

Lässig hob er die Hand und grinste die Kassiererin an. Die blonde Frau zwinkerte ihm zu. Sie war erst seit zwei Monaten in dieser Filiale der Hamburger Bank angestellt. Über vielversprechende Blicke waren sie noch nicht hinausgekommen. Wurde höchste Zeit, sie zum Essen einzuladen.

Er warf seine teure Ledermappe auf den Schaltertresen. Die Mitarbeiterin am Schreibtisch, eine dürre Rothaarige, sah auf. "Ich hab einen Termin mit Herrn Rolfes", sagte der Mann mit tiefer Stimme. Er wandte sich ab, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tresen auf und sah sich im Schalterraum um.

An den beiden Stehpulten vor der Fensterfront beschäftigten sich zwei Männer mit irgendwelchen Papieren. Eine Frau hantierte am Geldautomaten herum. Am Kassenschalter standen drei Kunden. Die schönen Augen der jungen Kassiererin hingen jetzt an den Geldscheinen, die sie einem von ihnen auszahlte.

"Herr Rolfes ist leider nicht da, Herr Siebert." Eine hohe Frauenstimme hinter ihm. Herbert Siebert drehte sich wieder zum Tresen um. Die Rothaarige war hinter dem Monitor ihres PCs aufgetaucht. Sie machte ein fast schuldbewusstes Gesicht.

Er steckte beide Hände in die Taschen seiner schwarzen Leinenhose, so dass sich sein zerknautschter Trenchcoat öffnete und den Blick auf eine rote Samtweste und ein bis über das Brustbein aufgeknöpftes Hemd freigab. Für einen Moment blieb der Blick der Rothaarigen an Sieberts schwarzer Brustbehaarung hängen.

"Er hat letzte Woche einen Termin mit mir vereinbart!" Auch jetzt, wo seine sanfte Stimme einen energischen Unterton annahm, verschwand das Grinsen nicht von seinem Gesicht. "Also muss er da sein, oder sehen Sie das anders?"

Endlich traute die Frau sich aus der Deckung ihres Schreibtisches heraus.

"Sicher, Herr Siebert", sie versuchte ein verständnisvolles Lächeln. Ihre großen, grünen Augen bekamen plötzlich etwas Starres. Als würde die Frau einen hartnäckigen Kampf mit ihnen führen, damit sie nicht wieder zur Brustbehaarung des Mannes herunterwanderten. "Normalerweise schon. Aber Herr Rolfes musste unvorhergesehen in einer anderen Filiale aushelfen. Nur vorübergehend."

Er sah sie herausfordernd an.

"Und was machen wir jetzt?"

"Ich hole Herrn Bertrand, Moment bitte."

Und wieder streifte der Blick der Frau seine breite, haarige Brust.

Sie eilte auf eine große Trennwand zu, die den Geschäftsraum teilweise vom Schreibtisch des Filialleiters abtrennte.

Siebert wandte sich zur Kasse. Das blonde Mädchen beobachtete ihn. Ein entzückendes Lächeln glitt über ihre schönen Züge. Siebert lächelte zurück.

Er hatte sich nie gefragt, warum die Frauen auf ihn flogen - auf einen kleinen, kahl geschorenen Mann mit O-Beinen. Er nahm es einfach als naturgegeben und selbstverständlich hin.

Die Rothaarige sprach mit dem stellvertretenden Filialleiter. Bertrand war nach Sieberts Erfahrungen keine Leuchte. Hielt sich eng an die Vorgaben seiner Direktoren. Ein verkrampfter Sesselfurzer - so schätzte er ihn ein.

Dass Rolfes nicht da war, wollte ihm für einen Moment Kopfzerbrechen bereiten. Der junge Bankkaufmann war kein ganz unbedeutender Faktor in seiner Planung. Siebert kannte Raimund Rolfes auch privat. Zwar nur flüchtig - sie trafen sich ab und zu in einem Fitness-Studio am Alten Fischmarkt - aber Rolfes hatte ihm schon manchen Kredit zu günstigen Bedingungen verschafft.

Siebert schob seine Bedenken beiseite. Er war Optimist. Und würde schon klarkommen mit diesem Bertrand.

"Herr Bertrand erwartet Sie, Herr Siebert."

Er klemmte sich seine Tasche unter den Arm und ging um den Tresen herum. Wieder dieser schaukelnde, angriffslustige Gang. Die Rothaarige sah ihm nach - mit starren Augen und leicht geöffneten, feuchten Lippen.

"Hi, Herr Bertrand! Wie geht's so?" Er streckte dem Mann die rechte Hand hin. Der hagere Enddreißiger bewegte keine Miene. Als müsste er eine lästige Pflicht hinter sich bringen, ließ er das Händeschütteln über sich ergehen. Irritiert spähte er nach Sieberts Rechten, als der sie zurückzog - der kleine Finger und das obere Glied des Ringfingers fehlten.

"Herr Rolfes und ich hatten über einen größeren Kredit verhandelt." Herbert Siebert schüttelte den Trenchcoat von seinen Armen ab und ließ ihn hinter sich über die Stuhllehne fallen. "Heute wollten wir die Angelegenheit über die Bühne ziehen." Lächelnd entblößte er sein strahlend weißes Gebiss. "Sie wissen ja wie das ist heutzutage - wenn man nicht ganz schnell investiert, wird man von Bill Gates gefickt und ist weg vom Fenster."

Es machte ihm Spaß zu sehen, wie der andere schluckte und die Lippen zusammenpresste.

Der dreiunddreißigjährige Siebert hatte zwölf Jahre bei der Bundeswehr gedient und war erst vor zwei Jahren im Rang eines Offiziers entlassen worden. Mit seiner hohen Abfindung und einer dicken Erbschaft war er in ein expandierendes Software-Unternehmen einstiegen. Sein Kompagnon, Richard Hornburg, wollte eine Filiale in Eimsbüttel aufmachen. Dazu brauchte die Firma mindestens achthunderttausend Euro von der Hamburger Bank.

"Haben Sie die Papiere schon fertig gemacht?" Wieder verzog Siebert seine vollen Lippen zu einem Grinsen.

Dieses freundliche Gesicht mit der Stupsnase und den listigen braunen Augen, seine liebenswürdige Art und seine Hartnäckigkeit, wenn er mit Schwierigkeiten konfrontiert wurde, hatten ihm bei der Armee den Spitznamen >Biber< eingebracht. Böse Zungen behaupteten, es wäre vor allem der Schwanz des Tieres gewesen, der bei diesem Spitznamen Pate gestanden hatte.

Bertrand faltete seine kleinen Hände und räusperte sich.

"Die Hamburger Bank kann Ihnen den Kredit leider nicht gewähren, Herr Siebert. Die Sicherheiten scheinen uns einfach nicht seriös genug zu sein."

Falten türmten sich auf Sieberts Stirn.

"Ich hör wohl nicht recht!" Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. "Erstens hat Herr Rolfes mir den Kredit in die Hand versprochen. Und zweitens: Unsere Firma mit allen Immobilien und den beweglichen Gütern ist gut und gern zehn Millionen wert. Was erlauben Sie sich eigentlich!?"

Er wurde so laut, dass die Rothaarige und einige Kunden zu ihm herüberschauten.

Bertrand wartete, bis sein Kunde Dampf abgelassen hatte. Wieder räusperte er sich.

"Herr Rolfes wurde von der Geschäftsleitung angewiesen, ihre Kreditwürdigkeit genauer zu überprüfen, und leider ..." Er unterbrach sich mitten im Satz und machte eine bedauernde Geste.

Siebert war für einen Moment sprachlos. Sollte Raimund ihm irgendetwas verheimlicht haben? Er überließ die wirtschaftlichen Dinge weitgehend seinem Kompagnon und dem Rechtsanwalt der gemeinsamen Firma.

"Das müssen Sie mir erklären, Herr Bertrand."

Lautlos tauchte die Rothaarige neben Siebert auf. Sie legte ihrem Chef einen kleinen Zettel vor. Siebert sah ihre Hand zittern. Er stutzte.

"Da ist ein ... ein Herr", flüsterte die Frau mit bebender Stimme.

Bertrand nahm den Zettel. Sein Unterkiefer sank nach unten. Er wurde leichenblass. Mit geweiteten Augen starrte er an Siebert vorbei zum Schaltertresen.

Siebert drehte sich um. Hinter dem Tresen stand ein hagerer mittelgroßer Mann in einem dunklen Anzug. Vor sich einen geöffneten Aktenkoffer. Vom Innenrand seines schwarzen Hutes hing ein schleierartiges Tuch über seine Gesicht. Ebenfalls schwarz.

Sieberts Wirbelsäule straffte sich. Ihm war sofort klar, dass der Mann nicht hier war, um ein Sparkonto zu eröffnen.

Bertrand griff hastig zum Telefon und wählte eine Nummer. Seine Unterlippe bebte, während er den Hörer ans Ohr presste. Plötzlich schien er Siebert noch bleicher zu sein, als zuvor schon. Nach langen Sekunden ließ er den Hörer aufs Telefon fallen.

Er stand auf und stelzte mit steifen Knien an ihm vorbei und ging auf den Tresen zu. Siebert sah ihn mit dem Maskierten sprechen. Der griff in seinen Aktenkoffer. Als seine Hände wieder auftauchten hielten sie ein Maschinenpistole fest. Der Maskierte machte eine ruckartige Bewegung nach oben.

Erst als die Rothaarige die Hände hob und sich in Bewegung setzte, kapierte Herbert Siebert, dass die stumme Geste ihr und ihm gegolten hatte.

Der Maskierte wiederholte sie. Diesmal heftiger.

Langsam stand Siebert auf und hob die Hände bis in Schulterhöhe. Sein Kopf weigerte sich zu akzeptieren, was er da sah. Hätte ihm Bertrand zehn Millionen ohne Sicherheiten und zu einem Girokontozins gegeben - er hätte unterschrieben und es für selbstverständlich gehalten.

Aber unangenehme Dinge, Unfälle, Krankheiten oder Ähnliches, konnte er einfach nicht in Zusammenhang mit sich selbst bringen. Und Opfer eines Banküberfalls zu werden - von so etwas liest man in der Zeitung. Oder schaut es sich bei einem Bier vom Fernsehsessel aus an.

Der Maskierte zischte einen Fluch. Und legte die MPi auf Siebert an. Der löste sich aus seiner Erstarrung und ging schnell auf den Tresen zu. Und versuchte die Wut zu ignorieren, die er heiß in sich aufsteigen fühlte.

Der Mann mit dem Schleier winkte ihn und die Rothaarige aus dem Geschäftsbereich heraus in den Kundenteil des Schalterraums. Dann riss er dem Filialleiter den Zettel aus der Hand, klappte seinen Aktenkoffer zu und folgte Bertrand in den Tresorraum. Dabei ging er rückwärts und zielte mit der MP auf Siebert und die Rothaarige.

Siebert sah plötzlich, dass alle Kunden stumm und mit erhobenen Händen dastanden. Auch die süße Kassiererin und die drei anderen Mitarbeiter der Bankfiliale. Den Grund dafür erkannte er jetzt erst: Einen untersetzten Mann in rotem Sakko. Ebenfalls mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Und ebenfalls mit einem schwarzen Schleier um den Kopf. Der schien an seiner lächerlich großen Schildkappe befestigt zu sein.

Sekunden später kam der Schwarze mit Bertrand zurück. Immer noch die MP im Anschlag. Bertrand trug den Aktenkoffer. Der Maskierte bugsierte ihn mit der MP in Richtung Kassenraum. Bertrand schloss auf und reichte den Koffer hinein. Die Blonde leerte hastig ihre Kasse.

Der Schwarze nahm den Koffer wieder entgegen und spurtete um den Tresen herum in den Kundenbereich zurück. In dem Moment kehrte er Bertrand den Rücken zu. Und Siebert beobachtete, wie der Filialleiter zögernd seinen Arm nach der Kante eines Schreibtisches ausstreckte.

Du Idiot wirst doch jetzt keinen Alarm mehr geben!, dachte Siebert.

Drei, vier Schüsse donnerten durch den Schalterraum. Noch während er sich auf den Boden warf, sah Siebert Bertrand die Arme hochreißen und stürzen.

"Er hat auf ihn geschossen! Der Kerl an der Tür hat auf ihn geschossen!"

Als er sich wieder aufrappelte, waren die beiden Männer verschwunden. Die meisten Mitarbeiter und Kunden standen immer noch mit erhobenen Händen da, als wären sie zu Gipsfiguren erstarrt. Nur zwei Männer vor dem Kassenschalter lagen am Boden.

Hinter dem Panzerglas des Schalters die blonde Kassiererin. Mit hängenden Schultern stand sie da und sah ihn aus traurigen Augen an.

"Alarmieren Sie die Polizei!", brüllte Herbert Siebert.

Er hechtete über den Tresen und rannte zwischen den Schreibtischen durch. Neben dem Eingang zum Kassenraum lag Bertrand auf dem Rücken. Seine Augen starrten leer an die Decke. Um seinen Schädel vergrößerte sich langsam eine Blutlache ...

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Ich hatte einen Tagtraum:

Es war ein typischer Montagmorgen in Hamburg. Der Verkehr auf den Straßen war langsam und stetig wie immer. Doch an der nächsten Ampel blieb der Verkehr erneut stehen. Einige Autofahrer hupten frustriert, andere sahen gelangweilt auf die Uhr oder schauten aus dem Fenster in den Regen.

Plötzlich geschah etwas Seltsames: Einer der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, stieg aus seinem Auto und ging zu Fuß weiter. Zunächst dachten die anderen, er wäre verrückt geworden. Doch dann begannen sie ebenfalls auszusteigen und ihm zu folgen. Bald waren alle Fahrer aus ihren Autos gestiegen und liefen durch den strömenden Regen der Stadt entgegen - obwohl sie keine Ahnung hatten, wohin sie gehen sollten.

Sie vertrauten dem Mann, der sie anführte, und folgten ihm blind. Niemand sprach ein Wort, doch alle fühlten sich irgendwie verbunden. Es war, als würden sie etwas Großes und Bedeutendes tun.

Als sie schließlich am Ziel ankamen - einem imposanten Gebäude am Rande der Stadt - , wussten die Menschen endlich, was los war: Sie sollten an einem Casting für eine neue Reality-TV-Show teilnehmen!

“Uwe?”

Es verging eine Sekunde.

“Uwe?”, fragte Roy daraufhin nochmal.

“Ja?”

“Bist du noch da?”

“Wo soll ich denn sonst sein?”

“Geistig, meine ich.”

“Ich war ein bisschen...”

“Ja?”

“...abgedriftet.”

“Muss ich mir Sorgen machen?”

“Du redest wie mein Therapeut!”

“Muss ich mir Sorgen machen?”

“Nein.”

“Gut.”

*

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"Früh heute!" Der Wirt des >Pranzane< winkte uns von der Theke aus zu. Es war erst kurz nach zwölf. Sonst, wenn wir in dieser gemütlichen Pizzeria mal zu Mittag aßen, kreuzten wir nicht vor eins oder halb zwei auf.

"Mitten in der Nacht gefrühstückt", rief Roy dem Wirt zu. "Der Magen meldet sich früher als sonst." Roy rieb sich über den Oberbauch.

Ersteres war übertrieben. Wir hatten gegen sechs Uhr morgens gefrühstückt. Gemeinsam und in unserem Dienstwagen, einem grauen Mercedes. Das lag schlicht und einfach daran, dass wir uns die Nacht mit einer Observation um die schlagen mussten. Wir waren einem russischen Waffenhändler auf der Spur gewesen. Noch am frühen Morgen konnten wir den Mann bei der Abwicklung eines dicken Geschäftes stellen.

Den Morgen und Vormittag über waren Verhöre und Berichte angesagt gewesen. Eine klare Sache. Mit den Beweisen, die wir der Staatsanwaltschaft auf den Tisch gelegt hatten, dürfte sie den Mann in kürzester Zeit dorthin bringen, wo er hingehörte: hinter Gittern.

Wir bestellten Pizza und Cola. Und merkten einmal mehr, dass es nach getaner Arbeit besonders gut schmeckte.

"Und weißt du, was wir jetzt machen?" Roy schob seinen Teller von sich weg und knüllte die Serviette zusammen. "Jetzt machen wir einen Verdauungsspaziergang durch St. Georg. Ganz gemütlich, als wenn's in dieser schönen Stadt überhaupt keine Arbeit für uns gebe."

"Gute Idee, Partner." Ich zog mir eine Camel aus der Schachtel. Bei großer Anspannung, oder wenn ich mich ganz entspannt fühlte wie jetzt, überfiel mich regelmäßig das Bedürfnis nach einer Zigarette. "Und wenn wir an einem schönen Café vorbeikommen, lädst du mich zu Kaffee und Kuchen ein."

"Und du mich zu einem Whisky."

Während wir zahlten, dudelte mein Handy los. Roy zog den Mundwinkel hoch.

"Ich glaub, es wird nichts mit unserem Spaziergang."

Er hatte recht. Unser Chef war am Apparat.

"Hören Sie, Uwe - Hermann Roth hat gerade angerufen. Er steckt in personellen Schwierigkeiten."

Hermann Roth war Chef der Einsatzgruppe für Bankraub. Diese Sondereinheit für Banküberfälle wurde vom LKA und der Polizei gemeinsam unterhalten.

"Und jetzt hat die Polizei seine Sondereinheit angefordert. Ich würde Sie und Roy bitten in den Fall einzusteigen."

"Einverstanden."

"Dann fahren Sie doch mal eben zur Ecke Kreuslerstraße und Mönckebergstraße. Dort ist ein Filiale der Hamburger Bank überfallen worden. Der Kollege Roth erwartet Sie schon."

"In Ordnung, Chef." Ich steckte mein Handy weg. "Wir müssen mal eben um die Ecke, Partner."

"Um die Ecke?"

"Ja. Banküberfall in der Mönckebergstraße."

"Was haben wir mit Banküberfällen zu tun?"

Während wir zu unserem Mercedes gingen, erklärte ich ihm die Sachlage.

Die Kreuslerstraße lag nur ein paar Blocks weiter nördlich und die Bank in der Mönckebergstraße ganz in der Nähe, gegenüber vom Passage Kino. Zehn Minuten später hielten wir vor der Bankfiliale. Davor das vertraute Bild: Streifenwagen, Ambulanzen, Gaffer und Presse vor dem gelben Absperrband. Und ein Leichenwagen.

Roy verzog das Gesicht und rieb sich den Bauch.

"Muss das sein?", knurrte er.

Die Bank war in dem riesigen grauen Gebäude untergebracht, in dem sich auch noch weitere Geschäfte befanden wie zum Beispiel Galeria-Kaufhof. Vor dem Gebäude war alles begrünt worden.

Wir stiegen die Vortreppe hoch und betraten den nicht besonders großen Schalterraum. Er war ganz mit dunklem Holz getäfelt und wirkte auf mich etwas düster.

Hinter dem Schaltertresen an einem der Schreibtische saß ein bulliger Mann - groß, rotes Gesicht, Tränensäcke und Doppelkinn, etwa fünfzig Jahre alt: Hermann Roth, Kommissar beim LKA und Leiter der Einsatzgruppe Bankraub.

Als er uns sah, stand er auf und kam um den Tresen herum auf uns zu.

"Uwe und Roy, schön Sie mal wiederzusehen." Wir kannten uns aus früheren Einsätzen. "Vorgestern sind gleich zwei meiner Leute angeschossen worden. Und die fehlen mir jetzt." Er drehte sich um und bedeutete uns mit einer Handbewegung ihm zu folgen. "Hört euch die Sache einfach mal an! Den Hintergrund erklär' ich euch später."

Mit schweren Schritten, und den großen grauhaarigen Schädel auf die Brust gesenkt, stapfte er zurück an den Schreibtisch. Sein dunkelgrüner Anzug war um das Gesäß herum total zerknittert.

Ein Mann und zwei Frauen warteten dort auf ihn.

"Frau Lennert und Frau Ehlert", deutete er auf eine rothaarige Endvierzigerin mit verweinten Augen und eine junge Frau mit kurzen, blonden Haaren. "Die beiden sind hier angestellt. Und das ist Herr Siebert." Roth ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. "Er war zurzeit des Überfalls als Kunde beim stellvertretenden Filialleiter." Er deutete auf einige Leute vom Zentrallabor, die sich vor dem Eingang zum Kassenraum am Boden zu schaffen machten. "Er hat Herr Bertrand zuletzt gesprochen. Abgesehen von seinem Mörder."

Ich bewegte mich auf den Kassenraum zu. Roy machte keine Anstalten mir zu folgen. Auf dem Boden zwischen Kassentür und Schreibtisch die Leiche eines etwa vierzigjährigen Mannes in einer großen Blutlache.

Der Gerichtsmediziner sah auf.

"Hallo, Herr Jörgensen." Betreten schaute er den Toten an. "Er war sofort tot. Vier Einschüsse. Drei in den Kopf, einer im Rücken."

Ich nickte und ging zurück zu Roy und Roth. Zwei Mitarbeiter von der Pathologie drängten sich mit einem Leichensack an mir vorbei.

"Sie waren mit Maschinenpistolen bewaffnet", sagte Roth.

"MP5, Heckler & Koch", mischte der Mann sich ein, den Roth als >Herr Siebert< vorgestellt hatte. Ein kleiner Bursche mit sympathischem Jungengesicht, einem gewaltigen Brustkasten und breiten Schultern. Ich sah ihn fragend an. "War zwölf Jahre bei der Bundeswehr. Und bin ein Waffennarr." Er zuckte mit den Schultern und breitete die Arme aus, als müsste er sich dafür entschuldigen, dass er die Waffe erkannt hat. Sein Lächeln hatte fast etwas Verlegenes.

Die Augen des blonden Mädchens hingen bewundernd an seinen Lippen. Der große Schädel des Mannes war fast kahl rasiert. Die sprießenden Haarstoppeln bedeckten ihn wie ein schwarzer Schatten. Auch sein braun gebranntes Gesicht war dunkel vor Bartstoppeln. Ich schätzte, dass er Südländer unter seinen Vorfahren hatte.

"Einer der Männer gab Ihnen also einen Zettel." Roth wandte sich an die Rothaarige.

"Ja", schluchzte sie, "da stand drauf: >Wir haben Ihren Sohn und Ihre Frau.<" Ein Heulkrampf schüttelte die Frau. "Und dass Herr Bertrands Familie sterben wird, wenn die Bankräuber nicht in einer halben Stunde mit dem Geld zurück wären ...", flüsterte sie. "Ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr ..."

Roth notierte alle Aussagen und ließ sich auch von der Kassiererin und diesem Siebert genau schildern, was sie beobachtet hatten.

"Wenn wir noch Fragen haben, werden wir uns bei Ihnen melden." Er steckte sein Notizbuch weg und stand ächzend auf.

Wir räumten unserem Psychologen das Feld.

"Auf den Schreck sollten wir einen trinken gehen", hörte ich den sympathischen Kahlkopf zu der Kassiererin sagen.

"Scheint auch so einer zu sein, der nichts anbrennen lässt", raunte ich Roy zu, während wir die Bank verließen.

"Was heißt hier >auch<?" Roy spielte den Entrüsteten. "In so einer Situation ein Frau anzusprechen, die gerade Opfer eines Banküberfalls geworden ist, wäre unter meiner Würde."

"Selbstverständlich", sagte ich und erntete einen strengen Blick meines Partners.

"Also, meine Herren - die Sache ist die ..." Roth zog eine Schachtel West heraus und steckte sich eine Zigarette an. "Das ist nicht der erste Überfall dieser Art." Er stützte sich auf das Dach seines Dienstwagens und betrachtete aus schmalen Augen die graue Fassade des Bankgebäudes.

"Vor etwas über einem Jahr in Harburg, vor sechs, sieben Monaten in Blankenese, vor zwei Monaten in Wandsbek." Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

"Und immer die gleiche Masche: Ein Mann kommt in eine mittlere Bankfiliale - meistens freitags, wenn die Löhne im Tresor liegen - steht ein Weilchen am Geldautomaten herum, dann taucht er maskiert vor dem Tresen auf und drückt einem Mitarbeiter einen Zettel für den Filialleiter in die Hand, auf dem irgendeine fürchterliche Drohung steht." Seine Augen wanderten zum Eingang der Bank - Siebert und das Mädchen drückten eben die Eingangstür auf. "Meistens eine Drohung, die sich auf die Familie des Filialleiters bezieht. Inzwischen ist ein zweiter Mann aufgetaucht und hält Kundschaft und Mitarbeiter in Schach." Er zuckte resignierte mit den Schultern. "Na ja - und den Rest kennen Sie ja."

"Beute?", fragte Roy.

"Immer zwischen achtzig- und zweihunderttausend Euro", berichtete Roth. "Heute wird's wohl nicht ganz so viel gewesen sein. Die Hamburger Bank ist schon lange dazu übergegangen, die Lohngelder in der Nacht auf den Freitag auszufahren." Er warf seine Zigarette weg. "Jedenfalls ist es unser Job, die Bande zu fangen. Kommen Sie doch einfach mal mit ins Büro. Dort können Sie ungefähr zehn Kilo Papier mit Ermittlungsergebnissen studieren." Er grinste und kletterte ächzend in seinen Wagen.

"Banküberfälle", brummte Roy, während wir hinter Roth herfuhren. "Nicht gerade unsere Spezialität, was?"

"Unsere Spezialität ist doch immer das, was gerade anliegt Partner, oder?", grinste ich.

"Wenn du meinst ...?"

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Die Neuigkeiten waren umwerfend. So umwerfend, dass Rolfes nach Schalterschluss gar nicht schnell genug nach St. Pauli kommen konnte. In einem restaurierten Lagerhauskomplex in der Nähe des Elbufers lag seine Stammkneipe: Der Molly´s Irish Pub.

Gut nachgemacht ist halb wie echt.

Ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, wie ein echter irischer Pub aussehen sollte.

Dieser war natürlich nachgemacht.

Offenbar gab es genug Leute in Hamburg, die so etwas schätzten.

Auf jeden Fall war die Atmosphäre hier gemütlich.

Ob sie irisch war - wer weiß?

Dort setzte er sich wie immer ganz ans Ende der Theke, von wo aus er die Bar überblicken konnte. Und wie immer ließ er sich ein Guinness zapfen.

Bertrand war tot - auf einen Zug trank er das halbe Glas leer. Bertrand war tot - das musste er erst einmal verkraften.

Details

Seiten
Jahr
2022
ISBN (ePUB)
9783738966831
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Schlagworte
kommissar jörgensen habgier mordermittlung hamburg kriminalroman

Autoren

  • Chris Heller (Autor:in)

  • Thomas West (Autor:in)

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Titel: Kommissar Jörgensen und die mörderische Habgier: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman