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Von Totenbeschwörern und Dämonenjägern: Gruselkrimi Sammelband 3 Romane

von Frank Rehfeld (Autor:in) Hendrik M. Bekker (Autor:in) Curt Carstens (Autor:in) Klaus Frank (Autor:in)
500 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band enthält folgende Romane:

Das unheimliche Glasauge (Frank Rehfeld)

Gefährliche Geschenke (Hendrik M. Bekker/Curt Carstens)

Der Ruf des Totenbeschwörers (Klaus Frank)

Aus dem Innendienst des Verfassungsschutzes in eine neue Aufgabe bei einer bislang unbekannten Organisation, der IPA, auch Phenomena genannt. Ben Fuller weiß noch nicht, ob er richtig gehandelt hat, doch gleich sein erster Fall verlangt ihm alles ab. Jemand hat den Geist eines Massenmörders beschworen, und dieser Geist mordet in Gestalt lebender Menschen weiter.

Leseprobe

Von Totenbeschwörern und Dämonenjägern: Gruselkrimi Sammelband 3 Romane

Frank Rehfeld, Hendrik M. Bekker, Curt Carstens, Klaus Frank

Dieser Band enthält folgende Romane:


Das unheimliche Glasauge (Frank Rehfeld)

Gefährliche Geschenke (Hendrik M. Bekker/Curt Carstens)

Der Ruf des Totenbeschwörers (Klaus Frank)





Aus dem Innendienst des Verfassungsschutzes in eine neue Aufgabe bei einer bislang unbekannten Organisation, der IPA, auch Phenomena genannt. Ben Fuller weiß noch nicht, ob er richtig gehandelt hat, doch gleich sein erster Fall verlangt ihm alles ab. Jemand hat den Geist eines Massenmörders beschworen, und dieser Geist mordet in Gestalt lebender Menschen weiter.

Copyright

COVER WERNER ÖCKL

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Das unheimliche Glasauge: Grusel-Krimi

Frank Rehfeld





Spinnweben hingen von der Decke des Gewölbes. Zahlreiche Schränke standen an den Wänden, die mit alten Büchern vollgestopft waren. Ein Mann saß an einem wackligen Schreibtisch. Seine schwarzen Haare waren zerzaust. Seine braunen Augen blickten müde auf das Schreibpapier, das vor ihm lag. In der Hand hielt er eine Schreibfeder. Im flackernden Schein einer auf dem Tisch stehenden Kerze begann er zu schreiben: Wenn jemand diese Zeilen liest, werde ich bereits tot sein, ich will versuchen, einen Bericht über das Unheimliche aufzuschreiben, das mir widerfahren ist. Die Welt muß vor dem Grauen und der Gefahr gewarnt werden...


*


Silbern übergoß das Licht des Vollmondes die Kreuze und Grabsteine des alten Friedhofes. Wie stumme Wächter reckten die mächtigen Bäume ihre blattlosen Kronen in den klaren, kalten Nachthimmel. Aus Hampstead klang das Schlagen einer Kirchturmglocke herüber. Es war genau zwölfmal. Klagend schrie irgendwo ein Käuzchen.

Die Glockenschläge waren jedoch nicht ungehört verhallt. Sie drangen durch die Erde und trafen die Ohren des Wesens, das seit hundert Jahren auf diese Glockenschläge wartete.

Langsam begann sich das Ding zu rühren.

Es hatte den Impuls empfangen, der seine Lebensgeister wieder weckte.

Gleichzeitig erwachte sein Heißhunger. Mit leisem Stöhnen richtete sich das Wesen auf. Es erinnerte sich, daß es als Wächter hier lebte.

Seine Augen suchten nach der Kugel. Sie schwebte an der gleichen Stelle wie vor hundert Jahren, als sie das Wesen zuletzt gesehen hatte.

Im Dunkeln schimmerte ihre Oberfläche leicht grün. Das war der einzige Impuls, den die Kugel von sich gab.

Das Wesen wandte sich ab.

Der Hunger war stärker geworden. Es brauchte ein Opfer.

Seine dämonischen Augen fanden sich auch in der Finsternis zurecht. Gefräßig wie ein Raubtier verließ er den kleinen Raum.

Vor einer Wand blieb es stehen. Seltsame Worte drangen aus seinem Mund.

Von einer Sekunde zur anderen war ein Teil der Wand verschwunden. Rasch huschte das Wesen durch die Öffnung, die sich hinter ihm wieder schloß.

Es gelangte in einen weiteren Raum, der ebenso klein war wie der zuvor. Zwei steinerne Sarkophage standen dort.

Immer stärker ergriff der Hunger von ihm Besitz. Es warf einen Blick auf die Sarkophage.

Aber dort gab es nichts, was seinen Hunger befriedigen konnte. Zwar befanden sich dort Knochen, aber sie konnten für es keine Nahrung sein.

Es brauchte die Knochen eines Lebendigen. Das Wesen stieg die Steintreppe hinauf. Nach wenigen Stufen hatte es die mächtige steinerne Deckenplatte erreicht.

Mit aller Kraft stemmte es sich von unten dagegen. Stück für Stück wuchtete es den schweren Stein zur Seite. Endlich war die Öffnung groß genug, so daß es hindurch schlüpfen konnte.

Es kam in einem Steinbau heraus, der über dem Eingang zur Gruft errichtet worden war.

In der Gruft ruhten die Gebeine einer ehemaligen Fürstenfamilie. Das Häuschen, von außen mit kostbaren Ornamenten versehen, war, auch als der Friedhof im Lauf der Zeit bereits mehrmals eingeebnet worden war, unberührt geblieben.

Ein kunstvoll bemaltes Fenster war in der Stirnseite des Raumes eingelassen worden. Das Fenster war von außen mit Efeu überwachsen, dennoch fielen einige Strahlen des hellen Vollmondes herein.

Das Wesen genoß diese Strahlen, auch wenn sie noch so dürftig waren. Immerhin hatte es über hundert Jahre in einem todesähnlichen Schlaf verbracht.

Die Tür des Steinbaus war verschlossen. Das stellte für das Wesen kein Hindernis dar. Mit kräftigem Ruck zerbrach es die Verriegelung und stieß die Tür auf. Sie kreischte in den Angeln, denn sie war offenbar lange nicht mehr geöffnet worden, so daß sich Rost in den Scharnieren bilden konnte.

Das Wesen trat ins Freie und wurde im nächsten Moment von Mondlicht überschüttet.

Es badete förmlich im Lichtschein und sog ihn in sich auf.

Es erinnerte sich früher mal einen anderen Himmel gekannt zu haben, konnte sich aber nicht mehr dessen Beschaffenheit ins Gedächtnis rufen. Auf alle Fälle stärkte es das Licht des Vollmondes.

Sicher fand das Wesen seinen Weg zwischen den Grabreihen.

Seine Sinne hatten die Ausstrahlung eines Menschen wahrgenommen.

Der Heißhunger trieb es voran.


*


Totengräber und Friedhofswärter Peter Cunningham versah seinen Dienst bereits seit sechsundzwanzig Jahren.

Zum fünfundzwanzigsten Jahrestag seines Amtsantritts hatte ein Beauftragter der Stadt ihm offiziell gratuliert.

Cunningham legte keinen Wert auf diese Ehrungen. Am wohlsten fühlte er sich, wenn er seine Ruhe hatte.

Vor sechsundzwanzig Jahren war seine Frau gestorben. Ein betrunkener Autofahrer hatte sie angefahren. Kurze Zeit später war sie im Krankenhaus verschieden. Seit dieser Zeit arbeitete Cunningham auf dem Friedhof.

Für damalige Verhältnisse war die Bezahlung gut gewesen, mittlerweile waren jedoch Gehaltserhöhungen längst überfällig.

Aber Cunningham kam mit dem Geld gut hin. Er ging abends nie aus. Miete brauchte er keine zu bezahlen. Die Stadt hatte ihm ein Häuschen am Rand des Friedhofes zur Verfügung gestellt.

Die einzigen Kosten verursachten ihm Essen und Trinken. Für letzteres benötigte er den größten Teil seines Geldes.

Der Alkohol war für Cunningham ein Hilfsmittel, um die langen Abende auszufüllen.

Mitternacht war bereits vorüber.

Seufzend stellte er die leere Whiskyflasche auf die Seite. Er stemmte sich aus dem Sessel, um sich aus der Küche eine weitere zu holen.

Kurz überlegte Cunningham, ob er eine Runde im Friedhof drehen sollte. Früher hatte er diese Kontrollgänge regelmäßig gemacht. Aber in den letzten Jahren verzichtete er darauf.

Was sollte denn schon geschehen und zu stehlen gab es nichts.

Die Toten lagen friedlich in ihren Gräbern. Die würden bestimmt nicht nachts Spazierengehen.

Cunningham lächelte über seine Gedanken. Nein, abergläubisch war er nicht. Sonst hätte er diese Arbeit kaum so lange ausüben können. An Zombies glaubte er ohnehin nicht.

Plötzlich streifte sein Blick das Fenster. Die Deckenlampe warf ihr Licht nach draußen.

In ihm erkannte er ein Gesicht.

Ein abscheulicher Schrumpfkopf starrte herein. Er sah die mumifizierte Haut und hervorquellende Glasaugen.

Dann war das Gesicht wieder verschwunden, aber Cunningham war überzeugt, daß er sich nicht getäuscht hatte.

Im nächsten Moment stieß er einen gellenden Schrei aus.

Seine Gedanken überschlugen sich. Draußen war ein Monster, das bestimmt nicht zum Spaß durch das Fenster gesehen hatte.

Sein alkoholvernebeltes Gehirn nahm den Schrecken nur langsam auf.

Plötzlich entfachte Cunningham eine fieberhafte Aktivität. Von der Tür her drang ein Geräusch in sein Zimmer, das sich wie ein leises Schaben anhörte.

Zwar verschloß er die Tür abends immer, aber dieser Schutz erschien ihm momentan nicht mehr ausreichend.

Er erreichte die Tür und warf einen schweren Riegel vor. Weiter verrammelte der verängstigte Mann die Tür mit einer stabilen Kommode. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, als er das schwere Möbelstück endlich vor die Tür geschoben hatte.

Die Polizei, fiel ihm spontan ein. Er mußte die Polizei rufen.

Er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, daß man ihm vielleicht gar nicht glauben würde. Cunningham griff nach dem Telefon. Zitternd drehte er die Wählscheibe.

Von der Tür her vernahm er wuchtige Schläge. Etwas splitterte. Langsam wurde die Tür aufgedrückt und die Kommode in den Raum geschoben.

Sein Herz schlug wie rasend. Warum meldete sich bei der Polizei denn niemand?

Eine behaarte Pranke schob sich durch den Türspalt. Deutlich konnte er die gewaltigen Krallen erkennen.

Endlich wurde am anderen Ende der Leitung der Telefonhörer abgenommen. Cunningham ließ den Beamten überhaupt nicht zu Wort kommen, sondern sprudelte sofort los.

»Hier ist Cunningham, der Totengräber. Ein Monster versucht in mein Haus einzudringen«, stieß er angsterfüllt hervor.

»Mann, sind Sie betrunken?« klang es aus dem Hörer. Nein, betrunken war Peter Cunningham nicht. Der Schrecken hatte ihn völlig nüchtern werden lassen.

Deutlich sah er das Monster, das die Tür mittlerweile geöffnet hatte und sich in den Raum schob.

Der schreckliche Schrumpfkopf saß auf einem behaarten Körper, der an den eines Gorillas erinnerte. Auch die Arme waren so unförmig lang wie die eines Menschenaffen.

Ein Grinsen verzog das Gesicht des Monsters. Es entblößte zwei schreckenerregende Zahnreihen. Zähne, die wie Stahlstifte aussahen und einen Menschen mühelos zerreißen konnten.

Tappend kam das Monster auf den Totengräber zu.

»Nein, ich bin nicht betrunken«, schrie Cunningham in den Telefonhörer. »Das Monster ist hier. Es sieht aus wie ein riesiger Gorilla mit einem Schrumpfkopf. Helfen Sie mir!«

Cunningham mußte, den Hörer loslassen. Bis auf wenige Schritte war das Monster herangekommen. Schon streckte es seine Pranken nach ihm aus.

Schreiend wich Cunningham zurück. Der Telefonapparat fiel zu Boden, aber das registrierte der Totengräber nicht mehr.

Er war bis in die äußerste Ecke des Zimmers zurückgewichen. Weiter ging es nicht.

»Nein, bitte nicht«, flüsterte er mit krächzender Stimme und streckte dem Monster abwehrend die Hände entgegen.

»Ich bin Koyr«, grollte das Wesen mit dumpfer Stimme.

Cunninghams Nerven versagten. Alles begann sich um ihn herum zu drehen. Haltlos rutschte er zu Boden.

Er war bewußtlos geworden. So erlebte er es nicht mehr mit, als ihn das Monster packte und ihm das Genick brach.


*


»Melden Sie sich!« brüllte Inspektor Steve Burns in den Telefonhörer. Der Anruf hatte ihn aus einem leichten Schlummer gerissen.

Es gab nichts Langweiligeres als nächtlichen Telefondienst, das war bislang seine Überzeugung gewesen. Und nun dies...

Zwar glaubte er nicht an Ungeheuer, aber daß etwas passiert war, schien ihm plötzlich mehr als wahrscheinlich.

Deutlich hörte er durchs Telefon das Geräusch umstürzender Möbel und das Poltern, mit dem der Hörer auf der anderen Seite auf den Boden schlug.

Er zögerte nicht länger. Über Funk rief er einen Streifenwagen an.

Nachts patrouillierten zahlreiche Streifenwagen durch London, deshalb war es auch nicht verwunderlich, daß einer sich gar nicht so weit vom Hampsteader Friedhof entfernt aufhielt.

Er wurde von Andrew Bangs, einem Streifenpolizisten gefahren. Neben ihm saß Sergeant Peter Pratcher.

Gelangweilt griff dieser nach dem Funkgerät.

»Hier Sergeant Pratcher, Wagen 27«, meldete er sich.

Die Stimme von Inspektor Burns klang aus dem Lautsprecher und konnte auch von Bangs gehört werden. »Ich habe gerade einen Anruf vom alten Cunningham bekommen, dem Friedhofswärter. Es hörte sich ganz so an, als hätte er Schwierigkeiten. Er erzählte etwas von einem Monster, aber das ist natürlich Unsinn, trotzdem solltet ihr mal nachsehen.«

»In Ordnung«, gab Pratcher zurück. »Wir sind gleich dort.« Er unterbrach das Funkgespräch und wandte sich zu seinem Kollegen. »Hast du das gehört?« fragte er grinsend. »Ein Monster. Der Alte fängt zu spinnen an. Das ist auch kein Wunder, wenn man sein ganzes Leben auf einem Friedhof verbringt.«

»Natürlich habe ich es gehört. Ich bin schließlich nicht taub. Der Alte ist doch selber schon fast eine Mumie. Wahrscheinlich hat er wieder zu tief ins Glas geschaut.«

»Das sage ich dir, wenn der uns zum Narren hält, drehe ich ihm den Hals um.«

Es dauerte nicht lange, bis sie den Wagen vor dem großen, schmiedeeisernen Friedhofstor parken konnten. Aus dem Handschuhfach angelte sich Pratcher eine Taschenlampe. Dann stiegen sie aus.

»Verdammt kalt«, kommentierte Bangs, während er sich aus dem Wagen schälte und aufrichtete. Eisig fuhr der Nachtwind durch sein strohblondes Haar.

»Ich habe gehört, je höher man kommt, desto kälter ist es«, konnte sich Peter Pratcher nicht verkneifen zu bemerken.

»Na, du bist ja gut gepolstert, du kannst ruhig lästern«, konterte Bangs und spielte damit auf die füllige Figur seines Kollegen an. Dieser war das genaue Gegenteil von ihm. Klein, dicklich und dunkelhaarig.

Das Friedhofstor war nur angelehnt, das Schloß funktionierte schon lange nicht mehr. Die Angeln quietschten leise, als es Pratcher aufstieß.

Der Lichtkegel der Taschenlampe huschte über die Grabreihen. Vor kurzer Zeit hatte es geregnet. Die Wege waren aufgeweicht. Bei jedem Schritt schwappte das Wasser unter ihren Füßen.

Cunninghams Häuschen lag nicht weit vom Eingang entfernt. Aus den Fenstern schimmerte Licht. Nach wenigen Minuten hatten sie den Bau erreicht.

»Die Tür ist nur angelehnt«, stellte Bangs fest und stieß sie auf. Pratcher wurde es unbehaglich zumute. Offenbar war wirklich etwas passiert. Nervös spielte er an seiner Pistolenhalfter herum.

Auf den ersten Blick war zu sehen, daß wirklich etwas geschehen war. Einige Möbelstücke waren umgestoßen worden. Der Telefonhörer baumelte noch am Kabel.

»Verdammter Mist«, preßte Pratcher hervor. Er schaute in der Küche und im Schlafraum nach. Von Cunningham fehlte jede Spur.

Jetzt erst besah der Sergeant sich das Türschloß genauer. Er stellte fest, daß die Tür gewaltsam geöffnet worden war. Ein zusätzlich vorgelegter schwerer Riegel war glatt aus der Halterung gerissen worden.

»Du, Andrew, sieh dir das mal an!« Er machte seinen Kollegen auf seine Entdeckung aufmerksam. »Da war jemand mit Riesenkräften am Werk.«

Stumm starrte Bangs auf den zerstörten Riegel. Pratcher ahnte, welche Gedanken jetzt durch dessen Kopf gingen.

»Unsinn«, erklärte er mit rauer Stimme. »Es gibt keine Monster.«

»Aber solche Kräfte hat doch kein Mensch!« Auch Bangs' Stimme klang rau.

»Da hat eben jemand ein Brecheisen oder sonst was verwendet. Wir sollten lieber nach Cunningham suchen, anstatt uns hier verrückt zu machen.«

Pratcher richtete den Schein der Taschenlampe auf den Boden vor der Tür. Was er sah, nahm ihm den Atem. Auf dem Hinweg hatte er gar nicht darauf geachtet, um so deutlicher wurde es ihm jetzt bewußt.

Klar waren ihre Fußspuren auf dem aufgeweichten Boden zu erkennen. Doch da war noch eine weitere Spur.

»Siehst du das?« hörte er Bangs fragen. Natürlich sah er es. Diese Spur rührte von keinem menschlichen Fuß her. Sie sah aus, als stamme sie von einem riesigen Raubtier mit gewaltigen Krallen.

Pratcher besaß von Natur aus ein ruhiges Gemüt. So schnell konnte ihn nichts aus der Fassung bringen. Aber dieser Anblick verschlug ihm für einige Sekunden die Sprache.

Zugleich war er jedoch auch ein nüchtern denkender Mensch. »Vielleicht ist ein Raubtier aus dem Zoo ausgebrochen«, versuchte er eine Erklärung. Bangs schwieg.

»Deshalb hat Cunningham wohl auch von einem Monster gesprochen. Es könnte ein Menschenaffe gewesen sein. Los komm, wir müssen der Spur folgen! Offenbar hat das Untier den Alten mitgeschleppt.«

Zum Glück war die Spur so deutlich, daß es ihnen keinerlei Schwierigkeiten bereitete, ihr zu folgen.

Sie liefen los. Wenn es sich wirklich um einen entlaufenen Menschenaffen handelte, befand sich Cunningham in Lebensgefahr. Es bereitete Pratcher einige Probleme, mit seinem Kollegen Schritt zu halten. Sein Körpergewicht und seine kurzen Beine behinderten ihn stark.

Mehrere Minuten lang rannten sie keuchend über den Friedhof. Schließlich erhob sich ein mächtiger schwarzer Schatten vor ihnen. Es war ein kleiner Steinbau, der nur im ersten Moment so groß ausgesehen hatte.

Pratcher ließ während des Laufens den Schein der Taschenlampe kurz über die mit Ornamenten verzierte Wand gleiten.

Plötzlich stießen seine Füße auf Widerstand. Pratcher ruderte mit den Armen, und es gelang ihm, das Gleichgewicht zu halten.

Er richtete die Taschenlampe auf das Hindernis.

Vor ihm lag ein blutiger Körper.

Pratcher wurde es für einen Moment schwarz vor Augen. Er fühlte, wie sein Magen rebellierte.

Entsetzt wandten sich Pratcher und Bangs ab.


*


In der gleichen Nacht noch lief der Fahndungsapparat der Polizei auf Hochtouren. Scotland Yard wurde eingeschaltet.

Aus keinem Zoo war ein Tier ausgebrochen, wie Sergeant Pratcher zuerst vermutet hatte.

Die Spuren endeten vor dem Gedenkhäuschen über der Gruft. Dieses wurde geöffnet. Beamte stiegen sogar in die Gruft hinunter. Sie fanden nicht die geringste Spur von einem unheimlichen Mörder.


*


Mit Cunninghams Leiche über der Schulter stapfte das Wesen über den Friedhof. Vor dem Eingang zu dem Bau über der Gruft ließ es den Toten fallen. Es konnte sich nicht länger zurückhalten.

Plötzlich wurde es jedoch gestört. Es sah einen Lichtkegel auf sich zukommen.

Zweifelsohne näherten sich da Menschen. Es konnte ihre Ausstrahlung wahrnehmen. Neue Opfer?

Es durfte aber nur ein Opfer reißen. Mehr war ihm verboten. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn die Menschen in sein Versteck eingedrungen wären.

So aber mußte er sich vor ihnen verbergen. Es erreichte die Tür und wartete, bis sie scheinbar von selbst aufschwang.

Sein brennendster Hunger war gestillt. Hinter ihm schloß sich die Tür wieder. Das Wesen kehrte in sein Versteck zurück.

Sein Blick streifte kurz die matt schimmernde Kugel, die es bewachen mußte. Dann legte er sich auf seinem Lager nieder, um weitere hundert Jahre im Tiefschlaf zu verbringen.

Diesmal jedoch dauerte sein Schlaf nicht so lange. Als es den Impuls empfing, der es aus dem Schlaf riß, wußte es sofort, daß etwas Ungeheuerliches geschehen war.

Jemand war in sein Versteck eingedrungen...


*


Mordendes Monster!

Die Schlagzeile sprang Paul Atkins an. Er überflog den Artikel. Da auch andere Zeitungen ähnlich über den Fall berichteten, schien etwas dahinterzustecken.

Sofort war Atkins' Interesse geweckt. Dies hing mit seinem Hobby zusammen, der Parapsychologie und Magie. Der Magie und allen verwandten okkulten Phänomenen galt sein Interesse. Sie waren fast zum Beruf für ihn geworden, denn von Zeit zu Zeit veröffentlichte er Artikel in Fachzeitschriften über seine Forschungen.

Finanziell war er unabhängig, was er der Erbschaft von Seiten seiner jung verstorbenen Frau zu verdanken hatte.

Außerdem hatte sie ihm eine Tochter hinterlassen, die mittlerweile zu einer jungen Frau von siebzehn Jahren herangewachsen war. Sie führte ihm den Haushalt, so daß er sich ganz seinen Forschungen widmen konnte.

Er kaufte sich mehrere Zeitungen und kehrte nach Hause zurück. Er bewohnte mit seiner Tochter ein Haus außerhalb Londons.

Es dauerte nicht lange, dann hatte er die für ihn wesentlichen Fakten herausgefiltert. Der Fall interessierte ihn.

Während die offiziellen Stellen jede übernatürliche Erklärung von vorneherein ausschlossen, zog er sie durchaus in Erwägung. Besonders der Steinbau über der Gruft, vor der die Spuren endeten und wo die Leiche gefunden worden war, weckte seine Neugier.

Paul Atkins beschloß, dem Friedhof noch an diesem Vormittag einen Besuch abzustatten. Da er die Möglichkeit nicht ausschloß, daß es sich bei dem geheimnisvollen Mörder um einen Dämon handeln könnte, erforderte diese Untersuchung besondere Hilfsmittel.

Er trug immer ein geweihtes Kruzifix um den Hals, jedoch wollte er sich nicht allein auf diesen Schutz verlassen. Im Lauf der Zeit hatte er zahlreiche magische Hilfsmittel gesammelt.

Er suchte sich einen weißmagischen Talisman heraus. Es war ein unscheinbarer kleiner Lederbeutel, dem jedoch ein starker Zauber innewohnen sollte. Zusätzlich bewaffnete er sich mit einem silbernen alten Zeremoniendolch.

So ausgerüstet fühlte er sich auch einem starken Dämon gewachsen. Paul hoffte nur, daß seine Vermutungen auch tatsächlich der Wirklichkeit entsprachen. Er selbst war noch keinem Dämon begegnet. Insofern wußte er nicht, ob diese Waffen ihm wirklich helfen würden.

Aber die Idee, hier eine Möglichkeit gefunden zu haben, seine Forschungen in die Praxis umzusetzen, ließ ihn nicht mehr los.

Etwa eine halbe Stunde später stand er vor dem Steinbau. Über der Tür war die Inschrift »Per aspera ad astra« angebracht.

Vorsichtig blickte sich Paul Atkins um. Erst als er überzeugt war| daß sich niemand in der Nähe befand, zog er einen Dietrich aus der Tasche. Er konnte zwar nicht gut damit umgehen, aber zum Glück handelte es sich um ein einfaches Schloß. Schließlich konnte er die Tür öffnen.

Er huschte durch die Öffnung und schloß die Tür sofort wieder. Schummriges Halbdunkel umfing ihn. Zwar gab es ein Fenster, aber dies war auf der Außenseite mit Efeu überwachsen, so daß nur wenig Licht hereinfiel.

Er hatte sich jedoch auch in dieser Beziehung gewappnet und vorsorglich eine Taschenlampe sowie eine Brechstange eingesteckt.

Er ließ den Lichtkegel der Lampe über die Wände gleiten. Sie waren völlig kahl, lediglich an der Stirnwand des Raumes war eine Gedenktafel angebracht.

Der Eingang zur Gruft war mit einer Steinplatte verschlossen, wie er es erwartet hatte.

Er setzte die Brechstange zwischen die Fugen und stemmte sie nach unten. Knirschend bewegte sich der Stein. Paul verstärkte seine Anstrengungen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er glaubte, seine Muskeln würden zerreißen, aber schließlich schaffte er es, die schwere Platte soweit zur Seite zu wuchten, daß er durch die Öffnung schlüpfen konnte.

Muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Das Licht der Lampe streifte grob behauene Felswände. Die Stufen waren feucht und glitschig. Vermutlich sickerte Wasser durch. Er mußte aufpassen, daß er nicht ausrutschte.

Es waren nur wenige Stufen, die er hinuntersteigen mußte, der Modergestank nahm jedoch mit jedem Schritt zu.

Die Gruft war klein, sie enthielt lediglich zwei steinerne Sarkophage. Paul trat an einen von ihnen heran und leuchtete mit der Lampe hinein.

Ein Skelett grinste ihm entgegen.

Im ersten Moment wollte Paul Atkins zurückweichen, aber dann fing er sich wieder. Was hätte er auch anderes in einem Sarkophag finden sollen?

Aus leeren Augenhöhlen schien ihn der Knochenmann anzugrinsen. Wie hatte es in den Zeitungen geheißen? Der alte Cunningham sollte von einem zottigen Monster gesprochen haben?

In der betreffenden Nacht war Vollmond gewesen. Atkins wußte, daß er oft eine Wirkung auf dämonische Mächte hatte. Es war denkbar, daß sich das Skelett in dieses Monster verwandelt hatte.

Er war gekommen, um dies zu untersuchen. Rasch nahm er das Kruzifix ab und ließ es über dem Gerippe hin und her schwingen. Behutsam ließ er es tiefer sinken.

Wenn in dem Skelett magische Kräfte wirken sollten, dann würde dies das heilige Symbol anzeigen.

Nichts regte sich. Paul Atkins berührte die Knochen mit dem Kruzifix, aber nichts geschah.

Der Mann trat an den anderen Sarkophag, in dem ebenfalls ein Skelett ruhte. An dem Knochenbau erkannte er, daß es eine Frau gewesen sein mußte.

Auch hier machte er die Probe mit dem Kruzifix.

Fehlanzeige.

Die Skelette konnten mit dem Mord nichts zu tun haben. Es wohnte keinerlei magische Kraft in ihnen.

Damit stand Paul Atkins wieder am Anfang. Aber so einfach wollte er noch nicht aufgeben.

Er registrierte die Ausstrahlung von etwas Bösem in dieser Gruft. Es war zwar nur ein vages Gefühl, aber er war sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Von irgendwoher mußte diese Ausstrahlung kommen.

Systematisch begann er, die Gruft zu untersuchen. Er prüfte, ob sich irgendwo noch ein versteckter Zugang befand. Er klopfte die Wände Stück für Stück ab. Dazu nahm er die Brechstange.

Die Arbeit zerrte an seinen Nerven. Es war schließlich auch für ihn keine alltägliche Situation, sich gemeinsam mit zwei Skeletten in einer Gruft aufzuhalten.

In einer Ecke fielen Wassertropfen. Monoton hallte das Geräusch durch den Raum, wenn sie auf den Boden prallten. Jedes mal zuckte er zusammen.

War da nicht eine Bewegung hinter ihm gewesen? Er fuhr nervös herum, aber seine Nerven gaukelten ihm nur etwas vor.

Die Untersuchung der Wände erwies sich ebenfalls als ergebnislos. Dennoch hatte Paul Atkins die ganze Zeit über das Gefühl, als verstärke sich die Ausstrahlung des Bösen.

Er befühlte das Kruzifix und stellte überrascht fest, daß es sich leicht erwärmt hatte. Fast unmerklich nur, aber es bestärkte sein Gefühl.

Mit dem Kruzifix in der Hand ging er mehrmals in der Gruft auf und ab. Enttäuscht hängte er es sich anschließend wieder um. Wenn es reagierte, sobald es sich der Ausstrahlung näherte, dann war die. Reaktion so gering, daß er sie nicht registrieren konnte.

Dennoch wollte Atkins nicht aufgeben, ohne nicht auch einen letzten Versuch unternommen zu haben. Er zog den magischen Talisman aus der Tasche.

Bedächtig wog er den Lederbeutel in der Hand. Er wußte, daß er magische Ingredienzien enthielt, die eine ungeheure Energie freisetzen konnten.

Paul Atkins zögerte, denn er ahnte nicht, was diese Energien bewirken würden. Vielleicht zerstörten sie die Gruft. Dann würde er wahrscheinlich von den herabfallenden Steinbrocken erschlagen werden.

Das Foto der gräßlich zugerichteten Leiche, das er in der Zeitung gesehen hatte, half ihm jedoch, diese Furcht zu überwinden.

Seine Finger zitterten, als er den Lederbeutel öffnete...

Im nächsten Moment brach die Hölle los. Ein greller Lichtblitz fuhr aus dem Beutel und tauchte die Gruft in ein Licht, das noch heller als die Sonne zu sein schien.

Paul Atkins schrie auf und preßte die Hände gegen die schmerzenden Augen.

Nach wenigen Sekunden war der Spuk jedoch beendet. Vorsichtig öffnete er die Augen. Im ersten Augenblick sah er überhaupt nichts, doch dann schälten sich die Konturen der Sarkophage aus dem Dunkeln.

Gegen den grellen Lichtblitz war der Schein der Taschenlampe nicht mehr als der einer Funzel.

Dennoch gewöhnten sich seine Augen schnell wieder daran. Was er sah, war einfach unglaublich.

Die magische Energie hatte einen Teil der Wand zum Verschwinden gebracht, so daß eine Öffnung entstanden war, durch die ein Mensch bequem aufrecht gehen konnte. Dahinter sah er einen weiteren Raum.

Mit der Taschenlampe leuchtete Atkins durch die Öffnung. Er entdeckte ein kärgliches Strohlager, und in einer Ecke schwebte eine grünlich schimmernde Kugel, scheinbar frei in der Luft.

Von einem lebenden Wesen entdeckte er allerdings nichts.

Vorsichtig schritt Paul Atkins auf die Öffnung zu. Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Hier mußte er die Lösung des Geheimnisses finden.

Er setzte einen Fuß auf die Schwelle, wo zuvor noch eine stabile Wand gewesen war.

Im gleichen Moment sah er einen schwarzen Schatten auf sich zufliegen.

Es gelang ihm noch, schützend die Arme hochzureißen, als er von dem Aufprall zurückgeschleudert wurde.

Er verlor die Taschenlampe. Sie fiel klirrend zu Boden, brannte aber weiter.

Im Halbdunkel sah er das Wesen, das ihn angesprungen hatte. Ein gräßlicher Schrumpfkopf, dem die Haare strähnig herabhingen, starrte ihn an. Der Körper des Monsters war über und über mit zottigem Fell bedeckt. Scharfe Krallen drangen Paul Atkins durch die Kleidung bis ins Fleisch. Ein siedend heißer Schmerz durchzuckte ihn.

Er schrie entsetzt auf, als das Monster sein Maul öffnete und zwei Reihen gewaltiger Zähne zum Vorschein kamen.

Instinktiv riß er den Kopf zur Seite, so daß die Zähne ihn verfehlten. Dicht neben seinem Kopf schlugen sie knirschend zusammen.

Die Gefahr, in der er sich befand, ließ ihn den Schrecken vergessen. Seine Arme wurden von dem Dämon wie in einem Schraubstock festgehalten, er kam einfach nicht an den silbernen Dolch heran.

Aber da war noch das Kruzifix, das frei über seiner Brust lag.

Das Monster kam ihm gewaltig vor.

Mit einem Ruck bäumte sich Paul Atkins auf. So weit es ging stieß er seinen Oberkörper hoch und preßte ihn gegen die Brust des Monsters.

Im nächsten Moment drang ein schauerliches Röcheln an sein Ohr. Der Druck an seinen Armen lockerte sich und dann sprang der Dämon zurück.

Paul sprang ebenfalls auf und riß den silbernen Zeremoniendolch aus dem Gürtel.

Jetzt konnte er den Dämon vollständig sehen. Sein Körper erinnerte an den eines Gorillas. Aber da waren die gewaltigen Pranken, mit den scharfen Krallen und der Schrumpfkopf, der das Geschöpf eindeutig als Dämon kennzeichnete.

Lauernd umkreisten sie sich gegenseitig. Paul wartete darauf, daß das höllische Geschöpf sich eine Blöße gäbe.

Dort, wo das Kruzifix die Brust des Wesens berührt hatte, bemerkte er einen Brandfleck. Das bewies, daß er mit seinen Waffen dem Dämon gefährlich werden konnte.

Plötzlich schrie das Monster auf und griff an.

Pfeilschnell schoß es heran, aber Paul war auf der Hut. Er duckte sich unter den gefährlichen Pranken hinweg. Gleichzeitig stieß er dem Wesen den Dolch bis zum Heft in die Brust.

Er hatte dorthin gezielt, wo bei einem Menschen das Herz saß. Augenblicklich setzte die Wirkung ein.

Der Dämon wankte. Auf den ersten Blick erkannte Atkins, daß er ihn tödlich getroffen haben mußte.

Das Fell wurde grau und fiel büschelweise aus. Mit ersticktem Röcheln fiel der Dämon.

Schaudernd wandte Atkins sich ab, um den Todeskampf des Wesens nicht mitansehen zu müssen.

Als er sich kurz darauf wieder umwandte, war von dem dämonischen Geschöpf nicht mehr als ein Häufchen Staub übrig.

Plötzlich spürte Paul Atkins den Schmerz. Die Krallen des Dämons hatten blutende Wunden an seinen Armen hinterlassen. Sie waren zwar nicht tief, aber sie schmerzten. Blut sickerte durch seine Jacke.

Mit zusammengebissenen Zähnen band Paul Atkins sich ein sauberes Taschentuch über den linken Arm, den es schwer erwischt hatte.

Er hob den Dolch und die Taschenlampe auf. Die gefährliche Bestie war vernichtet.

Dennoch kam er nicht dazu, diesen Sieg auszukosten. Da war noch die geheimnisvolle Kugel. Der Mann leuchtete sie an und ging darauf zu.

Die Kugel schimmerte grünlich, als würde sie von innen heraus «leuchten. Hauchdünne Rillen unterteilten die Oberfläche in kleine Quadrate.

Atkins streckte die Hand aus, um die Kugel zu berühren. Seine Finger erreichten sie jedoch nicht.

Wenige Zentimeter vorher stießen sie auf Widerstand. Leichtes Prickeln ging von dem unsichtbaren Hindernis aus. Paul Atkins ahnte, daß es magischer Natur war.

Wenn das stimmte, mußte es ihm auch gelingen, den Widerstand zu brechen. Er nahm die Kette mit dem Kruzifix ab und preßte es gegen das Hindernis.

Für Sekunden sah er ein rötliches Feld aufleuchten, das die Kugel umschloß. Schließlich fiel es in sich zusammen.

Gleichzeitig spürte er unvermittelt einen dumpfen Druck im Kopf. Ehe seine Sinne Alarm schlugen, war es schon zu spät.

Kaum, daß er die fremden Gedanken spürte, die sich in sein Gehirn vortasteten, breiteten sie sich aus und übernahmen die Kontrolle über seinen Körper.

Sein eigenes Bewußtsein wurde zurückgedrängt. Er bemühte sich, dagegen anzukämpfen. Gegen den fremden Zwang kam er jedoch nicht an.

Er sah, wie er nach der Kugel griff, ohne daß er es eigentlich wollte. Ohne eigenes Zutun verließ er die Gruft mit der Kugel. Wie in Trance fuhr er nach Hause.

Er sah sich die Kellertür öffnen und die Stufen hinabsteigen. Hier betrieb er normalerweise seine Forschungen, hier war sein Reich, das nicht einmal Jessica betrat.

Zielsicher fand er auch in völliger Dunkelheit zu seinem Schreibtisch, wo er sich eine Kerze anzünden sah.

Über seine Lippen kamen Worte, die er nie zuvor gehört hatte. Die Sprache bestand hauptsächlich aus Konsonanten.

Seine Stimme schien in dem Gewölbe widerzuhallen. Sie wurde mit jedem Wort lauter und fester.

Paul Atkins ahnte, daß es die Sprache der Dämonen war. Die magische Formel verhieß nichts Gutes.

Der Keller war plötzlich in gleißende Helle getaucht. Paul sah, daß sie von der geheimnisvollen Kugel ausging. Gleichzeitig spürte er, wie der Druck auf sein Gehirn nachließ. Er konnte sich plötzlich wieder frei bewegen.

In diesem Augenblick vernahm er aus der Richtung der Treppe ein leises Knistern. Paul blickte auf und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen.

Fünf Gestalten erschienen förmlich aus dem Nichts. Es handelte sich um Menschen, aber eine Kleidung, wie sie sie trugen, hatte er noch nie gesehen. Sie trugen hautenge schwarze Trikots und ebensolche Hosen, die jedoch unterhalb der Knie in schwarzen Stiefeln verschwanden. Dazu Umhänge, die ebenfalls schwarz waren.

Über die Köpfe hatten sie fremdartige Helme gestülpt, an denen je eine große violette Feder befestigt war.

In den Händen hielten die Eindringlinge Schwerter mit gezackten Klingen, die Paul fast noch mehr erschreckten, als das plötzliche Erscheinen der Männer.

Unfähig sich zu rühren, starrte Paul ihnen entgegen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte er etwa mit seiner Beschwörung diese Krieger unfreiwillig herbeigerufen? Die Art ihres Erscheinens deutete unmißverständlich auf Magie hin.

Eine Aura der Bösartigkeit ging von ihnen aus, als sie näher kamen.

Wenige Meter vor ihm blieben sie stehen. Kalt blickten ihre dunklen Augen ihn an.

Wie gelähmt starrte Paul Atkins ihnen entgegen.

»Was... was wollt ihr?« stammelte er. »Woher kommt ihr?«

Einer der Krieger trat vor. Sein Gesicht war kantig, soweit es Atkins erkennen konnte. Falten hatten sich in die lederartige Haut eingekerbt. Die Lippen bildeten einen fast waagerechten Strich.

Sie öffneten sich nur wenig, als der Krieger mit harter Stimme erklärte: »Wir wollen das Kristallauge von Kaarn!«

Augenblicklich fiel es Paul Atkins wie Schuppen von den Augen. Die Kugel war das seit Jahrhunderten verschollene Kristallauge von Kaarn.

Er versuchte, sich an das zu erinnern, was er darüber wußte. Kaarn war eine fremde Welt, in einer anderen Dimension. Vor Jahrhunderten hatte dort ein weiblicher Dämon geherrscht, der sich Kristallfürstin nannte. Dieser Dämon hatte sich ein ungeheuer machtvolles, schwarzmagisches Instrument geschaffen, das Kristallauge, das nun vor ihm auf dem Tisch lag.

Andere Dämonen jedoch verschworen sich gegen diesen weiblichen Dämon und vertrieben ihn von seinem Thron. Seit dieser Zeit war das Kristallauge verschollen. Angeblich sollte der Meister der Schatten, der dämonische Nachfolger der Kristallfürstin es mit einem Bann belegt und in einer Fremden Welt versteckt haben.

Nun wußte Paul Atkins, daß es sich bei der fremden Welt um die Erde handelte.

»Du hast das Auge aus einem Bann geweckt, deshalb wurden wir vom Meister der Schatten in diese Welt geschickt, um es zu zerstören.«

Atkins wagte nicht, sich zu rühren.

»Zur Seite!« befahl der Krieger und versetzte ihm einen Stoß.

Nur mit Mühe konnte Atkins sich auf den Beinen halten. Er wurde jedoch mehrere Schritte weit zur Seite geschleudert. Erst die Kante seines Schreibtisches hielt ihn auf. Atemlos beobachtete er, wie der Krieger nach dem Kristallauge griff.

Er kam nicht mal mehr dazu, es zu berühren.

Paul sah, wie plötzlich ein greller grünlicher Blitz aus der Kugel zuckte und den Krieger zurückschleuderte. Zugleich bemerkte er, daß sich um das Kristallauge eine grünlich schimmernde Aura aufgebaut hatte.

Sprungartig breitete sie sich aus. Im ersten Augenblick wollte der Mann zurückspringen, aber dann vernahm er plötzlich eine Stimme. Er hörte sie nicht akustisch, sondern sie klang direkt in seinen Gedanken auf.

»Keine Angst! Die Aura schützt dich vor den Kriegern.«

Der Forscher begriff, daß das Kristallauge zu ihm gesprochen hatte. Er vermutete, daß es zuvor auch von seinem Körper Besitz ergriffen hatte.

Blitzschnell erwog er die Gefahr, die ihm von den Kriegern drohte, gegen die Gefahr der magischen Sphäre ab.

Wenn die Krieger ihn angriffen, konnte er sich nicht gegen sie verteidigen. Vielleicht war ihm das Kristallauge wirklich wohlgesonnen. Widerstandslos ließ er sich von dem grünen Schimmer einhüllen. Während die Aura über ihn hinwegglitt, spürte er nicht mal ein Kribbeln. Mit einem Mal jedoch sah er die Umgebung wie durch einen grünen Schleier.

Mit drohend erhobenen Schwertern kamen die Krieger näher. Paul Atkins wollte ausweichen, als er eines der Schwerter herabsausen sah. Der Hieb galt ihm. Wie gelähmt blieb er stehen und blickte dem herab sausenden Schwert mit angstgeweiteten Augen entgegen.

Schon glaubte er, den kalten Stahl zu spüren. Im gleichen Moment wurde die Waffe von einer ungeheuren Kraft zurückgeschleudert.

Damit begnügte sich das Kristallauge jedoch nicht. Atkins sah, wie erneut Blitze aus dem Auge zuckten und die Krieger zurücktrieben. Scheinbar schluckte die Sphäre alle Geräusche, denn alles lief völlig geräuschlos ab.

Die Krieger schienen einzusehen, daß sie so dem Auge nicht gewachsen waren, denn sie teilten sich. Alle auf einmal konnte das Auge nicht in Schach halten.

Einer der Krieger gelangte bis an die Sphäre heran. Entsetzt stellte Paul Atkins fest, daß das Auge nicht zugleich Blitze schleudern und die Aura ausreichend mit Energie versorgen konnte. Bei jedem Blitz wurde sie um einige Nuancen heller.

Genau diesen Augenblick nutzte der Krieger. Er schlug zu. Atkins blieb fast das Herz stehen, als er sah, wie das Schwert in die Sphäre eindrang.

Plötzlich jedoch glühte die Spitze des Schwertes auf. Das Metall wurde verflüssigt und tropfte zu Boden. Der Prozeß setzte sich auch in dem Teil des Schwertes fort, der nicht in Berührung mit der Aura gekommen war.

Dicht vor sich sah Paul Atkins das Gesicht des Kriegers, der das Schwert panikerfüllt losließ, bevor er ebenfalls von einem Blitz zurückgeschleudert wurde.

Offensichtlich überzeugte dieser mißglückte Angriff die Krieger endgültig von der Vergeblichkeit ihrer Versuche. Sie flohen.

Gleichzeitig erlosch auch die magische Sphäre. Noch ganz im Bann des soeben Erlebten ließ sich Atkins auf seinen Stuhl fallen.

Im nächsten Augenblick fuhr er jedoch von einer Schlange gebissen wieder hoch. Ein Schrei drang aus dem Erdgeschoß bis zu ihm herunter.

»Jessica!« brüllte er und stürmte los. Natürlich, seine Tochter mußte mittlerweile längst aus der Schule zurückgekommen sein.

Er nahm drei Stufen auf einmal und rannte die Treppe hinauf. Wenn die dämonischen Krieger seiner Tochter etwas angetan hatten, dann...

Kraftvoll stieß er die Tür zum Flur auf. Zwei Krieger hielten das wild um sich schlagende Mädchen gepackt.

Aus den Augenwinkeln nahm Paul Atkins das herabsausende Schwert wahr. Instinktiv wich er im letzten Moment zurück.

Haarscharf vor ihm pfiff die Klinge vorbei und hieb in den Fußboden. Der Forscher spürte noch den Luftzug.

Entsetzt sah er, daß das Schwert eine glühende Furche in den Holzboden riß. Diese Schwerter schienen wirklich in der Hölle geschmiedet worden zu sein. Er durfte gar nicht daran denken, was von ihm übrig geblieben wäre, wenn ihn der Hieb getroffen hätte.

Der Krieger sprang aus der Türdeckung hervor. Sofort schlug er wieder zu.

Blitzschnell wälzte sich Atkins zur Seite und entging so auch diesem Hieb. Er geriet auf die Treppenkante und rollte mehrere Stufen hinab, bevor er sich am Geländer festhalten konnte.

Der Krieger überwand die Distanz zu ihm mit zwei Sprüngen.

Paul Atkins hörte die Stimme eines anderen Kriegers: »Komm zurück, Foras, die magische Brücke steht!« Im gleichen Augenblick sah er das Kristallauge über sich schweben.

Noch bevor der Krieger eine Abwehrbewegung machen konnte, traf ihn ein Blitz. Diesmal jedoch war er noch greller als zuvor. Wie eine mit Benzin übergossene riesige Fackel flammte der Krieger auf. Nur mehr ein Staubhäufchen blieb von ihm zurück.

Atkins kümmerte sich nicht darum, sondern raffte sich auf. Er erhaschte nicht mehr als nur noch einen kurzen Blick auf die restlichen vier Krieger. Ebenso schnell, wie sie erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.

Ihre Konturen flimmerten kurz, dann lösten sie sich auf.

Und mit ihnen Jessica.

»Zu spät«, vernahm Paul Atkins die telepathische Stimme des Kristallauges. »Sie sind mit ihr nach Kaarn zurückgekehrt. Diese Narren! Sie wissen gar nicht, was sie damit angerichtet haben.«

»Was geschieht mit ihr?« schrie Paul die Kugel panikerfüllt an. Der Gedanke, daß Jessica in eine fremde Dimension entführt worden war, brachte ihn fast um den Verstand. Er sah ihre langen dunkelblonden Haare und ihr hübsches Gesicht mit den braunen Rehaugen vor sich. Er glaubte, von diesen Augen hilfesuchend angestarrt zu werden.

»Sie werden sie dem Meister der Schatten als Geschenk bringen. In seinem Hochmut wird er sie vielleicht töten. Das darf nicht geschehen. Weder der Meister noch du können ahnen, was davon abhängt. Wir müssen sie befreien!«

Hoffnung keimte in Paul Atkins auf, um aber gleich darauf tiefer Niedergeschlagenheit Platz zu machen. »Wie sollen wir nach Kaarn gelangen?«

»Ich werde ein magisches Tor öffnen«, vernahm er die Stimme des Auges. »Deine besonderen Fähigkeiten können mir vielleicht nützen.«

»Aber...« wollte der Forscher protestieren. Er kam jedoch nicht mehr dazu, auszureden. Plötzlich begann die Umgebung um ihn herum zu verschwimmen.

Das Kristallauge hatte ihn auf die Reise in eine andere Dimension mitgenommen.


*


Für Jessica Atkins kam alles völlig überraschend. Sie saß in ihrem Zimmer und erledigte Schulaufgaben, als sie Lärm aus dem Keller hörte. Sie erhob sich, um nachzusehen. War ihr Vater schon zurückgekehrt? Als sie aus der Schule kam, war er noch fort gewesen.

Sie durchquerte den Flur und wollte gerade die Kellertür öffnen, als diese aufgestoßen wurde.

Fünf gräßlich aussehende Gestalten standen vor ihr. Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Im nächsten Moment wurde sie von den Gestalten gepackt. Eine Hand preßte ihr den Mund zu.

Sie sah, wie ihr Vater die Treppe hoch gestürmt kam und einer der Krieger mit dem Schwert nach ihm schlug, dann verschwamm alles vor ihren Augen.

Das erste, was sie spürte, als sie wieder aufwachte, war ein heftiger Schmerz im Gesicht. Jemand hatte sie mit einer Ohrfeige aus der Bewußtlosigkeit gerissen.

In diesem Jemand erkannte sie einen der fünf Krieger, die sie überwältigt hatten. Sie wußte sofort, daß sie sich nicht mehr zu Hause befand.

Der Krieger packte sie an der Schulter und riß sie hoch.

»Steh auf und folge mir! Unser Herr, der Meister der Schatten will dich sehen. Wehe, wenn du ihn erzürnst und wir darunter leiden müssen.«

Er schob sie durch ein breites Portal, das von zwei weiteren Kriegern bewacht wurde. Sie sahen fast genauso aus, wie der, der sie festhielt.

Die Wucht und Größe des Raumes, den sie betrat, nahm sie augenblicklich gefangen.

Es war jedoch nicht allein die furchteinflößende Größe des Saales, die sie ängstigte, sondern das Empfinden, daß sich in dessen Halbdunkel etwas verbarg, das sie zwar nicht sehen konnte, dessen böse Ausstrahlung sie jedoch frösteln ließ.

Sie war kurz stehen geblieben, was dem Krieger jedoch nicht zu gefallen schien, denn er versetzte ihr einen Stoß, so daß sie vorwärtstaumelte.

Um weiteren Stößen zu entgehen, beeilte sie sich, vorwärtszukommen, obwohl sie vor der unbekannten Ausstrahlung, die sie so deutlich spüren konnte, eine unsagbare Furcht empfand.

Je näher sie der Stirnseite des Raumes kam, um so deutlicher konnte sie Einzelheiten ausmachen.

Da stand ein gewaltiger Thron, vor dem drei Krieger knieten. Eine weitere Gestalt stand neben dem Thron. Sie war höchstens einsfünfzig groß und in ein buntes Phantasiegewand gekleidet, die einzige farbliche Abwechslung, die sie in diesem Saal sah.

Erst glaubte sie, der Thron wäre leer, dann erkannte sie jedoch mit einem Schlag den gigantischen Schatten, der ihn ausfüllte.

Sie konnte nicht sagen, ob er einen Umhang trug, oder ob dies sein wirklicher Körper war. Er besaß zwar einen menschenähnlichen Kopf, aber kein Gesicht.

Jessica blieb stehen, als sei sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Weit riß sie die Augen auf, dabei hatte sie das Gefühl, als schnüre ihr das Entsetzen die Luft ab.

Sie wollte schreien, bekam aber keinen Ton über die Lippen.

Ihr wurde schwindelig. Außerdem glaubte sie, ein Hornissenschwarm habe sich in ihrem Kopf eingenistet. Eine Nachwirkung der Ohnmacht. Ihre Knie fühlten sich weich an.

»Auf die Knie, wenn du mit dem Meister der Schatten sprichst!« herrschte sie der Krieger an und verlieh seinem Befehl den nötigen Nachdruck, indem er Jessica zu Boden schleuderte.

Das Mädchen schlug hart auf dem steinigen Boden auf und spürte den Schmerz wie eine heiße Woge in sich aufsteigen. Vor ihm begann sich alles zu drehen.

»Ihr könnt gehen«, hörte es den Dämon dumpf sagen. Die vier Krieger verneigten sich und verließen den Saal.

»Wie heißt du?«

Jessica begriff im ersten Moment nicht, daß die Frage ihr galt. Stumm lag sie auf dem Boden und kämpfte gegen das Gefühl der Übelkeit an. Langsam konnte sie wieder klar denken.

»Antworte!« befahl der Dämon.

Mühsam hob sie den Kopf.

»Jessica«, entgegnete sie stammelnd. »Jessica Atkins. Wo bin ich hier?«

»Du befindest dich auf Kaarn«, antwortete der Dämon.

»Wo liegt das?«

»Du weißt nicht, wo sich Kaarn befindet? In einer für dich fremden Dimension. Allein in meiner Hand ruht die Entscheidung über Leben und Tod auf dieser Welt. Ich bin der unumschränkte Herrscher.«

»Dann seid Ihr ein... Dämon?« Das letzte Wort wollte ihr nicht recht über die Lippen kommen.

Der Dämon lachte auf. Es klang tief und grollend.

»Ja, ich bin ein Dämon. Dein Vater ist Magier?«

»Nein, er beschäftigt sich nur mit alten Schriften.«

»Ah, ein Schriftgelehrter und Forscher also. Wie konnte er das Kristallauge erwecken?«

»Was erwecken?«

»Sag bloß, du hast noch nie etwas von dem Kristallauge Von Kaarn gehört?«

Jessica schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich nie für die Forschungen meines Vaters interessiert.«

»Du verstehst nichts von Magie? Sind die Bewohner eurer Welt Mutanten?«

»Was meint ihr damit?« Jessica fühlte sich wie in einem grausamen Alptraum. Sie hoffte, jeden Moment aufzuwachen und sich in ihrem Zimmer wiederzufinden, aber dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung. Noch nie hatte sie sich so hilflos und verloren gefühlt wie in diesen Minuten.

»Bei uns wächst jedes Kind mit der Magie auf und beginnt, seine Fähigkeiten zu entfalten«, mischte sich die bunt gekleidete Person neben dem Dämon ein. »Es gibt niemand, in dessen Geist nicht wenigstens latente magische Kräfte schlummern.«

»Ich kann nicht zaubern, wenn Ihr das meint«, erklärte Jessica zaghaft.

Der Magier brach erneut in lautes Gelächter aus.

»Aber kein Mensch kann bei uns zaubern«, setzte sie schnell hinzu.

»Also wirklich eine Mutation. Man stelle sich das vor, eine Welt, deren Bewohner die Magie nicht mehr beherrschen.«

»Dafür sind wir wissenschaftlich sehr weit entwickelt.«

»Die Wissenschaft kann zwar vieles erforschen, aber die wirklichen Geheimnisse werden ihr für immer verschlossen bleiben. Schon von jeher war es die Aufgabe des Geistes, die Kräfte der Natur zu bezwingen und nicht, sie anzuerkennen und sich nach ihnen zu richten. Deshalb ist die Magie der Wissenschaft auch stets überlegen. Aber genug davon. Dein Vater hat also das Kristallauge erweckt. Wahrscheinlich wird es ihn zwingen, ebenfalls nach Kaarn zu kommen.«

Hoffnung glomm in Jessicas Augen auf.

»Mein Vater kommt hierher?«

»Vielleicht. Da er jedoch auf der Seite des Kristallauges steht, muß ich ihn als Feind betrachten.«

»Aber er hat Euch doch nichts getan.«

Unwillig winkte der Dämon ab.

»Er hat das Kristallauge aus dem Bann erweckt. Das allein ist schon Frevel genug.«

»Ich bitte Euch«, begann sie, wurde jedoch von dem Dämon unterbrochen. »Ich bin des Gesprächs müde.« Er bewegte die Hände. Plötzlich standen wie aus dem Nichts gewachsen zwei Wesen neben dem Mädchen.

Sie wirkten wie eine verkleinerte Kopie des gigantischen Schattens auf dem Thron.

»Führt sie ab«, befahl der Dämon. Er fügte noch etwas hinzu, das Jessica jedoch nicht verstand. Vermutlich war es eine Aufgabe, wohin man sie bringen sollte.

Widerstandslos ließ sich das Mädchen von den beiden Schatten aus dem Thronsaal führen.


*


Es schien Paul Atkins, als stürze er in ein Meer aus Farben. Nirgendwo gab es Halt.

Zeit und Raum verloren ihre Gültigkeit. Seine Reise könnte ebenso gut Millionen von Jahren, wie auch lediglich Sekundenbruchteile dauern.

Die Farben sogen ihn förmlich auf. Er glaubte, in alle Richtungen verstreut zu werden.

Plötzlich jedoch erfolgte ein scharfer Ruck. Ein harter Schlag traf sein Bewußtsein, dann wurde es um ihn herum dunkel.

Als er auf dem Rücken liegend wieder zu sich kam, fiel ihm zuerst die Farbe des Himmels auf.

Er war nicht blau oder grau wie auf der Erde, sondern zeigte eine rötliche Färbung. Jedoch nicht in der frischen Farbe eines Sonnenauf- oder Unterganges, es herrschte ein dunkleres und irgendwie auch bedrohlicheres Rot.

Das konnte nicht der Himmel sein.

Mit einem Schlag fiel ihm alles wieder ein. Er fühlte einen dumpfen Schmerz im Kopf, dennoch versuchte er sich aufzurichten. Seine Knochen schienen nur noch aus Gummi zu bestehen. Er fühlte sich matt und kraftlos.

Stöhnend kam Atkins auf die Beine. Seine ersten Schritte fielen noch etwas unsicher aus, aber es ging allmählich besser.

Suchend blickte er sich um. Unter seinen Füßen befand sich karger Sandboden. Die Wüste erstreckte sich bis zum Horizont.

In einer Richtung sah er in beträchtlicher Entfernung ein Gebirge aufsteigen.

In der anderen erkannte er Dächer, die vermutlich zu einer Stadt gehörten. Genaueres konnte er allerdings auf diese Entfernung nicht ausmachen.

»Nun, wie hast du die Reise überstanden?« erkundigte sich das Kristallauge. Es hing dicht über ihm in der Luft.

»Es geht«, erwiderte Paul Atkins. »Mein Kopf schmerzt etwas, aber das wird schon wieder werden. Ist das hier Kaarn?«

»Jawohl, wir befinden uns auf Kaarn. Du kannst stolz auf dich sein. Abgesehen von deiner Tochter bist du wahrscheinlich der einzige Erdenbewohner, der seinen Fuß jemals hier aufgesetzt hat.«

»Dafür kann ich mir auch nichts kaufen.«

Das Auge schien verwirrt. »Wie meinst du das?«

Paul Atkins winkte ab. »Ach, das ist nur so ein Sprichwort. Laß uns lieber mit der Suche beginnen... Wo ist meine Tochter?«

Das Kristallauge kam nicht mehr dazu zu antworten. Plötzlich entdeckte Paul Atkins die Staubwolke, die sich ihnen näherte.


*


Jessica wurde von den Schatten über lange Flure geführt. Schließlich hielten sie vor einer großen Tür.

Stumm bedeuteten ihr die Wächter mit einer Bewegung ihrer Schattenarme, die Tür zu öffnen. Jessica drückte die Klinke herunter und lautlos schwang die Tür nach innen auf.

Sie erblickte ein fürstlich eingerichtetes Zimmer, dessen Mobiliar in ein Schloß gepaßt hätte. Sogar einen Kamin gab es, in dem ein Feuer brannte.

Unsicher schritt sie über die Schwelle. Noch während sich das Mädchen in dem Gemach umsah, wurde hinter ihm die Tür wieder geschlossen.

Jessica warf sich herum. Sie rüttelte an der Klinke, aber sie saß so fest, als wäre sie mit dem Rahmen untrennbar verbunden.

Wild begann sie mit den Fäusten gegen das Holz zu trommeln.

»Ich will hier raus!« schrie sie mit sich überschlagender Stimme. Auch die aufwendige Einrichtung des Gemachs konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie hier gefangen und damit dem riesigen Schatten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.

War sie zuvor durch den Schrecken wie gelähmt gewesen, so brach die Verzweiflung und Furcht nun in ihr durch.

Sie wußte nicht, was mit ihr geschehen war.

Jessica trommelte und schrie solange, bis ihr die Fäuste weh taten und ihr die Stimme versagte. Schluchzend warf sie sich in einen Sessel und weinte.

Auch wenn die Tränen ihre Situation nicht verbesserten, so halfen sie ihr doch, den psychischen Druck abzubauen.

Es dauerte lange, bis sie sich wieder gefangen hatte.

Solange man ihr nichts antat, konnte sie hier ganz gut leben. Oft hatte sie als kleines Mädchen geträumt, eine Prinzessin zu sein.

In gewissem Sinn konnte sie hier so leben.

Sie konnte aus eigener Kraft ohnehin nichts tun, um von hier zu fliehen.

Eigentlich war es hier gar nicht so schlecht, dachte sie, erschrak aber gleich darauf über ihre Überlegung.

Mit Entsetzen stellte sie fest, daß sie sich an den Gedanken, hier leben zu müssen, zu gewöhnen begann, Ihr vorheriges Leben erschien ihr nur noch wie ein Traum. Die Erinnerung an die Erde verblaßte.

Sie spürte, daß sich ihr Denken zu verändern begann. Was Würde ihr Vater sagen, wenn er sie so träfe?

Sie drängte diese Erwägung zurück. Wenn ihr Vater käme, wäre er ohnehin zum Sterben verurteilt, hatte der Dämon gesagt.

Im gleichen Moment zuckte Jessica wie unter einem Schlag zusammen. Sie stellte fest, daß ihr das Schicksal ihres Vaters gleichgültig geworden war.


*


»Krieger«, erklärte das Kristallauge dumpf. »Sie müssen uns längst gesehen haben. Verstecken hat keinen Sinn! Wir werden kämpfen müssen.«

Erschrocken zuckte Paul Atkins zusammen. »Kämpfen?«

»Ja, oder willst du dich ihnen ausliefern. Ich bin durch den Bann geschwächt worden, aber mittlerweile habe ich einen großen Teil meiner ursprünglichen Kraft wiedergewonnen. Wir können sie besiegen.«

Davon war der Forscher und Magier nicht überzeugt. »Wie viele sind es?« erkundigte er sich ängstlich.

»Es sind zehn Krieger.«

Paul Atkins erinnerte sich an seine Waffen. Als er jedoch seinen Zeremoniendolch suchte, durchfuhr ihn ein Schreck. Die Waffe war verschwunden. Das gleiche galt auch für das Kruzifix.

Er ahnte, wie das geschehen war. Das Kristallauge war ein Instrument der schwarzen Magie. Es hatte die weißmagischen Gegenstände nicht in diese Dimension transportieren können. Damit sanken seine Chancen beträchtlich.

Als er sich umblickte, war das Auge plötzlich verschwunden. Panik drohte sich in ihm auszubreiten, aber gleich darauf vernahm er wieder die Stimme des Auges in seinen Gedanken.

»Ich habe mich in den Sand eingegraben. Vielleicht können wir sie so überraschen.«

Kurz darauf waren die Reiter nähergekommen. Dicht vor ihm zügelten sie ihre Pferde. Die Krieger sahen genau so aus, wie die, die Jessica entführt hatten. Drohend umschlossen ihre Hände die Schwertgriffe...

»Was machst du hier, Fremder?« fragte einer von ihnen.

»Ich wollte in die Stadt«, entgegnete Atkins geistesgegenwärtig.

»Woher kommst du?« wurde er weiter gefragt.

»Nun, ich...« Er verstummte. Was sollte er schon antworten?

»Na los, antworte!« befahl ein Reiter. Er schien der Anführer der Krieger zu sein »Oder soll ich dich um einen Kopf kürzer machen?«

»Aus dem Gebirge«, antwortete Paul Atkins schnell. Vielleicht ließen sich die Reiter bluffen.

»Du lügst! Solche Kleidung, wie du sie trägst, besitzt hier niemand. Ich vermute, daß du von einer anderen Welt als Spion eingeschleust wurdest.«

In diesem Augenblick schnellte sich das Kristallauge aus der Erde. In etwa zwei Meter Höhe verharrte es in der Luft.

Wieder sandte es Blitze aus. Diesmal schleuderte es die getroffenen Krieger jedoch nicht nur zurück.

Zwei von ihnen wurden getroffen. Sie verbrannten sofort binnen von Sekunden mitsamt ihren Pferden wie Fackeln zu Asche.

»Zum Angriff«, schrie der Anführer der Reiter und riß sein Schwert aus der Scheide.

Paul Atkins konnte sich nicht mehr um das Kristallauge kümmern. Blitzschnell duckte er sich und entging dadurch um Haaresbreite dem waagerecht gegen seinen Hals geführten Streich.

Sofort federte er wieder hoch. Woher er den Mut nahm, wußte er selbst nicht, aber er klammerte sich an den Reiter.

Mit aller Kraft zog er, und es gelang ihm tatsächlich, diesen aus dem Sattel zu reißen.

Gemeinsam fielen sie zu Boden.

Bei dem Sturz hatte der Reiter das Schwert verloren. Es lag dicht neben ihm, noch bevor der Krieger danach greifen konnte, hatte es Atkins bereits an sich gebracht.

Eine neue Kraft durchströmte ihn.

Liegend schlug er zu und traf den Krieger in der Körpermitte. Er spürte nicht mal Widerstand, als das Schwert den Körper berührte.

Entsetzt starrte er auf den gräßlich verstümmelten Leichnam.

Paul Atkins bekam etwas Luft und sah sich genauer um.

Nur noch vier Reiter waren übriggeblieben, aber diese machten dem Auge schwer zu schaffen. Sie hatten sich auf die Blitze mittlerweile eingestellt. Es gelang ihnen, den sengenden Strahlen auszuweichen.

Einen Schlag nach dem anderen führten sie gegen das Auge. Zwar konnten sie es nicht vernichten, aber es flackerte nach jedem Treffer. Dabei wurde es ständig dunkler.

Paul Atkins erhob sich. Die Krieger waren einzig an dem Kristallauge interessiert. Von dem Mann nahmen sie keine Notiz.

So gelangte er dicht an sie heran. Als einer der Krieger zuschlagen wollte, streckte er seinen Waffenarm vor. Die Klinge drang dem Reiter tief in den Körper. Tödlich getroffen kippte er vom Pferd.

Dadurch wurde ein zweiter abgelenkt. Kurz blickte er herüber, aber diese Zeit kostete ihn das Leben.

Es gelang ihm nicht mehr, dem Blitz des Auges auszuweichen. Ebenso wie die anderen, verbrannte er zu Asche.

Ein weiterer Blitz traf eines der Pferde. Gedankenschnell ließ sich der Reiter aus dem Sattel fallen. Dadurch entging er zwar dem Feuer, rollte aber Atkins fast vor die Füße.

Dieser hatte das Schwert zwar schon erhoben, brachte es aber nicht über sich, auf den Wehrlosen einzuschlagen.

Atkins spürte noch den Ruck an den Fußgelenken, dann sah er den sandigen Boden auf sich zukommen. Zwar konnte er noch den Sturz notdürftig abfangen, aber der Ruck nahm ihn doch ordentlich mit.

Instinktiv hielt ex noch den Schwertarm vom Körper weg gestreckt, so daß er nicht in die Klinge fiel.

Direkt über ihm stand der Krieger. Er hielt das Schwert zum Schlag erhoben.

Paul Atkins wußte, daß ihm keine Zeit mehr blieb. Sein eigenes Schwert hochzureißen, um die Gefahr abzuwehren. Auge in Auge stand er dem Tod gegenüber.

In diesem Moment schien die Zeit für ihn langsamer abzulaufen.

Er sah, wie das Schwert auf ihn zukam und wußte gleichzeitig daß die Klinge genau seinen Hals treffen würde.

Plötzlich sah er den Blitz.

Instinktiv schloß Paul Atkins die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der Krieger verschwunden.

Mühsam versuchte er, auf die Beine zu kommen. Er zitterte am ganzen Körper. Er wußte nämlich, daß er dem Tod noch nie so nah gewesen war.

»Das war Rettung in buchstäblich letzter Sekunde«, wandte er sich unsicher an das Kristallauge.

»Ja, aber ich konnte mich nicht früher um dich kümmern. Mein Gegner hat mir genügend zu schaffen gemacht.«

»Diese Schwerter sind gräßliche Waffen. Welcher Teufel kann sich nur so etwas ausdenken?«

Das Kristallauge lachte telepathisch auf. »Oh, das war nicht einmal ein Dämon, geschweige denn der Teufel selbst. Es war nur ein einfacher Magier. Die Waffen sind magisch aufgeladen, dadurch die Wirkung. Es gibt sie schon seit Jahrtausenden auf Kaarn.

Die letzten Worte drangen nur noch verschwommen an Atkins' Ohren. Eine tiefe Ohnmacht umfing ihn. Der ^ Schrecken und die Anstrengungen der letzten Stunden hatten ihn überwältigt.


*


Sie hatten den Fuß des Gebirges fast erreicht, als die Sonne unterging. Es wurde jedoch nicht schlagartig finster, sondern der Himmel glühte noch rötlich nach, so daß Paul Atkins Gelegenheit hatte, auftauchende Hindernisse rechtzeitig zu umgehen.

Der Boden war steiniger geworden. Die Beine schmerzten, solche Gewaltmärsche war der Mann nicht gewohnt.

Auf dem Weg hatte ihm das Kristallauge einiges über Kaarn erzählt. So erfuhr er, das der Wächter des Auges ein Koyr gewesen war. Die Koyr waren die früheren Hilfskräfte der Kristallfürstin gewesen. Viele waren während der Auseinandersetzungen gestorben. Einige waren auf die Seite des Meisters der Schatten übergewechselt. Zahlreiche Koyr versteckten sich jedoch noch auf Kaarn.

Paul Atkins schüttelte sich bei der Vorstellung, noch mal einem solch grauenvollen Wesen zu begegnen. Er hatte mittlerweile auch gehört, daß sie sich von Knochen ernährten.

Sie verfügten nur über geringe magische Fähigkeiten. Die Koyr, die damals nicht unter die Knute des Meisters der Schatten gezwungen worden waren, konnten dank der Kraft ihrer Magie fliegen.

Außerdem konnten sie sich nur nach Sonnenuntergang bewegen. Tagsüber verfielen sie in einen todesähnlichen Schlaf. In dieser Beziehung ähnelten sie irdischen Dämonen.

»Wann machen wir endlich eine Rast?« erkundigte sich Atkins erschöpft.

»Das hängt von dir ab. Ich brauche keine Ruhepause. Denk an deine Tochter! Außerdem wird man bestimmt schon nach den Kriegern suchen.«

»Da können sie lange suchen«, meinte Paul Atkins sarkastisch. »Du hast ja alles verbrannt. Hättest du wenigstens ein Pferd übrig gelassen, dann könnte ich reiten, und wir wären schon viel weiter.«

»Daran habe ich nicht gedacht«, gab das Kristallauge zu. »Außerdem wußte ich nicht, daß deine Kräfte so schnell erlahmen würden.«

»Ein Stück schaffe ich es sicher noch.«

»Nicht weit von hier ist eine Höhle. Dort kannst du dich ausruhen.«

Der Marsch wurde immer beschwerlicher. Nun war der Boden nicht mehr flach, sondern es ging bergauf. Dennoch biß Paul Atkins die Zähne zusammen und schleppte sich weiter. Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen.

Nur der Gedanke an Jessicas Schicksal gab ihm neue Kraft.

Es dauerte fast eine Stunde, bis sie die Höhle erreicht hatten. Dem Mann kam es wie eine Ewigkeit vor.

Wenigstens war es nicht dunkler geworden. Der Himmel schien hier die ganze Nacht hindurch matt zu leuchten.

Atkins ließ sich erschöpft zu Boden fallen.

Fast augenblicklich schlief er ein.

Das Kristallauge überlegte, ob es warten sollte, bis er wieder aufwachte, entschied sich aber dagegen. In der Höhle war er verhältnismäßig sicher.

Es interessierte sich nur für die Kristallfürstin. Hatte es sie mal gefunden, würde Paul Atkins unwichtig werden. Schließlich war es nur wegen der Kristallfürstin hierher gekommen.

Es beschloß, die Zeit bis zum Sonnenaufgang zu nutzen, um nach Zargos, dem ehemaligen Hofmagier der Fürstin zu suchen.

Er war damals in die Berge geflüchtet und hauste wahrscheinlich noch immer hier.

Lautlos schwebte das Kristallauge aus der Höhle.


*


Maral war der mächtigste Magier am Hof des Meisters der Schatten.

»Was hältst du von ihr?« wurde er von dem Dämon gefragt, nachdem das Mädchen aus dem Thronsaal geführt worden war.

»Sie ist absolut unwissend, Herr«, entgegnete er. »Dennoch kann sie gefährlich werden. Sie stammt aus einer anderen Welt. Wer weiß, welche Kräfte in ihr schlummern. Vielleicht hat sie sich nur verstellt und ihre magischen Fähigkeiten so vor uns verborgen, daß wir sie nicht spüren konnten.«

»Das ist unmöglich«, erhielt er zur Antwort. »Ich habe nichts entdecken können. Es gibt keine Sperren in ihrem Bewußtsein.«

»Aber das ist unmöglich, Herr«, ereiferte sich Maral. »Es gibt kein Lebewesen, das überhaupt keine magischen Fähigkeiten besitzt.« Unwillig winkte der Dämon ab. »Hier bei uns sicher nicht. Aber woher willst du wissen, wie es auf anderen Welten aussieht? «

»Ich halte es dennoch für unwahrscheinlich«, wagte Maral einzuwenden. »Alle bisherigen Erfahrungen sprechen dagegen, daß es Wesen gibt, die nicht magisch begabt sind. Höchstens einige wenige Mutanten vielleicht.«

»Aber sie ist keine Mutantin. Stell dir doch mal eine von Menschen bewohnte Welt vor, wo die Bewohner keinerlei magische Fähigkeiten besitzen.« Maral versuchte, sich eine solche Welt vorzustellen. Sie mußte völlig primitiv sein.

»Du hast auf meine Frage noch nicht geantwortet«, erinnerte der Dämon. Deutlich hörte Maral den Unwillen aus der Stimme des Meisters der Schatten heraus.

Dennoch verteidigte er seinen Standpunkt. Nervös zupfte er an seinem bunten Kostüm herum. Niemand außer ihm hätte es gewagt, gegen die Worte des Dämons aufzubegehren, aber Maral vertraute er. Oft genug schon hatte der Magier bewiesen, daß seine Ratschläge vernünftig waren...

»Nun, Herr, ich finde, Ihr solltet sie töten. Damit hättet Ihr jegliche eventuelle Gefahr beseitigt.«

»Aber auch jeden Vorteil, du Narr! Wenn ihre Welt wirklich Menschen hervorgebracht hat, die über keine magischen Fähigkeiten verfügen, dann ist sie ein leichtes Opfer für mich.«

»Ihr wollt diese Welt erobern?« fragte Maral ungläubig.

»Ja, ich werde sie erobern. Sie wird mir dabei helfen, denn sie kennt diese Welt.«

»Herr, gestattet, daß ich diese Idee im Augenblick nicht für gut halte. Erst solltet Ihr Euch auf das Kristallauge konzentrieren. Vielleicht befindet es sich schon auf Kaarn. Erst wenn diese Gefahr überwunden ist, solltet ihr daran denken, Euer Reich zu vergrößern.«

Sie schwiegen. Schließlich ergriff der Meister der Schatten erneut das Wort.

»Du hast recht. Ich habe soeben einen Impuls des Auges aufgefangen. Es befindet sich auf Kaarn, aber es versteht sich so gut abzuschirmen, daß ich es nicht orten kann. Es befindet sich in Begleitung eines Sterblichen, der jedoch über keinerlei magische Fähigkeiten verfügt. Das Mädchen hat also die Wahrheit gesprochen. Durch die fehlende Magie kann ich ihn leider ebenfalls nicht orten.«

»Zwei Kriege zu führen, wäre zuviel. Erst muß dieser Feind ausgeschaltet werden. Was geschieht nun mit dem Mädchen?«

»Ich werde sie nicht töten lassen. Im Gegenteil, ich werde sie zu meiner Braut machen. An meiner Seite wird sie über Kaarn herrschen.«


*


Ein leises Schaben weckte Paul Atkins. Er hatte von Natur aus einen leichten Schlaf. Daran änderte auch seine Erschöpfung nichts.

Noch im Halbschlaf lauschte er, ob sich das Geräusch wiederholte.

Zweifelsohne war da ein leises Schaben zu hören, so als ob jemand mit den Füßen über den Boden schleifte.

Sofort war Atkins hellwach. Dennoch blieb er ruhig liegen. Er versuchte mit den Augen die Finsternis zu durchdringen. Zwar schimmerte etwas Licht durch den Eingang, aber nicht genug, um in der Höhle etwas erkennen zu können.

Daß er den Eindringling trotzdem sah, lag daran, daß sich dessen Silhouette gegen den helleren Hintergrund des Eingangs abhob. Der Mann bemerkte eine große, gedrungene Gestalt.

Als der Eindringling nur noch wenige Schritte entfernt war, explodierte Paul Atkins. Mit aller Kraft warf er sich nach vorn, packte die Beine des Fremden und riß daran.

Dieser war darauf nicht vorbereitet und verlor das Gleichgewicht. Dumpf schlug er auf dem Boden auf.

Sofort war Atkins über ihm. Er fühlte etwas Weiches zwischen seinen Händen. Er achtete nicht darauf, sondern schlug fest mit der Faust zu.

Er hatte auf das Gesicht des Eindringlings gezielt und traf ihn am Kinn. Der Kopf des Fremden schlug auf den steinigen Boden.

Sie lagen nun ziemlich dicht am Eingang, und Paul Atkins konnte einen Blick auf das Gesicht seines Gegners auf.

Er hatte sich getäuscht. Der Fremde besaß keine Haut, sondern ein zottiges schwarzes Fell.

Ein häßlicher Schrumpfkopf, aus dem graue Haare wuchsen, grinste ihn an. Ein Koyr.

Genauso hatte das Wesen in der Gruft ausgesehen. Obwohl der Schlag bei einem Menschen wahrscheinlich zu einer Gehirnerschütterung geführt hätte, hatte der Koyr ihn ohne sichtbare Folgen überstanden.

Als Paul Atkins das gierige Fauchen hinter sich hörte, wußte er, daß er einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte.

Er spürte noch den harten Schlag in seinem Nacken, dann umfing ihn tiefe Finsternis.

Zum zweiten Mal seit er auf Kaarn weilte, wurde er bewußtlos.

Er spürte nicht mehr, wie die beiden Koyr ihn packten...


*


Jessica verstand sich selbst nicht mehr. Sie hatte das Gefühl, als lebten zwei völlig verschiedene Seelen in ihr.

Die eine war sie selber, so, wie sie immer gewesen war.

Die andere schien keine Gefühle zu kennen, jedenfalls nicht die Gefühle, die Jessica sonst in ihren Handlungen leiteten.

Alles, was die Hälfte von ihr begehrte, war Macht.

Jessica wußte nicht mehr, wer sie eigentlich war.

Was konnte diese Wandlung ausgelöst haben? War es diese Umgebung? Gab es vielleicht eine Art Strahlung, die auf sie einwirkte?

Oder war es die Begegnung mit dem Meister der Schatten, die sie so verändert hatte?

Sie wußte es nicht.

War es überhaupt wichtig? Wichtig war die Macht und der Reichtum, der sie umgab.

Was war mit ihrem Vater?

Er ist unwichtig. Wenn er hierherkommt, versucht er nur, mir alles wieder fortzunehmen. Dann leben wir wieder in diesem kümmerlichen alten Haus.

Dies ist aber eine Welt, in der es sich zu leben löhnt. Hier bin ich zwar gefangen, aber wenn ich dem Meister helfe, kann ich es weit bringen.

Ich werde herrschen.

Die Gedanken überschlugen sich nur so in ihrem Kopf. Wer war sie nun wirklich? Hatte sie ihren wahren Charakter vielleicht bislang nur immer unterdrückt?

War sie schizophren?

Jessica wußte überhaupt nichts mehr. Sie spürte nur, daß sie sehr müde war. Die Sonne war unterdessen bereits untergegangen.

Konnte sie denn in dieser Umgebung überhaupt schlafen?


*


Paul Atkins hatte sich mit seiner Lage abgefunden. Als er aus der Ohnmacht aufwachte und das Land tief unter sich vorbeiziehen sah, erfaßte ihn im ersten Moment Panik.

Er begann um sich zu schlagen, bis ihn sein Verstand warnte. Was hatte er davon, wenn er sich jetzt befreien könnte? Aus dieser Höhe war ein Sturz für ihn tödlich.

Daher verhielt er sich ruhig.

Die beiden Koyr hielten ihn mit ihren behaarten Klauen gepackt.

Der Forscher rief sich ins Gedächtnis, was ihm das Kristallauge über die Koyr erzählt hatte.

Sie wurden als Sklaven gehalten, nachdem sie das Ende der Kristallfürstin ihrer magischen Kraft beraubt hatte. Offensichtlich mußten sich die beiden damals in die Wälder gerettet haben, denn sie besaßen noch ihre magischen Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichten, ohne Flügel zu fliegen.

Die Koyr wollten die Herrschaft der Kristallfürstin erneuern, deshalb wollte das Auge auch mit ihnen Kontakt aufnehmen.

Es scheint so, als sei mir das früher gelungen, dachte Atkins.

Die Streitigkeiten dieser Welt interessierten ihn nicht, er wollte nur Jessica aus den Klauen der Dämonen befreien.

Noch ein weiterer Punkt fiel ihm ein. Wenn das Auge recht hatte, konnten diese Wesen sich nur nach Sonnenuntergang bewegen. Tagsüber fielen sie in einen todesähnlichen Schlaf.

Unter ihnen glitt das Land dahin. Als Atkins den Kopf wandte, war das Gebirge nur noch als Schemen am Horizont auszumachen.

Sie flogen auch nicht mehr über eine Wüste. Fruchtbares, grünes Land lag unter ihnen, das jedoch keine Spuren menschlicher Bearbeitung aufwies.

Sie befanden sich auf der anderen Seite.

Der Flug kam Paul endlos vor. Die Landschaft veränderte sich nicht, die Vegetation wurde aber allmählich kärglicher.

Langsam stieg das Gelände an. Wie ein Garten, in dem ein Maulwurf gehaust hatte, sah die Landschaft hier aus.

Zwischen den Hügeln bemerkte Paul Atkins ein Bauwerk.

Es erinnerte von der Form her an eine Kirche, zumindest besaß es einen spitzen, hohen Turm, der jedoch zum Teil eingefallen war, und einen langgezogenen Anbau.

Der Anbau war ebenfalls von der Zeit stark angegriffen worden. Das Dach bestand nur noch etwa zur Hälfte, wie Atkins erkannte, als sie näher herangekommen waren.

Die Koyr nahmen auf das Bauwerk Kurs und landeten unmittelbar vor dem hohen Portal.

Kaum, daß seine Beine wieder Kontakt mit dem Boden hatten, wurde Paul Atkins ein harter Stoß versetzt. Er taumelte nach vorn und versuchte, sich mit den Armen wild rudernd abzufangen. Dennoch verlor er das Gleichgewicht. Hart stürzte er zu Boden. Benommen sah der Forscher zu, wie die beiden Koyr an das Portal klopften, das wenig später geöffnet wurde. Weitere Koyr kamen heraus, packten Paul und schleiften ihn in das Innere des Baus.

»Brüder«, rief einer der Koyr laut. »Unsere Suche hat Erfolg gezeitigt. Wir haben einen Sterblichen gefunden, der nicht von dieser Welt stammt und keinerlei magische Fähigkeiten besitzt.«

Plötzlich schien das Dunkel des Raumes sich mit Leben zu erfüllen.

Dutzende von Koyrn, die vorher nicht zu sehen gewesen waren, traten hervor. Gemurmel ertönte, verstummte jedoch augenblicklich, als einer der beiden Koyr, die ihn hergebracht hatten, mit dem Arm eine herrische Geste vollführte.

»Das ist noch nicht alles«, fuhr er fort. »Er kam nicht allein nach Kaarn. Das Kristallauge war bei ihm.«

Wieder setzte Gemurmel ein, das jedoch erstarb, als der Koyr weitersprach.

»Wir konnten es leider nicht erreichen. Es verschwand, nachdem es den Sterblichen in eine Höhle gebracht hatte. Ich hoffe, ihr wißt, was sein Erscheinen bedeutet. Mit seiner Hilfe wird die Kristallfürstin den Meister der Schatten vom Thron stürzen. Zuvor wird dieser Sterbliche sie jedoch wieder zum Leben erwecken. Er allein kann das Tor zu der verbotenen Gruft öffnen.«

Lähmendes Schweigen herrschte. Langsam nur konnten sich die Koyr an den Gedanken gewöhnen, daß ihre jahrhundertelange Suche endlich Erfolg gehabt hatte.

»Was bedeutet das alles?« wagte Paul Atkins schließlich zu fragen.

»Du sollst die Kristallfürstin wiedererwecken«, erklärte einer der Koyr. »Uns ist dies verwehrt, denn ihre Gruft ist durch eine magische Sperre abgesichert.«

»Wie soll ich es denn schaffen, wenn es euch schon nicht gelingt?«

»Nur du kannst es schaffen, weil die Sperre auf magische. Fähigkeiten anspricht. Wir haben dich bereits ausgelotet und festgestellt, daß du keine solchen Fähigkeiten besitzt. Deshalb wirst du in die Gruft eindringen und die Fürstin wieder zum Leben erwecken. Das Kristallauge würde es ebenfalls schaffen, aber wir können nicht so lange warten, bis wir es wiedergefunden haben. Nein, du mußt die Kristallfürstin wiedererwecken.«


*


Als sich Jessica Atkins von dem Sessel, auf dem sie bislang gesessen hatte, erheben wollte, um in ihr Schlafgemach zu gehen, hörte sie, wie die Tür zum Gang hin geöffnet wurde.

Erschrocken blickte sie sich um.

Einer der Schatten, die sie hergeleitet hatten, schwebte ins Zimmer. Unmißverständlich bedeutete er ihr zu folgen.

Wollte man sie töten?

Aber dann hätte man sie gar nicht erst in dieses Zimmer zu führen brauchen. Offensichtlich hatte der Meister der Schatten etwas mit ihr vor.

Ergeben stand Jessica auf.

Sie fühlte instinktiv, daß man sie zum Thronsaal führte. Ihr Gefühl war rational nicht zu erklären. Vielleicht reagierte ihr Unterbewußtsein auf Impulse, die sie nicht bewußt wahrnahm.

Dabei wurde sie den Gedanken nicht los, zu ihrer Hinrichtung geführt zu werden. Auch wenn noch so viele Gründe dagegen sprachen, so konnte sie dieses Gefühl nicht ganz unterdrücken.

Die Schatten sprachen kein Wort. Vermutlich besaßen sie gar kein Organ, um sich zu äußern.

Schweigend führten sie das Mädchen, bis sie den Thronsaal erreicht hatten.

Die beiden Schatten huschten zur Seite und waren augenblicklich mit dem dunklen Hintergrund verschmolzen.

»Komm her!« befahl der Meister der Schatten, der nach wie vor auf seinem Thron saß.

Zögernd trat Jessica näher.

»Vielleicht ahnst du, weshalb du hergerufen wurdest«, ergriff der Dämon das Wort. »Ist dir nichts aufgefallen?«

»Doch«, erwiderte sie. »Ich habe mich verändert. In den letzten Stunden sehe ich die Welt mit anderen Augen. Alles erscheint mir nicht mehr so schlimm.«

»Ha«, triumphierte der Meister. »Der magische Keim beginnt zu wirken.«

»Was ist das, der magische Keim?« erkundigte sich Jessica unsicher.

»Das ist ein ganz besonderes Sekret, das ein Dämon wie ich abzusondern vermag. Einer der Schatten hat es, ohne daß du es bemerktest, auf dich übertragen.«

Angst leuchtete in den Augen des Mädchens auf. Also kam die Veränderung doch nicht von allein, wie sie es zuerst angenommen hatte.

»Werde ich... werde ich dadurch selbst zu einem weiblichen Dämon?«

Der Meister der Schatten lachte auf.

»Nein, aber du wirst so denken und so empfinden. Bald werden auch die letzten Überreste deines bisherigen Ichs verschwunden sein, dann bist du ein Geschöpf der Finsternis. Der gute Teil deiner Seele hatte bisher die Oberhand«, fuhr der Dämon fort. »Dein böser Teil wurde unterdrückt. Durch den magischen Keim wurde das Verhältnis umgekehrt.«

»Aber warum das alles?«

Der Meister der Schatten schwieg. Unruhig trat Jessica von einem Fuß auf den anderen.

»Ich möchte, daß du meine Begleiterin wirst«, verkündete er schließlich.

Jessica Atkins wurde kreidebleich. Diese Worte hatten sie innerlich aufgewühlt.

Was habe ich gesagt, dachte sie triumphierend. Ich werde Macht erlangen. Sie spürte, daß der negative Teil ihrer Seele das Angebot des Dämons annehmen wollte.

Bei dem Gedanken, mit dem Scheusal auf dem Thron vereint zu sein, brach der andere Teil ihrer Seele in Entsetzen aus.

Wie eine Stichflamme schoß die Panik in ihr hoch. Kurzfristig gelang es ihr, den negativen Teil zu verdrängen, obwohl dieser um die Vorherrschaft in ihrem Körper kämpfte.

»Nein!« schleuderte sie dem Meister der Schatten entgegen.

Im nächsten Moment wälzte sie sich vor Schmerz auf dem Boden. Sie hatte das Gefühl, ihre Eingeweide würden verbrennen.

Verzweifelt versuchte sie, ihr böses Ich zurückzudrängen und es gelang ihr zumindest vorläufig. Eine so heftige geistige Attacke hatte sie bislang noch nicht erlebt.

Mühsam kam sie wieder auf die Beine. Sie fühlte sich innerlich ausgelaugt. Andererseits hatte sie ihr negatives Ich vorläufig zurückgedrängt. Die bösen Einflüsterungen waren deutlich schwächer geworden. Offensichtlich hatte ihr anderer Teil noch mehr unter dem Kräfteverlust zu leiden.

»Ich werde nie deine Gefährtin werden, du... du Ungeheuer!« schleuderte sie dem Dämon entgegen.

Höhnisch hatte dieser ihrem inneren Kampf zugesehen. »Das glaubst du«, erwiderte er. »Der magische Keim ist gerade erst gelegt. Noch ist er schwach, aber er wird immer mehr Einfluß gewinnen. Auf Dauer wirst du dich nicht wehren können.«

»Doch, das werde ich«, widersprach Jessica hysterisch. Aufgestaute Angst und Verzweiflung brach in ihr durch. Sie vergaß die Umgebung. Nur noch das entsetzliche Wesen auf dem Thron existierte für sie. »Du bist ein Satan!«

Der Meister winkte den Schatten, die plötzlich wieder neben dem Mädchen standen. »Bringt sie zurück!« gebot er.


*


Seit Stunden war er an die Säule gefesselt.

Die Stricke schnitten in seine Haut, aber Paul Atkins biß die Zähne zusammen. Er dachte nicht daran, aufzugeben. Kurz nachdem er in die Kirche geschleppt worden war, hatten die Koyr ihn an einer der das Dach tragenden Säulen angebunden. Dann waren seine Wächter in einen todesähnlichen Schlaf gefallen.

Kurz darauf ging die Sonne auf. Paul Atkins sah sie durch die Löcher im Dach schimmern. Offenbar verhielten sich die Koyr wirklich so, wie das Kristallauge gesagt hatte.

Seit dieser Zeit bemühte sich Atkins verzweifelt, die Fesseln abzustreifen. Dabei wendete er einen Indianertrick an, den er einmal in einem Western gesehen hatte. Als man ihn fesselte, hatte er eingeatmet, dann erst wieder ausgeatmet. Tatsächlich gaben die Fesseln ein Stück nach.

In stundenlanger Kleinarbeit gelang es ihm, sie fast vollständig abzustreifen. Endlich konnte er einen Arm frei bewegen.

Der Rest war ein Kinderspiel. Kurze Zeit später fielen die Schnüre zu Boden.

Geschafft! hämmerte es in Paul Atkins Kopf. So schnell wie möglich rannte er auf das Eingangsportal zu. Er legte die Hand auf die schwere Klinke und drückte sie nach unten.

Wenigstens versuchte er das. Es blieb jedoch bei dem Vorsatz. Die Klinke ließ sich nicht einmal ein winziges Stück bewegen.

Obwohl Paul sich mit seinem Körpergewicht darauf stützte, saß sie unbeweglich fest. Es half auch nichts, als er

sich gegen das Holz warf.

Resigniert ließ Paul Atkins von dem Portal ab. Aufgegeben hatte er deshalb noch lange nicht. Er hatte zuvor bereits zwei Türen im Hintergrund entdeckt. Vielleicht bot sich dort eine Gelegenheit zur Flucht.

Kurz entschlossen steuerte er eine der Türen an, die sich an einer Seitenwand befand. Die versuchte er zuerst zu öffnen.

Enttäuscht ließ er nach wenigen Sekunden wieder davon ab. Sie war ebenso verschlossen wie das Portal. Ohne entsprechendes Werkzeug war es unmöglich, sie aufzubrechen.

Blieb nur noch die andere Tür. Sie lag an der Stirnseite des Gewölbes.

Endlich stand er direkt vor der Tür. Er glaubte, sein Herz müßte schneller schlagen, als er nach der Klinke griff. Wenn auch diese Tür verschlossen war, war er den Ungeheuern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Die Tür ließ sich öffnen.

Erregt stieß Paul sie auf. Sie quietschte und knarrte in den Angeln. Dabei schabte sie über den Boden und setzte damit dem Mann einigen Widerstand entgegen. Schließlich ließ sie sich jedoch soweit öffnen, daß sich Paul durch die Öffnung zwängen konnte.

Sein Blick irrte in dem Raum umher. Er war offensichtlich als Abstellkammer benutzt worden. Zahlreiche Gegenstände standen oder lagen herum: Kisten, Bilder, Stühle, ein Tisch und viele andere Sachen. Alles war mit einer dicken Staubschicht überzogen. Eine ebensolche lag auch auf dem mit steinernen Fliesen ausgelegten Boden. Offensichtlich hatte schon lange niemand mehr den Raum betreten.

Das, worauf er gehofft hatte, fand Atkins jedoch nicht. Es gab keine nach draußen führende Tür, lediglich ein Fenster. Jedoch befanden sich dicke Eisengitter davor, so daß auch diese Fluchtmöglichkeit ausschied. Die Scheiben waren durch den Schmutz völlig blind geworden. Außerdem befand sich das Fenster in fast drei Meter Höhe.

Dennoch wollte Paul Atkins zumindest einen Blick nach draußen werfen. Dazu benötigte er etwas, auf das er sich stellen konnte. Der Stuhl schied aus, denn der war zu niedrig. Dafür schien ihm der Tisch die richtige Höhe zu besitzen.

Das Möbelstück wirkte ausgesprochen massiv. Entsprechend schwer war es auch, wie Paul Atkins feststellte, als er es anzuheben versuchte. Nur mit größter Mühe konnte er es vorwärts zerren. Schieben ging noch schwerer, da der Boden uneben war.

Als der Tisch schließlich unter dem Fenster stand, war Atkins schweißgebadet. Er mußte einen Augenblick Pause machen. Dabei keuchte er vor Anstrengung. Erst als sich Atmung und Herzschlag wieder normalisiert hatten, kletterte er auf den Tisch.

Tatsächlich waren nun sein Gesicht und das Fenster etwa auf einer Höhe. Mit der Hand versuchte er, den Schmutz von den Scheiben zu wischen. Das war jedoch ein aussichtsloses Unterfangen, wie er feststellen mußte. Der Staub lag von außen genauso dicht.

Paul Atkins sprang vom Tisch herunter, um nach einem Gegenstand zu suchen, mit dem er die Scheibe einschlagen konnte. Er entschied sich für ein Stuhlbein.

Kurzentschlossen brach er es ab, was ihm mit Hilfe der Füße ohne große Mühe gelang.

Mit dem Bein in der Hand kletterte er wieder auf den Tisch. Er nahm kurz Maß und stieß dann zu. Klirrend zerbrach das Glas. Mit dem Holzstück schlug er die Splitter aus dem Rahmen und konnte endlich einen Blick nach draußen werfen.

Er sah nur dünn mit Gras bewachsene Hügel. Ein lebendes Wesen war nirgendwo auszumachen. Die Landschaft war öde und trostlos.

Sie paßte genau zu den Knochenfressern, dachte Atkins. Von außen hatte er bestimmt keine Hilfe zu erwarten.

Um eine Hoffnung ärmer sprang er erneut vom Tisch. Blieb nur zu hoffen, daß er in den Kisten etwas fand, das er entweder als Waffe, oder zum Aufbrechen des Portals verwenden konnte.

Er öffnete die erste Kiste. Penetranter Gestank schlug ihm entgegen. Die Kiste war bis zum Rand mit alten Kleidungsstücken gefüllt.

Paul Atkins wühlte sie durch, fand jedoch nichts als die Stofffetzen, die zerrissen, sobald er sie berührte.

Auch die zweite Kiste schien mit diesem Plunder gefüllt zu sein. Darunter fühlte der Mann jedoch plötzlich etwas Hartes.

Achtlos warf er die Kleidungsstücke auf den Boden.

Er entdeckte eine Öllampe, einen kleinen Sack voller Goldmünzen und ähnliche Dinge, die ihm nichts nützten.

Unten, auf dem Boden der Kiste fand er jedoch etwas, womit er hier nie gerechnet hätte.

Ein silbernes Kruzifix.

Scheinbar hatte es jemand achtlos in die Kiste geworfen und es dann dort vergessen.

Jetzt brach der Forscherdrang in Paul Atkins durch. Er vergaß die Umgebung völlig, seine Gedanken überschlugen sich förmlich.

Bislang hatte man angenommen, das Kreuz sei nur ein irdisches Symbol der weißen Magie. Daß er es hier fand, untermauerte die Meinung einiger Forscher, die behaupteten, das Symbol sei schon vor der Kreuzigung Christi magisch wirksam gewesen.

Bislang, war diese Ansicht von der überwältigenden Mehrheit der Gelehrten abgelehnt worden.

Hier, auf Kaarn jedoch, konnte es damit nichts zu tun haben. Es mußte sich also unabhängig entwickelt haben.

Aufgeregt stand Paul Atkins auf. Das Kruzifix konnte ihm vielleicht weiterhelfen. Es bestand immerhin noch die Möglichkeit, daß die Koyr darauf genau so reagierten wie irdische Dämonen.

Das konnte eine Chance sein.

Atkins' Blick streifte das Fenster. Die Sonne war bereits untergegangen.


*


Der Himmel hatte wieder die dunkelrote Tönung angenommen. Atkins war so in seine Gedanken versunken gewesen, daß er es gar nicht wahrgenommen hatte.

Die Nacht brach an.

Die Zeit der Dämonen.

Erschrocken fuhr Paul Atkins herum. Wenn die Koyr bereits erwacht waren, dann...

Sie standen auf der Schwelle.

Ihre Totenschädel grinsten.

»Du hast dich also befreien können. Doch es gibt keinen Ausweg. Wir haben alle Ausgänge mit einer magischen Sperre versehen, so daß sie nur von uns geöffnet werden können. Hier liegt nur Gerümpel, das dir nichts nützt.«

Atkins überlegte, ob er ihnen das Kruzifix entgegenstrecken sollte, aber er sah ein, daß die Gegner übermächtig waren.

Nein, gegen diese Übermacht war ein Kampf aussichtslos. Unauffällig ließ er das Kreuz in der Hosentasche verschwinden.

»In Ordnung, ich ergebe mich.«

»Das ist vernünftig. Du weißt, daß du die Kristallfürstin wieder erwecken sollst. Nur du kannst die Sperre durchqueren. Dabei kannst du zwei von uns als Begleiter mitnehmen.«

»Du meinst als Bewacher«, versetzte Paul Atkins sarkastisch. »Was geschieht, wenn ich mich weigere?«

Der Koyr bleckte sein Gebiß. »Rate«, forderte er den Mann auf.

»Ihr tötet mich, wenn ich es nicht mache. Was geschieht, wenn ich es mache?«

»Wenn es dir gelingt, bist du frei.«

Der Forscher lachte schrill. »Das glaubt ihr doch selbst nicht. Dämonen haben noch nie ihr Wort gehalten.«

»Es ist aber deine einzige Chance.«

Atkins mußte dem Koyr zustimmen. Wenn er sich weigerte, wurde er gleich getötet, im anderen Fall hatte er zumindest noch eine geringe Chance.

»Wann muß ich mich entscheiden?«

»Sofort!«

Er dachte an das Kruzifix und verwarf erneut den Gedanken, es jetzt einzusetzen. »In Ordnung, ich mache es«, erklärte er.

»Dann komm!«

Ohne Gegenwehr ließ Paul Atkins sich in die Mitte nehmen und aus dem Zimmer führen. Die Koyr steuerten die andere Tür an. Einer der Dämonen berührte das Holz kurz mit der Hand, worauf die Tür wie von alleine aufschwang.

»Hier entlang!«

Die Aufforderung war unnötig, da er ohnehin keinen anderen Weg einschlagen konnte.

Sie betraten einen fensterlosen Gang. An der Wand hing eine Fackel, die sich einer der Koyr griff. Das Ungeheuer berührte die Spitze nur kurz mit den Fingerkuppen, woraufhin das Pech hell zu brennen begann.

In dem blakenden Lichtschein war zu sehen, daß die Wände des Ganges rau verputzt waren. Er war ziemlich schmal, so daß höchstens zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Atkins' Kleidung schabte an der Wand entlang. Sein Pullover wurde dabei durchgescheuert. Immer wieder stieß er sich an kleinen Vorsprüngen.

Nach wenigen Metern erreichten sie eine in die Tiefe führende Treppe.

»Dort geht es zur Gruft.«

Die Koyr bildeten eine Gasse, durch die der Forscher an die Spitze gelangen konnte.

»Ihr wartet hier!« befahl der Koyr, der die Fackel trug. Dann deutete er auf einen der Dämonen. »Du wirst uns begleiten!«

Wortlos schloß sich der Angesprochene ihnen an. Sie begannen die Treppe hinunterzusteigen.

Die Stufen waren schmal und schlüpfrig. Paul Atkins mußte höllisch aufpassen, um nicht auszurutschen. Da die Koyr hinter ihm und nicht mehr neben ihm gingen, konnte er sich mit den ausgestreckten Armen an den Wänden abstützen, obwohl der raue Putz an den Handflächen schmerzte.

Irgendwo fielen Wassertropfen von der Decke. Monoton hallte das Geräusch durch die Stille.

Die Koyr glitten lautlos die Treppe hinab. Kein noch so leiser Schritt war zu hören. Es schien fast, als berührten ihre Füße den Boden überhaupt nicht.

Von Zeit zu Zeit drehte Paul Atkins den Kopf, aber ihn blendete die Fackel, so daß er nichts erkennen konnte.

Er ahnte, warum die Koyr ihm die Fackel nicht gaben, obwohl sie sie überhaupt nicht benötigten. Ihre Augen konnten im Dunkeln ebenso gut sehen wie bei Licht. Aber das Feuer stellte gleichzeitig eine Waffe dar. Mit Feuer konnte man Dämonen vernichten. Diesem Risiko wollten sie sich nicht aussetzen.

Anfangs hatte Paul Atkins die Stufen gezählt, um abzuschätzen, wie tief sie stiegen.

Als sie jedoch mehr als zweihundert Stufen hinter sich gebracht hatten und noch immer kein Ende abzusehen war, gab er das Zählen auf.

Die Treppe kam ihm unendlich lang vor.

Schließlich erreichten sie das Ende. Zuerst registrierte Atkins es überhaupt nicht. Automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen. Fast wäre er gestürzt, konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten.

Sie befanden sich wiederum am Beginn eines Ganges. Einer der Koyr schob Paul Atkins vorwärts. Der Mann hielt an, um einige Sekunden zu verschnaufen. »Los, es ist nicht mehr weit!« »Aber ich bin erschöpft. Ich spüre meine Beine schon kaum mehr.«

»Das macht nichts, hinter der Gangbiegung liegt die magische Sperre, direkt dahinter ist die Gruft.«

Sie betraten den Gang, der bereits nach wenigen Metern abzweigte. Tatsächlich lag die magische Sperre direkt dahinter. Sie sah aus wie ein Energiegitter. Dabei schimmerte sie in allen Farben des Regenbogens.

»Das... das ist die magische Sperre?« fragte der Forscher erstaunt.

»Schon oft sind wir hierher vorgedrungen. Einige von uns haben versucht, die Sperre zu durchqueren. Sie wurden von dem Feld förmlich aufgesogen. Als es sie wieder freigab, waren sie völlig verbrannt.«

»Schöne Aussichten«, kommentierte Paul Atkins. »Seid ihr sicher, daß das nur mit den magischen Fähigkeiten zusammenhängt? Kann es uns nicht unter Umständen ebenso ergehen?«

»Nein, wir haben einen der alten Weisen befragt, der uns alles erklärte.«

Paul Atkins war versucht zu fragen, wer die alten Weisen seien, unterließ es aber. Diese Fragen halfen ihm nicht weiter. Was hatte er davon, wenn er die Geschichte bis ins Detail kannte, aber hier um sein Leben bangen mußte? »Na dann mal rein ins Vergnügen!« »Was meinst du damit?« Mißtrauisch beäugten ihn die Ungeheuer. Paul Atkins winkte ab.

»Schon gut. Das ist nur so eine Redensart.«

»Sucht man bei euch öfter solche Grüfte auf, daß es besondere Sprichwörter dafür gibt?«

Unwillkürlich verschluckte sich Atkins. »Nein, bestimmt nicht. Es hat auch keinen Zweck, wenn ich euch das jetzt erkläre. Sagt mir lieber, wie wir durch die Sperre kommen.«

»Du wirst vorausgehen. Dabei halten wir drei uns an den Händen, damit deine Neutralität sich auf uns überträgt.«

Zögernd streckte der Mann die Hand aus, die einer der Koyr ergriff und mit der anderen seinen Begleiter berührte.

Atkins überlegte kurz, ob er die Hand des Dämonen nicht einfach während des Durchquerens loslassen sollte. Zwar wußte er nicht, was ihn hinter der Sperre erwartete, aber die beiden Gegner wäre er dann schon mal los.

Doch - selbst wenn er es versucht hätte, wäre es ihm nicht gelungen. Wie ein Schraubstock umklammerte der Koyr sein Handgelenk.

Langsam gingen sie auf die Sperre zu. Dabei verspürte Atkins ein flaues Gefühl im Magen. Er erwartete wieder eine Flut von Licht. Ob ihn das Gefühl, durch die Ewigkeit zu schweben, wie bei dem Wechsel von der Erde nach Kaarn erneut überkam?

Oder geschah mit ihm vielleicht dasselbe wie mit den Koyrn, von denen seine Begleiter ihm erzählt hatten?

Dann hatten sie die Sperre erreicht. Sie schritten einfach hindurch, als wäre sie gar nicht vorhanden.

Paul Atkins konnte es nicht fassen.

Als er sich umdrehte, stellte er fest, daß auch die Koyr den Durchgang unbeschadet überstanden hatten.

Jetzt erst musterte er die Umgebung. Sie standen in einem großen Raum, An den Wänden hingen brennende Fackeln.

Im ersten Moment fiel Paul Atkins nichts auf, dann aber traf ihn die Erkenntnis mit der Wucht eines Keulenschlages.

»Der Schrein ist nicht da!« rief einer der Dämonen.


*


Der Mann wurde herumgewirbelt. Die Augen des Koyr, der ihn an den Schultern gepackt hielt, glühten rot auf. Paul Atkins konnte verstehen, was in diesem Moment in den Dämonen vorging. Über Jahrhunderte hinweg hatten sie versucht, in die Gruft einzudringen. Nun, da sie es endlich geschafft hatten, stellten sie fest, daß sich die Kristallfürstin gar nicht hier befand. Für die Dämonen mußte eine Welt zusammengebrochen sein.

»Verdammt, laß mich los!« schrie Atkins. »Ich kann doch nichts dafür! Es wäre besser, wenn wir uns die Gruft erst mal genau ansehen würden, vielleicht finden wir irgendwelche Hinweise.«

Der Koyr starrte ihn an, dann ließ er die Arme sinken. Atkins rieb sich die schmerzenden Schultern. Der Griff war unheimlich fest gewesen. Das zeigte, welch eine Kraft in den Dämonen steckte.

»Hier«, vernahm er die Stimme des anderen Koyr. »Ich habe etwas gefunden.«

Es handelte sich um eine Steinplatte, in die seltsame Schriftzeichen eingraviert waren.

»Verdammt, ich kann die Schrift nicht lesen!« fluchte einer der Dämonen.

»Ich auch nicht«, bekräftigte der andere.

Paul Atkins wurde es plötzlich schwindelig. Er erkannte die Schriftzeichen. Es handelte sich um altgermanische Runen.

»Ich, ich kenne die Sprache«, stotterte er.

Wie auf Kommando wandten sich die beiden Dämonen zu ihm um.

»Was?«

»Ja, es sind alte Schriftzeichen meiner Welt. Aber wie... wie kommen sie hierher?«

»Das ist uninteressant. Was steht dort geschrieben?«

Eine ungeheure Erregung hatte die beiden Koyr gepackt. Auch Atkins war aufgeregt. Wie kamen diese Schriftzeichen nach Kaarn? Stammten sie vielleicht von Kaarn? Hatten die Germanen Kontakt mit den Dämonen gehabt?

Diese Fragen konnte er hier nicht beantworten. Im Grund war es genauso, wie mit dem Kruzifix. Auch seine Herkunft blieb ungeklärt.

»Jetzt lies endlich vor, was dort steht!« drängte einer der Koyr.

Atkins zuckte zusammen. Ihm war dieses Phänomen gar nicht aufgefallen, erst jetzt wurde er förmlich darauf gestoßen.

»Wieso verstehen wir uns eigentlich? Wie kommt es, daß ihr die englische Sprache beherrscht?«

Die beiden Koyr sahen sich an, dann wandten sie sich zu dem Forscher. »Wir sprechen nicht die englische Sprache. Durch Magie ist ein Dämon jederzeit in der Lage, jede Sprache zu verstehen, wie auch jeder in der Lage ist, die Sprache der Dämonen zu verstehen. Wir sprechen eine Sprache, auf der alle Sprachen des Universums aufgebaut sind. Jedes intelligente Lebewesen kann sie verstehen, als ob es seine Muttersprache wäre. Jetzt übersetze endlich den Text!«

Paul Atkins wandte sich wieder der Steintafel zu.

Natürlich beherrschte er das Runenalphabet. Vermutlich war die Sprache, die in diese Schriftzeichen übertragen worden war, ebenfalls diese Ursprache, von der der Dämon gesprochen hatte, jedenfalls verstand Atkins sofort den Sinn, obwohl er die Worte noch nie zuvor gesehen hatte.

Rasch überflog er den Text:


Fremder, dem es gelungen ist, in die Gruft der Kristallfürstin vorzudringen, eine ehrenvolle Aufgabe erwartet dich.

Wir, die Hofmagier der Fürstin, haben ihren mit einem Bann belegten Körper in diese Gruft gebracht. Dadurch konnten wir sie Vor dem Zugriff des Meisters der Schatten schützen.

Wir besaßen aber nicht die Kraft, den Bann aufzuheben. Zargos, der große Magier, weiß allein, wie man das kann. Es ist aber zu befürchten, das er stirbt oder gefangengenommen wird. Deshalb wurde die magische Sperre gegen jeden, der magische Fähigkeiten besitzt, errichtet. Du, der du diese Gruft aufsuchst, wirst über das Wissen verfügen, sonst hättest du die Gruft nicht gefunden.

Der Schrein wird von einem Zeitfeld umspannt. Stell dich bis fast an die Sperre und sprich dann das magische Wort »Arggrolarrxiss«, dann wird es sich auflösen! Unter dem Schrein befindet sich ein geheimer Ausgang. Benutze ihn, wenn man dich verfolgt oder hinter der Sperre auf dich wartet!


Paul Atkins wiederholte, was er entziffert hatte. Lediglich den letzten Satz ließ er weg. Dieser Ausgang könnte unter Umständen für ihn wichtig werden.

Befriedigt nickten die Koyr.

»Sie befindet sich also doch hier.«

Wie es in der Botschaft stand, zogen sie sich bis fast an die Sperre zurück, dann sprach der Forscher das magische Wort.

»Arggrolarrxiss!«

Kaum daß er geendet hatte, begann die Luft in der Gruft zu flimmern. Ein Gebilde schälte sich langsam heraus, das von Sekunde zu Sekunde immer deutlicher sichtbar wurde.

Es handelte sich unzweifelhaft um einen Schrein. Der untere Teil bestand aus hellem Marmor oder einem ähnlichen Gestein. Der obere Teil war dagegen völlig durchsichtig, so als wäre er aus Glas.

Darin lag die Kristallfürstin.

Es war ein Skelett mit langen blonden Haaren mit einem kostbaren Gewand bekleidet. Der Totenschädel grinste die drei Eindringlinge an.


*


»Tot!« murmelte einer der Koyr dumpf. »Sie ist tot!«

»Aber wie kann das geschehen sein?« fragte der andere.

Dann packte er Paul Atkins am Kragen. »Du«, fauchte er. »Du hast etwas falsch gemacht und sie dadurch getötet.«

In seiner Erregung übersah er, daß die Fürstin schon lange tot sein mußte, wenn sie bereits soweit zerfallen war. Paul Atkins merkte, daß es keinen Sinn hatte, den Dämon darauf hinzuweisen. Der brauchte einen Sündenbock, da kam ihm der Mann gerade recht.

Wenn er sich noch retten wollte, mußte Atkins jetzt handeln. Unwillkürlich hatte er die Hand in die Tasche gesteckt, als er das Skelett erblickt hatte. Entschlossen zog er das Kruzifix hervor.

Der Dämon war darauf nicht gefaßt. Noch bevor er reagieren konnte, preßte Paul Atkins ihm das weißmagische Zeichen ins Gesicht.

»Aaahhh!«

Der markerschütternde Schrei des Koyr hallte durch die. Gruft. Kraftlos lösten sich seine Hände von des Forschers Kragen. Sein Fell wurde bräunlich und rieselte als Asche zu Boden, ebenso wie seine Haare.

Feuer schien aus den Augenhöhlen zu

schlagen.

Dabei schrie er, aber sein Schrei brach ab, als er zu Boden stürzte, wo sein Körper ganz zerfiel. Übrig blieb nur ein Haufen Asche.

Paul Atkins wandte sich dem anderen Koyr zu, der das Ende seines Begleiters fassungslos mitansehen mußte.

Paul Atkins hielt das Kruzifix weit vorgesteckt. Panikerfüllt bemühte sich der Koyr, es nicht anzublicken. Schritt für Schritt wich er zurück. »Nein, bitte nicht«, flehte er. Gehetzt blickte er sich um. Es gab für ihn keinen Ausweg aus der Gruft. Sie war für ihn zur Falle geworden.

In einem letzten Versuch wollte er sich auf Paul Atkins stürzen.

Er kam nicht mal auf zwei Schritte an ihn heran. Aufheulend wich er vor dem Kreuz zurück.

Im nächsten Moment überstürzten sich die Ereignisse. Der Dämon achtete nicht darauf, wohin er zurückging. Grell schrie er auf, als er die magische Sperre berührte. Er ruderte mit den Armen, konnte sich aber nicht mehr befreien. Die magische Sperre sog ihn förmlich auf.

Paul Atkins sah, wie er sich auflöste. Das Feld strahlte hell auf. Dann spie es den Koyr förmlich wieder aus.

Er war zusammengeschrumpft. Nicht größer als eine Puppe lag er reglos und verbrannt auf dem Boden.

Sinnend hob Atkins die kleine Puppe auf und berührte sie sicherheitshalber mit dem Kruzifix.

Sie reagierte jedoch nicht. Ohne zu wissen warum, schob er die Figur zusammen mit dem Kruzifix in seine Jacketttasche.

Diese Gefahr war beseitigt. Jetzt beherrschte ihn nur noch ein Gedanke.

Fort aus dieser Gruft!

Er erinnerte sich wieder an den letzten Satz der Inschrift. Demnach sollte unter dem Schrein ein Ausgang verborgen sein.

Paul Atkins kniete nieder und untersuchte den Marmor. Nach wenigen Sekunden fand er einen kleinen Hebel. Entschlossen drückte er ihn nach unten.

Aufmerksam blickte er sich um und entdeckte, daß die Bodenplatte neben ihm plötzlich von einem seltsamen Eigenleben erfüllt zu sein schien.

Erst hob sie sich leicht in die Höhe, so daß ihre Unterkante über den übrigen Platten lag, dann drehte sie sich zur Seite.

Sie gab eine Öffnung frei, die groß genug war, daß ein Mensch bequem hindurch klettern konnte.

Paul Atkins schaute in die Tiefe und entdeckte eine in den Felsen eingelassene Vertiefung, in die er die Fußspitze hineinstellen konnte. Darunter befand sich eine zweite Vertiefung.

Rasch zog der Mann eine Fackel aus ihrer Verankerung. Mit diesen Fackeln mußte es eine besondere Bewandtnis haben. Schließlich brannten sie schon seit Jahrhunderten, aber das interessierte ihn in diesem Augenblick nicht.

Er wußte nicht, was ihn am Ende des Schachts erwartete, aber es war der einzige Ausweg, wollte er nicht den hinter der magischen Sperre wartenden Koyrn in die Hände fallen.

Entschlossen begann er mit dem Abstieg.


*


Ruhelos ging Jessica in ihrem Gemach auf und ab. Sie glaubte bereits, das Böse in ihrer Seele überwunden zu haben. Das stellte sich aber als Täuschung heraus.

Im Gegenteil, immer mehr beherrschte es ihr Denken. Nur noch mit äußerster Kraft konnte sie es zurückdrängen, aber sie wußte, daß dies auch nur einen Aufschub bedeutete.

Der magische Keim war stärker als sie.

Jessica versuchte zu beten, aber sie bekam nicht die rechten Worte zusammen.

Seit sie von dem magischen Keim wußte, war die vollständige Spaltung ihrer Seele in Gut und Böse vollzogen. Der andere Teil des Charakters hatte sich von dem ihren gelöst und war nicht mehr Teil ihrer Seele. Es schien, als habe sich ein fremdes, böses Bewußtsein in ihrem Körper eingenistet.

Du bist es, das meine Erinnerung blockiert, dachte sie.

Ja, ich beherrsche alle entscheidenden Sektoren deines Gehirns. Was dir nur noch bleibt, ist die Kontrolle über deinen Körper. Es wäre besser, wenn du endlich einsähest, daß du verloren bist.

Niemals! Solange ich noch die geringste Kraft besitze, werde ich kämpfen.

Denke nur nicht, daß ich das nicht schaffe. Ich werde ständig mächtiger. Du hingegen wirst schwächer, weil deine Kraft mir zufließt.

Lange war es draußen schon dunkel geworden. Aber an Schlaf war in ihrer derzeitigen Verfassung nicht zu denken. Jessica wußte, daß noch in dieser Nacht die Entscheidung fallen würde.

Ebenso gut kannte sie das Ergebnis dieser Entscheidung. Obwohl es Jessica wußte, konnte sie sich mit diesem Wissen nicht abfinden.


*


Atkins schätzte die Tiefe des Schachts auf fünf Meter. Es war schwierig, mit der Fackel in der Hand zu balancieren, zumal die schmalen Vertiefungen nur einen dürftigen Halt gaben. Um so erfreuter war er, so rasch den Grund erreicht zu haben. Von dort führte ein Gang durch das Felsgestein. Der Forscher ging zügig, da er möglichst schnell und weit fortkommen wollte. Zwar war es unwahrscheinlich, daß die Koyr ausgerechnet jetzt eine Möglichkeit fanden, die magische Sperre zu überwinden. Ein ungutes Gefühl blieb dennoch.

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bevor er den Ausgang erreichte. Er war zuerst gar nicht zu erkennen gewesen, aber plötzlich stand Paul Atkins im Freien. Unter seinen Füßen war Gras. Einige Büsche bildeten die einzigen Erhebungen. Weit hinter sich entdeckte er den eingefallenen Turm.

Entsetzt stellte er fest, daß die Koyr ihn immer noch einholen konnten, wenn sie das Gefühl bekamen, daß in der Gruft nicht alles so gelaufen sei, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Paul Atkins suchte das Ende des Ganges, aber er sah nur Gras. Plötzlich begriff er. Natürlich war der Gang nicht völlig offen, dann wären die Sicherheitsvorkehrungen am anderen Eingang zur Gruft überflüssig gewesen. Auch hier gab es eine magische Sperre. Allerdings war sie unsichtbar. Deshalb hatte er auch nicht gemerkt, daß er den Gang verlassen hatte.

Es war keine Zeit zu verlieren. Er mußte möglichst schnell das Kristallauge finden, wenn er Jessica retten wollte. Vielleicht war sie schon längst getötet worden.

Hinweise auf das Auge konnte er nur in einer Stadt bekommen. Nur, wo sollte er eine finden?

Atkins lief los. Pausen gönnte er sich keine. Wenn er sich zu erschöpft fühlte, ging er eine Weile. So kam er recht zügig voran. Längst schon war das Gebäude seinem Blickfeld entschwunden. Rings um ihn her war nur steppenähnliches Land.

Als es Tag wurde, wußte Paul Atkins, daß ihm zumindest von den Koyrn keine Gefahr mehr drohte. Das Laufen hatte er mittlerweile aufgeben müssen, weil er dazu überhaupt nicht mehr in der Lage war. Müde taumelte er durch die Landschaft.

Er hatte nun seit fast drei Tagen nichts mehr gegessen. Lediglich auf dem Weg zum Gebirge einige Schluck aus einer Quelle getrunken. Die Aufregung hatte ihn die körperlichen Bedürfnisse glattweg vergessen lassen, um so deutlicher traten sie nun in sein Bewußtsein. Außerdem hatte er wenig geschlafen. Das war für ihn allerdings nicht gerade ungewohnt, denn während seiner Forschungen hatte er oft ganze Nächte durchgearbeitet.

Er gierte nach Wasser. Der Hunger war nicht ganz so schlimm. Wenn er nicht bald eine Quelle fand, würde er verdursten.

Stunde um Stunde zog sich dahin. Atkins spürte seine Beine nicht mehr. Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel. Seine Zunge schien eingetrocknet zu sein. Seine Lippen waren aufgeplatzt.

An einem von Felsbrocken übersäten Hang entdeckte er endlich ein kleines Rinnsal. Das Wasser sprudelte munter aus dem Hang heraus und sammelte sich in einem kleinen Felsenbecken, von wo es auf den Boden lief.

Der Forscher warf sich förmlich vor der Quelle auf den Boden und trank das Wasser gierig. Nur langsam löste sich die Verkrampfung in seinem Hals, die erst kaum einen Schluck durchließ.

»Halt«, hörte er hinter sich plötzlich eine Stimme. »Trinken Sie nicht!«

Erschrocken blickte sich Atkins um. Hinter ihm stand ein Zwerg. Der Forscher glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der Zwerg trug eine Kappe, unter der dichtes graues Haar hervorschaute, das übergangslos mit einem dichten Wuschelbart abschloß.

»Warum soll ich aus dieser Quelle nicht trinken?«

»Wissen Sie nicht, daß alle Quellen hier verflucht sind? Jeder, der daraus trinkt, wird innerhalb weniger Stunden sterben.«

Entsetzt fuhr Paul Atkins auf. Der Zwerg reichte ihm kaum bis zum Gürtel.

»Was sagst du da?«

»Die Verseuchung stammt noch aus der Zeit, als hier die großen Kriege zwischen der Kristallfürstin und dem Meister der Schatten geführt wurden.«

»Gibt es denn kein Mittel dagegen?«

»Auf die Dauer nicht. Aber in meiner Hütte habe ich ein Kräutersud zubereitet, der die bald einsetzenden Schmerzen lindert.«

»Dann gib mir bitte etwas von dem Sud. Wo ist deine Hütte?«

Jähes Mißtrauen blitzte in den Augen des Zwerges auf.

»Woher soll ich wissen, daß du mich nicht verrätst?«

»Dann wirst du also gesucht?« Unwillkürlich hatte Paul Atkins die vertrauliche Du-Anrede gewählt. Es fiel ihm gar nicht auf, daß der Zwerg sie ebenfalls benutzte. Prüfend betrachtete dieser ihn.

»Du trägst fremde Kleidungsstücke. Kommst du von einer anderen Welt?« stellte er eine Gegenfrage.

»Ja, von der Erde«, antwortete Atkins wahrheitsgetreu.

»Erde? Kenne ich nicht, aber du siehst ehrlich aus. Ich werde dich zu meiner Hütte führen. Du mußt nämlich wissen, daß wir uns bereits im Garten des Palastes befinden. Ich werde als Wilderer gesucht, denn ich habe hier überall Fallen ausgelegt. Aber von irgend etwas muß man schließlich leben. Nicht wahr, du wirst mich nicht verraten?«

»Nein, bestimmt nicht. Laß uns nun lieber gehen, ich spüre bereits ein seltsames Kribbeln im Magen.«

Gemeinsam mit seinem neuen Bekannten durchquerte er den Wald. Oft mußte er sich mühsam durchs Dickicht quälen, während der Zwerg problemlos unter dem Gestrüpp hindurchkroch.

»Warum bist du eigentlich nicht längst irgendwo anders hingegangen, wenn du hier gesucht wirst?« erkundigte sich Paul Atkins. , Pfiffig grinste der Zwerg ihn an. »Ach nein, ohne die Gefahr wäre das Leben langweilig, nicht wahr?«

Atkins schüttelte den Kopf. Auch auf der Erde gab es Menschen, die die Gefahr förmlich suchten, aber er hatte eine solche Haltung nie verstehen können.

»Wie alt bist du denn?«

»So weit ich gezählt habe 487 Jahre. Ich wurde hier geboren und werde auch irgendwann hier mal sterben. Schon mein Vater jagte zu Zeiten der Kristallfürstin in den Palastwäldern. Damals war es noch erlaubt. Er starb dann in den Kriegswirren, als ich noch ein Kind war, nicht wahr?«

Dem Forscher fiel auf, daß der Zwerg besonders gern Sätze mit »nicht wahr« beendete. Offensichtlich eine Marotte von ihm.

Sie erreichten die Hütte kurz darauf. Trotz aller bisherigen Überraschungen mußte Paul Atkins schlucken. Was der Zwerg als Hütte bezeichnet hatte, war in Wirklichkeit ein gigantischer, innen offensichtlich hohler, Baumstamm. Der Baum war längst abgestorben und durchmaß mehrere Meter.

»Willkommen in meiner Behausung, nicht wahr? Ach übrigens, ich heiße Quarquas.«

»Angenehm. Paul Atkins.«

»Angenehm?«

»Ach, ich kann mir einfach nicht abgewöhnen, irdische Redensarten zu verwenden.«

Quarquas hüpfte plötzlich aufgeregt von einem Bein auf das andere. »Das ist eine Redensart? Das muß ich mir merken. Ich sammele nämlich Redensarten. Jetzt komm schön rein!«

Das war leichter gesagt, als getan. Der Zwerg hatte eine Tür in der Rinde angebracht, durch die er bequem aufrecht spazieren konnte, während der Forscher sich mühsam hindurchzwängen mußte. Dafür gab es im Inneren des Baumes keine Decke, so daß er ohne Schwierigkeit aufrecht stehen konnte.

Von innen wirkte der Baumstamm noch größer. Ein Schrank stand dort und ein Tisch mit mehreren Stühlen. Außerdem gab es ein aus Stroh hergerichtetes Lager und eine Feuerstelle in der Mitte des Stammes. Der Rauch konnte von dort bequem nach oben abziehen.

»Einen Stuhl kann ich dir wohl kaum anbieten. Setz dich auf mein Lager, das ist immerhin bequemer als der Boden, nicht wahr? Spürst du schon etwas von dem Gift?«

»Nein, bisher nicht. Das Magenkribbeln muß doch vom Hunger gekommen sein.«

Quarquas verstand. »Wenn du etwas essen möchtest...« bot er an. Paul Atkins nickte begeistert, worauf der Zwerg eine zuvor fast unsichtbare Falltür aufzog.

»Meine Vorratskammer«, erklärte er. »Warte, ich hole dir einen Schinken.«

Er stieg eine Treppe hinab und Atkins hörte ihn unten rumoren. Als er schließlich wieder auftauchte, brachte er nicht nur ein großes Stück des angekündigten Schinkens, sondern auch einen Laib Brot und ein Stück Käse mit. Er reichte Paul Atkins alles und verschwand dann nochmal in seiner unterirdischen Kammer. Darauf kehrte er mit drei Trinkschläuchen zurück.

»Bester Rotwein«, erklärte er. »Ich habe ihn bei guten Freunden gegen Fleisch getauscht, nicht wahr?«

Er reichte Paul Atkins zwei der Schläuche, der sich bereits über das Essen hergemacht hatte. Ausgehungert biß er abwechselnd in den Schinken

und in das Brot. Den Käse wollte er sich noch aufheben.

»Wirklich hervorragend«, kommentierte er essend. »So einen leckeren Schinken habe ich noch nie gegessen.«

Das war nicht mal gelogen und lag auch nicht an seinem Hunger. Der Schinken schmeckte wirklich um einige Klassen besser als der auf der Erde. Zwischen den Happen spülte er immer wieder mit Wein nach.

Auch der Zwerg trank, dazu rauchte er Pfeife, deren aromatischer Rauch den Raum erfüllte. Schweigend wartete er ab, bis Paul Atkins auch das letzte Stück gegessen hatte, dann erkundigte er sich:

»Wie bist du eigentlich hergekommen?«

»Ach, das ist eine lange Geschichte.«

Er erzählte, was geschehen war. Quarquas hörte interessiert zu.

»Die Kristallfürstin ist also endgültig tot... Schade, ich hatte immer gehofft, sie könnte eines Tages zurückkehren. Ohne sie ist auch das Auge nur die Hälfte wert, aber immerhin ist es ein Lichtblick, nicht wahr?«

»Ja, und ich muß es unbedingt finden, denn allein kann ich bestimmt nicht zu Jessica gelangen.

Plötzlich schlug sich der Zwerg gegen die Stirn. »Ach, ich Dummkopf. Ich wollte dir ja noch den Kräutersud geben, nicht wahr?«

Er verschwand wieder in seiner Vorratskammer und kehrte mit einer Feldflasche zurück.

»Hier, trinke jede Stunde ein paar Tropfen davon. Es schmeckt zwar schauderhaft, kann dir aber helfen.«

Er trank einen Schluck aus der Flasche. Der Sud schmeckte in der Tat abscheulich. Unwillkürlich mußte er sich schütteln.

»Wie wirkt das Gift?« erkundigte er sich gefaßt.

»Normalerweise würdest du Fieber bekommen. Dann das Gefühl, deine Eingeweide würden dir herausgerissen. Ungefähr so, als hättest du Säure getrunken. Du würdest unter entsetzlichen Qualen sterben. Durch den Sud werden dir die Schmerzen genommen. Selbst wenn du ihn nun nicht mehr trinken würdest, so hättest du keine Schmerzen mehr. Jeder Schluck verlängert dein Leben.«

»Und wie lange wirkt der Sud maximal?«

»Jeder Schluck hält mehrere Tage an. Jedoch nur, wenn du ihn etwa jede Stunde einnimmst, wirkt der Sud dauerhaft. Ansonsten wirst du immer schwächer werden und dich zum Schluß kaum noch bewegen können.«

»Aber wie lange habe ich noch zu leben, wenn ich regelmäßig trinke?«

»Das ist unterschiedlich, nicht wahr? Dabei kommt es auf deine Kondition an. Drei Wochen, vielleicht einen Monat.«

»Ausgesprochen tröstlich. Wie lange dauert denn so ein Monat bei euch?«

»Oh, ich vergaß, bei euch gibt es wahrscheinlich eine andere Zeitrechnung. Eine Woche hat bei uns sieben Tage und ein Monat zählt sieben Wochen, nicht wahr? Wie lange dauert er denn auf der - Erde?«

Trotz der ernsten Situation mußte Paul Atkins grinsen. Was er so lustig fand, mußte er wahrscheinlich selbst nicht. Vielleicht war es eine Art Galgenhumor.

»Bei uns dauerte eine Woche ebenfalls sieben Tage lang. Ein Monat allerdings nur dreißig oder einunddreißig Tage. Ich mußte gerade an ein Lied denken, es hießt: >Was wollen wir trinken, sieben Tage lang.< Dazu werde ich wohl nicht mehr kommen, denn ich muß es in der kurzen Zeit schaffen, Jessica zu befreien, sonst würde ich mich jetzt volllaufen lassen und dafür sorgen, daß ich nicht mehr nüchtern werde, so verrückt ist die Situation.«

»Volllaufen lassen?« Quarquas schaute ratlos.

»Na, soviel Alkohol trinken, bis man alles um sich herum vergißt.«

»Was soll denn daran so schön sein?«

Erneut mußte Atkins grinsen. »Sag bloß, du warst noch nie richtig betrunken?«

»Nein. Ist das denn so schön?«

»Es ist ganz schön, wenn man im Rausch ist. Alles wird leicht und nichts kann einen mehr erschüttern. Nur am nächsten Tag fühlt man sich wie durch den Fleischwolf gedreht, hat Kopfschmerzen, und jeder einzelne Muskel tut einem weh.«

»Was soll denn daran so schön sein?«

»Allzuviel konnte ich dem auch nie abgewinnen, aber in so einer Situation... Ach, vergiß es!«

Sie schwiegen eine Weile, bis der Zwerg schließlich erneut das Wort ergriff.

»Du willst also unbedingt in den Palast, nicht wahr? Weißt du was, ich komme mit!«

Verwundert schaute Paul Atkins ihn an.

»Warum denn das? Es wird bestimmt ziemlich gefährlich.«

»Eben deshalb, weil es nicht gerade ungefährlich ist, macht es bestimmt einen Heidenspaß. Außerdem weißt du, daß ich den Meister der Schatten nicht besonders leiden mag. Wenn es also eine Gelegenheit gibt, etwas gegen ihn zu unternehmen, so helfe ich gern mit.«

Der Forscher wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Der Zwerg fuhr fort, die positiven Seiten seines Angebotes aufzuzählen.

»Du kennst dich überhaupt nicht aus im Palast, man würde dich sofort entdecken. Ich kenn dagegen eine ganze Reihe geheimer Gänge und Schlupfwinkel. Ich kann dir also durchaus nützlich sein.«

Blitzschnell wog Paul Atkins die verschiedenen Seiten gegeneinander ab. Verbieten konnte er dem Zwerg ohnehin nichts, und schaden würde er ihm bestimmt nicht. Wenn er aber den Palast wirklich kannte, dann vergrößerte das seine Chancen.

»In Ordnung«, stimmte er zu. »Wenn du unbedingt willst, dann komm mit!«

Quarquas sprang vor Freude in die Höhe.

»Ich wußte doch, daß du mich nicht hier lassen würdest. Wann brechen wir auf?«

»Immer langsam, ich bin jetzt mehrere Tage ohne Schlaf über diese Welt geirrt. Wenn wir gleich aufbrechen würden, schliefe ich unterwegs irgendwann einfach ein. Ich muß mich erst ein paar Stunden ausruhen, dann kann es losgehen.«

»Na ja, wenn es unbedingt sein muß, nicht wahr?«

»Tut mir leid, aber es muß sein.«

Atkins legte sich auf das Stroh. Zwar war das Lager für ihn viel zu klein, aber es war immerhin bequemer als die nackte Erde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783738958379
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Februar)
Schlagworte
totenbeschwörern dämonenjägern gruselkrimi sammelband romane

Autoren

  • Frank Rehfeld (Autor:in)

  • Hendrik M. Bekker (Autor:in)

  • Curt Carstens (Autor:in)

  • Klaus Frank (Autor:in)

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Titel: Von Totenbeschwörern und Dämonenjägern: Gruselkrimi Sammelband 3 Romane