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Gespenstersumpf: 6 unheimliche Krimis

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2021 700 Seiten

Zusammenfassung


Dieses Buch enthält folgende Romane:

Sara und der Kult der Schlange

Höllensumpf

Geisterschiff

Schreckensgalerie

Namenloser Abt

Librum Hexaviratum

Sara Norwood reist nach Irland, um den Tod ihres Bruders aufzuklären. Der Archäologe und Spezialist für alt-keltische Kulte starb unter mysteriösen Umständen. Welche Rolle spielte dabei ein mysteriöser Schlangenkult, der offenbar bis heute praktiziert wird? Sara begegnet einer Mauer des Schweigens und einem gleichermaßen faszinierenden wie zwielichtigen Mann, in den sie sich verliebt. Schließlich muss Sara erkennen, dass man auch sie töten will..

Alfred Bekker (alias Sidney Gardner) schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA, die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Gespenstersumpf: 6 unheimliche Krimis

Alfred Bekker





Dieses Buch enthält folgende Romane:


Sara und der Kult der Schlange

Höllensumpf

Geisterschiff

Schreckensgalerie

Namenloser Abt

Librum Hexaviratum



Sara Norwood reist nach Irland, um den Tod ihres Bruders aufzuklären. Der Archäologe und Spezialist für alt-keltische Kulte starb unter mysteriösen Umständen. Welche Rolle spielte dabei ein mysteriöser Schlangenkult, der offenbar bis heute praktiziert wird? Sara begegnet einer Mauer des Schweigens und einem gleichermaßen faszinierenden wie zwielichtigen Mann, in den sie sich verliebt. Schließlich muss Sara erkennen, dass man auch sie töten will..




Alfred Bekker (alias Sidney Gardner) schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA, die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.




Copyright

COVER TONY MASERO

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Bücher von Joachim Honnef

Sara und der Kult der Schlange


von Alfred Bekker


Der Umfang dieses Buchs entspricht 86 Taschenbuchseiten.


Sara Norwood reist nach Irland, um den Tod ihres Bruders aufzuklären. Der Archäologe und Spezialist für alt-keltische Kulte starb unter mysteriösen Umständen. Welche Rolle spielte dabei ein mysteriöser Schlangenkult, der offenbar bis heute praktiziert wird? Sara begegnet einer Mauer des Schweigens und einem gleichermaßen faszinierenden wie zwielichtigen Mann, in den sie sich verliebt. Schließlich muss Sara erkennen, dass man auch sie töten will...


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de



1

Es war, als ob sich eine kalte Hand auf Saras Rücken legte.

Ein Schauer durchfuhr ihren Körper. Sie fühlte, wie sich innerhalb eines einzigen Augenblicks eine Gänsehaut bildete.

Sara schluckte.

Zwei blutrote Augen starrten sie an. Es waren kalte Facettenaugen mit einer grausamen, unmenschlichen Ausstrahlung, die zu einem schuppigen Schlangenkopf gehörten.

Das Maul war halb geöffnet. Die Giftzähne waren gut sichtbar.

Dazwischen züngelte etwas Dunkles hervor. Eine gespaltene Zunge.

"Was ist das für ein Amulett?", brachte Sara Norwood heraus, nachdem sie sich wieder gefasst hatte. Sie streckte die Hand aus und griff nach dem Amulett mit dem Schlangenkopf. Es stellte eine Handarbeit in höchster Perfektion da. Es war kein billiger Ramsch, das stand fest. Und irgendwie schien es nicht so recht zu dem anderen Plunder zu passen, den es in diesem Second-hand-Laden zu kaufen gab.

Sara nahm das Amulett und hielt es ins Licht.

Die roten Schlangenaugen funkelten dabei böse und Sara fragte sich, woher der eisige Schauer rührte, den dieses Ding ihr über den Rücken gejagt hatte. Es gab eigentlich keinen Grund dafür.

Es war ein kitschiges Amulett. Nichts weiter.

Ihre Hand umschloss den Schlangenkopf.

Sara atmete tief durch.

"Zeigen Sie mal, Miss", war indessen die Stimme von Mr. Kline zu hören, dem dieser Laden gehörte. T.K.Kline - An- und Verkauf - so stand es groß über der Ladentür.

Kline war ein kleiner, drahtiger Mann, der die sechzig sicher schon überschritten hatte. Er lächelte freundlich und Sara hielt ihm das Amulett hin.

"Ich meine das hier!", sagte sie.

Klines Gesicht veränderte sich. Es verlor innerhalb eines einzigen Augenblicks fast jegliche Farbe. Mit zitternder Hand griff er nach dem Amulett und nahm es an sich.

"Geben Sie her!", forderte Kline dann unvermittelt.

Sara deutete auf das Regal mit alten Büchern.

"Es lag einfach dort."

"Was?"

"Dort, in der Lücke." Sara studierte aufmerksam das Gesicht ihres Gegenübers. Kline sah aus, wie ein Mann, dem man gerade sein Todesurteil gezeigt hatte.

"Was ist das für ein Amulett?", wiederholte Sara ihre Frage, während Kline sich bereits halb abgewandt hatte.

"Was?" Er drehte sich herum. Mit einer fahrigen Bewegung strich er sich das schüttere Haar wieder nach hinten. "Es ist nichts", beeilte er sich dann. "Es ist nichts..."

"Ist es nicht zu kaufen?"

"Nein!"

"Von wem haben Sie es? Es sieht ziemlich... merkwürdig aus."

"Es ist schon ziemlich spät", sagte Kline und steckte das Amulett in die Tasche seines ausgebeulten Tweedjacketts. Er fasste Sara bei der Schulter. Das war deutlich. Er wollte sie hinauskomplimentieren. "Ich möchte jetzt schließen!"

Er schob sie vor sich her und brachte sie zur Tür. Bevor sie hinausging, wandte sie sich noch einmal kurz zu Mr. Kline um. Aber der Blick, mit dem der Besitzer des Second-hand-Ladens sie bedachte, ließ sie davor zurückschrecken, nochmal nachzufragen.

Klines Augen waren glasig.

"Auf Wiedersehen", sagte er mit tonloser Stimme. Und einen Moment später fand Sara sich auf der Straße wieder. Es war kühl und der Nebel hing mal wieder grau und schwer über London. Sara ging die vollgeparkte Nebenstraße entlang, in der sich Mr. Klines Laden befand.

Bis zu ihrer Wohnung waren es kaum fünf Minuten. Seit gut drei Monaten hatte sie eine großzügige Dachgeschosswohnung gemietet.

Es war beileibe keine Luxusunterunterkunft, aber dennoch teuer genug. Aber das machte nichts. In ihrem Job in der Redaktion einer Illustrierten hatte sie ohnehin nicht selten einen Sechzehn-Stunden-Tag und war nicht oft zu Hause. Da spielte das keine Rolle.

Den ganzen Weg über und noch während sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufging erschien immer wieder das Amulett mit dem Schlangenkopf vor ihrem inneren Auge. Sie schloss ihre Wohnungstür auf und stellte dabei fest, dass ihre Hand zitterte.

Mein Gott, das ganze hat mich wohl mehr mitgenommen, als ich dachte!, ging es ihr durch den Kopf. Sie war etwas verwundert. Schließlich war der Anlass eigentlich nicht der Rede wert gewesen. Ein Amulett mit einen Schlangenkopf, dessen Augen rot und böse funkelten.

Eine merkwürdige, unheimliche Aura der Bedrohung schien von diesem Amulett auszugehen.

Etwas, das nicht zu erklären war...

Sara schloss die Wohnungstür hinter sich und warf die Handtasche auf die Couch. Der Mantel flog gleich hinterher. Die flachen Pumps ließ sie auf dem Teppich und dann ging sie in die Küche.

Sie war müde und hungrig.

Und morgen wartete wieder ein anstrengender Tag auf sie.

Sie hatte ihren Job noch nicht sehr lange und das hieß, dass sie sich bewähren musste. Sie war Anfängerin und musste deswegen besonders gut sein. Außerdem hatte sie sich vorgenommen, Karriere zu machen. Eines Tages Chefredakteurin sein, davon träumte sie.

Aber im Moment war sie nur hungrig und müde.

Sie machte den Kühlschrank auf. Aber was da zu sehen war, war nicht sehr vielversprechend.

Sara seufzte.

Und dann klingelte es an ihrer Wohnungstür.

Sara machte den Kühlschrank wieder zu und schlüpfte in ihre Pumps.


*


Vor der Tür stand ein breitschultriger Mann in den Vierzigern, der den Großteil seiner Haare bereits eingebüßt hatte.

"Inspektor Curren - Scotland Yard", sagte der Mann, noch ehe Sara auch nur Luft geholt hatte. Er zeigte ihr seinen Dienstausweis und Sara nickte.

"Guten Abend. Was wollen Sie von mir?"

"Sind Sie Miss Norwood? Sara Norwood?"

"Ja, die bin ich."

"Ich muß Sie sprechen, Miss Norwood..."

Curren sah die junge Frau nicht an, als er das sagte und es schien Sara fast so, als würde er ihrem Blick ausweichen.

Sara fühlte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend.

Curren sah aus wie jemand, der eine schlechte Nachricht zu überbringen hatte und Sara fragte sich instinktiv, was wohl geschehen war.

"Was ist passiert?", hörte sie sich selbst sagen.

"Darf ich hereinkommen?", fragte Curren. Er schluckte dabei.

Viel Spaß schien ihm sein Beruf in diesem Moment nicht gerade zu machen.

"Ja, sicher", beeilte sich Sara.

Sie bot ihm einen Sessel an, in dem er sich niederließ.

Er sah sie noch immer nicht an. Curren druckste etwas

herum, hüstelte verlegen und begann dann: "Miss Norwood, Sie haben einen Bruder, nicht wahr?"

"Jack!"

Auf einmal schlug Sara der Puls bis zum Hals. Ein dicker Kloß steckte in ihrer Kehle, so dass sie unmöglich einen Laut hätte hervorbringen können. Eine furchtbare Ahnung ergriff sie.

"Ihr Bruder ist tot", brachte Inspektor Curren indessen mit tonloser Stimme heraus. Der Inspektor langte in seine Jackett-Innentasche und holte ein Foto hervor, das er Sara reichte. Sara nahm das Bild in die Hand. Es kostete sie eine ziemlich große Überwindung, hinzusehen.

"Ist das Jack Norwood - Ihr Bruder?", fragte Curren.

Sara spürte, wie eine Träne über ihre Wange lief. Sie nickte stumm. Er war es. Immerhin waren ihm die Augen geschlossen worden.

Und dann stutzte sie.

Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie das Amulett sah, das ihr toter Bruder um den Hals trug. Ein Schlangenkopf mit böse funkelnden Facettenaugen...

Es versetzt Sara einen Stich und sie fühlte augenblicklich wieder die Gänsehaut ihren Körper überziehen. Es war dieselbe Empfindung, die sie in T.K.Klines Second-hand-Laden gehabt hatte - nur viel stärker.

Wie durch einen Nebel hörte sie die Stimme des Inspektors.

"Ich weiß, dass es ein schwerer Schlag für Sie ist, Miss", hörte sie ihn sagen, aber sie achtete kaum auf seine Worte..

Ihr Blick hing statt dessen wie gebannt an dem Amulett.

"Was ist passiert?", murmelte Sara schließlich, als der Inspektor aufgehört hatte zu reden. Sie legte das Foto auf den niedrigen Wohnzimmertisch. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich über die Augen und kämmte eine Haarsträhne nach hinten.

"Es ist vor vier Wochen passiert", erklärte Inspektor Curren. "Drüben, in Irland. Gwenderon, so heißt der Ort - das ist ein kleiner Ort bei Limerick."

Sara sah ihn fassungslos an. "Was?" Sie konnte es nicht fassen. "Vor vier Wochen?"

"Nun, Sie scheinen in letzter Zeit einige Male umgezogen zu sein, Miss Norwood. Es war nicht ganz einfach, Sie ausfindig zu machen..."

Sara atmete tief durch.

Da musste sie dem Mann von Scotland Yard recht geben.

Außerdem hatte es jetzt auch keinerlei Sinn, sich darüber zu beschweren. Das half nicht weiter. Und am wenigsten konnte es Jack noch helfen...

"Gibt es noch weitere Angehörige, die verständigt werden müssten?", fragte Curren.

Sara schüttelte den Kopf.

"Nein. Unsere Eltern sind vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und sonst gibt es niemanden... Woran starb Jack?"

"Oh, habe ich das nicht gesagt? An einem Schlangenbiss."

"Was?" Sara sah Curren erstaunt an. "Aber wenn Scotland Yard sich um die Sache kümmert, dann..."

"Vermutet man ein Verbrechen. Das ist richtig. Die Kollegen in Irland haben das auch. Schließlich ist Irland nicht gerade ein Land, in dem Giftschlangen frei herumkriechen. Außerdem hat er noch eine Kopfverletzung, von der man nicht genau sagen kann, ob sie von einem Sturz oder einem Schlag herrührt..."

"Wo hat man ihn gefunden?"

"In einem einsamen Cottage. Die Sache scheint ziemlich rätselhaft. Hat Ihr Bruder je etwas mit Schlangen zu tun gehabt?"

Sara schüttelte den Kopf. "Nicht, dass ich mich erinnern könnte. Allerdings ist der Kontakt zu Jack seit etwa einem Jahr abgebrochen."

Curren sah sie fragend an. "Wie meinen Sie das, Miss Norwood?"

Sara zuckte die Schultern. "Er ist einfach verschwunden. Eine Karte von irgendwoher, das war alles. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Und ich hatte auch keinerlei Ahnung, wo er sich aufhält."

Inspektor Curren warf plötzlich einen Blick auf die Uhr. Dann erhob er sich. "Es ist schon ziemlich spät... Ich muß jetzt gehen. Vielleicht könnten Sie in den nächsten Tagen nochmal in mein Büro kommen. Dann können wir Ihre Aussage aufnehmen..."

"...die Sie dann den Kollegen in Irland schicken", schloss Sara. Und die würden das Protokoll wahrscheinlich in eine Akte heften und damit war die Sache erledigt. "Hat man die Schlange eigentlich gefunden, die Jack gebissen hat?"

"Nein."

"Wie groß sind die Chancen, die Sache aufzuklären?", fragte Sara, als Curren schon zwei Schritte in Richtung Tür gemacht hatte. Er wich ihrem Blick wieder aus, eine Angewohnheit, die sie nicht mochte.

Curren zuckte die Schultern.

"Nun..."

"Sie können ruhig ehrlich zu mir sein, Inspektor!"

Der Inspektor sah auf und bedachte sie mit einem Blick, der Bedauern ausdrückte. Er wirkte hilflos,als er so mit seinen breiten Schultern zuckte.

"Ein rätselhafter Todesfall", murmelte er. "Nach dem, was unsere irischen Kollegen uns mitgeteilt haben, besteht keine große Chance die Sache aufzuklären. Niemand in Gwenderon und Umgebung will ihren Bruder gekannt oder irgend etwas gesehen oder bemerkt haben, was weiterhelfen könnte. Aber die Ermittlungen sind ja erst am Anfang. Und vielleicht..."

Sara hob den Kopf.

"Schon gut, Inspektor. Ich verstehe schon."

"Es tut mir sehr leid. Glauben Sie mir, es gibt Dinge, die ich sehr viel lieber mache, als solche Nachrichten zu überbringen..."

"Das verstehe ich." Saras Stimme hatte einen heiseren Klang, als sie das sagte.

"Leben Sie wohl, Miss Norwood."

"Einen Moment noch!"

Er hatte den Türgriff schon in der Hand. "Ja?", fragte er und hob dabei die Augenbrauen.

"Darf ich das Foto behalten?"

"Wenn Sie wollen..."

Curren reichte es Sara. Diese warf einen kurzen Blick darauf und deutete dann mit dem Finger auf das Amulett. "Weiß man, was das hier zu bedeuten hat?"

Curren sah auf das Bild und runzelte die Stirn.

"Nein. Keine Ahnung."

"Ich habe so etwas schon mal gesehen."

"Und wo?"

Sara erzählte dem Inspektor von T.K.Kline und seinem Laden. "Dieses Amulett muss irgendeine Bedeutung haben, Inspektor, denn Mister Kline wurde totenblass, als ich es ihm zeigte."

Curren schien weniger davon überzeugt zu sein, dass dieses Schlangenkopfamulett irgend eine Bedeutung hatte. "Und? Was ist denn Ihre Idee, was das Ding da zu bedeuten hat?"

"Ich weiß es nicht. Aber Mister Kline wusste es, das steht für mich fest."

Curren seufzte. "Kann ich jetzt noch bei ihm vorbeischauen?"

"In seinem Geschäft ist er um diese Zeit nicht mehr. Er wohnt irgendwo außerhalb, aber ich habe keine Ahnung, wo genau. Am besten, Sie versuchen es morgen."

Curren nickte. "Gut."

Dann öffnete er die Tür und ging die Treppe hinunter. Und während Sara seine schweren Schritte verhallen hörte, spürte sie, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen und das dezente Make up verwischten.

Jack! Oh, Gott, warum nur?

Sie schloss die Wohnungstür, presste das Foto an sich und ließ sich dann auf die Couch fallen. Was mochte nur mit Jack geschehen sein? Was hatte ihn in die Abgeschiedenheit des westlichen Irlands getrieben? In Saras Kopf wirbelte alles durcheinander. Sie machte sich Vorwürfe und dann waren da so viele bohrende Fragen.

Dinge, die einfach nicht zueinander passten.

Sara war fünf Jahre älter als Jack und hatte sich immer ein bisschen für ihn verantwortlich gefühlt. Besonders, nachdem ihre Eltern so plötzlich gestorben waren. Jack war damals erst siebzehn gewesen und hatte noch die Schule besucht, während Sara ihren ersten Job als Reporterin gehabt hatte damals noch in der Lokalredaktion einer Tageszeitung.

Dann hatte Jack studiert. Erst Archäologie, dann alte Geschichte, schließlich Philosophie. Einen Abschluss hatte er nirgends gemacht. Dann war er mit ein paar Freunden durch Europa getrampt, hatte sich als Straßenmusiker und Taxifahrer verdingt.

Langsam aber sicher war der Kontakt zwischen den Geschwistern lockerer geworden. Und eines Tages war er dann nach Irland gegangen.

Sara hatte nicht die geringste Ahnung, weshalb.

Wahrscheinlich war es einfach eine Augenblickslaune von ihm gewesen.

Schließlich war der Kontakt ganz abgerissen. Und jetzt dieses Foto...

Ich muss herausfinden, was mit ihm geschehen ist!, ging es ihr durch den Kopf. Das war sie ihm irgendwie schuldig...


*


Am nächsten Morgen musste sie erst um zehn in der Redaktion sein. Zeit genug also, um noch einmal bei Mr. Kline vorbeizuschauen. Um diese Zeit musste er eigentlich in seinem Laden stehen und an Jugendliche gebrauchte Schallplatten und alte Comic-Hefte verkaufen.

Es war ein kalter diesiger Tag.

Der Nebel hing noch immer wie eine Glocke über London und tauchte alles in ein tristes Grau. Irgendwie passte das Wetter zu der Stimmung, die sie empfand. Sara hatte schlecht geschlafen. Unruhige Träume hatten sie die ganze Nacht über gequält. Sie konnte sich nicht mehr so recht an sie erinnern, aber eines wusste sie noch...

Ein Schlangenkopf hatte in diesen Träumen eine Rolle gespielt...

Wahrscheinlich die überreizten Nerven, die mir da einen Streich gespielt haben!, ging es ihr durch den Kopf, während sie fröstelnd die wenigen Dutzend Meter Bürgersteig hinter sich brachte, die zwischen ihrer Wohnung und Mister Klines Second-hand-Laden lagen.

Seit Wochen arbeitete sie sehr hart und dann die schlimme Nachricht, die Inspektor Curren ihr am Vorabend übermittelt hatte. Das war alles etwas zuviel auf einmal gewesen.

Als sie den Laden betrat, fiel ihr sofort auf, dass nicht geheizt war. Es war kalt und klamm im Laden. Für gewöhnlich hatte Kline immer einen Ölofen in Betrieb, auf dem er sich Mittags eine Suppe kochte, nach der dann der ganze Laden roch.

"Mister Kline?", rief Sara. Aber niemand antwortete ihr.

Sara umrundete einen riesigen, ungeordneten Stapel alter Taschenbücher und blickte sich um. Das Licht war seltsamerweise nicht eingeschaltet.

Im Laden herrschte eine Art Halbdunkel und Saras Augen brauchten ein paar Augenblicke, um sich daran zu gewöhnen.

"Mister Kline, sind Sie da?"

Dann bemerkte sie, dass ein Stapel alter Comics vom Tresen gerissen worden war.

Die Hefte lagen auf dem Boden verteilt. Sara umrundete den Tresen und erstarrte.

Das Blut drohte ihr förmlich in den Adern zu gefrieren.

T.K.Kline lag ausgestreckt auf dem Boden. Seine Augen blickten starr und tot ins Nichts. Und auf seiner Brust lag jenes Schlangenamulett, das ihn am Tag zuvor so sehr erschreckt hatte...

Ein Amulett, das den Tod zu bringen schien...

Sara stand einen Augenblick lang wie erstarrt da. Es ist wie in einem schrecklichen Alptraum!, ging ihr es durch den Kopf.

Allerdings gab es aus diesem Alptraum nicht ein einfaches Erwachen, nachdem nichts weiter, als eine vage Erinnerung blieb...

Ich werde die Polizei anrufen müssen!, wurde es ihr klar.

Sie blickte sich um und suchte mit den Augen nach dem Telefon. Sie fand es schließlich neben der Kasse, begraben unter einem gebrauchten Judoanzug, den Kline für ein paar Pfund zum Kauf anbot. Sie räumte den Anzug beiseite und nahm den Hörer ans Ohr. Mit schnellen Bewegungen wählte sie die Nummer der Polizei.

Ein Geräusch ließ sie dann in der nächsten Sekunde zusammenzucken. Es war ein unangenehmer, drohender Zischlaut.

Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie eine Bewegung war und wirbelte herum. Auf dem Boden kroch etwas Längliches, Schuppenbewehrtes langsam auf sie zu...

Eine Schlange.

Kalte Facettenaugen blickten sie an, eine dunkle, gespaltene Zunge schnellte hervor. Die Giftzähne waren lang und spitz. Dann spürte sie im nächsten Moment, wie sie bei der Schulter gepackt und von einer unwiderstehlichen Kraft zu Boden gerissen wurde. Sie fühlte noch, wie ihr Kopf irgendwo aufschlug.

Und dann wurde es dunkel vor ihren Augen.

Namenlose, finstere Nacht umgab ihr Bewusstsein...


*


Das erste, was Sara Norwood sah, als sie erwachte, war ein diffuses Leuchten, das nach und nach die Finsternis aufzulösen begann.

Es dauerte eine Weile, bis sie völlig zu sich kam.

Schließlich sah sie, dass das Leuchten von einer Neonröhre stammte und das sie sich in einem Krankenhauszimmer befand.

Sie war allein im Raum. Das andere Bett war frei, die Decke glattgezogen, so dass nicht eine einzige Falte zu sehen war.

Sara fragte sich, wie viel Zeit vergangen war.

Und dann stiegen düstere Erinnerungen in ihr auf.

Erinnerungen an den toten Mister Kline, an das Amulett und die Schlange.

Es vergingen einige Minuten, dann kam eine Krankenschwester herein. Sie lächelte Sara erfreut an und rief per Knopfdruck gleich den Arzt.

Sara versuchte sich aufzurichten, aber sie merkte sofort, dass das keine gute Idee gewesen war. Schwindelgefühl erfasste sie. Alles drehte sich vor ihren Augen und ein dumpfer Kopfschmerz hämmerte hinter ihrer Stirn. Die Krankenschwester drückte sie sanft zurück in die Kissen.

"Bleiben Sie liegen, Miss..."

"Was ist passiert?"

Inzwischen hatte der Arzt das Zimmer betreten. Er stellte sich als Dr. Ashton vor und meinte dann: "Sie sind offenbar gestolpert und mit dem Kopf aufgeschlagen..."

"Gestolpert?", fragte Sara ungläubig. "Ich bin nicht gestolpert, ich..."

"Lassen Sie mal sehen..."

Dr. Ashton beugte sich über sie, und untersuchte sie kurz.

Etwas oberhalb der linken Schläfe hatte sie eine Wunde.

"Nichts Schlimmes", wie Dr. Ashton meinte. "Nicht lange und man wird nichts mehr davon sehen..." Er lächelte geschäftsmäßig. "Haben Sie Kopfschmerzen?"

"Ja."

"Die werden wohl auch noch einige Zeit bleiben", meinte er wenig tröstlich.

"Ich möchte nach Hause", sagte Sara.

Aber Dr. Ashton schüttelte energisch den Kopf. "Das kommt überhaupt nicht in Frage", sagte er. "Sie haben eine Gehirnerschütterung und werden eine Weile hierbleiben müssen..."

"Ich bin Reporterin... Ich muss in der Redaktion anrufen!"

"Bitte!" Der Arzt deutete auf das Telefon auf dem Nachttisch. "Aber Sie brauchen denen gar nicht erst Hoffnungen zu machen, dass Sie in den nächsten Tagen schon wieder an Ihrem Arbeitsplatz sitzen. Das ist ausgeschlossen."


*


Sara telefonierte mit ihrer Redaktion. Und dann mit Scotland Yard. Sie hatte sich schon gewundert, dass noch niemand von der Polizei bei ihr aufgetaucht war, um sie zu befragen. Curren war allerdings nicht zu erreichen und sonst schien niemand zuständig zu sein. Sara wünschte ihn zum Teufel.

Gegen Abend tauchte Inspektor Curren dann doch noch in ihrem Krankenzimmer auf.

Auf seine etwas unsichere, verlegene Art trat er an ihr Bett und reichte ihr die Hand.

"Was ist mit Mr. Kline passiert?", fragte Sara und kam damit ohne Umschweife zur Sache. "Haben Sie das Amulett gesehen?"

"Hören Sie..."

"Genau so ein Amulett hatte mein Bruder um den Hals, als man seine Leiche fotografierte."

"Miss Norwood..." Currens Tonfall gefiel Sara nicht. Der Inspektor schien sie nicht so recht ernst zu nehmen. Er sprach mit ihr wie mit jemandem, der nicht so ganz zurechnungsfähig war...

Sie erschrak über ihre Gedanken.

"Jemand hat mich zu Boden geschleudert", sagte sie.

"Es war niemand dort. Auch keine Spuren, die darauf hindeuten, dass es so war."

"Es war eine Giftschlange dort... Ich nehme an, dass Mister Kline durch sie gestorben ist. Genau wie mein Bruder. Inspektor! Begreifen Sie doch! Irgendein Verrückter benutzt eine Giftschlange als Mordwaffe!"

Curren zuckte die Achseln. "Kline ist an Herzschlag gestorben... Und von einer Giftschlange war nirgends etwas zu sehen."

Sara fuhr hoch.

Auf ihre Kopfschmerzen nahm sie dabei keine Rücksicht. Sie fasste sich an die Schläfe. Hatte sie sich das alles nur eingebildet?

Nein, nein, das konnte nicht sein. Sie hatte die Schlange gesehen. Und sie hatte die Hände gespürt, die sie zu Boden gerissen hatten.

"Was?", flüsterte sie. "Herzschlag?"

Curren setzte sich auf einen der Stühle, die in dem Krankenzimmer standen und schlug die Beine übereinander.

"Ich möchte Ihnen sagen, was meiner Ansicht nach geschehen ist. Kline ist nicht mehr der Jüngste. Er hatte eine Herzschwäche deretwegen er in ärztlicher Behandlung war. Um seine Überlebenschancen zu erhöhen, hätte er seinen Lebenswandel radikal ändern müssen, aber dazu war er nicht bereit. Und dann hat es ihn eines Morgens, kurz nachdem er sein Geschäft geöffnet hatte, eben getroffen. Für seinen Arzt war das alles andere als überraschend."

Sara fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sie fühlte den dröhnenden Kopfschmerz und ein leichtes Schwindelgefühl.

Einen Augenblick später sank sie zurück in die Kissen. Aber das besserte ihr Befinden nicht.

Auf einmal fühlte sie so etwas wie Zweifel in sich aufkommen. Zweifel an dem, was sie gesehen hatte. Die Erinnerung verblasste seltsam.

Ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.

Ich bin doch noch nicht verrückt!, hämmerte es in ihr.

"Was ist mit dem Amulett? Was ist mit dem Kerl, der mich zu Boden gerissen hat?"

"Ich bin noch nicht fertig, Miss Norwood."

"Dann fahren Sie fort!", forderte Sara ungeduldig.

"Sie kamen in das Geschäft und fanden den toten Mister Kline. Das muss Sie sehr erschreckt haben. Sie waren nervlich ohnehin schon angespannt, wegen der Sache mit Ihrem Bruder..."

"...und Sie wollen sagen, dass ich mir dann alles eingebildet habe! Zum Beispiel die Gehirnerschütterung, mit der ich hier liege."

Curren schüttelte den Kopf. Er machte eine beschwichtigende Geste. "Sie sind ausgerutscht, Miss Norwood. Mister Kline hatte seinen Boden immer sehr glatt gebohnert. Und was die anderen Dinge angeht. Ein Amulett haben wir nicht gefunden. Und von einer Schlange war auch keine Spur. Miss Norwood, man nennt so etwas eine Übertragung. Sie glaubten, diese Dinge zu sehen, aber Sie müssen die Realität akzeptieren, wie Sie ist..."

Saras Blick war nach innen gekehrt. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Dann hob sie den Kopf und blickte den Inspektor verständnislos an.

"Ich weiß doch, was ich gesehen habe!"

"Miss Norwood!"

"Da war jemand, der mich niedergerissen hat!"

Curren hob die Augenbrauen und forderte kühl: "Dann geben Sie mir eine Beschreibung von ihm!"

Sara schwieg.

"Das können Sie nicht, nicht wahr?", antwortete der Inspektor an Saras statt. "Sie können es nicht, weil Sie nichts gesehen haben."

"Aber..."

Sara ahnte, dass es nicht viel Sinn hatte, Curren überzeugen zu wollen. Er schnitt ihr das Wort ab.

"Ich habe nicht viel Zeit, Miss Norwood. Vielleicht unterhalten Sie sich besser mit jemandem über die Sache, der.." Curren zögerte bevor er weitersprach. Sein Kopf drehte sich zur Seite, dann fuhr er fort. "...mit einem, der dafür ausgebildet ist!", brachte er dann heraus und holte anschließend tief Luft.

Er meint einen Psychiater!, wurde es Sara klar und die Erkenntnis versetzte ihr einen Stich.

"Für uns ist der Fall jedenfalls abgeschlossen", hörte sie Inspektor Curren wie durch einen Nebel sagen. "Und für Sie sollte er es auch sein..."

Sara öffnete halb den Mund und wollte etwas erwidern. Aber sie schluckte ihre Worte wieder hinunter. Es hatte keinen Sinn. Für Inspektor Curren war die Sache klar. Sie hatte sich etwas eingebildet.

Sie versuchte verzweifelt, die Erinnerung festzuhalten.

Aber konnte es nicht vielleicht doch sein, dass Curren recht hatte? Bilder schwirrten in ihrem Hirn durcheinander. Das Bild ihres toten Bruders Jack, das Bild einer Schlange mit unmenschlich kalten Facettenaugen, das Bild eines Amulettes und das Bild des toten Mister Kline...

Die Angst begann ihr die Kehle zuzuschnüren. Sie fühlte ein Frösteln von der Art, wie sie es gefühlt hatte, als sie zum ersten Mal das Schlangenamulett in Klines Laden gesehen hatte.

Nur viel stärker.

Ich verliere den Verstand!, zuckte es ihr durch den Kopf.

Sie nahm kaum war, wie Inspektor Curren sich verabschiedete und das Zimmer verließ.


*


In den nächsten Tagen verbesserte sich Saras Zustand zusehends. Da sie noch nicht lange in London war, war ihr Bekanntenkreis hier auch noch sonderlich groß. Besuch bekam sie daher selten. Die meiste Zeit lag sie allein in ihrem Zimmer und grübelte.

Wenigstens eine dachte an sie. Und das war Brenda Jackson, die für denselben Zeitschriftenverlag wie Sara arbeitete.

Allerdings nicht in einer Redaktion, sondern im Archiv.

Brenda war Anfang dreißig und die beiden Frauen hatten sich von Anfang an gut verstanden.

"Wie geht's dir?", fragte Brenda.

Sara lächelte matt. "Schon besser. Ende der Woche kann ich nach Hause."

"Das ist schön."

"Wie geht's bei euch zu?"

Brenda lachte. "Dein Blatt erscheint auch ohne dich, Sara! Ob du es nun glaubst oder nicht!"

Sie lachten. Sara setzte sich auf und bedachte Brenda mit einem prüfenden Blick. "Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Brenda."

"Kein Problem!"

Brenda zuckte die Achseln.

Saras Gesicht hingegen blieb ernst und das ließ Brenda die Stirn runzeln.

"Du musst etwas für mich herausfinden", kam Sara gleich zur Sache.

"Sara, werd' erst einmal wieder gesund!"

"Es ist wichtig, Brenda. Und ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht dringend wäre!"

Sie griff in die Schublade ihres Nachttischs und holte das Foto heraus, das Inspektor Curren ihr gegeben hatte und reichte es Brenda. "Ich muss wissen, was dieses Amulett für eine Bedeutung hat. Es muss eine Bedeutung haben. Da bin ich mir ganz sicher."

Brenda betrachtete das Foto und in ihrem Gesicht erschien ein zweifelnder Ausdruck.

"Wer ist dieser Tote?", fragte sie. Auf einmal schien ihr bei der ganzen Sache nicht mehr so ganz wohl zu sein.

"Unwichtig, Brenda." Sara wusste einfach nicht, in wie weit sie Brenda wirklich vertrauen konnte. Dazu kannten sie sich noch nicht gut genug und so zog sie es vor, nur das allernötigste preiszugeben.

Brenda hob die Augenbrauen.

"Eine Story?", hakte sie nach.

Soll sie das ruhig glauben!, dachte Sara.

"Eine Story", bestätigte sie. "Es ist sehr dringend, Brenda."

"Ich verstehe", murmelte die Archivarin in einem Tonfall, der andeutete, dass sie in Wahrheit gar nichts verstand.

"Irgend etwas wird sich in der Gruft schon an Informationen finden..." Die Gruft - das war bei den Mitarbeitern der Ausdruck für das Archiv. "Aber überanstrenge dich nicht, Sara. Wie gesagt, das Blatt erscheint ohne dich. Und das wichtigste ist, dass du wieder auf den Damm kommst!"

"Klar."

Saras Lächeln wirkte müde.


*


Es war an dem Tag, bevor Sara aus dem Krankenhaus entlassen wurde, als Brenda wieder bei ihr auftauchte.

"Hast du was über dieses Amulett herausgefunden?", fragte Sara.

Brenda zuckte die Achseln.

"Nicht viel", sagte sie. "Außer einem Lexikonartikel über den antiken Kult einer Schlangengottheit... Ich habe dir den Artikel kopiert. Die Abbildung, die da zu sehen ist, stimmt mit dem Amulett haargenau überein..."

Sara nahm die Kopie und als ihre Blick auf die Abbildung fiel, versetzte es ihr einen Stich. Ja, das war es...

Sie fühlte ihren Puls wild schlagen, während sie die wenigen Zeilen überflog. Der Kult des Schlangengottes Ktor stammte danach ursprünglich aus Persien und war durch römische Legionäre auf die britischen Inseln gekommen.Es war ein blutiger Geheimkult mit Menschenopfern... Die Existenz dieses Kultes war bis ins achte Jahrhundert belegt. Danach schien es der christlichen Kirche gelungen zu sein, ihn auszurotten.

Sara ließ die Kopie sinken.

"Viel ist das nicht", meinte Brenda fast entschuldigend dazu, als sie Saras etwas enttäuschtes Gesicht sah. "Aber das war auch eine harte Nuss, die du mir zu knacken gegeben hast..."

"Schon gut, Brenda. Du hast mir sehr geholfen", murmelte Sara fast wie in Trance. In Wahrheit war sie natürlich kein Stück weiter.

Was hatte dieser antike Schlangengott namens Ktor mit dem Tod zweier Menschen im zwanzigsten Jahrhundert zu tun?

Ihr kam wieder ins Bewusstsein, dass Jack sich ja mit alter Geschichte und Archäologie befasst hatte. Aber wie man die Sache auch drehte und wendete - sie blieb ein Rätsel.

Und für einen kurzen Moment kam ihr sogar in den Sinn, dass Inspektor Curren am Ende gar recht haben konnte und sie sich in ihrem Hirn etwas zurechtlegte, was mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte...

Ich muss nach Irland!, durchzuckte es sie siedend heiß. Ich muss nach Irland und der Sache auf den Grund gehen!

Und es gab niemanden, der ihr dabei helfen würde.

Niemanden, der ihr auch nur einen Bruchteil dessen glauben würde, was sie bereits erfahren hatte...


*


Als sie das erste Mal wieder bei ihrer Redaktion auftauchte, ging Sara geradewegs in das Büro ihres Chefredakteurs.

Marvin Garrett war ein hochgewachsener Mann in den vierzigern, dessen dunkles Haar bereits die ersten Grausträhnen bekommen hatte. Seine dunklen Augen wirkten warm und um die Mundwinkel herum spielte immer ein gewinnendes Lächeln.

"Es freut mich, dass Sie wieder gesund sind, Sara!", begrüßte er sie und gab ihr die Hand.

Dann bot er ihr einen Platz an, aber Sara wollte sich nicht setzen. Sie kam ohne Umschweife zur Sache. "Ich brauche dringend ein paar Wochen Urlaub..."

Marvin Garrett zog die Augenbrauen in die Höhe und bedachte Sara Norwood mit einem nachdenklichen Blick.

"Sie sehen in der Tat etwas mitgenommen aus."

"Ja, die letzte Zeit war nicht einfach. Ich brauche einfach..." Sie zögerte, ehe sie weitersprach und schien dabei nach dem richtigen Wort zu suchen. "...eine Pause", vollendete sie dann.

"Ich kann Sie verstehen, Sara, aber..."

"Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es nicht so dringend wäre", hakte Sara nach. Und in Ihrer Stimme lag etwas Unmissverständliches, Bestimmtes, das Garrett die Schultern zucken ließ.

"Schade", sagte er dann. "Ich hatte Sie eigentlich für das Interview mit Prinzessin Caroline vorgesehen... Das wäre eine Titelstory, Sara!"

Sara atmete tief durch. Aber dann schüttelte sie um so entschiedener den Kopf. "Tut mir leid! Aber das ändert nichts an meinem Wunsch."

Garrett hob die Hände. "Also gut, Sara. Sie bekommen Ihren Urlaub. Ich hoffe, Sie erholen sich gut. Wo geht's denn hin?"

"Nach Irland", murmelte sie tonlos.


*


Sara Norwood packte ein paar Sachen zusammen und nahm den nächsten Flug von London nach Shannon Airport bei Limerick, auf der Westseite Irlands gelegen.

Um nach Gwenderon zu kommen, musste sie mit dem Zug weiterfahren.

Sie war ziemlich müde, als sie sich in ihrem Abteil niederließ.

Ihr Gegenüber saß ein Mann mit hellblonden Haaren und markanten Gesichtszügen. Das braune Jackett hatte er lässig auf den Sitz neben sich geworfen. Den Hemdknopf trug er offen. Seine meerblauen Augen musterten sie eingehend. Als sie seinen Blick erwiderte, lächelte er freundlich.

"Machen Sie Urlaub hier?", erkundigte er sich.

Sara sah ihn erstaunt an.

"Ja. Woher wissen Sie das?"

Sein Lächeln wurde etwas breiter und strahlte jetzt noch mehr Selbstsicherheit aus, als ohnehin schon.

"An Ihrem Gepäck sind noch die Kennschilder des Flughafens!", erklärte er, "Sie kommen aus London!"

Sara erwiderte unwillkürlich sein Lächeln. "Sie sind ein scharfer Beobachter."

"Wenn Sie das sagen..."

"Aber Sie sind ebenfalls nicht aus dieser Gegend."

Der Blonde hob die Augenbrauen. Für den Bruchteil eines Augenblicks schien er tatsächlich etwas erstaunt zu sein.

Aber er hatte seine Mimik recht schnell wieder unter Kontrolle. "Und woraus schließen Sie das?"

"Aus Ihrem Akzent. Sie sind kein Ire."

"Ich könnte lange in England gelebt und dort vielleicht studiert haben."

"Aber Sie hätten kaum eine Ausgabe der Londoner Times von heute dabei!", versetzte Sara, während sie mit dem Finger auf die Zeitung deutete, die halb unter dem hingeworfenen Jackett hervorschaute."

"Sie sind aber auch eine scharfe Beobachterin!", lachte er.

Er reichte ihr die Hand. "Mark Leyland", stellte er sich vor."Und ich bin ebenso wie Sie in diesem herrlichen, grünen Land, um auszuspannen und mich mal richtig zu erholen!"

Sara zögerte einen Augenblick, bevor sie ihren Namen nannte. "Sara Norwood."

"Ich darf Sie Sara nennen, ja?"

Sara zuckte die Achseln.

Er hatte etwas Überrumpelndes an sich. Aber er tat es auf eine sympathische Weise, die Sara irgendwie gefiel.

Sie lächelte. "Warum nicht?"

"Fahren Sie die ganze Strecke bis Galway?"

"Nein, nur bis Gwenderon, das kommt kurz hinter Gort."

In seinen Augen blitzte es. "Dann haben wir dasselbe Ziel. Ich will auch nach Gwenderon."

"So ein Zufall..."

Auf einmal wurde sie misstrauisch. Sie konnte nicht so recht erklären, woher das kam. Vielleicht war es dieser unglaubliche Zufall, dass sie beide Gwenderon als Ziel hatten.

Jedenfalls hat er innerhalb einer kurzen Zeit eine Menge über mich erfahren!, ging es ihr durch den Kopf. Er wusste, wie man während einer harmlosen Plauderei an Informationen kam...

Entweder, er war ein Naturtalent, oder es hatte mit seinem Beruf zu tun.

"Gwenderon ist nicht gerade ein hochattraktiver Ferienort", sagte Mark Leyland indessen gedehnt, während er aus dem Zugfenster blickte. Er hatte ein klassisches Profil. Und seine Augen machten einen wachen, intelligenten Eindruck. "Wie kommen Sie ausgerechnet auf Gwenderon? Ich glaube kaum, dass irgendein Reisebüro in London für ein so abgelegenes Nest Reklame machen würde..."

"Das sicher nicht...", erwiderte Sara und dachte: Jetzt werde ich den Spieß mal umdrehen.

Er hob die Augenbrauen. "Nun?"

Sie zuckte die Achseln und schenkte ihm ein freundliches Lächeln. Gleichzeitig eröffnete sie ihm klipp und klar: "Ich finde, dass Sie mich jetzt zu Genüge ausgefragt haben, Mister Leyland..."

"Mark. Für Sie Mark, okay?"

"Meinetwegen, Mark."

Er wandte den Kopf zu ihr und seine meerblauen Augen sahen sie an. Und dabei verspürte sie unwillkürlich ein Kribbeln in der Bauchgegend. Sie konnte nicht sagen weshalb, aber dieser Blick ging ihr durch und durch.

"Dann fragen Sie mich jetzt etwas, Sara. Bitte! Alles, was Sie wollen!"

"Und wenn ich indiskret werde?"

Er lachte und erwiderte dann scherzhaft: "Dann werde ich Sie einfach anlügen, Sara. So einfach ist das."

Sie musste auch lachen. Dieser Mann gefiel ihr vielleicht besser, als ihr lieb war. Denn eigentlich hatte sie keine Zeit, sich auf irgend etwas einzulassen. Das war völlig ausgeschlossen. Sie wollte herausfinden, was mit ihrem Bruder geschehen war. Deswegen war sie hier - aus keinem anderen Grund.

Aber vielleicht konnte es nicht schaden, jemanden in Gwenderon zu kennen. Und wenn Mark Leyland hier einen Urlaub verbrachte, würde er ja wohl einige Zeit bleiben.

Sara beugte sich etwas vor und stützte das Kinn auf die Hand. Mit der anderen Hand strich sie sich das mittellange, braune Haar zurück.

"Was machen Sie beruflich, Mark?"

"Ich bin...", er zögerte einen kurzen Moment. Ein Zögern, das Sara unwillkürlich aufhorchen ließ. "...Geschäftsmann", vollendete er dann.

Das konnte alles und nichts sein. Die Journalistin in Sara erwachte und so hakte sie nach: "In welcher Branche?"

"In jeder, in der sich Geld verdienen lässt."

"Drücken Sie sich immer so genau aus?"

"Es ist die Wahrheit. Ich betreibe eine Handelsagentur, die mit Restposten handelt."

Er beugte sich ebenfalls etwas vor. Sara fragte sich, wie alt er war. Fünfunddreißig, so schätzte sie.

"Und Sie?", erkundigte er sich. "Was machen Sie?"

"Versuchen Sie es zu erraten!"

"Das ist nicht fair!"

"Sie Ärmster!"

"Krankenschwester?"

"Falsch. Aber bis Gwenderon haben Sie ja noch eine Weile Zeit, es herauszufinden."


*


"Wissen Sie schon, wo Sie heute Nacht bleiben?", fragte Mark Leyland, als der Zug im Bahnhof von Gwenderon hielt.

Sara, die inzwischen schon ihr Gepäck zusammengesucht hatte, blickte ihn etwas überrascht an und schüttelte dann den Kopf.

"Nein", musste sie zugeben. Sie war so überstürzt aus London aufgebrochen, dass sie gar keine Zeit dazu gehabt hatte, sich irgend etwas zu reservieren.

"Ich habe mir ein Zimmer in der Pension von Mister und Mrs. Keogh reservieren lassen. Ein Bett mit Frühstück für einen akzeptablen Preis. Wenn man will, bekommt man sogar Lunch. Was meinen Sie dazu? Ein Hotel gibt es nämlich in Gwenderon nicht."

Sara zuckte die Achseln.

"Damit hätte ich eigentlich rechnen müssen."

Er half ihr dabei, das Gepäck auf den Bahnsteig zu setzen.

Der Bahnsteig war sehr tief angelegt, so dass es nicht so ganz einfach war, aus dem Zug zu klettern.

Aber für die wenigen Fahrgäste, die hier in Gwenderon ausstiegen, lohnte es sich wohl kaum, einen richtigen Bahnsteig aufzuschütten. Die Bewohner dieser Gegend konnten froh sein, dass der Zug überhaupt hier hielt und nicht bis Gort weiterfuhr.

Mark und Sara waren die einzigen, die an diesem Tag nach Gwenderon wollten. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und fuhr gen Horizont davon. Nicht lange und er war hinter der nächsten Kette grüner Hügel verschwunden.

"Waren Sie schon einmal hier?", wandte sich Sara an Mark.

"Nein. Aber ich habe mich informiert, soweit das möglich war. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kommen mit mir zu den Keoghs."

"Woher wissen Sie, dass die noch ein Zimmer frei haben?"

"Das weiß ich nicht. Aber wenn nicht, dann wissen die bestimmt, wo Sie sonst noch hier unterkommen können! In so einem Nest kennt doch jeder jeden!"

Das leuchtete Sara ein.

"Gut", meinte sie.

Es gab kein Taxi, das am Bahnhof wartete. Aber dafür wenigstens einen Münzfernsprecher, mit dem sich eines herbeirufen ließ. Fast eine halbe Stunde mussten sie darauf warten.

Der Himmel wurde indessen bedrohlich dunkel.

Der Fahrer war ein untersetzter Mann in einem groben Tweedjackett und mit deutlichem Rotstich in den Haaren.

Er kannte die Pension der Keoghs. "Kein Problem!" meinte er, während er das Gepäck in den Kofferraum lud.

Und dann begann es zu regnen.

Der Taxifahrer blickte nach oben und meinte: "Das ist der heutige Regen!" Er lachte dabei.

"Der heutige Regen?", fragte Sara.

Der Rothaarige grinste. "Wussten Sie das nicht, Ma'am? In Irland regnet es mindestens einmal am Tag."


*


Der Bahnhof von Gwenderon war etwas außerhalb des eigentlichen Ortskerns gelegen, der im Wesentlichen aus einer langen Reihe eng beieinanderstehender Häuser bestand.

"Zu den Keoghs wollen Sie also", meinte der Taxifahrer gedehnt und akzentschwer, während er beiläufig jemanden mit einer Handbewegung grüßte.

"Ganz recht", nickte Mark Leyland, während er seinen Blick über die schon etwas in die Jahre gekommenen Hausfassaden schweifen ließ.

"Soweit ich weiß erwarten die aber nur einen Herrn - und kein Ehepaar."

Mark wandte sich herum.

Er war sichtlich erstaunt. Ein dünnes Lächeln erschien um seine Mundwinkel herum.

"Spricht sich ja schnell herum", meinte er.

"Oh, nicht dass Sie denken, dass die Keoghs nichts für sich behalten könnten. Aber ich bin weitläufig mit ihnen verwandt."

"Verstehe", murmelte Mark Leyland und zwinkerte Sara zu.

"Im übrigen sind wir auch kein Paar!", mischte sich die junge Frau jetzt in das Gespräch ein.

Der Taxifahrer zuckte die Achseln. "Ich dachte..."

"Schon gut."

"Ich heiße übrigens Barry. Wenn Sie mal schnell einen Wagen brauchen - nur meine Nummer wählen!" Er deutete auf eine Telefonnummer, die in großen Zahlen vorne am Handschuhfach angebracht war.

Dann hatten sie das Haus der Keoghs erreicht. Es war ein Zweistock mit etwas verwitterter Fassade. Barry hielt den Wagen an und Mark bezahlte das Taxi. Sara bestand darauf, ihm die Hälfte des Preises wiederzugeben.

Dann stiegen sie aus.

Barry öffnete den Kofferraum und holte das Gepäck heraus.

"Vielleicht sollten Sie einen Moment warten", schlug Sara dem Taxifahrer vor.

Der Rothaarige grinste sie an.

"Wozu, Ma'am?"

"Weil ich mich nicht angemeldet habe und die Keoghs für mich vielleicht gar kein Zimmer mehr frei haben", erläuterte Sara.

Aber Barry schüttelte entschieden den Kopf und klappte dabei mit einer kräftigen Bewegung die Kofferraumklappe zu.

"Die beiden haben ein Zimmer für Sie, Ma'am. Das weiß ich ganz sicher. Aus erster Hand sozusagen!"

Damit stieg er wieder ein, startete den Wagen und fuhr los.

Als er nach dem Lenkrad fasste, rutschte der Ärmel seines Jacketts etwas hoch, so dass Sara für einen kurzen Augenblick Barrys Unterarm zu sehen bekam.

Und was sie da sah, verschlug ihr buchstäblich die Sprache.

Unter dem roten Haarflaum war deutlich eine Art Tätowierung zu sehen.

Ein Schlangenkopf mit roten Facettenaugen!

Barry fuhr los.

Es schnürte Sara die Kehle zu. Nur für einen winzigen Augenblick hatte sie die Tätowierung sehen können, aber sie war sich ihrer Sache sicher. Die Darstellung auf Barrys Unterarm stimmte in allen wesentlichen Details mit jener überein, die sich auf dem Amulett befand...

"Heh, Sara!"

Es war Mark Leylands Stimme, die wie durch einen Nebel in ihr Bewusstsein drang. Sie wandte sich zu ihm um.

"Mein Gott, Sie sehen ja aus wie eine weiße Wand, Sara!"

stellte Mark erschrocken fest. "Was ist los? Ist Ihnen nicht gut?"

"Es ist alles in Ordnung", murmelte Sara wie mechanisch.

Mark runzelte die Stirn. "Irgendeine Laus scheint Ihnen gerade über die Leber gelaufen zu sein - aber ich habe keine Ahnung welche!"

Sara hatte in dieser Sekunde keine Antenne für Marks etwas flapsige Art. "Gehen wir 'rein", sagte sie. Und Mark Leyland zuckte nur den Achseln.

"Wie Sie wollen", hörte sie ihn murmeln.


*


Mrs. Keogh war eine Dame in den Sechzigern. Sie trug das Haar zu einem Knoten zusammengefasst und macht den Eindruck, als würde sie ihre Pension nicht nur des Geldes wegen betreiben, sondern auch deswegen, weil sie sich dann mit den Gästen unterhalten konnte.

Sie erzählte gerne und hörte gerne zu.

Ihr Mann, hager, großgewachsen und grauhaarig, war dagegen eher schweigsam.

Mrs. Keogh zeigte Sara ihr Zimmer. Es war recht groß, wenn auch reichlich vollgestellt mit alten Möbeln. Aber es wirkte gemütlich. Und die Einrichtung passte irgendwie zu den Keoghs.

Durch das Fenster konnte man hinaus auf die Straße sehen.

"Ich hoffe, Sie sind zufrieden", hörte Sara Mrs. Keogh sagen.

"Ja, sicher."

"Frühstück gibt es ab acht - aber Sie müssen nicht so früh aufstehen, wenn Sie nicht wollen. Sie bekommen einen Schlüssel für die Haustür und einen fürs Zimmer."

"Gut."

"Ich brauche dann noch Ihre Personalien und die Nummer Ihres Passes, Miss..."

"Norwood", sagte Sara. "Sara Norwood. Ich komme aus London."

Sara gab ihr ihren Ausweis.

Mrs. Keoghs Gesicht veränderte sich ein bisschen. Ihre dunklen Augen wurden ein wenig schmaler und sie musterte Sara eingehend. "Gut, Miss Norwood", sagte sie dann und wirkte etwas verlegen dabei. "Wie lange wollen Sie bleiben?"

"Ein oder zwei Wochen. Ich weiß noch nicht genau."

"Sie können es sich noch überlegen. Aber es wäre nett, wenn Sie wenigsten für ein Paar Tage im Voraus bezahlen würden. Nicht, dass ich Ihnen misstraute, aber wir haben schließlich auch Auslagen..."

Sara griff in ihr Portemonnaie und bezahlte für eine Woche im Voraus. "Ist das in Ordnung?"

"Ja."

Mrs. Keogh wollte sich schon zum Gehen wenden, aber Saras Stimme hielt sie zurück. "Dieser Barry..."

"Der Mann im Taxi?", fragte Mrs Keogh und Sara nickte.

"Genau der."

"Ein netter Mensch. Aber er hat es in der letzten Zeit nicht leicht gehabt. Seine Schwester ist vor einem halben Jahr gestorben. Wir waren auf der Beerdigung..."

Sara ahnte, dass jetzt eine von Mrs. Keoghs langatmigen Abschweifungen kam und so unterbrach sie ihre Gastgeberin.

"Er hat hier irgend etwas am Arm", stellte sie fest. "Eine Tätowierung. Der Kopf einer Schlange... "

Mrs. Keogh machte einen Schritt in Richtung Tür und zuckte die Achseln.

"Ist mir noch nicht aufgefallen", behauptete sie. "Aber Barry ist früher zur See gefahren. Vielleicht hat er sich damals irgend etwas in den Arm ritzen lassen. Solche Tätowierungen bekommt man ja auch nie wieder weg!"

Mrs. Keogh war auf einmal von einer seltsamen Unruhe befallen. Sie schien nicht länger über diese Sache reden zu wollen - aus welchem Grund auch immer. Jedenfalls ging ihr Blick zur Uhr an ihrem Handgelenk und dann sagte sie: "Ich muss jetzt dringend in die Küche! Sonst wird mein Kuchen nichts!"

Und damit war sie dann auch schon weg.

Sara hörte, wie sie die knarrende Treppe hinunterlief. Die junge Frau ging zur Tür, die von Mrs. Keogh nicht richtig geschlossen worden war und nun einen Spalt offen stand.

Sara sah hindurch.

Allzu wichtig schien der alten Dame der Kuchen nicht zu sein, denn anstatt direkt in die Küche zu gehen, unterhielt sich flüsternd und ziemlich aufgeregt mit ihrem Mann im Flur.

Mrs. Keogh wedelte dabei aufgeregt mit den Armen.

Zu dumm, dass man nichts verstehen kann!, ging es Sara durch den Kopf.

Kein Zweifel, die alte Dame wusste mehr, als sie preiszugeben bereit war. Es war auch schwer vorstellbar, dass irgend etwas in der Umgebung geschah, ohne dass sie früher oder später davon hörte...


*


Zunächst packte Sara ihre Sachen aus und verstaute sie in den Schränken. Es war mehr als Platz genug für ihre paar Sachen vorhanden.

Dann ging sie hinunter ins Esszimmer, das gleichzeitig eine Art Aufenthaltsraum war.

Die Einrichtung war nicht nur altmodisch, sie war auch alt.

Die hölzernen Armlehnen der zierlichen Sessel waren von jahrzehntelanger Benutzung verkratzt. In den Vitrinen befand sich das Geschirr. Und wo noch Platz an den Wänden war, hingen riesige, romantische Bilderschinken, wie Sara sie von Londoner Flohmärkten her kannte. Landschaften mit grünen Hügeln, Segelschiffe in tosender See.

Hinter einer ausgebreiteten Zeitung verborgen saß Mr. Keogh. Er hatte eine Tasse Tee neben sich stehen und senkte die Zeitung, als er Sara bemerkte.

"Wünschen Sie irgend etwas?", fragte er mit leiser, zurückhaltender Stimme. "Wenn Sie wollen, dann schenke ich Ihnen eine Tasse Tee ein."

Sara zuckte die Achseln. Warum eigentlich nicht?, dachte sie. Vielleicht konnte sie etwas erfahren.

"Gerne, Mister Keogh", sagte sie daher und setzte sich auf einen der zierlich wirkenden Sessel. Ihr Blick ging durchs Fenster. Draußen hatten sich die Wolken verzogen und der Sonne platzgemacht, die um diese Tageszeit jedoch schon recht milchig geworden war.

Mr. Keogh stand auf, ging zu einem der Schränke hin, öffnete ihn und holte eine Tasse. Er stellte sie vor Sara auf den Tisch und goss ihr Tee ein.

"Zucker?", fragte er.

"Nein, danke."

Mr. Keogh setzte sich wieder. Er bewegte sich dabei mit ausgesuchter Langsamkeit. Er faltete seine Zeitung sorgfältig zusammen und musterte dann Sara aufmerksam. "Ihr Name ist Norwood, nicht wahr?", vergewisserte er sich.

Sara nickte. "Ja. Warum fragen Sie? Haben Sie den Namen in letzter Zeit vielleicht schon einmal in anderem Zusammenhang gehört?"

"Nun..." Er wandte den Blick zur Seite, aber Sara ließ nicht locker.

"Jack Norwood. Das war der Name."

"Es hat hier einen Mann mit diesem Namen gegeben", gab Mr. Keogh dann zu, während er seine Teetasse zum Mund führte. Seine Hand zitterte ein wenig. "Die Sache stand in der Zeitung. Wissen Sie, Gwenderon ist nicht gerade eine Großstadt und die Sache hat hier viel Wirbel gemacht. Sie können sich das sicher vorstellen... Sind Sie mit Jack Norwood verwandt?"

"Ich bin seine Schwester."

Mr. Keogh nickte leicht.

Er schien sich etwas in der Art schon gedacht zu haben. Der Name Norwood war zwar alles andere als ungewöhnlich, aber es wäre ein zu großer Zufall gewesen, wenn keinerlei Verbindung bestanden hätte.

Mr. Keogh hüstelte etwas verlegen. "Dann brauche ich Ihnen sicher nicht zu sagen, was mit Ihrem Bruder geschehen ist..."

"Die Polizei hat es mir gesagt. Er starb an einem Schlangenbiss - unter mehr als merkwürdigen Umständen."

Mr. Keogh zuckte die Achseln.

"Mein Beileid, Miss Norwood."

"Danke."

"Sie sind wegen der Sache mit Ihrem Bruder hier, nicht wahr? Ich schlage vor, Sie sprechen mit Jim O'Grady, der die hiesige Polizeistation leitet, wenn Sie irgend etwas wissen wollen. Sie müssen allerdings bis Ennis fahren, das sind 5 Meilen."

"Haben Sie meinen Bruder gekannt?", hakte Sara nach.

"Gekannt?" Mr. Keoghs Stimme bekam auf einmal einen merkwürdigen Unterton.

Er hob die Schultern und verdrehte die Augen. Dann strich der hagere Mann sich mit einer fahrigen Geste eine Strähne seines grauen Haars zurück. "Nein", sagte er. "Gekannt nicht. Er war ein Fremder. Seinen Namen erfuhr ich erst aus der Zeitung."

"Ich verstehe..."

"Eine traurige Geschichte..."

"Wissen Sie, wo dieses Cottage liegt, wo man ihn gefunden hat?"

Mr. Keogh nickte.

"Sicher. Das war das alte Haus von O'Hare, das schon seit zwanzig Jahren nicht mehr bewohnt ist - seit O'Hare starb. Wenn Sie in westlicher Richtung aus der Stadt fahren müssen Sie einfach immer geradeaus. Zwei Meilen vielleicht, dann sehen Sie es links. Ist ein bisschen heruntergekommen, aber eigentlich ein schönes Haus. Wundert mich, dass niemand es mehr haben wollte..."

"Was ist mit der Schlange?", fragte Sara.

Mr. Keogh blickte auf.

"Welche Schlange?"

"Die, an deren Biss mein Bruder gestorben ist. Ist sie inzwischen aufgetaucht?"

Er schüttelte den Kopf.

"Nein. Aber ich glaube auch nicht, dass so ein Tier hier in freier Wildbahn überleben könnte. Schon gar nicht zu dieser Jahreszeit! Wir haben es im Moment nämlich recht kühl, nachts! Und ein kaltblütiges Reptil..."

"Mein Bruder hatte ein Amulett bei sich, als er starb. Ein Amulett mit einen Schlangenkopf. Haben Sie irgendeine Ahnung, was das bedeuten könnte? Barry, der Taxifahrer hat einen solchen Schlangenkopf auf dem Unterarm..."

"Nein..."

"Das ist der Gott eines uralten Kultes. Ktor..."

Bei der Nennung des Namens schluckte Mr. Keogh. Er schien etwas darüber zu wissen, das war überdeutlich. Der alte Mann schien innerlich hin und her gerissen zu sein. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet.

Er schluckte abermals. Dann rutschte er in seinem Sessel nach vorn und beugte sich näher zu Sara hinüber. Seine Stimme klang gedämpft, so als befürchtete er, dass irgendwer ihn hören könnte.

"Miss Norwood, hören Sie... Ich muss Sie warnen..."

In diesem Moment schnitt ein Geräusch wie ein Messer durch die Stille.

Jemand hatte die Tür geöffnet, deren Scharniere wohl nicht mehr richtig geölt waren.

Mr. Keogh schwieg abrupt und blickte wie gebannt in den Türrahmen. Dort stand niemand anderes als Mark Leyland. Er lächelte Sara gewinnend an.

"Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört", meinte er.

"Durchaus nicht!", beeilte sich Mr. Keogh.

"Ich habe vor, ein bisschen in der Gegend herumzufahren!", sagte Mark an Sara gewandt.

Saras Blick blieb an Mr. Keogh haften, aber der machte keinerlei Anstalten, mit dem, was er eigentlich hatte sagen wollen fortzufahren. Stattdessen erhob er sich und wollte sich in Richtung Küche davonmachen.

"Mr. Keogh, vielleicht sollten wir ein anderes mal weiterreden", schlug Sara vor.

Keogh drehte sich herum und zuckte verlegen die Schultern.

"Oh, ich hatte Sie eigentlich nur noch fragen wollen, ob Sie heute Abend noch etwas essen wollen, Miss Norwood."

Und damit war er auch schon verschwunden.


*


"Haben Sie Lust, mich zu begleiten?", drang Mark Leylands Stimme in ihr Bewusstsein. Sara drehte sich zu ihm herum. Ihre Blicke trafen sich. Gerade noch war sie ziemlich wütend auf ihn gewesen, aber irgendwie konnte sie ihm nicht richtig böse sein.

Sein Lächeln war einfach zu charmant.

"Wo soll's denn hingehen?", fragte sie.

Mark zuckte die Achseln.

"Ich bringe Sie, wohin Sie wollen!", lachte er. "Meinetwegen ans Ende der Welt!"

Sara erwiderte sein Lächeln.

"Sind wir da nicht schon?"

"Wie man's nimmt!" Mark zuckte die Schultern.

Sara runzelte indessen die Stirn und fragte plötzlich.

"Welchen Wagen nehmen wir denn eigentlich?"

"Den roten Land Rover, der vor dem Haus steht!" Er deutete aus dem Fenster. "Ich habe mir aus Ennis einen Leihwagen hier herbestellt..."

Sara staunte nicht schlecht. "Sie scheinen Ihre Reise hier her außerordentlich genau geplant zu haben!", stellte sie fest.

Mark lachte und zeigte dabei zwei Reihen makellos blitzender Zähne. "Ich weiß ganz gerne, was mich erwartet!", erklärte er dann dazu.

"Klingt etwas langweilig", versetzte Sara neckisch.

Mark hob die Augenbrauen und lachte.

"Wenn ich anders wäre, müssten Sie jetzt zu Fuß gehen, wenn Sie die Gegend erkunden wollten!"


*


Ein Mann mit Humor!, dachte Sara. Das gefiel ihr an ihm.

Sara holte noch eine Jacke, während Mark Leyland im Land Rover auf sie wartete.

Sara war etwas außer Atem, als sie sich auf den Beifahrersitz des Land Rovers schwang. Es war recht neues Fahrzeug und sogar mit einem Funktelefon ausgerüstet.

"Die frische Gesichtsfarbe steht Ihnen gut", lachte Mark.

"Sehr witzig!"

"Wohin fahren wir?"

"Dorthin!", bestimmte Sara und deutete mit der Hand nach Westen.

Mark zuckte die Achseln und ließ den Motor an. "Sie scheinen zu wissen, was Sie wollen!", musste er feststellen.

"Worauf Sie sich verlassen können!"

Der Rover fuhr die Straße entlang. Saras Blick glitt die alten, etwas verwittert wirkenden Steinhäuser entlang, die wie an einer Perlenkette aufgereiht dalagen.

"Der hat wohl auch nichts zu tun!", hörte sie Mark sagen, der nach vorne deutete. In einiger Entfernung befand sich Barrys Taxi am Straßenrand. Barry stand wild gestikulierend da und unterhielt sich mit ein paar anderen Männern. Als er den Land Rover bemerkte, drehte er sich herum. Für einen kurzen Moment traf sich sein Blick mit dem Saras. Dann war der Rover vorbeigefahren, aber Sara spürte förmlich die Blicke, die ihnen nachgesandt wurden. Auf einmal begann sie sich unbehaglich zu fühlen.

"Haben Sie ein bestimmtes Ziel im Auge?", fragte Mark mit einer gewissen Portion Spott in der Stimme.

"Lassen Sie sich überraschen - auch wenn Sie keine Überraschungen mögen!", gab Sara zurück.

Es war genau so, wie Mr. Keogh ihr es beschrieben hatte.

Die Straße ging Richtung Westen aus der Stadt. Die letzten Häuser ließen sie hinter sich.

Und dann, nach gut zweieinhalb Meilen tauchte auf der rechten Seite ein Cottage auf. Das Haus war malerisch gelegen, wenn auch offenbar nicht besonders gepflegt - wenn man nach dem Zustand des Daches ging.

Sara deutete mit der Hand.

"Können wir dort mal anhalten?"

"Kein Problem."

Mark bog in einen kleinen unbefestigten Feldweg ein, der direkt zu dem Cottage hinführte.

Wenn es einmal mehrere Tage hintereinander regnete, war hier sicher kaum noch ein Durchkommen. Aber zur Zeit war der Weg fest genug. Der Land Rover humpelte durch die Schlaglöcher, bis Mark schließlich den Wagen anhielt.

Sie stiegen aus.

"Sieht verlassen aus", stellte Sara fest.

Sie sprach dabei mehr zu sich selbst, als zu Mark. Ein seltsamer Schauder erfasste sie. Hier war es also. Hier war jener Ort, an dem ihr Bruder auf rätselhafte und wie es schien ziemlich entsetzliche Weise ums Leben gekommen war.

Sie fröstelte und spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

"Sagen Sie bloß, Sie interessieren sich für irische Cottages!", hörte sie Mark sagen, aber sie gab ihm keine Antwort.

Stattdessen ging sie auf das Gebäude zu. Es machte einen sehr alten Eindruck. Älter noch, als die Häuser in Gwenderon selbst.

Sara blickte durch eines der Fenster ins Innere.

Sie blickte in ein uraltes Schlafzimmer, das wohl schon seit vielen Jahren von niemandem mehr benutzt worden war. Das Bett war nicht bezogen. Und an der Wand hing ein dreißig Jahre alter Kalender, dessen Papier inzwischen vergilbt war.

Dann spürte Sara plötzlich, wie zwei kräftige Hände sie bei den Schultern fassten.

Es war Mark.

"Wollen Sie sich mal drinnen umsehen?", fragte er sie.

"Ich weiß nicht..."

"Wie Sie schon richtig festgestellt haben, wohnt hier niemand. Und das wohl schon seit vielen Jahren. Warum sollten wir also nicht einen Blick hinein werfen?"

"Was interessiert Sie denn an dem Cottage?", fragte Sara erstaunt. Seine Hände berührten noch immer ihre Schultern und diese Berührung hatte etwas Elektrisierendes an sich.

Jetzt ließ er sie los zuckte die Achseln. "Vielleicht werde ich mir ein solches Haus kaufen. Schließlich gefällt mir die Gegend hier ", sagte er leichthin. "Und da dieses leersteht... Wer weiß, vielleicht steht es zum Verkauf."

"Und wie wollen Sie hineinkommen?"

Mark grinste sie schelmisch an.

"Wir finden schon einen Weg!"

Er führte sie mit sich und wenig später standen sie vor der Haustür. Mark drückte die Klinke hinunter, aber die Tür war abgeschlossen.

"Gehen wir, Mark", meldete sich Sara zu Wort.

"So schnell wollen Sie aufgeben? Haben Sie eine Haarnadel, Sara?"

"Ja."

"Dann geben Sie sie mir!"

Sara griff sich an ihre Frisur und holte eine Nadel heraus, die sie Mark gab. Und dieser begann daraufhin, damit in dem rostigen Schloss herumzustochern, das aussah, als würde es jeden Moment zu Staub zerfallen.

Dann ließ sich die Tür öffnen. "Na bitte!", war Mark zu vernehmen. Vorsichtig öffneten sie die Tür und betraten das Cottage.

Sara musste unwillkürlich nach Luft schnappen, als sie ihren ersten Atemzug machte.

Es roch nach Moder und Fäulnis.

Auf den hölzernen Schränken war eine dicke Staubschicht, ebenso auf den Bildern, die an der Wand hingen. Sara umrundete einen klobigen und von Motten und Ratten halb zerfressenen Ohrensessel und blieb dann unwillkürlich stehen.

Ihr stockte der Atem.

Auf dem Boden war eine schon fast verblasste Kreidezeichnung zu sehen. Es waren die Umrisse eines Menschen. Jack!, ging es Sara durch den Kopf. Sie musste die Tränen unterdrücken.

Hier hatte die Polizei ihn also gefunden.

"Was ist los mit Ihnen?", fragte Mark, dessen hoch aufragende Gestalt jetzt neben ihr aufgetaucht war. "Sie sehen kalkweiß aus, Sara..."

Aber Sara gab keine Antwort.

Sie stand schweigend da. Ihr Blick schweifte über die staubigen Möbel und die feuchten Wände, an denen der Schimmel emporkroch. Wonach suche ich eigentlich?, hämmerte es in ihrem Innern.

Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie wusste nicht, was sie zu finden hoffte. Irgend etwas musste es doch geben, was sie weiterbringen konnte. Irgend etwas, und wenn es nur eine Kleinigkeit war...

Sara ging ins Schlafzimmer.

Das Bett schien seit Urzeiten nicht gebraucht worden zu sein. Es war nicht bezogen. Auf dem Nachttisch und der Kommode befand sich eine dicke Staubschicht.

Was hatte Jack in diesem Haus zu suchen gehabt?

Eine Frage, auf die es eine Antwort geben musste.

Ihr Blick glitt durch den Raum.

"Ist lange niemand hier gewesen", hörte sie hinter sich eine Stimme und wirbelte herum. Mark Leyland war ihr gefolgt, ohne dass sie ihn bemerkt hätte. Wahrscheinlich war sie zu sehr in Gedanken gewesen.

Mark hob die Hände.

"Verzeihung!", sagte er. "Ich wollte Sie nicht erschrecken, Sara."

Ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen. "Ist schon gut", meinte sie. "Es ist nur so..." Sie brach ab.

Mark Leyland hob interessiert die Augenbrauen. Der Blick seiner blauen Augen fixierte sie.

"Was?", hakte er nach.

"Nichts", murmelte Sara.

Und dann veränderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Züge wandelten sich zu einer Maske des Schreckens. Ihr Blick ging über Mark hinweg zu dem hölzernen Sturz über der Tür zum Schlafzimmer. Die Staubschicht war auch dort ziemlich dick, aber nicht genug, um das Symbol erkennen zu können, das dort hineingeschnitzt worden war.

Das Symbol einer Schlange.


*


Das Geräusch eines herannahenden Wagens ließ sie beide für einen Moment erstarren. Sie konnten hören, wie die Türen aufgingen und wieder ins Schloss geworfen wurden.

Mark verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Scheint, als würden wir Besuch bekommen!", stellte er fest, während sie das Schlafzimmer wieder verließen.

"Wer kann das sein?", fragte Sara.

Mark zuckte die Achseln.

"Ich habe genauso wenig eine Ahnung wie Sie. Vielleicht gefällt es jemandem nicht, das wir hier einfach eingedrungen sind."

"Was sollen wir machen? Einfach abwarten, bis sie weg sind?", war Saras Vorschlag.

Aber Mark schien davon nicht so begeistert zu sein. Er schüttelte energisch den Kopf.

"Die haben längst den Wagen gesehen. Das hat keinen Sinn."

Sara seufzte.

Sie sah ein, dass Mark recht hatte. Sie gingen vorsichtig zur Haustür, die einen Spalt offenstand. Sara blickte hinaus.

Ein paar Männer waren bei dem Land Rover und blickten ziemlich finster drein.

Einen von ihnen erkannte Sara sofort.

"Da ist Barry, der Taxifahrer", flüsterte sie. Der Gedanke war absurd, aber Barry schien ihnen beiden gefolgt zu sein.

Ganz so, als ob er geahnt hätte, wo sie hinfuhren...

Mark öffnete die Tür.

Sie gingen hinaus und die Männer drehten sich herum. Sie waren zu viert.

"Hallo, Barry", sagte Sara mit einem etwas dünn geratenen Lächeln. Barry erwiderte es nicht.

"So schnell sieht man sich wieder...", zischte Barry und verschränkte die Oberarme vor der Brust. Sein Blick wanderte schnell zwischen Mark und Sara hin und her, dann fragte er ziemlich barsch: "Was haben Sie hier zu suchen?"

"Das Haus gefiel uns", sagte Mark. "Es scheint leerzustehen und schon seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt zu sein."

"...und da dachten wir, dass wir es uns mal anschauen könnten!", ergänzte Sara eilig.

Barrys Gesicht blieb unbewegt.

"So, dachten Sie...", echote er auf eine Weise, die deutlich machte, dass er nicht eine einzige Silbe von dem glaubte, was ihm da erzählt wurde.

"Ja, so war es", nickte Mark. "Und zufällig stand die Tür auf und da dachten wir...."

"Hören Sie beide gut zu!", fuhr Barry ziemlich unwirsch dazwischen. Dabei wirbelte sein ausgestreckter Zeigefinger wie eine Messerklinge in die Höhe und deutete auf Mark. "Wir mögen Leute nicht, die überall herumschnüffeln und unbefugt in fremde Häuser eindringen! Haben Sie mich verstanden? Genießen Sie Ihren Urlaub hier, atmen Sie die gute Luft und sehen Sie sich die schöne Landschaft an, aber tun Sie so etwas nie wieder!" Und während er das sagte, deutete er zum Haus hin.

"Es war nicht unsere Absicht, irgendwen zu stören", sagte Mark. Sara fühlte seinen Griff um ihrem Arm. Er wollte sie offenbar mit sich ziehen und in dieser Sache klein bei geben.

Aber damit war Sara nicht einverstanden.

"Einen Moment noch!", sagte sie und fixierte Barry mit ihrem Blick. Sie konnte sich nur wundern, wie aus diesem freundlichen, fast leutseligen Taxifahrer so schnell ein unduldsamer Mann geworden war, der ganz ungeniert Drohungen über die Lippen brachte.

Dadurch, dass jemand sich für diesen Ort interessierte, schienen diese Männer aufgescheucht worden zu sein. Auch das musste einen Grund haben.

"Was haben Sie mit diesem Haus zu tun, Barry?", fragte Sara. "Gehört es Ihnen? Oder warum regen Sie sich so auf?"

"Hier achtet jeder auf das Eigentum des anderen", erwiderte Barry kalt. "Wir halten hier alle zusammen, wenn Sie wissen was ich meine..." Sara konnte sich vorstellen, was er meinte.

Sie würde hier auf eine Wand treffen, wenn sie versuchte, den Tod ihres Bruders aufzuklären. Auf eine Wand des Schweigens und des Schreckens...

Aber Sara war wild entschlossen, sich dadurch nicht einschüchtern zu lassen. "Mein Bruder - Jack Norwood - wurde in diesem Haus ermordet. Die Kreidezeichnung, die die Lage seiner Leiche markierte, ist noch zu sehen! Man fand bei ihm ein Amulett mit dem Kopf einer Schlange! Und Sie tragen das gleiche Bild auf dem Unterarm, Barry! Können Sie mir das erklären?"

Barrys Gesicht wurde zu einer finsteren Maske.

Aber ehe er etwas sagen konnte, hatte Mark Sara untergehakt. "Besser wir gehen, Sara."

"Ich will eine Antwort! Kannten Sie meinen Bruder?"

"Bitte Sara!"

Jetzt meldete sich einer der anderen Männer zu Wort. Er war schon etwas älter und hatte kaum noch ein Haar auf dem Kopf.

Dennoch machte er einen recht kräftigen Eindruck und mit seiner wettergegerbten, faltigen Haut wirkte er wie aus einer anderen Zeit.

"Ja, wir kannten Ihren Bruder, Miss Norwood", sagte der Alte mit glasklarer Stimme. "Wissen Sie, Ma'am, es gibt Mächte zwischen Himmel und Erde, mit denen man sich besser nicht anlegen sollte! Aber Ihr Bruder wollte davon nichts wissen! Er glaubte, er könne es mit jenen Wesen, aufnehmen, die älter sind, als die Menschheit, die das Universum schon vor Äonen bevölkerten..."

"Gehen wir", raunte Mark Sara ins Ohr. Sie spürte seine Berührung an ihrer Schulter. Aber sie wollte nicht gehen.

"Sie sprechen von Ktor, dem Schlangengott", stellte Sara fest. Und ihr schlug dabei das Herz bis zum Hals.

Die Stimme des Alten hatte plötzlich eine geradezu donnernde Gewalt, als er ihr seine Erwiderung

entgegenschleuderte.

"Sprechen Sie diesen Namen nie wieder aus, Sara Norwood. Sie könnten es nicht nur mit dem Leben bezahlen - sondern auch mit ewiger Verdammnis für Ihre Seele..."

Es war eine unverhohlene Drohung.

Vielleicht hatte man Jack auf ähnliche Weise gedroht, ohne dass er darauf gehört hatte.

Die vier Männer kamen näher.

Jetzt endlich gab Sara Marks Drängen nach und sie gingen zu dem abgestellten Land Rover. Die Männer kamen langsam hinter ihnen her. In ihren Gesichtern stand ein seltsamer Glanz.

Mark startete den Rover und setzte zurück. Die Räder drehten in dem weichen, etwas morastigen Boden zunächst etwas durch, dann fuhren sie den Feldweg zurück zur Hauptstraße.

"Ich dachte immer, alle Iren wären trinkfest, leutselig und freundlich", meinte Mark, als sie wieder auf dem Weg nach Gwenderon waren. "Ich scheine mich geirrt zu haben."

Sara blickte zu dem Mann, der neben ihr am Steuer des Landrovers saß. Sie sah sein klassisches Profil und den freundlichen, sympathischen Zug, der um seine Mundwinkel herum zu finden war.

"Es tut mir leid, dass ich Sie da in etwas hineingezogen habe, Mark..."

"Halb so wild", erwiderte Mark und zuckte dabei die Schultern. Dann fragte er plötzlich: "Bei der hiesigen Polizei waren Sie noch nicht, nicht wahr?"

"Nein. Alles was ich weiß kommt von einem Sotland Yard-Beamten in London und eigenen Nachforschungen."

"Woran starb Ihr Bruder genau?"

Sara zögerte kurz, bevor sie antwortete. Er hatte eine unauffällige, aber sehr wirksame Art und Weise, einen auszufragen. Aber warum sollte sie sich dagegen wehren?

Vielleicht war es das beste, sich jemandem anzuvertrauen.

Und wer war dazu besser geeignet, als ein Mann wie Mark Leyland, der ein Fremder war und mit der Sache mit Sicherheit nichts zu tun haben konnte.

Also erzählte sie ihm alles, was sie bisher wusste. Allzu viel war das ja nicht, und das meiste davon hatte Mark ja gerade ohnehin bereits mitbekommen. aber es bedeutete irgendwie eine Erleichterung für sie, diese Dinge bei jemandem loswerden zu können.

"Sie sahen mir von Anfang an nicht wie eine gewöhnliche Urlauberin aus", sagte Mark dazu.

"Ach, nein?"

"Nennen Sie es Intuition, Sara."

Er sah sie an und der Blick seiner blauen Augen ließ sie unwillkürlich schlucken. Sie hatte sich verliebt, das wurde ihr mehr und mehr klar. Auch wenn sie noch zögerte, sich das selbst einzugestehen. Auf die Dauer hatte es wenig Sinn, das zu leugnen.

"Fahren Sie mich nach Ennis?", hörte sie sich selbst etwas später sagen.

Er zog die Augenbrauen in die Höhe. "Wieso?", fragte er ein wenig irritiert.

"Um zur Polizeistation zu gehen."

"Glauben Sie, da ist um diese Zeit noch jemand?"

"Könnte doch sein!"

Er lachte und zeigte dabei seine beiden Reihen makellos weiß blitzender Zähne. "Wir werden es nur herausfinden, wenn wir hinfahren. Viel Zeit verlieren damit auch nicht selbst wenn wir niemanden antreffen!"

Sie nickte.

"Stimmt!"

"Sie haben Mut, Sara!"

"So?"

"Ja."

"Na, wenigstens gibt es hier einen, der mich nicht gleich vertreiben will und mir irgendwelche düsteren Drohungen entgegenschleudert!"

Mark nahm ihre Hand.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie schweißnass war. Die ganze Sache hatte ihr doch mehr zugesetzt, als sie sich zunächst hatte eingestehen wollen.

"Ich mochte Sie vom ersten Augenblick an, Sara. Ich weiß nicht warum, aber Sie waren mir einfach sympathisch und ich es würde mich freuen, Sie näher kennenzulernen..."

Ein mattes Lächeln ging über Saras feingeschnittenes Gesicht. Mit der Rechten strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht.

"Warum nicht?", war ihre Erwiderung.


*


Als sie in Ennis ankamen, hatte sich längst die Dämmerung wie grauer Spinnweben über das von grünen Hügeln beherrschte Land gelegt. Sie fragten einen Passanten nach dem Weg, der ihnen erklärte, wie sie am schnellsten Zur Polizeistation kamen.

Mark Leyland hielt den Wagen am Straßenrand an und stellte den Motor ab.

Aber er machte keinerlei Anstalten auszusteigen.

"Wollen Sie nicht mitkommen, Mark?"

"Nein."

Er schüttelte energisch den Kopf.

"Warum nicht?"

"Ich werde hier auf Sie warten, okay?"

"Gut."

Sara stieg aus. In der Station war ein Beamter namens O'Grady, ein Mann in den mittleren Jahren. Mr. Keogh hatte ihn erwähnt. Seine Schläfen waren grau geworden und die Uniformjacke, die er trug, hatte früher sicher großzügiger gesessen.

Sara machte keine Umschweife, sondern sagte gleich, wer sie war und was sie wollte. "Ich möchte wissen, ob Sie inzwischen irgend etwas herausgefunden haben, was Licht in diese Sache bringen könnte", erklärte sie mit großer Bestimmtheit.

"Das mit Ihrem Bruder tut mir sehr leid, Miss Norwood", sagte O'Grady gedehnt. Er bot Sara einen Platz an - einen harten, unbequemen Stuhl. Andere Sitzgelegenheiten gab es in diesem recht spartanisch eingerichteten Polizeibüro nicht.

Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Aktenordner. Und die Schreibmaschine sah aus, als wäre sie ein Museumsstück.

"Sie werden verstehen, dass ich unbedingt wissen möchte, was geschehen ist!"

"Natürlich, das kann ich gut verstehen. Und Sie sind bei mir auch an der richtigen Adresse. Ich war zwar gerade nicht im Dienst, als man den Toten fand, bin aber der Leiter dieser Polizeistation und daher über alles informiert. Leider bleibt der Tod Ihres Bruders rätselhaft. Und da es keinerlei Zeugen gibt, die irgend etwas brauchbares aussagen könnten, sehe ich auch kaum Chancen, jemals aufzuklären, was wirklich geschehen ist."

"Jack wurde in dem unbewohnten O'Hare-Haus gefunden. Von wem eigentlich?", hakte Sara nach.

Die behutsame Art des Polizisten war zwar recht höflich, aber ihr ging das ganze entschieden zu langsam. Sie wollte Informationen, kein Mitleid.

"Von einem Landstreicher, der in dem Haus übernachten wollte. Andernfalls hätte es noch lange dauern können, ehe man den Tod Ihres Bruders überhaupt entdeckt hätte."

"Könnte ich mit dem Mann mal sprechen?"

O'Grady schüttelte den Kopf. "Nein, Miss Norwood, der ist längst über alle Berge."

"Jack starb an einem Schlangenbiss, nicht wahr?"

"Das sagt das gerichtsmedizinische Gutachten, ja. Aber auch das hat uns nicht weitergebracht. Es gibt weit und breit niemanden, der eine Giftschlange hält. Wir haben das überprüft."

"Er trug ein Amulett um den Hals, als man ihn fand", stellte Sara fest. "Es stellt Ktor, den Schlangengott eines uralten Kultes dar... Ist Ihnen darüber irgend etwas bekannt?"

O'Grady zögerte. Und dieses Zögern war gerade lang genug, um bei Sara ein ungutes Gefühl in der Magengegend zu erzeugen. Sie hatte das Gefühl, dass alle um sie herum über Dinge Bescheid wussten, die nur ihr verborgen bleiben sollten.

Eine Mauer aus Schweigen und Abwehr umgab sie, wohin sie sich auch wandte.

"Nein" sagte O'Grady schließlich, etwas gedehnter. "Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, was Sie da sagen."

Aber Sara ließ nicht locker. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und beugte sich über den unaufgeräumten Schreibtisch des Polizisten.

"Gibt es in dieser Gegend vielleicht Anhänger irgendwelcher Sekten oder dergleichen? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich solche Gemeinschaften in die Einsamkeit zurückziehen..."

O'Gradys Stimme bekam jetzt einen eisigen Unterton, der Sara nicht entging.

"Glauben Sie nicht, dass ich davon wüsste, Miss Norwood?", erwiderte er.

Sara atmete tief durch. Was sollte sie tun? "Für Sie ist der Fall abgeschlossen, nicht wahr?"

O'Grady sah sie offen an. "Wenn ich ganz ehrlich sein soll: ja! So leid mit das für Sie tut. Aber ich mache meinen Job nun wirklich schon einige Jahre und da muss man wohl oder übel damit umzugehen lernen, dass es Fälle gibt, die nicht aufzuklären sind."

"Ich wurde unverhohlen von ein paar Männern bedroht, die im Gegensatz zu Ihnen ganz genau wussten, wovon ich rede!", sagte Sara jetzt. Aber O'Grady schien das nicht weiter zu rühren.

"Ach, Sie sprechen von Barry O'Hines und dem alten McSweeny nehme ich an."

Sara wurde blass und wich unwillkürlich etwas zurück.

"Woher wissen Sie....?"

Auf dem Gesicht von O'Grady erschien ein breites, etwas verkrampftes Lächeln. "Die beiden haben hier angerufen. Waren ziemlich ungehalten darüber, dass Sie einfach in das O'Hare-Haus eingedrungen sind." O'Grady sah Sara streng an.

In seinen Augen stand ein Funkeln, das ihr nicht gefiel. Ein Frösteln überkam Sara und sorgte dafür, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten und eine Gänsehaut ihren Körper überzog. "So etwas macht man ja auch nicht, oder?", fuhr O'Grady dann fort. "Ich habe die beiden davon abhalten können, gegen Sie und Ihren Begleiter eine Anzeige wegen Einbruchs in die Wege zu leiten. Schließlich sind Sie gewissermaßen in einer Ausnahmesituation. Ihre Nerven liegen blank. Aber tun Sie so etwas nicht noch einmal."

Sara nickte leicht.

Von diesem Polizisten hatte sie keine Hilfe zu erwarten.

Und es wunderte sie auch nicht, dass O'Grady bislang nicht allzu viel über Jacks Tod herausgefunden hatte. Er wollte es gar nicht - aus welchen Gründen auch immer.

"Ich verstehe, Mr. O'Grady", murmelte Sara.

"Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann lassen Sie Ihren toten Bruder in Frieden Ruhen..."


*


Sara fühlte sich wie betäubt, als sie ins Freie trat.

Sie hatte das Gefühl, in einen bösen Alptraum geraten zu sein. Es war dunkel geworden. Nur die wenigen Straßenlaternen spendeten etwas Licht. Nebel war vom Meer her aufgezogen und tauchte die ganze Stadt Ennis in ein gespenstisches Licht.

Sara ging die wenigen Meter bis zum Land Rover den Bürgersteig entlang.

Und dann sah sie, dass sich niemand mehr im Wagen befand.

Von Mark Leyland war keine Spur zu sehen.

Sara seufzte und sah sich um. Sie konnte Mark nirgends entdecken. Ihr Griff ging zur Beifahrertür und sie stellte fest, dass sie nicht abgeschlossen war. Also setzte sie sich in den Wagen. Es wurde jetzt empfindlich kalt.

O'Gradys Worte hallten in ihrem Bewusstsein wider und sie fragte sich, was sie davon halten sollte.

Hier schien wirklich jeder jeden zu kennen. Sprach man mit einem, dann konnte man sich ebenso gut als Marktschreier betätigen. Es war gespenstisch...

Sie alle wissen etwas...

Für Sara gab es da kaum noch einen Zweifel.

Ktor...

Ein dunkel klingelnder Name, hinter dem ein düsteres Geheimnis verborgen zu sein schien.

Sie stellte ein wenig das Autoradio ein, um sich etwa abzulenken. Irische Volksmusik klang da aus den Lautsprechern heraus. Eine fröhliche, übermütige Geige führte die Melodie, dann wurde sie von einem Sänger abgelöst, dessen Stimme so klang, als wäre sie zunächst mit reichlich Ale gespült worden.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Sara plötzlich einen Schatten aus der Dunkelheit auftauchen. Die Wagentür ging auf und Sara atmete erleichtert auf.

Es war Mark.

In seinem Gesicht stand ein Zug, der so etwas wie Überraschung ausdrückte. Offenbar schien er nicht damit gerechnet zu haben, dass ihre Unterredung mit der Polizei so rasch zu Ende sein würde.

"Haben Sie etwas erfahren?", fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

"Nein."

Sie hatte irgendwie das Gefühl, dass ihn das nicht sonderlich überraschte.

"Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Sara, aber mir knurrt der Magen. Ich habe dahinten ein Fischrestaurant gesehen, das einen ganz passablen Eindruck macht. Was meinen Sie, ob wir da mal vorbeischauen?"

Sie sah ihn erstaunt an. Um seine Lippen stand ein charmantes Lächeln, dem man einfach nicht widerstehen konnte.

Und so erwiderte sie es.

"Warum nicht!"

"Gut."

Er ließ den Motor an und fuhr die wenigen Dutzend Meter die Straße entlang.


*


Während des Essens hatten sie nicht über Jack oder etwas, das mit seinem Tod zusammenhing gesprochen. Sara konnte nicht genau erklären, warum eigentlich nicht, denn sie hatte das Gefühl, dass Mark Leyland jemand war, dem man vertrauen konnte.

Es war einfach ein schöner Abend.

Sie erzählte viel über sich selbst, über ihre Arbeit, was sie mochte, worüber sie nachdachte. Und sie lachten viel. Der Wein, den sie zum Essen tranken, entspannte sie etwas.

Später gingen sie dann Arm in Arm hinaus in die Nacht. Es hatte angefangen zu nieseln, aber das machte ihnen nichts aus. Sie schlang die Arme um seinen Hals. Der Mond kam für kurze Zeit zwischen den Wolken hervor und sorgte für etwas Helligkeit. Sein Licht wirkte seltsam diffus.

Sie sahen sich an.

Keiner von ihnen sagte ein Wort, aber sie verstanden sich auch so. Der Kuss, der dann folgte, war zunächst vorsichtig und tastend, dann leidenschaftlich.

"Wir werden pitschnass, wenn wir hier noch länger stehenbleiben", sagte sie schließlich etwas atemlos, als sie sich voneinander gelöst hatten.

Seine kräftige Hand strich ihr zärtlich die Haarsträhnen zurück, die ihr ins Gesicht gerutscht waren.

Sara sah einen roten Fleck an Marks Wange und dachte mit Schrecken daran, was inzwischen wohl aus ihrem Make-up geworden war.

"Komm", sagte er und sie gingen zum Wagen.

Sie stiegen ein.

Sara fühlte sich leicht und beschwingt, als sie zurückfuhren. Das, was sie bei O'Grady auf der Polizeiwache erlebt hatte, war jetzt wie ein fernes, grollendes Echo im Hintergrund.

Während der Fahrt sagte keiner von ihnen etwas.

Sara bemerkte, wie müde sie war. Und der gleichmäßige Klang des Motors wirkte zusätzlich recht einschläfernd.

Mark parkte den Wagen vor dem Haus von Mr. und Mrs. Keogh.

"Ich möchte nicht, dass du irgendwelche Schwierigkeiten wegen mir bekommst", sagte sie zu ihm, bevor sie ausstiegen.

Aber Mark machte nur eine wegwerfende Geste.

"Ich bin nicht ängstlich", erwiderte er.

"Das habe ich auch nicht gemeint."

"Ich weiß."

Dann gingen sie ins Haus. Die Keoghs waren inzwischen wohl längst schlafen gegangen. Jedenfalls war keiner von ihnen zu sehen und im ganzen Haus war es dunkel.

Die Treppe, die nach oben führte, knarrte furchtbar und Sara zuckte bei jedem Schritt zusammen. Sie hoffte nur, dass die alten Leute nicht geweckt wurden.

Einen Augenblick später blieben sie vor Saras Zimmertür stehen. Ihre Blicke trafen sich und ein paar Sekunden später auch ihre Lippen.

Dann sagte Sara: "Gute Nacht, Mark. Es war ein schöner Abend. Trotz allem."

"Ja, das fand ich auch."

Sara öffnete die Zimmertür und wollte hineingehen, aber da spürte sie Marks kräftige Hand an ihrer Schulter.

"Sara..."

Sie wandte sich noch einmal halb herum und musste dabei ein Gähnen unterdrücken.

Sie lächelte mild.

"Ja?", fragte sie.

"Du solltest dir überlegen, ob es wirklich sinnvoll ist, in der Sache mit deinem Bruder weiter herumzubohren..."

Plötzlich war Sara wieder hellwach. Keine Spur mehr von Müdigkeit. Was waren das auf einmal für Töne?

"Wie kommst du jetzt plötzlich darauf?", fragte sie, sichtlich verwirrt.

"Du hast heute eine ziemlich eindeutige Warnung erhalten, Sara! Mehr als das! Das solltest du ernst nehmen. Es ist besser, wenn du die Aufklärung dieser Sache anderen überlässt..."

"Und wem zum Beispiel? Der Polizei etwa? Diesem O'Grady vielleicht, der von Barry gleich angerufen wurde, nachdem ich mir das O'Hare-Haus angesehen hatte?" Sara schüttelte entschieden den Kopf.

Er strich ihr über das Haar, aber dieselbe Berührung, die ihr zuvor noch wohlige Schauer über den Rücken gejagt hatte, verursachte jetzt eine Gänsehaut.

Unwillkürlich wich sie etwas zurück.

Sei vernünftig, Sara!, sagte sie sich selbst. Er kann nicht mit ihnen unter einer Decke stecken - wer immer sie auch sein mochten. Er war ein Fremder, zum ersten Mal hier in Gwenderon, so wie sie selbst.

"Ich bin nur in Sorge um dich, Sara", erklärte er, etwas erschrocken über ihre heftige Reaktion. "Mehr nicht. Ich bin natürlich auf deiner Seite..."

Wirklich?

Sie sprach es nicht aus, aber die Frage bewegte sie in ihrem Inneren.

Eine Bewegung in der Dunkelheit ließ sie beide herumfahren.

Sie blickten die Treppe hinab. Eine weiße Gestalt war da zu sehen, die fast geisterhaft aussah.

"Ich hatte Geräusche gehört", sagte die wohlvertraute Stimme von Mrs Keogh dann.

"Entschuldigen Sie, wenn wir zu viel Krach gemacht haben", sagte Mark etwas gereizt.

"Schon gut, schon gut. Ich kann sowieso schlecht schlafen und geistere des nachts oft durch das Haus", bekannte sie.

Mark wandte sich an Sara. "Gute Nacht", sagte er knapp und dann ging er den Flur entlang.

Sara machte Licht in ihrem Zimmer und schloss dann die Tür hinter sich. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander.

Gedankenverloren machte sie sich für die Nacht fertig.

Als sie dann schließlich das Bett zur Seite schlug, um sich darin fallenzulassen, stockte ihr schier der Atem. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Hand nahm sie vor den Mund, um zu verhindern, dass sie laut losschrie.

Namenlose Angst erfasste Sara und ließ einen eisigen Schauder durch ihren gesamten Körper fahren. Unter der Bettdecke lag nichts anderes, als ein Amulett mit dem Kopf des Schlangengottes Ktor. Und was das bedeutete, das wusste sie inzwischen.

Es war die Ankündigung ihres baldigen Todes...


*


Sara schlief in dieser Nacht traumlos und wie ein Stein.

Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer verriegelt, aber sicher fühlte sie sich deswegen noch lange nicht. Dennoch. Ihr Körper verlangte einfach seinen Tribut und der vergangene Tag war mehr als anstrengend gewesen.

Als die Strahlen der Sonne ihr ins Gesicht fielen und sie weckten, schreckte sie hoch und musste nach einem Blick auf die Uhr feststellen, dass es schon ziemlich spät war.

Elf Uhr.

Sie konnte von Glück sagen, wenn sie jetzt noch Frühstück bekam. So schnell es ging zog sie sich an und machte sich fertig. Dann fiel ihr Blick auf das Schlangenamulett, das sie am Abend zuvor auf ihren Nachttisch gelegt hatte.

Die roten Facettenaugen des Schlangengottes blickten sie mit eisiger Kälte an und sie hatte dasselbe unbehagliche Gefühl, das sie schon heimgesucht hatte, als sie so ein Amulett zum ersten Mal gesehen hatte - im Laden von T.K.Kline nämlich.

Jemand musste hier in ihrem Zimmer gewesen sein, um es ihr ins Bett zu legen. Und das bedeutete, dass Mr. und Mrs. Keogh etwas damit zu tun hatten, denn dass jemand ohne das Wissen der beiden ins Haus eindrang, um so etwas zu tun, war kaum vorstellbar.

Vielleicht waren sie es sogar selbst gewesen. In diesem Augenblick hielt Sara alles für möglich.

Mit dem Amulett in der Hand ging sie die Treppe hinab ins Esszimmer. Ihr Frühstücksgedeck war tatsächlich noch da. Mrs. Keogh war in der Küche beschäftigt und ihr Mann saß mit der Zeitung in der Hand in einem Sessel. Er sprang sofort auf, als er Sara sah.

"Guten Morgen", sagte er mit einem freundlichen, wenn auch recht gezwungen wirkenden Lächeln um die Lippen.

"Guten Morgen", erwiderte Sara. Sie blickte kurz aus dem Fenster und sah, dass der Land Rover nicht mehr da war. "Wo ist Mister Leyland?"

"Er ist heute schon in aller Frühe weggefahren", erklärte Mr. Keogh.

"Hat er zufälligerweise gesagt wohin?"

Der hagere alte Mann schüttelte entschieden den Kopf.

"Nein, Miss Norwood. Das hat er nicht. Ich nehme an, dass Sie Tee möchten, nicht wahr?"

"Ja."

Er ging eilig in die Küche zu seiner Frau.

Es dauerte nicht lange und er kam mit Tee, Eiern und gebratenem Speck zurück. Sara hatte indessen das Schlangenamulett gut sichtbar auf den Tisch gelegt. Mr. Keogh übersah es zunächst geflissentlich.

"Mr. Keogh, das habe ich gestern Abend in meinem Bett gefunden und ich frage mich, wie es dahinkommen konnte! Ich denke, dass Sie mir dafür eine Erklärung schuldig sind!"

Mr. Keogh bedachte Sara mit einem nachdenklichen Blick und holte tief Luft. Der alte Mann schien innerlich hin und hergerissen zu sein.

Dann setzte er sich zu Sara an den Tisch und beugte sich ziemlich weit zu ihr hinüber.

Seine Stimme hatte einen gedämpften, ängstlichen Klang.

Seine Augen trat weit hervor, so als hätte er große Furcht.

Jedes Wort, das über seine Lippen kam, schien ihm fast körperliche Schmerzen zu verursachen.

"Hören, Sie, Miss Norwood, ich beschwöre Sie!", begann er und rang mit den Armen dabei. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck der Verzweiflung. "Gehen Sie fort von hier, Miss!

Gehen Sie, solange Sie noch können!"

"Sie wissen, weshalb ich hier bin, Mr. Keogh. Ich will herausfinden, warum mein Bruder Jack sterben musste! Und solange ich nicht mehr darüber weiß, werde ich hierbleiben!"

"Jetzt geht es um Ihr Leben, Miss Norwood!", beschwor sie Mr. Keogh. "Dieses Amulett..."

"Wie kommt es in mein Bett?"

"Was spielt das für eine Rolle? Wer es bekommt, der stirbt. Das sollte Ihnen genügen! Fliehen Sie!"

"War es vielleicht dieser Barry?" Sara war nicht gewillt, jetzt lockerzulassen und so hakte sie unbarmherzig nach. "Schließlich trägt er diesen Schlangenkopf auf seinem Unterarm und geht hier bei Ihnen ein und aus..."

"Miss Norwood..."

"Was ist das eigentlich für ein Spiel, das her gespielt wird?"

Plötzlich ertönte die Stimme von Mrs. Keogh. Sie war aus der Küche getreten und sprach laut und klar. Ihre Augen fixierten Sara dabei.

"Ich habe das Amulett auf Ihr Bett gelegt!", gab sie zu.

Sara sah ziemlich erstaunt auf.

"Sie?"

Mrs. Keogh kam näher und rieb nervös die Hände aneinander.

"Ja."

"Aber - warum?"

"Weil ich keine andere Wahl hatte. Sie haben es so beschlossen und ich habe gehorcht. Wir sind alte Leute, was sollen wir tun? Barry kam vorbei und hat uns das Amulett gegeben. Und ich habe es dann in ihr Bett gelegt."

Sara schluckte.

"Wer sind sie?", fragte sie dann.

Die beiden alten Leute wechselten kurz einen Blick miteinander. Dann nickte Mrs. Keogh und ihr Mann sagte dann: "Genau wissen wir das auch nicht. Eine Sekte, eine geheime Vereinigung, ein Kult... Man kann es nennen wie man will. Jedenfalls sind diese Leute sehr mächtig hier. Zu mächtig, als das wir uns weigern könnten, eine ihrer Anweisungen nicht zu erfüllen."

"Und diese Leute haben Jack auf dem Gewissen", stellte Sara fest.

Eine kurze, unbehagliche Pause entstand.

"Keine Ahnung", erwiderte Mr. Keogh dann und zuckte dabei mit den Achseln. Er sah Sara nicht an, während er sprach.

"Viel mehr wissen wir auch nicht. Wir haben Ihnen auch schon viel zu viel gesagt..."

Und Mrs. Keogh ergänzte: "Kehren Sie nach London zurück."

"Ich glaube kaum, dass ich dort wirklich sicherer wäre...", erwiderte sie nachdenklich und mehr zu sich selbst als zu den beiden Keoghs. Dann sah sie Mr. Keogh fest an. "Wer ist der Anführer dieses Kultes? Und wo treffen sie sich?"

"Das wissen wir nicht", sagte Mr. Keogh.

Und seine Frau erklärte: "Wir können nicht mehr tun, als Sie zu warnen. Alles, was geschieht, wenn Sie hierbleiben, haben Sie sich selbst zuzuschreiben! Es wird niemanden geben, der dann noch etwas für sie tun kann..."


*


Als Sara nach dem Frühstück wieder hinauf in ihr Zimmer ging, fragte sie sich, was sie jetzt tun sollte.

Sie konnte sich an eine übergeordnete Polizeistelle wenden, die vielleicht etwas aufgeschlossener war, als dieser bornierte O'Grady. Aber was würde sie dadurch gewinnen? Es war kaum anzunehmen, dass man sie ernst nahm. Sie hatte genau genommen nichts in der Hand. Nichts, außer einem rätselhaften, todbringenden Amulett mit einen Schlangenkopf, das man ihr ins Bett gelegt hatte.

Und das, was Mr. und Mrs. Keogh ihr anvertraut hatten, war gewissermaßen nicht gerichtsverwertbar, denn die beiden Leute würden kaum bereit dazu sein, es in Gegenwart eines Polizisten zu wiederholen.

Man wird mich für verrückt erklären!, ging es ihr durch den Kopf. Sie ging ans Fenster und blickte hinaus. Von Westen her kamen düstere Wolken heran, die durch den steten Wind schnell nähergetragen wurden.

Es gab niemanden, dem sie hier trauen konnte. Niemanden vielleicht mit Ausnahme von Mark Leyland, so hatte sie zunächst gedacht. Aber nach seiner Bemerkung am gestrigen Abend war sie sich da nicht mehr allzu sicher.

Du fängst schon an, dir etwas einzubilden!, sagte sie sich.

Vermutlich beurteilst du ihn viel zu streng und bist mit den Nerven einfach am Ende. Mark war ein wunderbarer Mann. Ein Mann, in den sie sich verliebt hatte. Aber die Vernunft riet ihr, vorsichtig zu bleiben. Warum hatte auch er ihr geraten, die Gegend zu verlassen und nicht weiter dem Tod ihres Bruders auf den Grund zu gehen? War es wirklich nur Sorge um sie gewesen, wie er behauptet hatte? Zu dumm, dass er jetzt nicht hier ist!, ging es ihr durch den Kopf. Dann hätte sie ihn fragen können.

Sie überlegte, was sie jetzt als nächstes tun sollte.

Zunächst brauchte sie einen Wagen und den gab es nur in Ennis. Auf Barrys Taxi konnte sie kaum zählen, um dorthin zu gelangen. Aber ein Stück die Straße runter war eine Bushaltestelle. Und das die Busse nach Ennis fuhren war so gut wie sicher.

Und dann? Ihre Gedanken gingen zu dem Alten, der sie gemeinsam mit Barry O'Hines und einem dritten Mann in dem O'Hare-Haus aufgestöbert hatte.

O'Grady hatte seinen Namen erwähnt. Er hieß McSweeny und schien jemand zu sein, der Einfluss hatte. Er musste hier in der Gegend eine Adresse haben und Sara war entschlossen, ihm einen Besuch abzustatten. Vielleicht kam sie so endlich ein Stück weiter.

Sara zog sich ihre Jacke über und machte sich dann auf den Weg.

"Sie werden nicht auf uns hören, nicht war?", stellte Mrs. Keogh fest, während Sara in den Flur kam. Die alte Frau hatte offenbar auf sie gewartet. "Es wird Ihr Verderben sein, Miss Norwood!"

"Ich habe keine Angst!", erwiderte Sara fest, obwohl es eigentlich nicht stimmte.

Sie ging hinaus und dann den schmalen Bürgersteig entlang bis zur Bushaltestelle. Hinter einigen Fenstern nahm sie aus den Augenwinkeln heraus Bewegungen wahr. Sicher wusste jeder in Gwenderon längst Bescheid darüber, wer sie war und was sie hier wollte. Es war gespenstisch.

Als Sara die Haltestelle erreichte und auf den Plan schaute, sah sie, dass der Bus jeden Augenblick kommen musste.

Außer ihr war allerdings niemand da, der ebenfalls nach Ennis wollte.

Die ganze Straße war wie ausgestorben und Sara sah besorgt, wie die dunklen Wolken immer näher kamen.

In der Jackentasche schloss sich ihre Hand zu einer Faust und umfasste das Amulett des Schlangengottes. Sie fühlte die Furcht in sich aufsteigen. Für einen Moment dachte sie, dass es vielleicht doch besser war, die Warnungen der Keoghs zu beachten. Es schien ganz so, als wäre sie hier in ein teuflisches Gespinst aus Angst, Schweigen und Dingen, von denen sie bislang noch nicht die leiseste Ahnung hatte, hineingeraten, das einfach für sie nicht zu durchdringen war... Anderseits war sie noch nie jemand gewesen, der schnell aufgab.

Sie hörte das Geräusch eines Motors und blickte die leere Straße entlang.

Aber es war nicht der Bus, der da entlanggefahren kam, sondern ein Pkw. Ein alter, ziemlich verbeulter Austin. Sara atmete tief durch und strich das Haar zurück.

Der Bus musste Verspätung haben.

Er war schon fünf Minuten überfällig.

Das Motorengeräusch brauste auf. Sara hatte dem Austin keine Beachtung mehr geschenkt, aber jetzt sah sie ihn mit aufheulendem Motor direkt auf sich zukommen. Deutlich war zu hören wie der Fahrer noch zusätzlich Gas gab und beschleunigte. Für den Bruchteil einer Sekunde stand Sara wie angewurzelt da, starr vor Schrecken und unfähig auch nur den kleinen Finger zu rühren. Wie ein Geschoss kam der Wagen auf sie zu.

Mit einem Satz sprang sie zur Seite und landete in einem Beet, das zu einem schmalen Vorgarten gehörte, während der Austin an ihr vorbeiraste.

So schnell sie konnte rappelte die junge Frau sich wieder auf. Ihr schien nichts zu fehlen. Keuchend hörte sie ihren Atem, während sie dem Austin nachsah und ihre Augen nach dem Nummernschild suchten. Aber da war nichts zu sehen. Und der Fahrer war nichts weiter als ein schattenhafter Umriss.

Es dauerte einen Moment, bis Sara sich wieder gefasst hatte. Mit den Händen fegte sie die Erde von ihren Sachen. Das galt mir!, wurde ihr dann mit eisiger Gewissheit klar.

Jemand hatte versucht, sie umzubringen. Ihr Blick ging die gerade Häuserzeile entlang. Es gab

niemanden, der hinauskam, um nachzusehen, was geschehen war. Niemanden. Du bist allein, Sara!, hörte sie in sich eine Stimme sagen. Ganz allein...

Und dabei fröstelte sie.

Ein paar Minuten später kam der Bus und Sara stieg ein.

Jetzt erst recht!, ging es ihr trotzig durch den Kopf.

Jetzt würde sie erst recht alles daransetzen, herauszufinden, wie es hinter den Kulissen aussah.


2


Zweieinhalb Stunden später war sie aus Ennis zurück und saß in einem roten Sportcoupe. Sicher, es war nicht gerade ein Wagen, der in dieser Gegend sehr unauffällig wirkte. Aber, so wie die Dinge nun einmal lagen, konnte sie ohnehin kaum einen Schritt unbeobachtet tun.

Sie versuchte, sich zum alten McSweeny durchzufragen, was zunächst gar nicht so einfach war. Ein Ladenbesitzer wollte ihr offensichtlich keine richtige Auskunft geben und versuchte sie statt dessen danach auszufragen, was sie denn von McSweeny eigentlich wolle. Auch an der Tankstelle war man alles andere als auskunftsfreudig.

Die Tankstelle von Gwenderon wurde von einem ängstlich wirkenden Mann mit lichtem Haar betrieben. Er trug eine dicke Brille und sprach mit leiser Stimme. Sara hätte schwören können, dass er wusste, wo McSweeny zu finden war, aber er tat so, als würde er diesen Namen noch nie gehört haben. Es war an der Grenze der Lächerlichkeit. Sara wäre am liebsten explodiert, andererseits musste sie wohl froh sein, dass überhaupt ihr Wagen betankt wurde. Und so beherrschte sie sich - wenn auch mit Mühe.

Als sie wieder in den Wagen stieg, hörte sie plötzlich eine Stimme neben sich.

"Heh, Sie!", wisperte die Stimme. Sie gehörte dem Gehilfen des Tankwartes, der gerade dabei war, an Saras Coupe die Scheiben zu wischen. Er hatte offenbar mitbekommen, wonach Sara vergeblich gefragt hatte. "Fahren Sie in westlicher Richtung aus der Stadt. Nach drei Meilen geht es links ab, dann die nächste rechts. Sie kommen dann an einer alten, verfallenen Kapelle vorbei. Das nächste Haus, das Sie dann sehen, gehört dem alten McSweeny..."

"Stimmt irgend was nicht, Bob?", rief sein Chef zu ihm herüber, so dass er abrupt abbrach.

"Alles in Ordnung", erklärte er, wischte noch einmal über die Scheibe von Saras Wagen und entfernte sich dann. "Wie gesagt, Miss, Sie brauchen bald ein paar neue Wischblätter!",

erklärte er dann laut.

"Bei nächster Gelegenheit!", versprach Sara.

Sie setzte sich wieder ans Steuer und fuhr los. Im Rückspiegel konnte sie noch den misstrauischen Blick sehen, den der Tankwart ihr nachsandte.

Die Wegbeschreibung seines Gehilfen war ausgezeichnet.

McSweeny - welche Rolle er in diesem finsteren Spiel auch immer einnehmen mochte - schien recht einsam zu wohnen.

Sara sah auf der rechten Seite in einiger Entfernung ein düster wirkendes, teilweise von rankenden Pflanzen überwuchertes Bauwerk.

Das musste die alte Kapelle sein, die Bob, der Gehilfe des Tankwarts, erwähnt hatte. Drohend und finster erhob sich dieses uralte Bauwerk auf einem Hügel, so dass es weithin sichtbar war.

Dann tauchte schließlich das nächste Haus auf, das McSweeny gehören musste.

Sara glaubte ihren Augen nicht zu trauen. In der schmalen Einfahrt, die zu McSweenys Haus führte, sah sie einen Land Rover. Da konnte es keinerlei Zweifel geben. Es war der Wagen von Mark Leyland.

Die Erkenntnis versetzte Sara einen Stich.

Was hatte Mark hier zu suchen? Welcher Zusammenhang bestand zwischen ihm und McSweeny? Sara stoppte ihr Coupe mitten auf der Straße, was nichts ausmachte. Es war weit und breit ohnehin kein Auto in der Nähe. Einen kurzen Moment lang überlegte sie, was sie machen sollte, dann fuhr sie den Wagen ein paar Dutzend Meter rückwärts an den Straßenrand, und zwar so, dass er durch ein paar Büsche einigermaßen verdeckt wurde. Sie selbst konnte jedoch ganz gut zu McSweenys Haus hinüberblicken.

Eine ganze Weile lang geschah gar nichts, dann ging die Haustür auf.

Zwei Männer kamen heraus.

Der eine war Mark, der andere McSweeny. Sie standen für einige Zeit da und schienen sich zu unterhalten. Dann stieg Mark in seinen Land Rover und fuhr los. Als Mark ihr mit seinem Wagen entgegenkam, duckte sie sich einfach hinter das Armaturenbrett. Mark brauchte nicht zu wissen, dass sie ihn beobachtet hatte. Noch nicht. Er fuhr einfach an ihrem roten Coupe vorbei.


*


McSweeny fuhr mit einem zerknitterten Gesichtsausdruck herum, als er den roten Coupe in seine Einfahrt kommen sah. Sara stieg aus.

Sie ging direkt auf ihn zu und er blieb wie angewurzelt stehen.

"Sir... Wir hatten schon einmal das Vergnügen. Gestern, beim O'Hare-Haus, Sie werden sich erinnern!"

"Was wollen Sie?", fauchte er.

"Ich muss mit Ihnen reden!"

"Verschwinden Sie, Miss Norwood!"

"Mr. McSweeny!"

"Es gibt nichts zu reden!"

"Was wissen Sie über dies hier!", rief Sara ziemlich laut und riss dabei das Schlangenamulett aus ihrer Jackentasche.

Sie hielt McSweeny das Amulett direkt vor das Gesicht des alten Mannes.

In McSweenys Augen flackerte es. Sara vermochte in diesem Augenblick nicht zu deuten, was es eigentlich war, das dieses Amulett in ihm ausgelöst hatte. Vielleicht Furcht...

"Gehen Sie!"

Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen und hatte kaum noch etwas von der Selbstsicherheit, die sie gestern, bei ihrem Zusammentreffen am O'Hare-Haus noch gekennzeichnet hatte.

Etwas musste geschehen sein und diese Wandlung ausgelöst haben. Etwas, von dem Sara noch keine Ahnung hatte.

"Sagen Sie mir, was Sie über Ktor, den Schlangengott wissen. Gehören Sie vielleicht zu seinen Anhängern? War mein Bruder vielleicht einer von euch? Es muss einen Grund gehabt haben, dass man dem Toten ein solches Amulett um den Hals hängte..."

Aber McSweeny wandte sich herum und ging einige Schritte in Richtung seines Hauses. "Ich will nichts mehr hören", sagte er. "Und ich werde auch nicht mit ihnen reden. Und nun steigen Sie in Ihren Wagen, oder ich werde die Hunde aus dem Zwinger lassen!"

Sara sah ihn fassungslos an.

Es schien, als würde sie hier auf Granit beißen. Wortlos drehte sie sich herum, stieg in das Coupe und fuhr zurück zur Pension der Keoghs.

Als sie dort ankam, stellte sie fest, dass Mark Leyland nicht dorthin gefahren war. Jedenfalls war von dem Land Rover nirgends eine Spur.

Zunächst ärgerte sie sich darüber, denn sie hätte ihn gerne zur Rede gestellt. Aber dann dachte sie, dass das vielleicht eine günstige Gelegenheit war, etwas mehr über diesen Mann herauszufinden.

Schmerzhaft wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich in ihn verliebt hatte. Der Gedanke, dass dieser so sympathische, aufregende Mann eine zwielichtige Gestalt sein könnte, die irgend etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte, war ihr unerträglich. Aber sie musste der Wahrheit ins Auge schauen.

Und Sara hatte nicht die Absicht, einfach bei Seite zu drängen, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte.

Vielleicht wird er es mir erklären können, dachte sie.

Sie hoffte es.

Nichts ersehnte sie so sehr, als das sich ihr Verdacht als haltlos herausstellte.

"Möchten Sie eine Tasse Tee, Miss Norwood?", fragte Mrs. Keogh, nachdem Sara eingetreten war.

"Nein, danke."

"Kann ich Ihnen sonst irgendwie eine Freude machen?"

"Nein, wirklich nicht."

"Was ist mit dem Essen? Werden Sie mit uns essen - oder auswärts?"

Sara seufzte. "Ich esse mit Ihnen", sagte sie dann und dachte: Sie tut, als wäre nichts gewesen. Als hätte sie mich nie eindringlich davor gewarnt hierzubleiben.

Die ganze Szenerie erschien der jungen Frau auf einmal mehr als unwirklich.

"Ich werde mich etwas ausruhen", sagte Sara dann. Sie ging die Treppe zum Obergeschoss hoch und holte den Schlüssel zu ihrem Zimmer aus der Tasche.

Einen Augenblick lang stand sie wie angewurzelt da, blickte den Flur entlang und horchte. Mrs. Keoghs Schritte waren von unten her zu hören. Sie entfernten sich vermutlich in Richtung Küche. Sonst war nichts zu hören.

Sara ging an ihrem Zimmer vorbei den Flur entlang, bis sie vor Mark Leylands Zimmer stand. Dann steckte sie den Schlüssel hinein und drehte ihn herum. Es war genau, wie sie vermutet hatte. Der Schlüssel passte auch hier. Die Keoghs hatten sehr einfache Schlösser in den Türen ihrer Fremdenzimmer. Und normalerweise kam es gewiss recht selten vor, dass einer der Gäste die Absicht hatte, das Zimmer eines anderen Gastes zu durchsuchen...

Die Tür öffnete sich vor Sara.

Sie ging hinein. Mark schien ein ziemlich ordentlicher Mensch zu sein. Jedenfalls sah sie nichts herumliegen. Sara schloss die Zimmertür hinter sich und sah anschließend in den Papierkorb, aber der war leer.

Dann wandte sie sich dem Kleiderschrank zu. Mark hatte seine Jacketts und Hemden sorgfältig aufgehängt. Sein Koffer lag darunter. Sara holte ihn heraus und öffnete ihn. Zunächst fand sie nur Wäsche, ein paar frische Tücher, ein Paar Socken...

Und dann verschlug es ihr schier den Atem.

Ein kalter Schauder überkam sie, als sie das Schlangenamulett zwischen all den anderen Sachen liegen sah. Sara schluckte. Nein, dachte sie, das durfte nicht wahr sein!

Es gab zwei mögliche Erklärungen dafür, dass dieses Amulett in Marks Koffer war. Und beide gefielen ihr nicht. Vielleicht hatte er es aus demselben Grund bekommen, wie sie selbst.

Vielleicht war auch Mark in Gefahr und diese wahnsinnigen Anhänger des Schlangengottes wollten ihm damit seinen baldigen Tod ankündigen.

Die andere Möglichkeit war, dass er mit diesen Leuten unter einer Decke steckte - oder zumindest mit ihnen zu tun hatte.

Saras Hände glitten fieberhaft durch Marks Sachen und durchsuchten sie sorgfältig. Aber da war nichts mehr, was ihr irgendwelchen Aufschluss geben konnte.

Ich muss es wissen!, ging es ihr durch den Kopf. Sie musste Klarheit darüber haben, auf wessen Seite der Mann, den Sie liebte und dem sie sich anvertraut hatte, wirklich stand.

Sie schloss den Koffer wieder und drehte ihn herum, um an das Fach auf der anderen Seite heranzukommen. Was sie dann fand, zerriss ihr schier das Herz.

Also doch!

Mit zitternden Fingern nahm sie ein kleines, gebundenes Buch hervor. Der Leineneinband zeigte das Relief eines Schlangenkopfes, der dem auf dem Amulett glich. Sara schlug das Buch auf. DAS HEILIGE BUCH KTOR las sie auf der ersten Seite die Überschrift.

Er gehörte also dazu!

Welche andere Erklärung konnte es sonst dafür geben! Er gehörte zu diesem Geheimkult, dessen Mitglied offenbar auch für den Tod von Jack verantwortlich waren.

Nicht so schnell!, sagte sie sich. Sie suchte verzweifelt nach einer anderen Erklärung, einer, die Mark in einem anderen Licht dastehen ließ. Seine Umarmungen, die Leidenschaft seiner Küsse... Das war kein Schauspiel gewesen, da war Sara sich sicher.

Wie durch einen Nebel drang in diesem Moment ein Geräusch in ihr Bewusstsein.

Sara fuhr auf und warf einen kurzen Blick durch das Fenster. Mark war mit dem Land Rover zurückgekehrt und hatte den Wagen gerade abgestellt.

Mit großer Eile packte Sara alles zusammen und schob den Koffer wieder in den Kleiderschrank. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt und sah hinaus auf den Flur. Sie schlich hinaus und schaffte es sogar noch, die Tür hinter sich abzuschließen.

Gerade, als sie die Tür ihres eigenen Zimmers erreicht hatte, hörte sie jemanden mit schnellen, energischen Schritten die Treppe hinaufeilen.

Einen Augenaufschlag später stand Mark vor ihr. Seine blauen Augen musterten sie, sein Mund war halb zu einem Lächeln geöffnet. Es war sein typisches, gewinnendes Lächeln, dem man einfach nicht widerstehen konnte. Aber Sara lächelte nicht zurück.

"Hallo, Sara", sagte er in einer Tonlage, die sehr vertraut klang. "Ich bin heute morgen schon sehr früh losgefahren, um mir in Ennis eine Angel zu kaufen. Mrs. Keogh sagte, du hättest wie ein Murmeltier geschlafen..."

"Ja."

Es klang vorgeschoben. Und was ist mit dem Rest des Tages?, ging es Sara durch den Kopf. Da hatte Mark sich mit Leuten wie McSweeny getroffen...

Mark trat etwas näher an sie heran. Sie konnte sein After Shave riechen.

Gestern Abend noch hatte eine solche Nähe elektrisierend auf sie gewirkt. Jetzt wusste sie nicht, ob sie angezogen oder abgestoßen sein sollte. Als er noch etwas näherkam, wich sie unwillkürlich zurück. Mark registrierte das. Seine Augenbrauen kräuselten sich ein wenig.

"Was ist los?", fragte er.

"Ach, nichts!", sagte sie und dachte gleich im nächsten Moment, dass das vielleicht ein Fehler war. Warum nicht alles auf den Tisch?

Mark sah sie an. "Ich hoffe, wir sehen uns gleich beim Essen. Ich muss mich nur noch etwas frischmachen!"

Er ging eins, zwei Schritte an ihr vorbei.

"Mark..."

"Ja?"

Sie hielt ihm das Schlangenamulett entgegen. Dabei studierte sie aufmerksam, was in seinem Gesicht vor sich ging. Er blieb eher kühl und schien sich sehr gut unter Kontrolle zu haben.

Auf einmal waren seine blauen Augen für Sara wie eine undurchdringliche Wand, durch die es keinen Blick mehr in sein Inneres gab...

"Woher hast du das?", fragte er. Sara registrierte den veränderten Klang seiner Stimme. Sie schien härter zu klingen.

Sie schluckte.

"Es lag auf meinem Bett."

Er trat auf sie zu und fasste sie bei den Schultern. Ihr war diese Berührung im Augenblick unangenehm und so versuchte sie sich ihm zu entziehen. Aber sein Griff war eisern. "Hör mir zu, Sara!", sagte er und sein Gesicht hatte etwas Beschwörendes an sich. "Du musst von hier verschwinden, solange das noch geht! Dieses Ding..."

"...ist die Ankündigung meines baldigen Todes, ich weiß, Mark. So ähnlich ist es doch, nicht wahr?"

Er nickte.

"Du bist in Lebensgefahr."

"Und du nicht?"

"Ich verstehe dich nicht!"

"Besitzt du nicht auch so ein Amulett? Oder hat es bei dir eine andere Bedeutung! Worin liegt der Unterschied? Gehörst du vielleicht dazu, zu diesem teuflischen Kreis, so wie McSweeny, mit..."

Sara folgte Marks Blick, wandte ein wenig den Kopf und verstummte dann abrupt, als sie Mrs. Keoghs dürre Gestalt im Flur stehen sah. Die alte Dame war so gut wie lautlos die Treppe hinaufgekommen.

"Es gibt jetzt Essen", sagte sie mit unbewegtem Gesicht, das nichts darüber verriet, was sie dachte oder wie viel sie von dem Wortwechsel zwischen Sara und Mark mitbekommen hatte.

Die Blicke der beiden trafen sich für einen kurzen Augenblick.

"Gehen wir", sagte Mark leise.


*


Während des Essens herrschte ein unangenehmes Schweigen. Auch Mr. und Mrs. Keogh trugen kaum dazu bei, dass sich daran etwas änderte.

"Es tut mir leid, aber ich habe keinen Appetit", meinte Sara schließlich und erhob sich. "Sie entschuldigen mich..."

Sara ging hinauf in ihr Zimmer.

Es dauerte nicht lange, bis es an ihrer Tür klopfte.

Es war Mark. Er sprach in gedämpftem Tonfall.

"Sara? Wir müssen miteinander reden! Mach bitte auf!"

Sara zögerte zunächst, dann stand sie auf und öffnete.

Mark drängte sie ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

"Du musst mir vertrauen", sagte er.

"Etwas viel verlangt, findest du nicht?"

"Sara..."

"Jedenfalls bist du kein gewöhnlicher Geschäftsmann, der hier nur seine Ferien verbringt, wie du mir hast einreden wollen. Ich weiß nicht, was für ein Spiel du spielst, aber sehr vertrauenswürdig scheint das nicht." Sie stockte kurz. "Du bist ein Anhänger dieses Schlangenkultes, nicht wahr?"

"Sara..."

Sie wich vor ihm zurück.

Auf einmal fühlte sie nacktes Entsetzen in sich aufsteigen.

Furcht vor einem Mann, für den sie gestern noch ganz andere Gefühle empfunden hatte.

"Du glaubst, dass ich etwas mit dem Tod deines Bruders zu tun habe. Aber das ist absurd!"

"So?"

"Ich bin genau wie du zum ersten Mal in Gwenderon!"

"Geh bitte!", forderte sie, während sie noch weiter vor ihm zurückwich. Hinter sich fühlte sie den massiven Schreibtisch.

"Es lässt sich alles erklären, Sara..."

"Geh!"

Sara schrie es fast hinaus.

Die junge Frau fühlte Panik in sich aufsteigen. Mark kam noch einen weiteren Schritt näher. Ihre Hand tastete nach der Lampe, die auf dem Schreibtisch stand und umfasste sie.

Marks Gesichtsausdruck veränderte sich. Er erstarrte für einen Augenblick, dann hob er die Hände.

"Schon gut, Sara", sagte er. "Wir sprechen morgen darüber, okay? Vielleicht hast du dich dann etwas beruhigt!"

Sara rang nach Atem.

Als Mark hinausgegangen war, schloss sie die Tür hinter ihm ab. Und da die Zimmerschlüssel, die sie von den Keoghs bekommen hatten, offenbar für alle Räume passten, klemmte Sara zusätzlich noch einen Stuhl unter die Türklinke.

Dann erst begann sie, sich allmählich zu beruhigen.

Draußen, vom Flur her, hörte sie Marks Schritte. Er ging offenbar in sein Zimmer und blieb dort.

Vielleicht tue ich ihm ja Unrecht!, überlegte sie plötzlich.

Aber sie hatte keine Wahl. Nach allem, was sie bislang herausgefunden hatte, konnte sie Mark Leyland nicht trauen.

Sara ließ sich aufs Bett fallen.

Auf ihren Wangen fühlte sie etwas Feuchtes.

Mein Gott, ich hoffe, dass dieser Alptraum bald ein Ende hat!, durchzuckte es sie.


*


Sie musste eingeschlafen sein. Auf jeden Fall war es das Motorengeräusch des Land Rovers, das Sara aus dem Schlaf hochfahren ließ.

Als sie die Augen aufschlug, war es inzwischen dunkel geworden. Von draußen schien das Mondlicht fahl durch das Zimmer. Es war Vollmond, und da in dieser Nacht kaum Wolken am Himmel standen, war er deutlich zu sehen.

Sara war sofort hellwach und stürzte zum Fenster. Sie konnte gerade noch sehen, wie Mark Leylands Land Rover gedreht wurde und dann die Straße entlangfuhr.

Wohin will er jetzt noch?

Um diese Zeit...

Es dauerte nur einen Augenblick, bis Sara den Schlüssel ihres eigenen Leihwagens in der Hand, die Zimmertür geöffnet und auf dem Weg nach unten war.

Sie vergaß, die Haustür der Keoghs hinter sich abzuschließen, schwang sich eilig hinter das Lenkrad des Coupes und ließ den Motor an.

Sie hatte gesehen, in welche Richtung Mark davongefahren war und wenn sie einigermaßen Glück hatte, würde sie ihn früh genug einholen...

Ein paar Meilen ging es aus Gwenderon heraus. Irgendwann tauchte zur rechten ein Schatten auf. Das alte O'Hare Haus, in dem man Jack gefunden hatte.

Aber das war offensichtlich nicht Marks Ziel.

Hinter dem nächsten Hügel sah sie ein Paar Rücklichter in der Dunkelheit auftauchen. Das musste der Land Rover sein.

Sara wusste, daß sie ausreichend Abstand halten musste, wollte sie sich nicht verraten.

Irgendwann bog der Geländewagen dann ab und dann fiel es Sara wie Schuppen von den Augen.

Das war der Weg zum alten McSweeny!

So schien es zunächst. Sara schaltete die Scheinwerfer ihres Wagens ab. Das war zwar recht riskant, aber anders konnte sie Mark jetzt nicht mehr folgen, ohne dass er sofort auf sie aufmerksam wurde.

Aus der Dunkelheit heraus nahm Sara dann ein Leuchten wahr.

Sie blickte zur Seite.

Das Leuchten kam von der alten Kapelle, die wie ein drohendes Ungetüm dastand. Der Mond hatte mit diesem Leuchten nichts zu tun. Es kam aus dem Inneren des Gebäudes und drang durch Fenster und Türen.

Dort war jemand!

Sara stoppte den Wagen und stellte ihn am Straßenrand ab.

Von Mark konnte sie nirgends eine Spur entdecken. Auch von dem Land Rover nicht, dessen Beleuchtung nun wohl ebenfalls abgeschaltet war.

Sara stieg aus. Die Nacht war sternenklar und empfindlich kühl. Ihr fröstelte.


Sie spürte einen unangenehmen Druck in der Magengegend.

Aber sie fühlte auch, dass sie der Aufklärung all der Geheimnisse, auf die sie gestoßen war, vielleicht noch nie so nah gewesen war, wie in diesem Augenblick.

Ein leichte Wind strich über das Land und bog die Gräser und Büsche ostwärts.

Ich muss wissen, was dort, in der Kapelle vor sich geht!, zuckte es durch Saras Kopf. Sie wusste nicht, was sie eigentlich erwartete.

Irgendeine geheime Zusammenkunft mit finsteren Ritualen vielleicht?

Die alte Kapelle war ein idealer Ort dafür. Weit abgelegen und ohne die Gefahr, dass sich zu dieser Stunde jemand Fremdes hier her verirrte.

Sara beschloss, den direkten Weg zu nehmen, quer über die feuchten Wiesen, die die Kapelle umgaben.

In geduckter Haltung schlich Sara vorwärts.

Immer weiter arbeitete sie sich an die Kapelle heran und der leichte Wind begann jetzt, gespenstisch klingende Geräusche an sie heran zu tragen.

Es war eine Art dumpfer Singsang, der aus dem Inneren der Kapelle kam. Vor dem Eingang der Kapelle waren einige Wagen geparkt.

Im Mondlicht war eine Gestalt zu sehen, die sich als dunkler Schatten abhob und dort herumpatrouillierte. Als das Licht günstig fiel, konnte Sara ein Gesicht erkennen.

Es war niemand anderes als Barry O'Hines.

Dass er dazugehörte, war ihr ja nicht neu. Offenbar hatten die anderen ihn dazu abgestellt, Wache zu halten. Er schien ziemlich gelangweilt.

Sara konnte sehen, wie er sich eine Zigarette anzündete und nervös auf und ab ging. Dann ging sein Blick direkt in Saras Richtung.

Für einen Moment stocke ihr der Atem und sie rührte sich nicht. Barry schien sie nicht sehen zu können. Er drehte sich herum und machte ein paar Schritte in die andere Richtung.

Sara atmete auf.

Aus den Augenwinkel heraus nahm sie dann eine Bewegung war.

Alles was dann geschah, ging blitzschnell vor sich. Sie wollte sich umdrehen, aber da hatte sie bereits jemand gepackt. Es war ein eiserner Griff, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte. Instinktiv wollte sie schreien, aber eine Hand verschloss ihr den Mund.


*


"Kein Laut!", flüsterte ihr jemand ins Ohr.

Sara brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was geschehen war.

Der Griff, der ihren Mund verschloss lockerte sich.

"Mark!", flüsterte sie.

"Es war keine gute Idee, hier her zu kommen", stellte Mark Leyland fest. Er sprach sehr leise. Immer wieder ging sein Blick zu Barry hinüber, der noch nichts bemerkt zu haben schien.

Sara rang nach Luft.

"Ich bin dir einfach gefolgt."

"Ja, das sehe ich."

Sara sah ihm ins Gesicht, in das das Licht des Mondes fiel.

"Was geschieht hier?", fragte sie.

"Hier treffen sie sich, die Anhänger des Schlangengottes", erklärte Mark.

Dann brach er abrupt ab.

Sara wollte ihn etwas fragen, aber er legte ihr den Finger auf den Mund. Barry ging noch einmal an den parkenden Autos entlang, ließ aufmerksam den Blick in der Gegend umherschweifen und wandte sich dann in Richtung Kapelle. Er verschwand hinter der hölzernen Tür, die er mit einem Knarren hinter sich schloss.

Die Anhänger Ktors schien sich sicher zu fühlen.

Sara war etwas verwirrt.

"Was tust du hier, Mark?"

Er erhob sich zu voller Größe. Über seine Lippen huschte ein mattes Lächeln. "Hast du deinen Wagen hier in der Nähe?"

"Ja."

"Dann geh dorthin zurück."

"Nein, erst bist du mir eine Erklärung schuldig. Du scheinst nicht zu ihnen zu gehören, wie ich erst dachte, nachdem ich in deinen Sachen..."

Sie brach ab. Er hob die Augenbrauen. "Ach du warst das. Jetzt verstehe ich..."

"Wer bist du?"

Mark Leyland zuckte die Schultern und sagte schließlich mit leiser Stimme: "Ich bin Privatdetektiv und aus London, so wie du. Eine gewisse Mrs. Kline hat mich engagiert, nachdem ihr Mann auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen war..."

"Kline?", echote Sara.

"Du kennst den Namen, nicht wahr? T.K.Kline war zuvor von Anhängern dieser Sekte terrorisiert worden. Sie wollten ihn dazu zwingen, einer jungen Frau namens Sara Norwood gewisse Gegenstände zukommen zu lassen. Amulette..."

"Was?" Sara war wie entgeistert.

Ein furchtbarer Schrei ließ sie dann beide aufblicken. Es war ein Schrei des namenlosen Entsetzens und er war unverkennbar aus der Kapelle gekommen.

"Was geschieht da drinnen?", fragte Sara mit Verzweiflung in der Stimme.

"Das weiß ich auch nicht!", erwiderte Mark. Er schien sich einen Moment lang unschlüssig darüber zu sein, was er in diesem Moment tun sollte.

Nur einen einzigen Augenaufschlag später nahm ihnen beiden jemand anderes diese Entscheidung ab.

"Schön langsam die Hände hoch!", sagte eine barsche Männerstimme.

Sie gehörte niemand anderem, als dem alten McSweeny, der mit einem doppelläufigen Jagdgewehr unter dem Arm aus der Dunkelheit hervortrat. "Habe ich es mir doch gedacht, Mr. Leyland, dass Sie die Schnüffelei nicht lassen können." Sein Blick wanderte zu Sara und musterte sie abschätzig von oben bis unten. "Ah, sieh an! Sie haben den Weg also auch endlich hier her gefunden..."

Sara schauderte bei dem Gedanken daran, daß McSweeny einen nicht im mindesten überraschten Eindruck machte.

Seine Augen wurden schmal, als er an Saras Adresse fortfuhr: "Sie wollten doch unbedingt Antworten auf Ihre Fragen, Miss Norwood! Jetzt werden Sie sie bekommen!"

Sara schluckte.

"Was haben Sie vor?"

Ein heiseres, freudloses Lachen schlug ihr entgegen.

"Warten Sie es doch einfach ab!", erwiderte McSweeny dann in einem Tonfall, der so klirrend kalt wie Eis war. Er trat ein paar Schritte vor, dann deutete er mit dem Gewehrlauf auf den Eingang der Kapelle. "Bitte, nach Ihnen!", sagte er.

Sara und Mark blieb nichts weiter übrig, als mit erhobenen Händen in Richtung des Kapelleneingangs zu gehen.

"Barry, mach auf!", rief McSweeny.

Es dauerte nur einen Moment, dann ging die Tür auf.

Das Gesicht von Barry, dem Taxifahrer machte einen leicht überraschten Eindruck. Er hob die Augenbrauen, während er die Tür aufhielt, sagte aber kein Wort.

Das innere der Kapelle war erfüllt vom Licht vieler Fackeln, die entlang der Wände befestigt waren und den Innenraum in ein warmes, flackerndes Licht tauchten. Zusammen mit dem uralten Gemäuer ergab das eine Atmosphäre des Gespenstischen und Geheimnisvollen. Man fühlte sich unwillkürlich in einer ferne Vergangenheit zurückversetzt, in eine Vergangenheit, in der Glauben und Aberglauben die Welt regiert hatten und die Magie ein Teil des täglichen Lebens gewesen war.

Ungefähr zwei Dutzend in dunkle Kutten gehüllte Gestalten hatten einen Halbkreis gebildet.

Sara musste sich erst an das Licht gewöhnen und so vergingen ein paar Sekunden, ehe sie bemerkte, dass sich in in der Mitte dieser Kuttenträger, auf dem kalten Steinfußboden, etwas bewegte.

Eine Schlange...


*


Sara stieß unwillkürlich einen kurzen Schrei aus, als sie in die mitleidlosen Facettenaugen blickte.

Eine gespaltene schwarze Zunge kam blitzartig hervor, nur um innerhalb des nächsten Augenaufschlags bereits wieder zu verschwinden...

Ein Zischen tönte durch den Raum und hallte zwischen den uralten Steinwänden wider.

Die Schlange kroch ein paar Zoll vorwärts in Richtung von Sara und Mark.

"Ich habe die beiden draußen aufgegriffen", erklärte McSweeny.

"Seid willkommen im Tempel des Ktor...", sagte einer der Kuttenträger. Sein Gesicht war nicht zu sehen, da es im Schatten der Kapuze lag.

Aber bei der Stimme war Sara sich vollkommen sicher. Diese Stimme kannte sie.

Und die Erkenntnis war mehr als ein Schock.

"O'Grady!", flüsterte sie.

Es war tatsächlich der Polizist aus Ennis. Kein Wunder, dass er nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als Sara nach Kräften auszureden, dass es hier irgend etwas aufzuklären gab, was den Tod von Jack Norwood anging...

"Ich sehe, Sie sind überrascht", sagte O'Grady. Es war eine Feststellung keine Frage.

Inzwischen kroch die Schlange weiter langsam über den Steinboden. Sara beobachtete sie mit Abscheu. Sie wich einen Schritt zurück und spürte dann etwas Hartes in ihrem Rücken.

Es war der Lauf von McSweenys Jagdgewehr, den dieser ihr schmerzhaft in den Rücken stieß.

"Wir dienen einer uralten, mächtigen Gottheit, deren Tempel schon Jahrhunderte seinen Platz hier hatte, bevor Mönche daraus eine christliche Kirche zu machen versuchten", erklärte O'Grady mit bedeutungsvoller Stimme.

Er schien sich in der Rolle des Zeremonienmeisters und Hohepriesters, die er im Moment einnahm, gut zu gefallen.

Er trat aus dem Kreis der Verhüllten heraus und kam auf Mark und Sara zu. Das Licht fiel auf sein Gesicht und vertrieb den letzten Zweifel daran, dass er wirklich O'Grady war. Als sein Blick kurz zur Seite ging und die Schlange streifte, flog ein Lächeln über seine Lippen.

"Unser Gott ist mächtig, aber er verlangt unbedingte Gefolgschaft und...", er zögerte etwas, bevor er das Wort aussprach, "...Opfer. Wenn Ktor ein Opfer fordert, dann müssen wir es ihm geben. Manchmal, fordert er ein Menschenleben von uns. Nicht das eines Fremden, sondern das Leben eines, der zu uns gehört... Keiner von uns würde zurückweichen, wenn Ktor sich für ihn entschieden hat..."

Sara konnte sich den Ablauf eines solchen Rituals gut vorstellen. Es war abstoßend und unsinnig. Eine Art Mutprobe, die die Mitglieder des Kultes enger zusammenschweißte. Sie standen in einem Kreis und warteten ab, ob eine Giftschlange einen von ihnen biss...

Wenn man sich ruhig verhielt und die Schlange sich nicht angegriffen fühlte, würde Ktor kein Opfer fordern. Aber wenn jemand die Nerven verlor, war er geliefert.

Sara schluckte.

In ihrem Inneren entstand ein Bild von dem, was mit Jack passiert sein musste. Vermutlich hatte man ihn danach erst ins O'Hare-Haus gebracht, in der Hoffnung, man würde ihn dort lange nicht finden. Aber ein Landstreicher hatte das vereitelt.

Sara öffnete halb den Mund und wollte etwas sagen, aber ihr Hals war so trocken, dass kein Laut über ihre Lippen kam.

O'Grady kam ihr zuvor. Er schien zu wissen, welche Frage ihr auf der Seele lag.

"Ja, Ihr Bruder war auch einer von uns, Miss Norwood. Jedenfalls dachten wir das. In Wahrheit war es nur ein archäologisches Interesse für alte Kulte, dass ihn zu uns kommen und sich uns zum Schein anschließen ließ. Er hat alles, was er über uns herausgefunden hat, aufgeschrieben und wollte es vermutlich sogar veröffentlichen. Zum Glück konnten wir das Material sicherstellen. Nun, wie dem auch sei, wir erfuhren davon erst, nachdem Ktor sich für ihn entschieden hatte..."

"Sie meinen, nachdem er bei einem Ihrer grässlichen Rituale durch einen Schlangenbiss getötet wurde!", versetzte Sara bitter.

O'Grady zuckte die Schultern.

"Sie mögen das nennen, wie Sie wollen. Aber für uns entstand dadurch ein Problem, denn Ktor akzeptiert nur das Opfer eines Menschen, dessen Seele ihm auch wirklich ganz und gar geweiht ist. Es war ein Frevel, der nach dem Gesetz Ktors nur durch den Tod eines Blutsverwandten des Frevlers wieder getilgt werden kann..."

Sara begriff. So waren diese Leute also auf sie gekommen.

"Dann werden Sie mich von dieser Schlange töten lassen", stellte Sara fast tonlos fest.

Aber O'Grady schüttelte den Kopf.

"Nein, dessen sind Sie nicht würdig. Das wäre ein erneuter Frevel..." Er sah McSweeny an. "Übernehmen Sie das, McSweeny? Dieser Leyland muss natürlich auch weg. Er weiß einfach zu viel über uns und es ist deswegen leider unumgänglich, dass auch er stirbt!"

McSweeny atmete hörbei ein.

Ihm schien die Sache nicht besonders angenehm zu sein, aber er war ein gehorsamer Diener des Schlangengottes, der niemals irgendwelchen Widerspruch gewagt hätte. "Ja", sagte er. "Ich werde das erledigen und den Willen Ktors erfüllen.“

Er hob das Gewehr.

O'Grady deutete auf die Schlange am Boden und hob dann beide Hände wie zu einer Beschwörung. "Ktor ist Zeuge bei der Bestrafung der Ungläubigen und Ungehorsamen - so wie es sein Gesetz befielt!"

Sara fühle die nackte Verzweiflung in sich aufsteigen. Ihr Blick ging zu Mark hinüber, dessen Körper einen gespannten Eindruck machte. Aber es gab nichts, was sie im Moment tun konnten.

"Mark"...", flüsterte sie. Auch wenn sie noch nicht alle Einzelheiten dieses Falles begriff, so war ihr doch inzwischen klar, wie sehr sie ihm mit ihrem Verdacht Unrecht getan hatte. Aber das spielte jetzt auch kaum noch eine Rolle.

Dann ließ ein Geräusch alle zusammenzucken, die sich in diesem düsteren Raum befanden.

Es war ein Geräusch, wie es eine Ledersohle auf nacktem Stein verursachte, durch das Echo dutzendfach wiederholt, so dass es unmöglich war zu sagen, wo der Ursprung dieses Geräusches eigentlich war.

"Hände hoch und keine Bewegung!", rief dann eine Stimme. Vom Eingang her kamen einige Polizisten und verschanzten sich hinter den dicken Säulen, die das Deckengewölbe der Kapelle hielten. "Es hat keinen Sinn! Lassen Sie die Waffe fallen!"

McSweeny zögerte noch einen Augenblick, dann ließ er das Gewehr sinken.

Einer der uniformierten Beamten kam dann aus seiner Deckung heraus und nahm die Waffe an sich.

Er wandte sich an Leyland und Sara.

"Alles in Ordnung?"

"Ja", erklärte Mark. Sara trat zu ihm und er legte seinen Arm um ihre Schultern.


*


Anschließend ging dann alles seinen Gang. Personalien wurden aufgenommen und ein Tierpfleger aus Limerick herbeigerufen, der die Giftschlange einzufangen hatte, denn O'Grady und seine Anhänger hatten keinerlei Neigung, dabei behilflich zu sein.

"Das war in letzter Minute", sagte Sara erleichtert, während sie ihren Kopf an Marks Schulter legte. "Aber wie kommt es, dass wie aus dem Nichts die Polizei hier auftauchte?"

"Das war nicht wie aus dem Nichts", erklärte Mark. "Ich hatte sie über Funktelefon gerufen, als ich gesehen hatte, was hier vor sich ging. Inspektor Leary aus Limerick, hatte mir gesagt, dass er nichts unternehmen könne, bis er nicht einen Beweis dafür hätte, dass dieser Kult um den Schlangengott Ktor überhaupt existiert... Ein Amulett bei einem Toten ist da noch etwas wenig, zumal wenn man ansonsten keinerlei Hinweise erhält, weil hier in der Gegend niemand eine Aussage machen würde - aus Angst, wie man leicht verstehen kann. Aber jetzt war der Beweis da und damit wohl auch ein neuer Ansatzpunkt, um einige rätselhafte Todesfälle der letzten Jahre, die sich hier in der Gegend ereigneten, aufzuklären..."

Sie gingen Arm in Arm hinaus aus dem düsteren Gemäuer, vorbei an den Polizisten. Sie traten ins Freie, in die klare, mondhelle Nacht.

"Was hatte Mr. Kline, ein harmloser Ladenbesitzer, mit dieser Sache eigentlich zu tun?", fragte Sara dann. "Das begreife ich noch nicht. Warum musste er sterben? War er etwa auch ein Mitglied dieses Kultes?"

Mark Leyland schüttelte den Kopf.

"Nein, er wurde von diesen Leuten bedroht. Ein Mann rief ihn an und verlangte, er solle einer jungen Frau, die regelmäßig seinen Laden besuchte, ein Amulett zuspielen und sie später töten. Andernfalls wären er und seine Familie bedroht. Mr. Kline hat zwei kleine Enkelkinder, und auch das wussten die Unbekannten. Sie drohten ganz unverhohlen damit, ihnen etwas anzutun. Aber Mr. Kline hat sich trotzdem geweigert. Deswegen musste er wohl sterben..."

"Die Polizei hat mir gesagt, er sei an Herzversagen gestorben..."

"Oder zu Tode erschreckt worden. Er war schließlich schwer herzkrank. Jedenfalls wollte seine Witwe wissen, wer ihren Mann halb um den Verstand gebracht hatte. Die Polizei konnte oder wollte die Sache nicht verfolgen. Es gab ja auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte. Und so wurde ich engagiert. Ich habe mich kundig gemacht, was Schlangenkulte anging, bin in Norwegen auf ein ziemlich zurückgezogen lebendes ehemaliges Mitglied dieser Sekte gestoßen, das es geschafft hatte, sich abzusetzen. Daher stammt auch das Amulett und das Buch, das du sicher unter meinen Sachen gefunden hast... Und dann führte die Spur hier her, nach Irland."

"Oh, Mark!" Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und er legte die seinen um ihre Taille. Jetzt war alles vorbei, der ganze alptraumhafte Spuk. Aber so recht konnte sie es noch nicht fassen. Es würde eine Weile dauern, bis sie wieder ruhig schlafen konnte. Und vermutlich noch länger, ehe sie in irgend einem Wildgehege einer Schlange unbefangen gegenübertreten konnte - selbst wenn es eine völlig harmlose Blindschleiche war.

Er strich ihr über das Haar und drückte sie an sich.

"Ich konnte dir nichts sagen", erklärte er. "Das tut mir leid, aber es ging mir da genau wie dir. Woher sollte ich wissen, ob ich dir trauen konnte? Ich durfte kein Risiko eingehen."

"Ja, ich weiß, Mark. Jetzt weiß ich es..."

Ein etwas rundlich wirkender Mann mit freundlichen Gesichtszügen näherte sich jetzt den beiden.

"Wenn ich Sie einen Moment stören darf...", begann er. Mark wandte sich herum.

"Aber sicher, Inspektor Leary."

"Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie beide noch eine Weile in der Gegend bleiben."

"Nun", meinte Leyland. "Eigentlich ist meine Aufgabe erledigt", erklärte er. Dann fiel sein Blick auf Sara. "Aber ein paar Tage Urlaub könnten mir wohl nicht schaden. Und eigentlich ist es ja auch eine schöne Gegend hier..."

"Und Sie - Miss Norwood, wie ich annehme?"

Sie lächelte. "Für mich gilt dasselbe", erklärte sie und nahm dabei Marks Hand.

"Gut", sagte Inspektor Leary. "Dann hat das mit Ihren Aussagen ja noch etwas Zeit." Er strich sich das dünne Haar zurück schüttelte dann den Kopf. "Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ein Polizist, O'Grady...." Er brach ab und zuckte die Schultern.

Dann wandte er sich ab und ging zu seinen Kollegen.

"Komm, Sara", hörte sie Marks sanfte Stimme in ihrem Ohr.

Eng umschlungen gingen sie den holprigen Feldweg entlang, denn auch Mark hatte seinen Land Rover natürlich nicht gleich bei der Kapelle abgestellt, sondern schon an der Hauptstraße.

Noch einmal wandten sie sich kurz um, zu dem sich düster gegen das Mondlicht erhebenden Gemäuer, dann gingen sie weiter.

"Du kommst auch aus London?", fragte sie dann.

"Aus Sevenoaks, einer Vorstadt", erwiderte er. "Ein Büro in der City könnte ich mir nie leisten, obwohl das Geschäft nicht schlecht geht."

"Bis zu mir ist das trotzdem nur ein Katzensprung!", sagte sie. Ein Lächeln umspielte dabei ihre Lippen, als sie dem Blick seiner blauen Augen begegnete.

"Ich glaube", sagte er, "ich war schon vom ersten Augenblick von dir angetan. Schon, als wir uns im Zug gegenübersaßen."

Und dann küssten sie sich lange und leidenschaftlich. Zwei Liebende im Schein des Mondes.


ENDE

Höllensumpf


Wie ein graues Leichentuch lag die Dämmerung über den dampfenden Sümpfen. Bäume und Büsche wurden zu dunklen Schatten. Von der nahen Küste näherte sich eine Wand aus grauweißem Nebel, die die letzten Sonnenstrahlen zu einem schwachen Abglanz machten. Nicht mehr als ein verwaschener glutroter Fleck war noch von der sonst so gleißend hellen Herrin des Tages zu sehen.

Jetzt begann die Nacht.

Die Herrschaft der Finsternis...

Sarah Patterson kauerte regungslos am Heck des Bootes und starrte mit angstgeweiteten Augen in das Gemisch aus ineinanderfließenden Farben, zu dem die Landschaft jetzt wurde. Ihre Hand zitterte, als sie den Steuergriff des Außenbord-Motors berührte.

Der Motor war abgeschaltet.

Das Boot trieb durch das trübe, von Blättern übersäte Wasser der Everglades, jener berühmt berüchtigten tropischen Sümpfe Floridas, die für ihre Riesenalligatoren bekannt waren.

Die Stille, dachte Sarah. Sie ist so unnatürlich...

Ihr Mann Ben stand hoch aufgerichtet in der Mitte des Bootes. Er hielt ein Jagdgewehr in den Händen und studierte ebenso aufmerksam wie Sarah die Umgebung.

"ES muss hier irgendwo sein", flüsterte sie.

"Ich weiß..."

Seine Stimme klang belegt.

Er zeigte es nicht. Aber sie spürte, dass auch Ben Angst hatte. Angst vor etwas, dem nie zuvor ein Mensch begegnet war...

Sarah drehte den Kopf, lauschte. Es war so still, dass man denken konnte, jegliches Leben im Umkreis einer Meile hätte sich totgestellt, um der entsetzlichen Gefahr zu entgehen, die hier lauerte.

Dort unten, in dem dunklen, etwas modrig riechendem Sumpfwasser...

Als Sarah das erste Mal in den Everglades gewesen war, hatten die Alligatoren ähnliche Empfindungen in ihr ausgelöst, wenn sie pfeilschnell daherschwammen und dabei lediglich die Nasenlöcher und Augen über die Wasseroberfläche reckten.

Mein Gott, wie sehr ich mir jetzt wünschen würde, dass es nur ein gewöhnlicher Alligator wäre...

Der Gedanke durchzuckte sie wie ein Blitz.

"In all den Jahren hier in den Everglades habe ich so etwas noch nicht erlebt", sagte Ben mit gedämpfter Stimme.

"Diese Stille..."

Dieser Sumpf, ein Gebiet, dass halb dem Wasser und halb dem Land zu gehören schien, war unter normalen Umständen ein Hort des Lebens. Pelikane nisteten hier, riesige Libellen schwirrten zwischen den unter Wasser stehende, knorrigen Bäumen her, von denen jeder irgendwann in den Sumpf hinabsinken würde.

Schicht auf Schicht türmte sich auf diese Weise übereinander und wurde durch den wachsenden Druck eng zusammengepresst. Vor Millionen Jahren waren so Kohle und Diamanten entstanden.

Insekten schwirrten normalerweise in Schwärmen durch die stickige Luft, deren schwere Gerüche einem die Sinne betäuben konnten. Frösche quakten, Lurche krochen auf ins Wasser ragende Äste, um auf Jagd zu gehen, nur um ihrerseits vielleicht schon im nächsten Moment zwischen den Zähnen eines blitzartig aus dem Wasser schnellenden Alligators zu enden.

All diese Lebensformen veranstalteten für gewöhnlich ein manchmal geradezu ohrenbetäubendes Konzert unterschiedlichster Laute.

Aber nichts davon war im Moment zu hören.

Die Stille des Todes hatte sich über diesen Ort des Lebens ausgebreitet. Wie ein lähmendes Gift, das auf geheimnisvolle Weise jede Spezies, jedes Wesen, jede Nervenzelle im weiten Umkreis erfasst hatte.

Kreise bildeten sich auf dem Wasser.

Winzige Wellen, in deren Zentrum etwas für Sekundenbruchteile an die Oberfläche gekommen sein musste.

Sarah hielt den Atem an. Der Puls raste und schlug ihr bis zum Hals.

Ben hob das Gewehr.

Irgendwo dort unten lauerte das pure Grauen. Für Sekundenbruchteile nur hatte Sarah ES gesehen. Allein der Gedanke an diesen Anblick reichte schon, um ihr schier das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Ben und Sarah wechselten einen kurzen Blick.

Er nickte nur kurz.

Sie brauchten nichts zu sagen. Jeder wusste um die Gedanken des anderen.

Wir sind unmittelbar in SEINER Nähe, dachte Sarah mit eisigem Schauder. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.

Ihre Hände krampften sich zusammen.

Hätten wir nur ein zweites Gewehr mitgenommen!

Sie biss sich auf die Lippe, starrte an jene Stelle im Sumpfwasser, die vor wenigen Augenblicken noch das Zentrum jener verräterischen Kreise gewesen war.

Ein dunkler Schatten tauchte dort unten nun auf. Etwas bewegte sich unterhalb der Wasseroberfläche auf das Boot zu.

Dem nur schattenhaft sichtbaren Umriss nach, hatte es Ausmaße, die weit über die der größten Alligatoren hinausging, die Sarah je zu Gesicht bekommen hatte.

Es war auch kein Alligator.

Ben senkte den Lauf des Jagdgewehrs, dessen Kaliber ausgereicht hätte, um Elefanten und Nashörner zu töten.

Er feuerte.

Der laute Knall durchschnitt die Todesstille.

Ein weiterer Schuss folgte.

Das Wasser spritzte zu kleinen Fontänen auf.

Etwas tauchte an die Oberfläche. Riesige, kalte Facettenaugen glitzerten im verlöschenden Licht der Dämmerung. Ein dunkler, blubbernder Laut erfüllte die Stille.

Eine riesige Hand legte sich auf den Bootsrand. Sie besaß vier monströs lange Finger, zwischen denen schuppige Schwimmhäute wuchsen und an deren Enden sich messerscharfe Krallen befanden, die die Größe von Buschmessern besaßen. Die Krallen hakten sich im Holz des Bootes fest. Eine zweite, ebenso riesenhafte Pranke griff nach dem Boot. Es neigte sich zur Seite.

Ben schlug mit dem Gewehrkolben auf das unheimliche Wesen ein, das aus der Tiefe emporgekommen war.

Sarah schrie, als der Kopf vollends zum Vorschein kam.

Die Facettenaugen wechselten die Farbe. Sie leuchteten jetzt rot, als ob es sich um Lampen gehandelt hätte. Dieses dämonisch wirkende Leuchten begann zu pulsieren. Ein zischender Hauchlaut drang aus dem gewaltigen, zahnlosen Maul der Bestie. Auf dem grünlich schimmernden, an einen Riesenlurch erinnernden Kopf befanden sich drei dolchartig in die Höhe ragende Hörner.

Die Einschusslöcher waren oberhalb des breiten Riesenmauls zu sehen.

Die Kugeln haben dem Wesen nichts anhaben können, durchzuckte es Sarah mit Schaudern. Sie suchte nach einer Waffe und nahm ein Paddel. Aber noch ehe sie damit nach der Bestie schlagen konnte, drückte diese den Bootsrand soweit nieder, dass es kenterte.

"Ben!", schrie sie.

Sie stürzten beide ins Wasser.

Ben fiel der Bestie direkt entgegen.

Eines der Hörner durchbohrte ihn. Die Bestie zog ihn in die Tiefe.

"Ben!", schrie Sarah noch einmal, während sie in dem modrigen Wasser zu schwimmen versuchte.

Mit ungläubigem Entsetzen starrte sie zu jener Stelle hin, an der das Wesen mit ihrem Mann verschwunden war. Nichts war geblieben, außer Kreisen im Wasser.

Mein Gott, das ist nicht wahr!

Sarah blickte sich um.

Wohin soll ich schwimmen? Hier ist weit und breit kein festes Land...

Die einzige Möglichkeit war, zurück zum gekenterten Boot zu gelangen. Sie versuchte es. Wir hätten nie hier kommen dürfen... nie! Sie kämpfte sich mit der Kraft der Verzweiflung vorwärts. Vor ihrem inneren Auge stand dabei noch immer jenes Bild des Grauens, das sie soeben gesehen hatte...

Ben...

Sie erreichte das gekenterte Boot.

Luftblasen stiegen aus der Tiefe empor und zerplatzten mit blubbernden Geräuschen an der Oberfläche.

Sarah erstarrte.

Mit beiden Händen hielt sie sich krampfhaft an dem gekenterten Boot fest.

Dann fühlte sie, wie etwas ihr Bein mit eisernem Griff umklammerte und sie in die Tiefe riss.

Ihr schauerlicher Todesschrei erstickte jäh, als sie unter die Wasseroberfläche gezogen wurde...

Das letzte, was sie sah, waren zwei rot leuchtende Lichter, irgendwo unter ihr in der Tiefe.

Die Augen der Bestie...


*


"Das darf doch nicht wahr sein!", rief ich ärgerlich aus, als das Computernetzwerk unserer Redaktion in dieser Woche zum dritten Mal abstürzte.

Der Artikel, den ich gerade fertiggestellt und layoutet hatte, war unrettbar verloren. Der einzige Trost dabei war, dass es sich nur um einen Zwanzig-Zeiler gehandelt hatte. Aber ärgerlich war es trotzdem.

Ich lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück und atmete erstmal tief durch, während sich zur gleichen Zeit überall sonst im Großraum-Büro der LONDON EXPRESS NEWS hektische Aktivität entfaltete. Fachbegriffe aus der Computersprache wurden durch die Gegend gerufen. Ich hörte mir das gelassen an. Ahnung hatte nämlich leider niemand aus unserem Reporter-Team.

Und das war wohl auch der tiefere Grund dafür, dass wir seit Einführung des neuen Computersystems bei unserem Blatt nie so recht glücklich damit geworden waren.

"Hier, nimm erstmal einen Kaffee - auch wenn er so dünn ist, dass man ihn für guten englischen Tee halten könnte", sagte hinter mir eine nur allzu vertraute Stimme. Tom Hamilton kam auf mich zu und balancierte dabei zwei Becher unseres berüchtigten Redaktions-Kaffees. Einen davon stellte er auf meinen Schreibtisch. Er lächelte. "Sieh zu, dass du nichts verschüttest, sonst heißt es hinterher, dass du an dem ganzen Chaos hier schuld bist, weil ein paar Spritzer dieses edlen Gebräus in den Rechner gelangt sind."

"Ich werd schon aufpassen, Tom..."

Ich drehte mich herum.

Unsere Blicke trafen sich. Seine Augen waren meergrün und erinnerten mich stets an den Geruch von Seetang. Ein wohliger Schauer überlief mich jedesmal, wenn Tom mich auf diese Weise ansah. In solchen Momenten wünschte ich mir, dass wir an einem ganz anderen Ort gewesen wären.

Ohne unsere Reporter-Kollegen und ohne die ganze Hektik des Redaktionsbüros...

Ich glaube, du weißt gar nicht, wie sehr ich dich liebe, dachte ich, während er mich sanft am Arm berührte und mir einen Kuss gab.

"Was hältst du davon, wenn wir uns ein bisschen zur Recherche ins Archiv zurückziehen, bis unsere Kollegen das Chaos hier wieder geregelt haben?", fragte er mit seiner dunkel klingenden Stimme.

"Patricia! Tom! Ihr sollt zum Chef kommen!", rief unser Kollege Kelly J. Maddox zu uns herüber. Er war seit ein paar Wochen für die Londoner Lokalseiten der NEWS zuständig und sah ziemlich genervt aus.

Ich erwiderte Toms verschlingenden Blick.

"Leider zu spät, Tom."

"Michael T. Swann muss etwas gemerkt haben..."

"Scheint so."

"Entweder der Verlag hat inzwischen Überwachungskameras in den Redaktionsräumen installiert, oder Mr. Swann verfügt über eine ähnliche seherische Gabe wie du..."

Ich seufzte. " So präzise sind meine seherischen Visionen leider nie gewesen..."

Wir nahmen unsere Kaffeebecher, nippten kurz daran, damit wir auf dem Weg zu Mr. Swanns Büro nichts verplemperten und machten uns dann auf den Weg.

Wir durchquerten dabei das halbe Großraumbüro.

Zwischendurch hörte ich mit einem halben Ohr, wie Kelly Maddox einem anderen Kollegen gegenüber etwas von den Ergebnissen der hiesigen Bezirksliga im Crockett erzählte, die er für einen Saisonrückblick in mühseliger Kleinarbeit in die EDV eingegeben hatte.

"Ich war gerade fertig", berichtete Kelly mit großer Geste. "Und dann..."

Den Rest hatten wir alle erlebt.

Wir betraten das Büro unseres Chefredakteurs. Michael T. Swann saß hinter seinem völlig überladenen Schreibtisch.

"Schöner Mist ist das!", begrüßte er uns in einem Tonfall, bei dem man denken konnte, dass er uns dafür verantwortlich machte, dass im Moment bei den NEWS alle Räder - und vor allem alle Tastaturen - absolut stillstanden. Aber ich kannte ihn inzwischen gut genug, um seine Ausbrüche einordnen zu können.

"Setzen Sie sich", sagte er und deutete auf die schlichten Ledersessel, die schon seit ewigen Zeiten in seinem Büro standen. Auf einem niedrigen Tischchen konnten wir unsere Kaffeebecher abstellen.

dass wir uns setzen sollten, bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass er etwas Wichtiges mit uns zu besprechen hatte.

Swann erhob sich und tauchte hinter den bedenklich zur Seite geneigten Stapeln von Manuskripten, Presseerzeugnissen der Konkurrenz und Aktenordnern hervor. Er umrundete den Tisch und lehnte sich mit der Hüfte dagegen. Dann deutete er in Richtung der Tür, die durch das Vorzimmer seiner Sekretärin zum Großraumbüro führte, in dem der Rest der Redaktion untergebracht war.

"Im Moment können Sie da draußen ohnehin nichts machen, da dachte ich mir, ich nutze die Zeit, um etwas mit Ihnen beiden zu besprechen."

"Ich hoffe nur, dass das neue System bald wieder in Ordnung kommt, sonst wird es mit der heutigen Ausgabe knapp...", stellte ich fest.

Mr. Swann verschränkte die Arme vor der Brust.

"Nicht knapper, als beim letzten Mal. Ich habe den Kundendienst angerufen. Der Rest liegt in den Händen der Daten-Götter!" Mr. Swann verdrehte die Augen. "Ich war von Anfang an gegen eine so schnelle Umstellung auf ein neues System, aber mich fragt ja keiner..."

"Sie übertreiben."

Er lächelte.

"Vielleicht ein bisschen. Patricia, sagt Ihnen der Name Brian Delrey etwas?"

"Nein, tut mir leid. Nicht so aus dem Stegreif..."

"Aber mir!", erklärte Tom. "Sie meinen sicher den Schauspieler."

"Den ehemaligen Schauspieler", korrigierte Michael T. Swann bedächtig. "Sie liegen richtig, Mr. Hamilton."

"Ich habe Delrey mal interviewt, als ich für meine letzte Agentur in Asien unterwegs war. Ich traf Delrey in Hongkong. Er drehte damals einen dieser unsäglichen Kung Fu-Streifen."

"Damals war Delreys Karriere wohl schon an ihrem Endpunkt angelangt", meinte Swann. "Seine Filme waren nie gut, wenn Sie mich fragen. Aber er hat sich eine goldene Nase damit verdient. Schlagzeilen machte er, als er sich dem Okkulten zuwandte, vom Ende der Welt und übersinnlichen Energien daherfaselte. Er galt als mehr oder minder verrückt und zog sich völlig aus dem Film-Business zurück. Seit einigen Jahren lebt er völlig zurückgezogen auf einem Anwesen in Florida, umgeben von Sümpfen und hungrigen Alligatoren."

"Hört sich nicht gerade nach einem Menschenfreund an", bemerkte Tom.

Swann lachte kurz auf. "Das kann man laut sagen. Wie auch immer, nach Jahren der Einsamkeit gibt Delrey sich die Ehre und bietet den LONDON EXPRESS NEWS über seinen Agenten ein Interview an..."

"Warum gerade uns?", fragte Tom. "Soweit ich weiß, hat Delrey seine britische Staatsbürgerschaft abgelegt und ist Amerikaner geworden..."

"Heimatverbundenheit dürfte es nicht sein", stellte Mr. Swann klar. Er wandte sich an mich. "Es dürfte eher mit Ihnen zu tun haben, Patricia."

"Mit mir?"

"Ja. Um genau zu sein: Das Angebot hat zur Bedingung, dass Sie dabei sind. Ich nehme an, das liegt daran, dass Delrey Ihre Artikel gelesen hat und glaubt, dass Sie ihn besser verstehen..."

Swann spielte auf mein Spezialgebiet an, dem ich mich ja auch in meinem Beruf als Reporterin mit Vorliebe widmete: dem Bereich des Übersinnlichen und Außergewöhnlichen.

"Wie wär's, Patricia? Hier in England wird's langsam kühl, aber in Florida soll das Klima immer noch sehr angenehm sein... Außerdem..." Swanns Blick wurde sehr ernst. "Es ist vielleicht nicht schlecht, wenn Sie beide im Moment etwas aus der Schusslinie kommen."

Ich sah Swann erstaunt an.

"Was soll das denn heißen?"

"Patricia, Sie wissen, dass es in der Führungsetage unseres Verlages im Moment drunter und drüber geht..."

Das war noch untertrieben.

Der plötzliche Tod unseres Verlegers Arnold Reed hatte eine Lücke gerissen, die nicht so ohne weiteres zu schließen war.

Eine Erbengemeinschaft besaß jetzt die LONDON EXPRESS NEWS.

Und so lange die sich nicht über die Zukunft unseres Verlages geeinigt hatte, wussten wir nicht genau, wie es weitergehen würde. Möglicherweise stand der Verkauf der Zeitung an einen großen Konzern auf der Tagesordnung - aber das waren bislang nichts als Gerüchte.

"Sie wissen, dass Mr. Reed sich mit seinen breiten Schultern immer vor uns gestellt hat, wenn es mal kritisch wurde", erklärte Swann. "In Zukunft könnte das anders aussehen. Insbesondere, was den Druck angeht, den der ORDEN DER MASKE über die Anzeigenkunden auf unser Blatt ausübte..."

Die mysteriöse Weltuntergangssekte mit der Bezeichnung ORDEN DER MASKE hatte auch mit dem Tod unseres Verlegers zu tun, wie Tom und ich bei unseren Recherchen im schottischen Mondrich Manor herausgefunden hatten. Denn niemand anderes als dieser ORDEN steckte hinter dem Auftauchen jener Vampirwesen mit der Bezeichnung Tuha-na-Dhyss, denen Arnold Reed zum Opfer gefallen war. Wir hatten ihm nicht mehr helfen können. Vielleicht hatte Arnold Reed seinen Mut auf diese Weise bitter bezahlen müssen.

Die genauen Umstände von Arnold Reeds Tod waren der Öffentlichkeit allerdings nach wie vor unbekannt. In unseren Artikeln hatten Tom und ich nur das aufgenommen, wofür es zweifelsfreie Beweise gab. Und die übersinnliche Vision, in der ich die Wahrheit gesehen hatte, wäre von der Polizei kaum als Beweismittel anerkannt worden. Sie hätte mich allenfalls in den Genuss einer psychiatrischen Behandlung bringen können.

"Der ORDEN DER MASKE wird seine Bemühungen mit Sicherheit verstärken, über seine Tarnorganisationen Druck auf unsere Anzeigenkunden auszuüben - und ich weiß nicht, wie diese zerstrittene Erbengemeinschaft dann reagieren wird, Patricia..."

"Jeder Artikel von mir ist durch die Rechtsabteilung gegangen", gab ich zu bedenken.

"Glauben Sie, es interessiert die, ob es wirklich eine juristische Möglichkeit gibt, gegen Sie vorzugehen, Patricia?

Die machen unseren Anzeigenkunden einfach so sehr die Hölle heiß, dass die in Zukunft bei der Konkurrenz buchen. So einfach ist das."

Swann atmete tief durch. "Sie wissen, dass ich immer hinter Ihnen stehe. Darauf können Sie sich verlassen. Aber was die Etage über mir angeht, kann ich im Moment für nichts mehr garantieren..."

"Naja, vielleicht beruhigt sich ja auch dort Lage irgendwann wieder", meinte Tom.

"Das wollen wir alle hoffen."

Swann drehte sich um und suchte etwas auf dem Schreibtisch.

Die Papierstapel wankten dabei bedenklich. Aber unser Chefredakteur hatte Übung darin, aus diesem - scheinbaren - Durcheinander mit wenigen Griffen exakt das herauszufischen, was er brauchte.

Es war ein braunes Couvert.

Er gab es mir.

Außen waren das Logo und die Adresse der Agentur Percy Dennham aufgedruckt, einer bekannten Firma in der Branche, von der sich offenbar auch Brian Delrey vertreten ließ. Ich öffnete das Couvert und sah hinein. "Flugtickets", stellte ich erstaunt fest.

Swann nickte. "Für Sie und einen Fotografen. Mr. Delrey liegt offenbar sehr viel daran, sein Image in der Öffentlichkeit wieder aufzubessern. Percy Dennham hat mir am Telefon durch die Blume zu verstehen gegeben, dass Delrey unter akutem Geldmangel leidet und vielleicht ins Filmgeschäft zurückkehren will. So etwas muss natürlich durch eine Pressekampagne vorbereitet werden. Und wenn wir die Story schon exklusiv bekommen... Mein Gott, er hat eben immer noch zahlreiche Fans! Und auch wenn er Ihnen nicht gleich ein Begriff war: Die Videoeditionen seiner Hau-drauf-

Filme sind ein Renner! Nur kriegt Delrey dafür kein Geld mehr!"

Ich blickte auf den Umschlag.

Swanns Stimme hörte ich in diesem Moment wie aus weiter Ferne. Das sandfarbene Braun des Umschlag löste irgend etwas in mir aus...

Konturen hoben sich daraus hervor. Ein großer froschähnlicher Kopf mit drei Hörnern. Er wirkte wie eine Skulpur, die aus feuchter Erde geformt worden war. Das zahnlose Maul öffnete sich, verzog sich zu einer höhnischen Grimasse.

Ich glaubte einen Laut zu hören, der wie ein heftiges Atmen klang.

Eisige Schauder überliefen mich.

Ein dunkler Hauch des Todes...

Die Konturen verschwanden wieder, wurden nach und nach eins mit der sandfarbenen Oberfläche des Umschlags, aus dem sie hervorgegangen waren. Ich schluckte, strich vorsichtig mit der Hand über das Couvert und spürte dabei, wie meine Hand leicht zitterte.

"Ist Ihnen nicht gut, Patricia?", fragte Michael T. Swann. "Sie sehen plötzlich so blass aus..."

Mir war klar, dass niemand sonst im Raum den froschähnlichen Lehmkopf gesehen hatte.

Es war eine Vision gewesen, verursacht durch meine übersinnliche Gabe, mit deren Hilfe ich hin und wieder schlaglichtartig die Abgründe von Raum und Zeit überwinden konnte.

"Muss wohl der Wetterumschwung sein", murmelte ich an Swann gewandt.

Ich griff nach dem Kaffeebecher und trank ihn leer. Der Kaffee war inzwischen kalt und schmeckte bitter. Was, um alles in der Welt, war das?, ging es mir durch den Kopf.

Das Gefühl einer unbestimmten, vagen Angst erfüllte mich, obwohl es dafür keinen vernünftigen Grund gab. Mein Herz raste und ich glaubte einen Augenblick lang, nicht richtig Luft zu bekommen.

Patti, bleib auf dem Teppich. Es war eine Vision wie viele andere zuvor...

Im Grunde war diese Erscheinung noch nicht einmal besonders spektakulär gewesen. Ich hatte schon viel schlimmere Dinge gesehen, grauenerregende Szenen geradezu durchlebt, nur um ihnen später, in der Realität, erneut ausgesetzt zu sein...

Ein Froschkopf, mehr nicht.

Ich versuchte es mir zumindest einzureden.


*


"Was hast du gesehen?", fragte mich Tom, als wir Swanns Büro verlassen hatten. Er fasste mich bei den Schultern und sah mich an. Tom Hamilton, der Mann, den ich liebte, war einer der der ganz wenigen Menschen, die überhaupt etwas von meiner übersinnlichen Begabung wussten. Und wir kannten uns längst gut genug, um uns gegenseitig nichts mehr vormachen zu können.

Ich drehte mich kurz um, dann sagte ich: "Es war der Umschlag. Er schien sich plötzlich zu verwandeln... Da war eine Art Lehmfigur. Ein dreihörniger Frosch..."

Tom hob die Augenbrauen.

"Hast du eine Ahnung, was das zu bedeuten hat?"

"Wenn ich das wüsste!"

"Vermutlich hängt es mit unserer bevorstehenden Florida-Reise zusammen..."

Ich atmete tief durch. "Ich habe keine Ahnung", erwiderte ich. Ich versuchte zu lächeln, nestelte am Revers seiner Jacke.

"Wir nehmen das ganz ruhig hin, okay?"

Ich schlang die Arme um seinen Hals zog ihn etwas zu mir hinunter.

Wir küssten uns.

"Okay", sagte er dann.

"Der Trip nach Florida wird uns beiden sicher guttun, Tom. Ich für mein Teil habe jedenfalls die schrecklichen Ereignisse um Mondrich Manor noch nicht verdaut..."

Tom legte den Arm um mich.

Einige Sekunden lang genoss ich das Gefühl der Geborgenheit, das ich in seiner Nähe stets verspürte. Dann erinnerte ich mich daran, dass wir hier keineswegs allein waren.

Tom blickte auf die Uhr.

"Oh, ich muss noch weg..."

"Was Interessantes?"

"Wie man's nimmt. Eine Buchpräsentation im Kaufhaus Harrods. Einer unserer Reporter-Kollegen hat ein ziemlich dickes Werk über die Royals verfasst..."

Ich sah ihm nach, als er davonging. Beim Ausgang drehte er sich noch einmal kurz um.

Ich erwiderte sein Lächeln.

Kaum zu glauben, dass ich Tom zeitweise für eher zwielichtig angesehen hatte, als er bei den NEWS begann. Die Zeit, die er unter mysteriösen Umständen im südostasiatischen Dschungelkloster von Pa Tam Ran verbracht hatte und seine Fähigkeit, sich an vergangene Leben zu erinnern, sorgten allerdings dafür, dass er für mich noch immer mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben war. Aber das machte mir keine Angst. Es erregte höchstens meine Neugier.

Ich ging zurück zu meinem Schreibtisch.

Auf meinem Computerschirm tanzten jetzt irgendwelche lustigen Männchen.

Immerhin, der Bildschirmschoner ist schon wieder in Ordnung, dachte ich mit einem Schuss Sarkasmus.

Im Moment konnte ich nichts tun.

Also entschloss ich mich, mal im Archiv unserer Zeitung nachzusehen, was ich über Brian Delrey herausfinden konnte.

Wieso will dieser Mann eigentlich ausgerechnet mich als Interviewpartner?

Irgendwie erschien mir Swanns Erklärung dafür auf einmal wie an den Haaren herbeigezogen...

Ein mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.


*


Ein eisiger Wind wehte aus Richtung Nordosten über Greater London. Der Tag war kalt und ungemütlich gewesen; grau und aschfahl der Himmel, aus dem es immer wieder mehr oder minder heftig geregnet hatte. Früh war die Dämmerung hereingebrochen. Jetzt zogen Nebel von der Themse herauf und krochen wie vielarmige Ungeheuer durch die Straßen der Stadt.

Eigentlich solltest du froh und glücklich sein, ein paar Tage im sonnigen Florida verbringen zu können!

Unter normalen Umständen wäre ich das auch gewesen.

Hätte es nicht jene, nur Sekunden währende Vision in Michael T. Swanns Büro gegeben, die sich wie ein lähmendes Gift auf meine Stimmung ausgewirkt hatte...

Ich lenkte meinen kirschroten Mercedes 190 durch das abendliche London.

Wie Mehltau lag der Nebel über der Stadt und verhinderte, dass man ihr strahlendes Lichtermeer bewundern konnte.

Ich erreichte schließlich mein Zuhause, die Villa meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing - für mich Tante Lizzy.

Den 190er fuhr ich in die Einfahrt. Ich stieg aus und schlug den Kragen meiner Jacke hoch. Der feuchten Kälte bot die Kleidung kaum Widerstand.

Ich ging zur Haustür, schloss auf und trat in den halbdunklen Flur, dessen Wände vollkommen von überfrachteten Bücherregalen bedeckt waren. Mit Ausnahme meiner eigenen Räume, die im Obergeschoss lagen, sah es in der gesamten Vanhelsing Villa so aus.

Tante Lizzys berühmte Sammlung okkulter Schriften, ihr Archiv des Übersinnlichen und Ungewöhnlichen, das in ganz England seinesgleichen suchte, sprengte längst den räumlichen Rahmen, den die Vanhelsing-Villa bot. So wurde beinahe jeder Zentimeter ausgenutzt.

Oft verbrachte sie ganze Nächte in der Bibliothek und hatte dann Dutzende alter, staubiger Folianten von mysteriöser Herkunft aufgeschlagen auf dem Fußboden und kleinen Tischchen liegen, die in der Bibliothek herumstanden. Mit bewundernswerter Akribie ging die alte Dame dann ihren Studien nach.

Aber an diesem Abend brannte kein Licht in der Bibliothek.

Auch in der Küche fand ich sie nicht.

Sie saß zusammengesunken in einem großen Ohrensessel, der im Salon stand. Zunächst bemerkte sie mich gar nicht. Ihre Augen waren ins Nichts gerichtet.

"Tante Lizzy!"

Sie zuckte zusammen und es tat mir leid, sie erschreckt zu haben. Aber andererseits musste ich mich ja irgendwie bemerkbar machen.

Sie lächelte matt.

Anders als ich es sonst bei ihr gewohnt war, wirkte sie jetzt sehr müde.

"Tut mir leid, mein Kind, ich war in Gedanken", sagte sie.

"Weißt du, die Ereignisse von Mondrich Manor gehen mir noch immer durch den Kopf..." Nicht viel hatte gefehlt und Tante Lizzy wäre nicht mehr zu retten gewesen - so wie ich selbst.

Denn auch ich hatte bereits das Bissmal der vampirähnlichen Tuha-na-Dhyss getragen. "Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass Arnold Reed nicht mehr unter uns weilt", sagte sie dann. Die alte Dame war mit dem Verleger der LONDON EXPRESS NEWS seit langem befreundet gewesen - eine Tatsache, der ich unter anderem meine Anstellung als Reporterin mehr oder weniger verdankte.

Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand.

Sie war eiskalt.

"Es war entsetzlich, was wir erlebt haben, Patti..."

"Ja, ich weiß."

"Manchmal, da verfolgen diese Dinge mich bis in den Schlaf..."

"Das geht mir ganz genauso, Tante Lizzy..."

Für einen kurzen Augenblick tauchten jene gewaltigen Schwärme von Fledermäusen wieder vor meinem inneren Auge auf, die des Nachts in der Gegend um Mondrich Manor in die Luft gestiegen waren, um grausame Jagd auf Mensch und Tier zu machen. Bei der Landung hatten sie sich dann in monströse Bestien verwandelt, gegen die selbst Schusswaffen nichts ausrichten konnten.

Ich versuchte, die inneren Bilder zu verscheuchen.

"Du bist spät dran heute", sagte Tante Lizzy, während sie sich ächzend erhob und sich mit der Hand etwas den Rücken hielt.

Ich erzählte ihr von dem Computerabsturz, der dafür verantwortlich gewesen war, dass wir unsere Arbeit mehr oder weniger doppelt machen mussten. Mit letzter Not hatten wir den Redaktionsschluss einhalten können.

Ich berichtete ihr auch von unserem bevorstehenden Abstecher nach Florida und der kurzen Vision, die ich gehabt hatte.

"Und du bist überzeugt davon, dass das etwas miteinander zu tun hat?", hakte Tante Lizzy nach.

Ich nickte.

"Das steht für mich fest."

Tante Lizzy hatte mich immer darin bestärkt meiner Gabe zu vertrauen. Und inzwischen konnte ich sie tatsächlich auch schon wesentlich besser kontrollieren und hatte sie längst als einen Teil meiner selbst akzeptiert.

"Ich habe letzte Woche auf eine Versteigerung eine Schrift mit dem Titel LEHMFETISCHE UND GOLEMS erworben, die von dem schwedischen Okkultisten und Geisterseher Sören Brönstrup stammt. Brönstrup begleitete zu Beginn des 19. Jahrhunderts den deutschen Forscher Alexander von Humboldt auf seiner berühmten Amerika-Reise, bevor er schließlich sein Interesse an naturwissenschaftlichen Themen verlor und sich der Erforschung des Übersinnlichen zuwandte. Ähnlich wie Humboldt war Brönstrup ein begnadeter Zeichner. Ich habe LEHMFETISCHE UND GOLEMS bislang nur flüchtig durchblättert, aber einige dieser zeichnerischen Darstellungen erinnerten mich stark an deine Beschreibung dieses Froschkopfs..." Tante Lizzy machte ein nachdenkliches Gesicht. "Ich glaube, das Buch liegt noch drüben auf dem Schreibtisch. Du hast Glück. Morgen hätte ich es von der Buchbinderei Bradley & Sons abholen lassen, damit der Einband wieder in Ordnung gebracht wird. Der Band ist nämlich in keinem guten Zustand..."

Ich folgte Tante Lizzy in den Flur.

Dann betraten wir die Bibliothek.

Tante Lizzy ging zielstrebig auf den in einer Ecke stehenden, antiken Schreibtisch zu, an dessen vier Ecken sich eigenartige Schnitzereien von tierhaften Dämonenköpfen befanden. Auch dieser Schreibtisch gehörte gewissermaßen zu ihrer Sammlung des Okkulten. Sie hatte das außergewöhnliche Möbelstück antiquarisch erworben und in einem Geheimfach einen sensationellen Fund gemacht: Notizen des berühmten Okkultisten Hermann von Schlichten, die dieser für den mysteriösen zweiten Band seines Hauptwerks ABSONDERLICHE

KULTE angefertigt hatte. Jenen zweiten Band, dessen vollständiges Manuskript wahrscheinlich bei einem Hausbrand ein Raub der Flammen geworden war.

Ein ganzer Stapel von Büchern befand sich auf dem Schreibtisch. Tante Lizzy trug den Turm ab. Es staubte dabei und ich musste unwillkürlich niesen. Dann lag Brönstrups LEHMFETISCHE UND GOLEMS vor mir.

"Brönstrup schrieb Englisch?", fragte ich erstaunt, während ich einen Blick auf die Titelseite warf.

"Nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten ja", erläuterte Tante Lizzy. "Er machte gewisse Experimente auf einem Friedhof in Stockholm und wurde wegen Grabschändung angeklagt. Um sich einer Bestrafung zu entziehen, floh er außer Landes."

In diesem Moment läutete der Türgong.

In Tante Lizzys Augen blitzte es. Von der Mattheit, die sie noch vor wenigen Augenblicken gezeichnet hatte, war so gut wie nichts geblieben. Sobald Tante Lizzy sich in ihre Arbeit stürzte, war sie in ihrem Element. Manchmal hatte ich ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich recht häufig bei Recherchen ihre Hilfe in Anspruch nahm. Stets hatte sie mich nach Kräften unterstützt, wenn es darum ging, etwas genauer zu erforschen, was auch nur im entferntesten mit übersinnlichen Kräften, Parapsychologie oder Grenzwissenschaften zu tun hatte. Aber im Moment half ihr eine solche Aufgabe vielleicht über die melancholischen Gedanken hinweg, die sie angesichts der jüngsten Ereignisse befallen hatten.

"Ich mach schon auf", sagte ich.

Aber Tante Lizzy schüttelte den Kopf und hatte, ehe ich mich versah, auch schon einige Schritte in Richtung Tür hinter sich gebracht.

"Der Besuch ist für mich!", sagte sie lächelnd. "Und falls es doch dein geliebter Tom sein sollte, werde ich ihn nett hereinbitten!"

Der Gong dröhnte ein weiteres Mal.

Der Besucher - wer immer es zu dieser späten Stunde auch sein mochte - war offenbar ziemlich ungeduldig.

Tante Lizzy eilte zur Haustür. Einen Augenblick später hörte ich eine sonore Männerstimme im Flur. Tante Lizzy führte einen kleinen, rundlichen Mann in die Bibliothek, der ungefähr ihr Alter hatte. Außer einem grauweißen Haarkranz hatte er keinerlei Haare mehr am Kopf. Der dreiteilige Anzug, den er trug, war maßgeschneidert. In der Linken hielt er eine Aktentasche, die an einer Stelle ziemlich ausgebeult war.

Tante Lizzy stellte mir diesen älteren Herrn als Professor Dr. Hugh St.John vor, einen Chemiker, der mit Onkel Frederik gut bekannt gewesen war. "Ich habe Professor St.John um die chemische Analyse der Ordensmaske gebeten", erklärte sie an mich gerichtet. Während der Ereignisse um Mondrich Manor waren wir einem Mitglied des ORDENS DER MASKE begegnet, der unter mysteriösen Umständen verschwand. Wir wussten nicht, wer er gewesen war. Nichts war von ihm geblieben als die zu einem formlosen Klumpen Materie geschmolzene Maske, die er getragen hatte. Mit Hilfe ihrer Masken erhielten die Mitglieder ORDENS Befehle von ihrem Herrn und Meister, einem Wesen namens Cayamu, das auf dem Planeten einer fernen Doppelsonne residierte. Außerdem konnten sie sich mit ihrer Hilfe in sogenannte Geister der Sonne verwandeln - grauenerregende und beinahe unverwundbare Wesen, die Cayamus Befehle bedingungslos ausführten.

"Nun, Mrs. Vanhelsing", wandte Professor St. John sich an meine Großtante. "Ich muss Ihnen leider sagen, dass meine Bemühungen nicht sehr erfolgreich waren..." Er griff in die ausgebeulte Aktentasche und holte den bronzefarbenen Klumpen hervor. Tante Lizzy nahm ihn entgegen und legte ihn auf einen der zierlichen runden Tische ab.

Sie hob erstaunt die Augenbrauen.

"Sie haben nichts über die chemische Zusammensetzung dieses Klumpens herausfinden können?"

"Nun, es handelt sich um eine Substanz, die auf der Erde unbekannt und beinahe unzerstörbar ist", erklärte Professor St. John. "Mit den Möglichkeiten unseres Instituts werde ich aber leider nicht viel mehr herausfinden können, Mrs. Vanhelsing. So gerne ich Ihnen auch helfen würde..."

"Nun, haben Sie trotzdem vielen Dank für Ihre Bemühungen. Möchten Sie noch eine Tasse Tee?"

"Nein, danke, Mrs. Vanhelsing. Um diese Zeit nicht mehr."

St.John druckste etwas herum. Ich spürte ganz genau, dass er noch etwas sagen wollte, aber nicht genau wusste, wie er es in Worte fassen sollte. Schließlich brachte er heraus: "Woher haben Sie diesen Materieklumpen?"

Tante Lizzy sah mich einen Moment lang etwas ratlos an.

Ich vermutete, dass sie Professor St.John nicht die Wahrheit gesagt hatte. Und das mit gutem Grund! Denn wenn durchsickerte, dass dieser Klumpen bronzefarbenen Materials etwas mit dem Tod von Arnold Reed zu tun hatte, dann hatten wir im Handumdrehen Scotland Yard im Haus. Und auf die Fragen, die man uns dann gestellt hätte, hatten Tante Lizzy und ich auch keine Antworten. Zumindest keine, die man uns abgekauft hätte.

"Sie wissen ja, dass ich vieles aus Haushaltsauflösungen übernehme, Professor..."

"Ja, ja...", murmelte St. John, während sein Blick über die langen Reihen staubiger Folianten glitt, die sich in den bis zur Decke reichenden Bücherregalen drängten.

"Warum fragen Sie nach der Herkunft des Materials?", hakte Tante Lizzy nach.

"Weil ich die Vermutung habe, dass dieses Stück, dass Sie mir zur Analyse überließen, außerirdischen Ursprungs ist..."


*


Professor St. John blieb noch eine ganze Weile, um mit Tante Lizzy über das Thema zu diskutieren. Ich eiste mich schließlich los und nahm LEHMFETISCHE UND GOLEMS mit hinauf in meine Räume. Ich blätterte etwas in dem reich illustrierten Band, fand schließlich Abbildungen einiger indianischer Sumpfgottheiten, die dem, was ich gesehen hatte, stark ähnelten. Insbesondere fielen mir Ähnlichkeiten zu einer Wesenheit auf, deren Bezeichnung mit dem Wort Quanandro wiedergegeben wurde. Leider waren Brönstrups Anmerkungen zu Quanandro äußerst spärlich. Er erwähnte lediglich, dass eine Reihe mit drei Hörnern ausgestatteter Amphibien-Fetische bei Völkern in Südamerika sowie in Afrika zu finden seien. Seinen Ausführungen nach handelte es sich in allen ihm bekannten Fällen um Wesenheiten, die den Tod und das Chaos verkörperten... Dann folgte noch eine persönlich gefärbte Notiz des schwedischen Okkultisten. Er berichtete darin, in Boston einen spanischen Handelsherrn aus Florida getroffen zu haben, der von einem mysteriösen Herrn der Sümpfe berichtete - einem Dämon, dessen Einflussbereich sich unaufhaltsam ausdehnen würde und dessen Gestalt genau jener Brönstrups zeichnerischer Darstellung entsprach.

Ich atmete tief durch und legte das staubige, halb auseinanderfallende Buch schließlich zur Seite.

Bist du jetzt schlauer?

Ich war hundemüde. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es höchste Zeit war, ins Bett zu gehen.

Schließlich musste ich am nächsten Morgen wieder pünktlich in der Redaktion sein.


*


Alpträume quälten mich in jener Nacht und ließen mich trotz meiner Müdigkeit einfach nicht zur Ruhe kommen.

Oft wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Vor meinem inneren Auge tauchten immer wieder froschgesichtige Lehmfetische auf.

"Quanandro!", rief ein Chor dunkler Männerstimmen.

"Quanandro!"

Immer wieder von neuem wiederholten sie diesen Namen, murmelten ihn wie in einem Singsang.

Ich erwachte schließlich schweißgebadet. Das Nachthemd klebte mir am Körper und ich zitterte.

Dann schlug ich wie automatisch die Bettdecke zur Seite.

Barfuß ging ich über den Teppichboden, hinaus aus meinem Schlafzimmer, durchquerte das Wohnzimmer und erreichte dann die Treppe.

Wohin gehst du?

Die Frage stand in meinem Kopf, ohne dass es dafür eine Antwort zu geben schien.

Ich bewegte mich wie ein ferngesteuerter Automat.

Jeder Schritt meiner nackten Füße, jede noch so kleine Bewegung - alles schien völlig selbstverständlich zu sein.

Was ist mit dir los? Patricia, komm zu dir!

Meine eigenen Gedanken erschienen mir fremd und unwichtig.

Wie ein fernes Echo wirkten sie auf mich, verschwommen und unklar.

Ich ging die Treppe hinunter.

In der Bibliothek brannte kein Licht mehr.

Professor St. John war längst gegangen. Und selbst Tante Lizzy, die nicht viel Schlaf brauchte, war nicht mehr auf den Beinen. Ich hatte das Gefühl, eine übersinnliche Kraft fühlen zu können. Eine Kraft, die mich unwiderstehlich zu sich hinzog und der ich nichts entgegenzusetzen hatte.

Ich betrat die Bibliothek.

Fahles Mondlicht fiel durch eines der hohen Fenster, die so typisch waren, für den Baustil dieser herrschaftlichen viktorianischen Villa.

Das Wetter schien sich etwas beruhigt zu haben. Die Wolkendecke war offenbar vom Wind aufgerissen worden. Ein Fensterladen klapperte, und die Äste in den nahen Baumkronen peitschten hin und her.

Patricia, was tust du?

Die Gedankenstimme klang verzweifelt.

Ich fühlte kein Interesse, kein Mitleid, gar nichts.

Zielstrebig durchschritt ich die weiträumige Bibliothek.

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, das Licht anzuknipsen.

Vor einem kleinen runden Tisch blieb ich stehen. Vor mir lag die zusammengeschmolzene Maske.

Das Mondlicht spiegelte sich in dem metallähnlichen Material.

Wie unter einem inneren Zwang legte ich beide Hände darauf.

Ein elektrisierendes, fast schmerzhaftes Prickeln durchlief meine Arme und durchströmte meinen gesamten Körper.

Eine Kraft, die ich lange nicht gespürt habe, ging es mir durch den Kopf. Die Kraft Cayamus...

In Tante Lizzys Villa hatte sich früher eine vollständig erhaltene Geistermaske des ORDENS DER MASKE befunden, die Frederik Vanhelsing, Tante Lizzys verschollener Mann, von einer seiner archäologischen Reisen mitgebracht hatte.

Zusammen mit Sir Charles Grayer hatte Onkel Frederik eine Tempelanlage der mittelamerikanischen Talketuan-Kultur erforscht und war dabei auf diese geheimnisvolle Maske gestoßen.

Damals, als ich zum ersten Mal die Maske in den Händen hielt und an mein Gesicht legte, hatte ich eine ähnliche Welle der Kraft und Energie in mir gespürt...

Ich war von einer fremden, unheimlichen Macht besessen gewesen, die mich beinahe dazu gebracht hatte, Tante Lizzy zu töten.

Einer der schrecklichsten Momente meines Lebens.

Seitdem hatte mich die Furcht davor nie verlassen, eines Tages wieder unter den Einfluss jenes mysteriösen Wesens namens Cayamu zu geraten, dass die Mitglieder des ORDENS als ihren Herrn ansahen.

Kaum einer, der die konturlose Maske aus einem unbekannten, metallisch glänzenden Material einmal getragen hatte, konnte sich auf Dauer dem Einfluss dieser Kraft entziehen...

Die Erinnerung daran war noch immer lebendig in mir und verfolgte mich in meinen Träumen. Aber in diesem Moment war mir das alles gleichgültig.

Als ich später zusammen mit dem Privatdetektiv Ashton Taylor nach Yukatan reiste, um den Machenschaften des ORDENS DER MASKE auf die Spur zu kommen, nahm ich jene Maske mit, die so lange auf dem Dachboden der Vanhelsing-Villa gelagert hatte.

Sie ging bei den dramatischen Ereignissen um die Ruinen-stadt Yukatan verloren, als in letzter Sekunde verhindert wurde, dass die Anhänger des ORDENS ein dauerhaftes Tor zwischen der Erde und Cayamus Welt errichten konnten.

Ich presste den formlosen Klumpen aus bronzefarbenem, metallisch glänzendem Material an mich. Das Mondlicht spiegelte sich daran.

Auch du wirst eines Tages eine gehorsame Dienerin Cayamus..., sagte eine Stimme in meinem Kopf. Dir bleibt keine Wahl. Dieser Weg ist vorbestimmt.

Ich starrte auf den Klumpen in meinen Armen. Die übersinnliche Energie, die von ihm ausging wurde immer stärker. Eigentlich hätte ich versuchen müssen, mich mit Hilfe meiner Gabe dagegen abzuschirmen, so gut es ging.

Aber ich tat es nicht.

Eine erschreckende Lethargie hatte mich befallen. Es war mir in diesem Augenblick gleichgültig, ob ich eine Sklavin Cayamus wurde, ein willenloses Werkzeug, dass die Befehle des obersten Gebieters ohne zu zögern ausführte. Ganz gleich, was auch verlangt wurde. Allein der Gedanke daran hätte mich zu anderen Zeiten halb wahnsinnig gemacht.

Nicht in diesem Moment.

Ich nahm es mit Gleichmut hin, dass mein freier Wille nicht mehr existierte.

Cayamus Wille ist dein Wille, Cayamus Gedanken sind deine Gedanken...

Wie von den Fäden eines unsichtbaren Marionettenspielers bewegt, ging ich zum Fenster, hob den Metallklumpen empor, so dass das Mondlicht ihn noch mehr erfassen konnte.

Der Klumpen verformte sich langsam.

Konturen wölbten sich aus dem bronzefarbenen Material heraus. Ich starrte wie gebannt auf das, was in meinen Händen geschah. Augenblicke später hatte ich dann die Metallfigur eines Froschwesens in den Händen, die bis in jedes Detail jener Lehmfigur glich, die ich in meiner Vision gesehen hatte.

Quanandro...

Das Gesicht des lurchartigen Wesens verzog sich. Das breite Maul wurde zu einem spöttischen Lächeln.

Du bist nur ein Werkzeug, Patricia Vanhelsing... Eine Figur in den Händen des großen Puppenspielers im Hintergrund, der am Tag des Weltuntergangs die Herrschaft über die Erde übernehmen wird...

Fremde Gedanken drangen in mein Bewusstsein ein, ohne dass ich mich - wie sonst - dagegen abzuschirmen vermochte.

Ich wollte es gar nicht.

"Ja", sagte ich laut in die Stille der Nacht herein, während draußen der Wind wütend an den Bäumen riss, sie hin und her bog und einen Ast geräuschvoll brechen ließ. "Es soll so sein..."

Meine eigene Stimme klang für mich in diesem Augenblick wie die Stimme einer Fremden.

Die Konturen des Metallklumpens in meinen Händen veränderten sich abermals.

Die Statue des bösartigen Sumpfgötzen, die wie eine Übertragung aus Brönstrups LEHMFETISCHE UND GOLEMS wirkte, löste sich auf. Dem geheimnisvollen Material, aus dem die Masken des ORDENS gefertigt waren, schien eine unheimliche Art von Eigenleben innezuwohnen. Das Maul des Amphibienwesens verzog sich zur Grimasse. Quanandro - oder wie immer der Name dieses Sumpfgötzen auch sein mochte - schien über mich und meine Ohnmacht diesen fremden Kräften gegenüber spöttisch zu lachen.

Das Echo dieses zynischen Lachens glaubte ich für Augenblicke als leisen Widerhall in meinem Bewusstsein wahrzunehmen...

Dann sah ich die neuen Konturen und Formen, die sich aus dem Klumpen herausbildeten.

Gesichtszüge, ein Mund, eine Nase...

Augen...

Es war mein eigenes Gesicht.

Und ein dröhnendes, schauerliches Lachen hallte unerträglich in meinem Kopf wider...


*


Ich schrie laut auf, ließ den Metallklumpen fallen und wich einen Schritt zurück.

Meine Hände und Arme waren wie taub.

Ich taumelte zurück.

Mir war schwindelig. Alles drehte sich vor meinen Augen.

Hinter meinen Schläfen pochte ein hämmernder Schmerz.

Übersinnliche Energien...

Ich hielt mich an einem der Tische fest, schwankte und strauchelte zu Boden. Hart kam ich auf das glatte Parkett auf und erwartete eigentlich einen entsprechenden Schmerz. Aber ich spürte nichts dergleichen.

Ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.

Unter mir gab der Parkettboden nach. Er wurde weich, senkte sich unter meinem Gewicht und ich fiel ins Bodenlose, direkt in einen Strudel aus grellen Farben hinein.

Etwas umfasste meine Schultern. Hände griffen nach mir, schüttelten mich. Ich öffnete die Augen, die ich zuvor fest zugekniffen hatte.

"Patti!"

Tante Lizzy saß auf meiner Bettkante. Sie hatte Licht gemacht, das ich als unsagbar grell empfand. Ich hob den Arm, um die Augen zu schützen. Der kalte Angstschweiß perlte mir über die Stirn und die Wangen.

"Es war ein Traum, Patti", hörte ich Tante Lizzys beruhigende Stimme. "Nur ein Traum..."

Ich schluckte.

Das Pochen hinter meinen Schläfen war nicht mehr zu spüren.

Und auch die erschreckende Lethargie war von mir abgefallen. Grauen und eiskalte Schauder überkamen mich bei dem Gedanken an das, was hinter mir lag - mochte es nun ein Traum oder der Blick in eine andere, schreckenerregende Welt des Wahnsinns sein.

Ich sah Tante Lizzy an und setzte mich auf. Zunächst war ich unfähig, etwas zu sagen.

Ich öffnete halb den Mund, versuchte zu sprechen, aber kein einziger Laut kam über meine Lippen.

"Du hast laut geschrien", klärte Tante Lizzy mich auf. Ihr Lächeln war sorgenvoll. "Es war einer jener Alpträume, durch die sich deine übersinnliche Gabe manifestiert, nicht wahr?"

Ich nickte.

Dann begann ich stockend zu sprechen. Ich berichtete Tante Lizzy, was ich im Traum erlebt hatte...

Tante Lizzy hörte mit nachdenklichem Gesicht zu.

Zwischendurch nahm sie das Exemplar von Sören Brönstrups LEHMFETISCHE UND GOLEMS von meinem Nachttisch, blätterte darin herum und fand schließlich jene Seite, auf der eine Zeichnung des schwedischen Wissenschaftlers abgebildet war, die Quanandro darstellte.

Schließlich brach ich meine Erzählung ab.

Ich wartete darauf, dass Tante Lizzy etwas sagte. Sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.

"Für kurze Momente hast du damals diese Ordensmaske getragen...", sagte sie dann. "Der Traum spiegelt deine Angst wieder, eines Tages eine Marionette des ORDENS zu werden."

"In meinem Traum war ich es", stellte ich fest. "Ich hatte keinerlei eigenen Willen mehr, keine Empfindung, nichts... Ich war nur noch ein Werkzeug."

"Es muss nicht so kommen."

"Ist es nicht so, dass alle, die bisher die Maske getragen haben, früher oder später auch dem Einfluss Cayamus erlegen sind?"

"Ich glaube nicht, dass das zwangsläufig so ist, Patti!"

"Tante Lizzy, ich darf die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen!"

"Du musst dagegen ankämpfen, Patti! Immer wieder von neuem!"

Ich seufzte.

"Und wenn ich das eines Tages vielleicht nicht mehr kann?

Wenn meine Kräfte nicht ausreichen, um mich dagegen abzuschirmen?"

"Mein Kind, du darfst nicht verzweifeln. Es war ein Traum, den du gesehen hast!"

"Ein seherischer Traum!", wandte ich ein.

"Ja, das glaube ich auch. Aber du weißt ebenso wie ich, dass das, was du gesehen hast, nicht zwangsläufig eintreten muss.

Es ist eine Möglichkeit..."

"...mit hoher Wahrscheinlichkeit."

Tante Lizzy nahm mich in den Arm. Und ich fühlt mich an die Zeit zurückerinnert, als ich noch ein kleines Mädchen war.

Oft hatte sie mich so getröstet. Und für einige Augenblicke verdrängte ich das Wissen darum, dass weder sie noch sonst irgendein Mensch mich vor jenen Kräften schützen konnte, deren Pläne ich wiederholt zu durchkreuzen versucht hatte.

Ganze zweieinhalb Stunden Schlaf blieben mir in dieser Nacht noch.

Ich schlief wie ein Stein und fühlte mich am Morgen, als der Wecker klingelte, wie tot.

Nachdem ich angezogen in der unteren Etage erschien, hörte ich, wie Tante Lizzy in der Bibliothek auf und ab ging. Ich ging zu ihr hin, blickte durch die halboffene Tür und begrüßte sie.

"Hallo, Patti", rief sie.

Die Tische und ein Teil des Fußbodens waren mit handbeschriebenen Blättern und dicken Kladden bedeckt, die aufgeschlagen waren.

Ich wusste nur zu gut, worum es sich dabei handelte. Es war ein Teil der Tagebuchaufzeichnungen von Frederik Vanhelsing, dem auf einer Forschungsreise in den brasilianischen Regenwald verschollenen Ehemann meiner Großtante. Ihr Gesichtsausdruck war leicht melancholisch.

"Es ist ein seltsames Gefühl, in diesen alten Aufzeichnungen zu stöbern", bekannte sie. "Und die Erinnerung ist jedesmal ein wenig schmerzhaft..."

"Warum tust du es dann?", fragte ich und unterdrückte ein Gähnen. Dann ergänzte ich noch: "Ich meine, warum gerade jetzt?"

Ein mildes Lächeln umspielte ihre Lippen. "Ab und zu tue ich das", sagte sie. "Ich habe dann das Gefühl, Frederik nahe zu sein. Ich glaube dann förmlich zu spüren, dass er irgendwo existiert, vielleicht weit von mir entfernt und ohne eine Möglichkeit, mit mir in Kontakt zu treten. Aber in diesen Momenten, da glaube ich dann wirklich daran, dass Liebe den Tod überwinden kann, Patti..." Ihre Stimme hatte einen belegten Klang. Sie blickte auf, mir geradewegs in die Augen.

Mit festerer Stimme erklärte sie dann: "Diesmal allerdings habe ich nur deinetwegen in den alten Aufzeichnungen herumgestöbert..."

"Meinetwegen?"

"Quanandro... Dieser Name kam mir gleich irgendwie bekannt vor. Ich konnte ihn nur nicht einordnen. Aber jetzt weiß ich es wieder..."

Sie ging an einen der Tische. Zwischen dem Wust aus Kladden und losen Blättern befand sich ein blau schimmernder Stein, nicht größer als ein Daumennagel. Tante Lizzy reichte ihn mir. Ich nahm ihn in die Hand. Gleichzeitig spürte ich ganz schwach die Anwesenheit einer übersinnlichen Energiequelle.

Der Stein...

"Was ist das?", fragte ich.

"Frederik brachte diesen Stein von seiner Mittelamerikareise mit, als er die Talketuan-Kultur untersuchte."

"Zusammen mit der Ordensmaske!", stellte ich fest.

Tante Lizzy nickte. "Ja, aber dieser Stein war kein Fundstück. Ein Indio gab ihm diesen Stein als Mittel gegen 'Los Quanandros', wie Frederik in seinen Aufzeichnungen schreibt. Sumpf- und Walddämonen, deren Beschreibungen sehr dem Bild ähneln, das Sören Brönstrup anfertigte..."

Ich hob den Stein hoch, ließ ihn im Licht funkeln.

"Weißt du, woraus er besteht?"

"Sir Peter Dreadford, ein befreundeter Geologe, ist der Ansicht, dass es sich um einen sogenannten Paliakat handelt. Sir Peter wies im übrigen auch nach, das Paliakate von Energiefeldern bisher nicht bekannter Art umgeben sind. Leider gelang es ihm nicht, sein Experiment zu wiederholen, so dass seiner Arbeit die wissenschaftliche Anerkennung letztlich versagt blieb."

Ich wollte ihr den Stein zurückgeben, aber Tante Lizzy schüttelte den Kopf.

"Ich möchte, dass du ihn auf eurer Florida-Reise bei dir trägst!", forderte sie. "Ich habe einige Hinweise in älteren Schriften über die Wirksamkeit dieser blauen Steine gefunden... Hermann von Schlichten berichtet in seinen Notizen zum verschollenen zweiten Band der ABSONDERLICHEN

KULTE, über ähnliche Steine, die er von einem Reisenden und Abenteurer erhielt. Von Schlichten stellt die Theorie auf, dass von ihnen eine Art Kraftfeld ausgehe, das gezielte Angriffe mit übersinnlicher Energie auf die Willensfreiheit eines Menschen schwächen könnte..."

"Ich werde ihn tragen", versprach ich. "Wenn du dir dann weniger Sorgen machst!"

Tante Lizzy lächelte. "Das wohl kaum!"

Ihr Blick war plötzlich sehr ernst.

Ich ahnte, dass sie mir noch nicht alles gesagt hatte.

Sie nahm mich bei der Hand. Wir gingen zum Schreibtisch mit den geschnitzten Dämonenköpfen an den Ecken. "Du darfst nicht zu sehr erschrecken, mein Kind", sagte sie. "Das hier habe ich auf dem Fußboden vor dem Fenster gefunden..."

Sie öffnete eine Schublade.

Bronzefarbenes Metall schimmerte mir entgegen.

Die geschmolzene Ordensmaske!

Es versetzte mir einen Stich, als ich sah, dass das Metall unbekannter Herkunft die Konturen meines Gesichts mit schier unglaublicher Detailgenauigkeit nachgebildet hatte. Tante Lizzy und ich wechselten einen Blick. Sie sah das Entsetzen in meinen Augen. Es war mehr als nur ein Traum, was heute Nacht geschehen war... Und es ging weit über das hinaus, was ich ansonsten als seherische Visionen erlebt hatte.


*


"Ich hätte dich in dieser Nacht gebraucht", sagte ich, als Tom an diesem kalten grauen Morgen auf dem Parkplatz unseres Verlagsgebäudes an der Lupus Street traf. Ich hatte ihm von meiner Vision erzählt und er nahm mich zärtlich in den Arm.

"Ich hoffe, dass es sich bei diesem Traum nur um eine allgemeine Widerspiegelung deiner Ängste handelte", sagte Tom schließlich. "Aber nach dem, was du gesagt hast, müssen wir damit rechnen, dass der ORDEN DER MASKE in irgendeinem Zusammenhang mit den Dingen steht, die uns in Florida erwarten..."

"Dieser ORDEN wird alles tun, um Cayamus Prophezeihungen zu erfüllen..."

"Das ist zu befürchten."

"Glaubst du, Brian Delrey könnte damit in Verbindung stehen?"

"Ich habe herausgefunden, dass sein Agent Mitglied einer Vereinigung ist, die sich Gesellschaft für kreatives Denken und Power-Braining nennt."

Ich lächelte matt. "Power-Braining", wiederholte ich. "Was soll das denn sein?"

"Wahrscheinlich irgendein Psycho-Training für gestresste Manager und andere Führungskräfte... Als Postadresse fungiert ein Postfach, dass auch von jener Anwaltskanzlei genutzt wird, die versucht hat, einstweilige Verfügungen gegen unsere Artikel über die Aktivitäten des ORDENS DER MASKE zu erwirken!"

Ich atmete tief durch. "Du meinst, diese Power-Braining-Gesellschaft ist eine Tarnorganisation des ORDENS?"

"Die Möglichkeit besteht. Wir müssen jedenfalls sehr auf der Hut sein, wenn wir nach Florida fliegen..."


*


Einen Tag später flogen wir nach Miami. Delrey hatte versprochen, uns jemanden zu schicken, der uns am Flughafen abholte. Es handelte sich um einen schweigsamen, braungesichtigen Mann, der angab, dass Brian Delrey ihn geschickt hatte. Er trug die typischen bunt gemusterten Hemden der Seminolen und stellte sich als Joe Red Tree vor.

Ansonsten sagte er kaum ein Wort und half uns bereitwillig beim Einladen unseres Gepäcks in den großen Land Rover. Tom setzte sich nach vorne und versuchte während der Fahrt dem Seminolen etwas näher zu kommen. Aber dieser torpedierte jeden Versuch eines Small Talks schon im Ansatz durch sein eisernes Schweigen.

Ich saß auf der Rückbank des Land Rovers und hing meinen Gedanken nach. Es dauerte fast eine Dreiviertelstunde, ehe wir uns endlich aus dem Verkehrschaos von Greater Miami herausgequält hatten. Es ging Richtung Westen. Ich hatte mir das Gebiet vorher auf der Karte angeschaut. Brian Delrey bewohnte ein Anwesen, das auf einer künstlich befestigten Insel im Nebenarm des McLaughlin Rivers lag - ganz in der Nähe der Grenze zum Everglades National Park.

Die Straßen wurden immer kleiner und weniger befestigt. Die Alligator-Warnschilder am Straßenrand dafür immer häufiger.

Die Straße verlief auf einem aufgeschütteten Damm. Rechts und links waren unter Wasser stehende Grasflächen, in denen Pelikane nisteten, dahinter dichte Mangrovenwälder. Hier und da ragten knorrige Hammocks aus dem Grasmeer heraus. Dabei handelte sich um verfilzte Bauminseln, deren Wurzeln tief im Sumpf nach Nahrung suchten. Das Holz der Hammocks bildete dabei eigenartige, mitunter an wachsende Tropfsteine erinnernde Formen aus. Hier und da ragten bei ihnen spitze Fortsätze über die Wasseroberfläche, die aussahen wie die Zahnräume eines gewaltigen Alligators.

Dieses Land stellte eine kuriose Mischung der Elemente da.

Die Einflüsse von Erde und Wasser mischten sich auf eine einzigartige Weise, die Tausenden von seltenen Arten Zuflucht boten. Etwa die Hälfte der Everglades waren geschützter Nationalpark, in dem die Jagd und der Straßenbau untersagt waren. Der Rest dieser Naturlandschaft würde zweifellos nach und nach den Eroberungsversuchen des Menschen zum Opfer fallen. Straßendämme waren der Anfang, danach folgte dann die Trockenlegung ganzer Gebiete und die Anlage von Siedlungen. Der nahe Großraum Miami war dicht besiedelt und platzte aus allen Nähten.

Wir erreichten einen Ort, der sich McLaughlin River Lodge nannte und nur aus ein paar Häusern bestand. Von hier aus konnte man Kanus, Motorboote und propellergetriebene Airboats mieten, mit denen man pfeilschnell über die Sümpfe flitzen konnte. Allerdings war der Einsatz der Airboats nur außerhalb des Nationalparks gestattet. Von dieser Siedlung aus konnte man zu einem mehrtägigen Kanu-Trail aufbrechen, wenn gewünscht mit Führer.

Für uns war hier erst einmal Endstation. Die Straße reichte nur bis zu den befestigten Anlegestellen am Ufer. Delreys Anwesen war einzig und allein über den Wasserweg zu erreichen.

Der McLaughlin River bildete eine Art See, bevor er sich in Dutzende von kleinen und kleinsten Nebenarmen aufteilte, deren Verlauf einem ständigen Wechsel unterworfen war.

Joe Red Tree stellte den Land Rover auf dem Parkplatz bei den Anlegestellen ab.

Wir stiegen aus.

"Ziemlich einsam hier", meinte Tom.

"Ein guter Ort, um sich zurückzuziehen", ergänzte ich. "Und das wollte Brian Delrey ja auch."

"Hattest du wirklich noch nichts von ihm gehört, als Swann dich in seinem Büro danach fragte?"

"Inzwischen habe ich mich ja etwas informiert", lächelte ich. "Im übrigen hatte Delrey seine größten Erfolge ja in den Siebzigern - und da ging ich noch in die Grundschule. In einen Delrey-Film hätte mich damals weder Tante Lizzy noch der Platzanweiser im Kino hineingelassen!"

Ein Mann mit Bart und breitkrempigen Strohhut kam auf uns zu. Er trug ein riesiges Buschmesser an der Seite, dazu ein Handy. Das fleckige T-Shirt hatte die Aufschrift CROCODILE

KILLER und seine Jeans war schon so oft geflickt worden, dass man nicht mehr genau sagen konnte, welche Partien noch von der ursprünglichen Hose stammten.

"Sie sind die Reporter, die zum Schädelhafen wollen?"

Ich sah den Kerl erstaunt an.

"Wie bitte?"

Der Mann grinste übers ganze Gesicht. Immerhin schien er deutlich gesprächiger zu sein als unser bisheriger Begleiter.

"Puerto de las Cabezas - so heißt das Anwesen, das Mr. Delrey sich vor 15 Jahren gekauft hat. Und meine freie Übersetzung dieses Namens lautet Hafen der Schädel." Er lachte. "Komischer Name, was? Und die Insel, auf der das Anwesen steht, wird seit ewigen Zeiten 'Schädelinsel'

genannt. Fragen Sie mich nicht, warum! Aber diese Namen passen irgendwie zu dem komischen Mann, der dort wohnt..."

"Wie meinen Sie das?"

"Na, Sie werden's schon merken, wenn Sie ihn kennenlernen... Wollen Sie gleich los oder erst einen Drink?"

"Gleich los", erklärte ich, bevor Tom etwas sagen konnte.

"Tja, eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie sich für die andere Möglichkeit entscheiden würden..."

"Ach, und warum?"

"Es gibt da noch ein kleines Problem mit dem Motor.... Aber in einer halben Stunde sind wir soweit..."


*


In einem der Holzhäuser befand sich ein sehr einfaches Restaurant. Eine dunkelhaarige Frau servierte uns eine Erfrischung auf einem der groben Holztische.

"Sie wollen wirklich dort hinüber?", fragte sie. "Zur Schädelinsel?"

Ich hob die Augenbrauen.

"Warum heißt sie so?"

"Jener Ort hat viele Namen", erwiderte die Frau. "Und keiner davon hat einen angenehmen Klang."

Sie beugte sich etwas vor, blickte sich um, so als ob sie befürchtete, beobachtet zu werden und sprach dann mit leise wispernder Stimme. "Sie sollten nicht dort hinübersetzen, Miss.."

Ich sah sie verständnislos an.

"Wieso nicht?"

"Seltsame Dinge geschehen dort..."

"Was für Dinge?"

Sie schluckte. Der innere Druck, unter dem sie offenbar stand, war deutlich spüren.

Ihre Hände zitterten leicht.

"Es verschwinden Menschen hier in der Gegend... Vor ein paar Tagen erst sind zwei Menschen von den Bestien zerfleischt worden. Ihr Boot hat man schließlich gefunden. Und die Überreste ihrer zerfleischten Leichen..."

"Sprechen Sie von den Alligatoren?", hakte Tom nach.

Sie verzog das Gesicht zu einem verzweifelten Lachen.

"Alligatoren? Nein..."

Von draußen waren jetzt Schritte zu hören.

Die Frau blickte kurz auf. Dann fuhr sie gehetzt fort: "Fahren Sie nicht hinüber zur Schädelinsel... Bitte, hören Sie auf mich! Ich kann Sie nur warnen und..."

Sie verstummte abrupt, als die Tür sich knarrend öffnete.

Joe Red Trees hoch aufgeschossene Gestalt trat ein. Er musterte uns schweigend, dann fixierte er mit seinem Blick die Frau. "Was erzählst du den Leuten?", fragte er mit sonorer Stimme.

"Nichts."

Der Seminole trat an unseren Tisch.

"Maria erzählt gerne Schauergeschichten", sagte er dann.

"Nehmen Sie es nicht ernst, was sie daherredet. Sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Aber ihre Drinks sind in Ordnung."

Seltsam, dachte ich. Joe Red Tree hatte in diesen paar Sekunden mehr geredet, als während der gesamten Autofahrt hier her.

"Bring mir auch was!", rief er dann der Frau zu.

Dabei hob er den Arm. Der rechte Ärmel seines bunten Seminolen-Hemdes rutschte einige Zentimeter nach oben, so dass ich die Tätowierung am Oberarm sehen konnte.

Sie war nicht besonders kunstvoll, aber es war deutlich zu erkennen, was sie darstellte.

Einen dreihornigen Froschkopf.


*


Das Boot war acht Meter lang und aus dunklem Holz. Es sah ziemlich solide aus. Der Motor pflügte stotternd durch das Wasser. Unsere Sachen waren im Bug, wir selbst saßen etwas weiter hinten. Billy steuerte und redete dabei unaufhörlich davon, dass die Schädelinsel ein alter Piratenunterschlupf gewesen war. In zahllosen Verästelungen floss der McLaughlin River in den Golf von Mexiko. Oft betrug die Wassertiefe nicht mehr als einen Meter. Nur wer die Gewässer dieser Gegend sehr gut kannte, konnte es wagen, mit einem größeren Boot von der See aus zur Schädelinsel zu gelangen. Und das hatten die Piraten des 17. und 18 Jahrhunderts offenbar ausgenutzt.

Billy redete in einem fort.

Meine Aufmerksamkeit galt mehr Joe Red Tree, der am Bug, bei unseren Sachen platzgenommen hatte.

Sein Gesicht war regungslos.

Schließlich sprach ich ihn an.

"Sie haben da eine Tätowierung am Oberarm", begann ich.

Er antwortete lediglich mit einem sonoren Knurren.

"Ich meine diesen Froschkopf..."

Er sah mich an und ich bereute schon, ihn überhaupt danach gefragt zu haben. In seinen dunklen Augen flackerte es. Wenn Blicke töten könnten...

"Joe ist ein bisschen abergläubisch", antwortete Billy anstatt seines Partners. "Und mundfaul ist er auch. Ich hab' immer schon gesagt: Joe, du graulst uns die letzten Touristen davon, die bereit sind, die Strapazen einer Kanu-Tour oder etwas in der Art auf sich zu nehmen."

"Kennen Sie Mr. Delrey gut?", fragte Tom.

Billy zuckte die Achseln.

"Wie man's nimmt. Er lebt sehr zurückgezogen. Übers Wasser zu setzen brauche ich ihn nicht, weil er selbst mehrere exzellente Boote hat. Ich bringe ihm die Post raus und manchmal fahren wir auch für ihn einkaufen."

Ich beobachtete die Ufer.

Die Mangroven wuchsen mit ihren knorrigen Stämmen aus dem Wasser heraus.

Dahinter, auf den festeren Landstücken wuchsen Pinien, manchmal auch Mahagoni-Bäume. Vogelrufe drangen aus dem unübersichtlichen Pflanzenmeer, es raschelte zwischen den hüfthohen Gräsern, Ästen knackten, und dumpfe Tierlaute drangen aus den Verstecken zwischen knorrigen, sich bizarr verästeln-den Magrovenwurzeln...

Das Wasser war dunkel und roch etwas nach Moder.

Die Oberfläche war spiegelglatt.

Nur das Boot verursachte ein paar leichte Wellen.

An einem der Ufer platschte etwas. Ich sah, wie ein Alligator seinen Kopf über die Wasseroberfläche steckte, dann abtauchte, um schließlich nur noch die Nasenlöcher und die Augen sichtbar werden zu lassen. Und auch die verschmolzen für den Betrachter beinahe völlig mit der dunkelgrünen Wasseroberfläche.

Billy sah meinen Blick.

Der Bärtige grinste übers ganze Gesicht.

"Machen Sie sich keine Sorgen! Das ist nur ein kleines Exemplar...."

Der McLaughlin machte eine Biegung.

Und dahinter tauchte dann die Schädelinsel auf und die hohen Mauern von Puerto de la Cabezas, der ehemaligen Piratenfestung, die heute das Domizil eines Schauspielers war, dem sein früher und schneller Erfolg vielleicht etwas zu Kopf gestiegen war.

Tom machte ein paar schöne Aufnahmen von dem Bauwerk.

Die Mauer waren ursprünglich aus hellem Sandstein gewesen, wie man vermuten konnte. Aber das besonders in den Sommermonaten extrem feuchtheiße Klima dieser Gegend hatte dafür gesorgt, dass ein grüner Film aus Algen sich in den Stein gefressen hatte und völlig mit ihm verwachsen war.

Hinter der äußeren Umgrenzungsmauer, die sich ziemlich nah an dem künstlich befestigten Ufer entlangzog, ragten die im alten spanischen Kolonialstil gehaltenen Gebäude hervor.

Der Hafen der Schädel...

Ein Ort, den die Aura des Verfalls umgab.

Bei den Anlegestellen lagen mehrere Kanus und Motorboote, ein Airboat und eine Yacht, die sicherlich auch dazu geeignet war, die nahen Küstengewässer zu befahren - vorausgesetzt man kannte den Weg durch die an Untiefen reichen Verzweigungen des McLaughlin Rivers, um dort überhaupt hinzugelangen.

"Wenn du mich fragst, sieht das alles ein bisschen vernachlässigt aus", meinte Tom an mich gewandt. "Mr. Delrey scheint sich nicht besonders um seinen Besitz zu kümmern..."

Ein Frösteln überkam mich, obwohl die Sonne vom Himmel brannte.

Wovor hatte die dunkelhaarige Frau uns warnen wollen?

Sie hatte nicht Gelegenheit gehabt, zu Ende zu sprechen.

Und wenn es nur dummes Gerede war, um sich wichtig zu machen?

Ich schloss einen Moment die Augen.

Ein leichtes Pochen machte sich hinter meinen Schläfen bemerkbar. Ein unangenehmes Druckgefühl. Ich wusste nur zu gut, was dies zu bedeuten hatte. Die Anwesenheit einer übersinnlichen Kraft...

Ganz kurz nur spürte ich es, dann war diese Empfindung vorbei.

Ein Rundbogentor bildete den Eingang des Puerto de las Cabezas, der Piratenfestung auf der Schädelinsel. Dieser spanische Name stand sogar in großen, verschlungenen Lettern auf dem Bogen. Steinmetze hatten ihn da hineingemeißelt.

Aber das musste schon lange her sein. Einige der Buchstaben waren kaum zu erkennen.

Ein Ort, der in eine andere Zeit gehört, dachte ich. In jene Jahrhunderte, als dieses Land nominell zu Spanien gehörte, in Wahrheit aber größtenteils eine schier undurchdringliche Wildnis darstellte, in der sich eine Handvoll Conquistadoren, Siedler, Missionare und Gesetzlose beinahe verloren.

Ein grauhaariger, für diese sonnige Gegend außerordentlich bleicher Mann trat durch das Tor. Er trug unverkennbar die Uniform eines englischen Butlers. Der dreiteilige dunkle Anzug musste maßgeschneidert sein. An den weißen Handschuhen war nicht ein einziger Fleck.

"Wer ist das?", fragte Tom an Billy gewandt, während Joe Red Tree vom Bug aus auf den Bootsteg sprang und das Tau um einen Holm band.

Billy machte den Motor aus.

"Das ist Archer, so eine Art Majordomus. Mit ihm regele ich die meisten Dinge, die mit Delrey zu tun haben..." Billy zuckte die Achseln. "Der große Meister ist ja leider etwas menschenscheu."

Archer blieb mit regungslosem Gesicht stehen.

Wir stiegen an Land und nahmen unser Gepäck gleich mit. Der einzige, der im Boot sitzen blieb, war Joe Reed Tree, dessen Gesicht jegliche Farbe verloren hatte.

Ich betrachtete einen Moment aufmerksam seine Züge.

Er hat Angst, war mir klar. Aber wovor?

Vielleicht vor jenen Dingen, die die Frau mit den dunklen Haaren mir nicht mehr hatte sagen können?

"Miss Vanhelsing? Mr. Hamilton?" Archers klare, energische Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Ich freue mich, Sie im Namen von Mr. Delrey hier begrüßen zu dürfen."

"Danke", sagte ich höflich.

Billy drehte sich zum Boot herum. "Wirf mal die Post 'rüber, Joe!"

Joe gehorchte und warf einen dunkelblauen Stoffsack an Land, allerdings nicht weit genug, als dass Billy ihn hätte auffangen können. Billy bückte sich und reichte Archer den Beutel.

"Hat Mr. Delrey noch irgendwelche Wünsche?"

"Nein."

Billy zuckte die Achseln.

"Dann bis zum nächsten Mal..."


*


Wir folgten Archer in den Innenhof des Puerto de las Cabezas.

Das Hauptgebäude war ein prächtiges, verwinkeltes Haus aus der Zeit der Spanier.

Die Nebengebäude hatten vermutlich ursprünglich als Stallungen gedient, waren inzwischen aber zu Wohnhäusern umgebaut worden.

Ansonsten bestand der Innenhof des Anwesens zum Großteil aus einer parkähnlichen Anlage.

Palmen spendeten Schatten für Sitzecken und Bänke, auf denen man sich niederlassen konnte. Der Rasen war beinahe englisch zu nennen und wurde sicher regelmäßig geschnitten.

Und auch die Sträucher, Büsche und Hecken waren noch vor kurzem zurechtgestutzt worden und machten insgesamt einen gepflegteren Eindruck, als die Gebäude. Aber sämtliche Pflanzen innerhalb der Mauern von Puerto de las Cabezas wiesen eine ungesunde, graue Farbe auf.

Wie tot...

Die Vegetation innerhalb der Mauern bildete einen grotesken Gegensatz zu dem wimmelnden Leben, das außerhalb vorzufinden war.

Ich blickte mich etwas genauer um und verlangsamte meine Schritte.

Keine Schmetterlinge, kein Summen von Insekten... Nichts!

Es wirkte so, als ob sich das Leben selbst aus den Mauern dieses Anwesens zurückgezogen hatte. In diesem Moment hatte ich ein Gefühl, als ob mir jemand eine kalte glitschige Hand auf die Schulter gelegt hätte. Wieder spürte ich für Bruchteile von Sekunden die Berührung mit einer mentalen Energie.

Genau im Zentrum der Anlage befand sich ein plätschernder Springbrunnen.

Ich blieb wie angewurzelt stehen.

Das Wasser sprudelte aus dem weit aufgerissenen Breitmaul eines in Stein gehauenen froschartigen Fabelwesens, auf dessen gewaltigen, sicher einen halben Meter durchmessenden Schädel drei Hörner emporragten.

In den mit scharfen Krallen ausgestatteten Pranken hielt das Fabelwesen einen grinsenden Totenschädel.

Tom legte den Arm um meine Schultern.

"Vielleicht kann uns Mr. Delrey mehr darüber sagen", meinte er. "Wie die christliche Kunst der alten Spanier sieht mir das jedenfalls nicht aus..."

"Tom, ich habe Angst..."

Er nahm meine Hand und drückte sie.

Archer hatte nicht auf uns gewartet.

Er war zielstrebig auf das imposante, mit reich verzierten Rundbögen und Erkern ausgestattete Haupthaus zugegangen, dessen Mauern in einem nur unwesentlich besseren Zustand waren, als die Außenmauern von Puerto de las Cabezas. Auch hier hatten sich Moose in die Mauerritzen hineingesetzt.

Wir folgten ihm.

Schwerer Modergeruch stieg mir in die Nase, als wir die Treppe des Portals emporstiegen. Dieser Geruch musste von den Mauern selbst ausgehen, so schien es mir.

Archer blieb an der zweiflügeligen Tür stehen, sah mit regungslosem Gesicht auf uns herab und wartete dann, bis wir ihn eingeholt hatten.

"Stellen Sie Ihr Gepäck einfach hier ab", sagte er. "Ich werde es auf Ihre Zimmer bringen..."

"Wir benötigen nur ein Zimmer", erwiderte ich.

"Wie Sie wünschen", nickte Archer.

Wir stellten das Gepäck ab.

Tom machte ein paar Fotos.

"Lassen Sie das bitte", sagte Archer scharf.

"Aber..."

"Mr. Delrey wird Ihnen sagen, was Sie hier dürfen und was nicht."

Das klang unmissverständlich und schroff.

"Wann wird Mr. Delrey uns empfangen?", hakte Tom nach.

"Folgen Sie mir. Er erwartet Sie bereits..."

Archer führte uns durch die sehr hohe Eingangshalle, deren Decke mit eigenartigen Zeichen bemalt waren. Okkulten Zeichen.

Einige erkannte ich.

Ich hatte sie in den ZEICHEN DER GEHEIMEN MACHT gesehen, einem Buch des von-Schlichten-Schülers Ferenz Borsody, das inzwischen zu Tante Lizzys wichtigsten Studienquellen zählte.

Genau in der Mitte der Decke befand sich die einfache, sehr schematisch wirkende Zeichnung eines dreigehörnten Froschkopfs...

Brian Delrey empfing uns im Salon, der mit einer Unmenge antiker Möbel ausgestattet war. Kostbare Wandteppiche zierten die Wände. Die Muster dieser Teppiche hatten vermutlich ebenfalls okkulte Bedeutung.

"Miss Vanhelsing, Mr. Hamilton..." ein hochgewachsener Mann mit kurzem grauen Haar, einem schmalen Oberlippenbart und beinahe schwarzen Augen begrüßte uns. Dunkle Ringe unter den Augen zeugten davon, dass er in den letzten Nächten nicht viel geschlafen hatte.

Gegenüber den Pressefotos, die ich von Delrey gesehen hatte, schien er mir stark gealtert zu sein. Und da war ein unruhiger, flackernder Zug in seinem Gesicht, den ich nicht genau zu deuten wusste. Furcht. Vielleicht war es das.

Ich kannte ihn nicht gut genug, um diese Regungen einschätzen zu können...

"Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind", erklärte er.

Und das klang ehrlich. Er deutete auf eine Sitzgruppe, die aus zierlichen Sesseln im Empire-Stil gebildet wurden. Man musste schon genau hinsehen, um zu bemerken, dass diese Möbel nichts mit dem Empire zu tun hatten und keine echten Antiquitäten waren...

Die kleinen Schnitzereien und Verzierungen an den kunstvoll gearbeiteten Lehnen verrieten es. Sie zeigten winzige, grimassenhaft verzerrte Dämonenköpfe. Die Muster der Polsterung bestanden aus kleinen Pentagrammen. Delreys Vorliebe für okkulte Motive zeigte sich in unzähligen Details der Einrichtung.

Auf einem der zierlichen Sessel hatte ein Mann mit schwarzem Vollbart und dunkler Brille mit übereinandergeschlagenen Beinen platzgenommen.

Er war vollkommen in schwarz gekleidet und wirkte dadurch beinahe wie ein Reverend. Nur hatte er kein Kreuz um den Hals, sondern einen silbernen Totenschädel, der mich triumphierend anzugrinsen schien.

"Das ist Mr. George Kelvorkian", stellte ihn Delrey vor.

"Mein Berater in Fragen des Okkulten und der schwarzen Magie..."

Kelvorkian erhob sich, nahm meine Hand und deutete einen Handkuss an. "Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Miss Vanhelsing..."

Er sprach fast flüsternd. Aber von seiner Persönlichkeit ging eine starke Ausstrahlung aus.

Ich versuchte mit Hilfe meiner mentalen Kräfte zu erforschen, ob er möglicherweise die Quelle jener übersinnlichen Energie war, die ich für kurze Momente erspürt hatte.

Vorsichtig streckte ich meine geistigen Fühler aus. Aber da war nichts. Nicht, was ich mit meiner bescheidenen Gabe erkennen konnte.

Mir war bewusst, dass ich - trotz aller Fortschritte - immer noch ganz am Anfang eines Weges stand, an dessen Ende ich meine Gabe vielleicht wirklich kontrollieren konnte. Die Tatsache, dass ich nichts wahrzunehmen vermochte, bedeutete daher auch möglicherweise nur, dass mein Gegenüber sich hervorragend abzuschirmen wusste.

"Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass ich Ihren Namen leider im Moment nicht einordnen kann", gestand ich.

"Das ist nicht verwunderlich - und in keiner Weise eine Feststellung, die mich kränkt", sagte Kelvorkian. "Ich betreibe meine Studien des Okkulten und Ungewöhnlichen im Verborgenen und bin an irgendeiner Form der öffentlichen Darstellung in keiner Weise interessiert!" Der Blick seiner beinahe schwarzen Augen fixierte mich auf eine Weise, die mir unangenehm war. Er fuhr fort: "Ich glaube nicht, dass die Menschheit für eine Verbreitung okkulten Wissens bereits reif wäre... Im übrigen stehe ich in den Diensten von Mr. Delrey, der meine Studien unterstützt..."

"Womit genau befassen sich Ihre Studien?", meldete sich Tom zu Wort.

Kelvorkian wandte den Blick. Ein mildes, überlegenes Lächeln spielte um seine dünnen Lippen, die außerordentlich farblos wirkten.

"Mit der Macht der geheimen Zeichen. Mit den Dingen, die nicht sichtbar sind, aber unser Leben ebenso bestimmen, wie das, was wir sehen und anfassen können. Mit den Kräften des Jenseits und der Finsternis..."

In diesem Moment ertönte ein dumpfer, beinahe stöhnender Laut, der sich mit dem langgezogenen Grollen eines fernen Donners mischte.

Ich warf einen Blick durch eines der hohen Fenster.

Jenseits der nahen Mangrovenwälder hatten sich die Wolken zu dunklen Gebirgen aufgeschichtet, die sich großen Schatten gleich vor die Sonne geschoben hatten.

"Ein Gewitter braut sich zusammen...", meinte Delrey leichthin. "Seien Sie froh, dass Sie nicht im Sommer hier her gekommen sind, Miss Vanhelsing! Dann hätten wir das jeden Tag - etwa eine Stunde lang!"


*


Details

Seiten
Jahr
2021
ISBN (ePUB)
9783738955484
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (August)
Schlagworte
gespenstersumpf krimis

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Gespenstersumpf: 6 unheimliche Krimis