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Alte Flüche, dunkle Geheimnisse: 7 Geheimnis Thriller

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2021 700 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band enthält folgende Romane:

Alfred Bekker: Dunkler Reiter

Alfred Bekker: Patricia und die Burg der Tempelritter

Alfred Bekker: Patricia und der Fluch der Steine

Alfred Bekker: Das Spukhaus

Alfred Bekker: Der Schlangentempel

Alfred Bekker: Ein Hauch aus dem Totenland

John Jennings ist ein begnadeter Bildhauer - aber durch seine Werke entfaltet er wahrhaft mörderische Kräfte. Als eine Reporterin sein dunkles Geheimnis erfährt, gerät sie in große Gefahr...

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jack Raymond, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alte Flüche, dunkle Geheimnisse: 7 Geheimnis Thriller

Alfred Bekker

Dieser Band enthält folgende Romane:


Alfred Bekker: Dunkler Reiter

Alfred Bekker: Patricia und die Burg der Tempelritter

Alfred Bekker: Patricia und der Fluch der Steine

Alfred Bekker: Das Spukhaus

Alfred Bekker: Der Schlangentempel

Alfred Bekker: Ein Hauch aus dem Totenland


John Jennings ist ein begnadeter Bildhauer - aber durch seine Werke entfaltet er wahrhaft mörderische Kräfte. Als eine Reporterin sein dunkles Geheimnis erfährt, gerät sie in große Gefahr...


Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jack Raymond, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.





Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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Dunkler Reiter


Romantic Thriller von Alfred Bekker


Der Umfang dieses Buchs entspricht 100 Taschenbuchseiten.


Die junge Lehrerin Maureen Stanley tritt in einem kleinen Ort ihre erste Stellung an und mietet von dem etwas merkwürdig wirkenden Jason Cormick ein Haus, auf dem eine Art Fluch zu liegen scheint. Die Vormieterin endete im Wahnsinn. Sie glaubte von einem unheimlichen, schwarz maskierten Reiter verfolgt zu werden. Und genau dieser unheimliche Reiter scheint es auch auf Maureen abgesehen zu haben.



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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author / COVERFOTO STEVE MAYER + PIXABAY

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de


1

Der Himmel war düster und wolkenverhangen an jenem späten Herbstnachmittag im Jahre des Herrn 1725.

Die junge Frau raffte verzweifelt ihre Röcke zusammen und rannte mit angstgeweiteten Augen vorwärts, während sie den Puls bis zum Hals schlagen fühlte.

Vor ihr lag das Moor und sie lief immer tiefer hinein. Sie keuchte und blickte sich um. Und dann sah sie ihn. Er war auf eine Anhöhe geritten, zügelte nun sein Pferd und ließ den Blick kurz umherschweifen. Dann trieb er den Rappen roh vorwärts und kam rasch näher.

Die junge Frau schluckte.

Sie hetzte noch ein paar Schritte vorwärts und stolperte dann über eine Wurzel. Sie strauchelte und fiel hin, während das Geräusch galoppierender Pferdehufe an ihr Ohr drang.

Der finstere Reiter, der sie verfolgte, trug einen Dreispitz und eine weißgepuderte Perücke. Das Gesicht war mit einer schwarzen Maske bedeckt, aber sie wusste auch so, um wen es sich bei dem Verfolger handelte.

Oder vielmehr: Sie ahnte es. Seit Wochen schon war dieser geisterhafte Reiter hinter ihr her...

Und jetzt, so schien es, hatte er sein Ziel fast erreicht.

Sie war ihm ausgeliefert!

Die Rockschöße flatterten hinter dem Reiter her, während er mit der Rechten einen langen, scharfen Säbel schwang.

Oh, mein Gott!, dachte die junge Frau und versuchte verzweifelt, sich wieder hochzurappeln. Aber da war der Reiter bereits heran.

Er stoppte sein Pferd, indem er es brutal an den Zügeln herumriss, woraufhin sich das Tier wiehernd auf die Hinterhand stellte.

Die junge Frau wagte es nicht, sich zu bewegen.

Es ist vorbei!, dachte sie. Ich werde ihm nicht entfliehen können...

"Ann", flüsterte der Maskierte und sie zuckte zusammen. Die Stimme! Er war es wirklich! Es war seine Stimme! "Endlich, Ann! Endlich...", flüsterte der Reiter und seine Worte waren eine einzige Drohung.

Ann war kreidebleich geworden. Auch der letzte Rest von Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie schüttelte fassungslos den Kopf und kroch einen Meter weiter, während ihr Gegenüber noch ein wenig näher kam.

"Das kann nicht sein", flüsterte sie. "Ihr seid tot, Herr! Ich weiß es, ich weiß so sicher..."

Er nahm seine Maske ab. "Keiner, der auf diese Weise gestorben ist, kann in seinem Grab Ruhe finden, teuerste Ann! Glaub mir!"

Sie begann zu zittern.

"Was geschieht jetzt?"

"Du wirst jetzt deine Schuld abbüßen, Ann! Du weißt, dass du mir nicht entkommen kannst. Niemals!"



2

Der Zug hielt mit einer ganzen Stunde Verspätung in Linbury, weil unterwegs ein Baum über die Gleise gefallen war und die Strecke gesperrt hatte. Maureen Stanley atmete auf und blickte aus dem Zugfenster hinaus in die Dunkelheit. Es war schon spät am Abend und sie hoffte, dass sie

überhaupt noch jemanden fand, der sie hinaus nach Dunmoore fahren würde.

Dorthin, wo es keine Bahngleise mehr gab und kein Zug hielt. Der Regen plätscherte unterdessen lautstark auf das Zugdach. Es war ein trüber Tag gewesen, aber irgendwie, so fand die junge Frau, passte dieses Wetter zu der rauen Landschaft Cornwalls.

Der Zug hielt mit einem unsanften Ruck, der Maureen etwas nach vorne riss. Dann nahm die junge Frau ihre beiden Koffer und sah zu, dass sie hinaus kam.

Wenig später stand sie auf dem Bahnsteig und war schon nach wenigen Augenblicken ziemlich durchnässt. Ich habe mir kein besonders angenehmes Plätzchen ausgesucht, um mich als Lehrerin anstellen zu lassen!, dachte sie bei sich, während der Zug schon weiterfuhr.

Aber die Wahrheit war, dass sie es sich überhaupt nicht ausgesucht hatte. Maureen Stanley hatte im Grunde genommen gar keine andere Wahl gehabt, sofern sie in dem Beruf arbeiten wollte, den sie gelernt hatte und den sie liebte: als Lehrerin.

Es war immer dasselbe.

In Orten wie Dunmoore, die irgendwo am Ende der Welt lagen, weit entfernt von allem, was andernorts selbstverständlich war, konnten manchmal Stellen nicht besetzt werden.

Maureen seufzte.

In London, wo sie nicht nur studiert hatte, sondern auch aufgewachsen war, konnte man sich nur in die lange Schlange der Bewerber einreihen.

Maureen wäre gerne in London geblieben. Sie liebte das pulsierende Leben der großen Stadt, aber als sie vor der Wahl stand, eine Anstellung in der Provinz zu bekommen oder erst einmal nichts zu haben, da entschied sie sich für den Spatzen in der Hand - und nicht die Taube auf dem Dach, die vielleicht nie zu erreichen war...

Dunmoore!, dachte Maureen. London... Welch ein Vergleich!

Aber noch war sie nicht am Ziel. Dies war Linbury. Bis hier her kam man mit der Bahn. Dunmoore, das war noch ein Stück weiter draußen.

In ein paar Wochen würden die Ferien vorbei sein, und dann würde sie ihren Dienst in Dunmoore antreten. Bis dahin hatte sie sich vielleicht etwas eingelebt...

Maureen packte ihre Koffer und sah zu, dass sie unter das Vordach des winzigen Bahnhofsgebäudes kam. Der Bahnhof war um diese Zeit nicht mehr besetzt. Der Regen wurde jetzt heftiger. Das Wasser platschte nur so auf den Boden nieder und Maureen schlug sich ihren Mantelkragen hoch.

Sie atmete tief durch und überlegte, wie sie jetzt weiterkam.

Vielleicht konnte sie irgendwo in der Nähe telefonieren und sich dann ein Taxi rufen, das sie nach Dunmoore brachte.

Sie wandte den Blick und sah direkt in die Scheinwerfer eines Autos. Maureen erkannte gleich, dass es ein Taxi war. Der Fahrer drehte die Scheibe herunter und rief ihr zu: "Kann ich Sie mitnehmen?"

"Aber, ja!"

Sie nahm ihre Koffer und schleppte sie durch den Regen. Der Fahrer stieg indessen aus und ging ihr ein paar Schritte entgegen. Er nahm ihr das Gepäck aus der Hand und öffnete den Kofferraum.

Wenig später saßen sie dann beide im Wagen. Maureen strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Der Taxifahrer - ein dicklicher Mann um die vierzig - grinste von einem Ohr bis zum anderen.

"Kein schönes Wetter heute, was?", meinte er dann. Immerhin klang seine Stimme einigermaßen sympathisch.

"Kann man wohl sagen!", nickte Maureen, erleichtert jemanden gefunden zu haben, der sie an ihr Ziel bringen konnte. "Ehrlich, Sie schickt der Himmel!", setzte sie noch hinzu.

Der Mann lachte.

"Nein, der Zufall! Ich hatte eine Fahrt hier nach Linbury zu machen und dann sehe ich Sie da am Bahnhof stehen!"

Maureen trocknete sich mit dem Taschentuch das Gesicht etwas ab.

"Dann habe ich wohl großes Glück", meinte sie.

"Das kann man wohl sagen! Ich bin nämlich der einzige Taxifahrer in der Gegend." Er zuckte die ziemlich breiten Schultern und fuhr dann fort: "Es kommen eben nicht viele Fremde hier her, die noch mehr von meiner Sorte ernähren könnten!"

Maureen lächelte.

Der Fahrer schien ein freundlicher Mann mit guter Laune zu sein.

"Wohin soll's denn gehen?", fragte er.

"Dunmoore."

"Ist das Ihr Ernst?"

Maureen runzelte die Stirn.

"Warum sollte es nicht?", fragte sie etwas verwundert zurück.

Der Taxifahrer zog die Augenbrauen hoch.

"Ich meine ja nur..."

Er fuhr los. Die Scheibenwischer schafften es kaum, die Frontscheibe einigermaßen trocken zu halten.

"Ist es noch weit?", fragte Maureen.

Der Fahrer zuckte mit den Schultern.

"Weit, nah... Das ist alles relativ, junge Frau. In Meilen gemessen ist es nicht allzu weit, aber die Straßen sind eng und schlecht. Wir werden sicher nicht besonders schnell voran kommen!"

Maureen seufzte.

"So etwas habe ich befürchtet!", meinte sie alles andere als begeistert. Eine Weile lang schwiegen sie beide, während das Taxi die kleine Häuseransammlung hinter sich ließ, die Linbury genannt wurde.

Die Straßen waren tatsächlich alles andere als komfortabel.

Maureen zuckte jedesmal zusammen, wenn der Wagen wieder einmal mitten durch ein tiefes Schlagloch ging.

"Woher kommen Sie?", fragte der Fahrer schließlich. Maureen hatte an seiner Unruhe gespürt, dass ihm diese Frage wohl schon länger auf den Lippen brannte.

"Aus London."

"London?" Er schüttelte ungläubig den Kopf. "Ich frage mich, was jemand aus London in einem kleinen Loch wie Dunmoore zu suchen hat?"

"Ich bin die neue Lehrerin dort", erklärte Maureen in gedämpftem Tonfall und überlegte dabei, ob sie die Stelle wohl auch angenommen hätte, wenn sie zuvor schon einmal hier gewesen wäre.

Der Fahrer wandte sich zu ihr um und musterte sie erst einmal mit großen Augen.

"Dann werden wir uns ja vielleicht öfter sehen", meinte er dann freundlich. "Hier in der Gegend kennt jeder jeden. Mein Name ist Brad McCullum."

"Maureen Stanley."

"Wohin soll ich Sie übrigens in Dunmoore bringen?"

"Kennen Sie jemanden, der Jason Cormick heißt?"

"Sicher. Mister Cormick ist eine bekannte Persönlichkeit hier in der Gegend."

"Wenn Sie mich bitte zu ihm fahren könnten. Ich habe ein Haus von ihm gemietet und muss mir bei ihm den Schlüssel abholen..."

Maureen sah, wie sich McCullums Gesicht schlagartig veränderte. Er runzelte die Stirn.

"Ein Haus, sagen Sie? Von Cormick?"

"Ja."

"Dann wird es sich um das Haus handeln, in dem früher Miss Bradshaw gelebt hat...", murmelte McCullum - mehr zu sich selbst, als zu seiner Gesprächspartnerin. Er schüttelte den Kopf. "Haben Sie das Haus schon gesehen?"

"Nein, nur auf Photos. Ich habe es über eine Zeitungsannonce bekommen. Und die Miete ist in Ordnung."

McCullum lachte rau und Maureen verstand nicht so recht, weshalb sich der Tonfall des Fahrers auf einmal so verändert hatte.

"Hat Cormick es also tatsächlich geschafft, das Haus noch einmal zu vermieten...", brummte er dann.

"Weshalb sollte er nicht? Ist mit dem Haus etwas nicht in Ordnung?"

"Nicht in Ordnung? Jedenfalls würde keiner der Einheimischen dort hineinziehen..."

Maureen verstand kein Wort. War sie am Ende einem Betrüger aufgesessen?

"Weshalb nicht?", fragte sie. "Hat es kein fließend Wasser oder funktioniert die Toilette nicht? Regnet es durch das Dach?"

"Nein, nein, Lady, das ist es nicht. Zumindest äußerlich macht es es einen guten Eindruck. Mister Cormick hat es immer gut gepflegt, seit..." Er stockte. "Seit damals."

Maureen hob die Augenbrauen.

"Seit wann?"

"Ach, diese alten Geschichten...", murmelte McCullum und machte dabei eine wegwerfende Handbewegung.

"Was denn für Geschichten?", erkundigte sich Maureen mit mäßigem Interesse.

"Man sollte nichts darauf geben, sage ich mir immer. Ich werde Sie zu Cormick fahren. Und im übrigen hat das Haus eine sehr schöne Lage!"

Maureen wunderte sich noch immer über den Unterton, mit dem McCullum gesprochen hatte. Wahrscheinlich würde es noch eine ganze Weile dauern, bis sie die Eigenarten dieser Leute verstehen würde.

Einen Vorgeschmack davon hatte sie jedenfalls schon bekommen!

Diese seltsamen Andeutungen, die McCullum gemacht hatte gefielen ihr jedenfalls ganz und gar nicht.

"Wir sind gleich da!", hörte sie den Taxifahrer sagen, während sie durch das Fenster hinaus in den Regen sah.



3

Das Platschen des Regens, das monotone Geräusch des Motors, das alles wirkte einschläfernd, fast wie eine Art unterschwellige Hypnose.

Maureen war müde.

Es war ein anstrengender Tag für sie gewesen.

Die verschiedensten Gedanken gingen ihr durch den Kopf und sie war schon drauf und dran sich darin zu verlieren, da riss McCullum auf einmal das Steuerrad herum und bremste ziemlich abrupt.

Maureen wurde nach vorne gerissen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie angeschnallt war.

Sie blickte auf und dann sah sie für den Bruchteil eines Augenblicks durch die Frontscheibe die gespenstische Gestalt eines Reiters.

Die Scheinwerfer des Wagens strahlten diese Gestalt direkt an und Maureen glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Der Reiter trug einen Dreispitz und eine weißgepuderte Perücke, dazu Rock und Hose im Stil eines Landedelmannes aus dem 18. Jahrhundert.

Das Gesicht war von einer schwarzen Maske verdeckt.

Und in der Rechten schwang er einen langen Säbel.

Das Pferd war zu Tode erschrocken und stellte sich wiehernd auf die Hinterhand, so dass der Reiter alle Mühe hatte, im Sattel zu bleiben. Doch dieser schien seine Sache gut zu verstehen.

Er hatte das Tier schnell wieder unter Kontrolle und preschte dann davon.

Maureen blickte ihm durch das Seitenfenster nach und sah, wie er das Pferd über einen Zaun springen ließ. Einige Momente noch sah sie ihn als schwarzen Schemen davoneilen, dann hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.

"So ein Verrückter!", flüsterte McCullum. "Läuft mir einfach vor den Wagen..."

Maureen sah, dass McCullums Gesicht kreidebleich geworden war.

"Das war wirklich knapp!", meinte sie und er nickte.

"Ja, kann man wohl sagen!", McCullum wischte sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht. Seine Augen wurden schmal, als er hinaus in die Dunkelheit blickte.

"Ein merkwürdiger Kerl...", murmelte Maureen. "Kannten Sie ihn, Mr. McCullum?"

Der Taxifahrer drehte sich zu ihr herum und runzelte die Stirn.

"Ich... Wieso?"

Maureen hob die Schultern. "Na, Sie sagten doch, hier in der Gegend kennt jeder jeden!"

Er blickte wieder nah vorn und schien einen Moment lang nachzudenken, bevor er schließlich langsam nickte.

"Ja, so ist es auch", bestätigte er.

"Er war seltsam kostümiert", sagte Maureen. "Haben Sie das auch gesehen? Und er hatte einen Säbel... Wie in einem dieser Historienfilme!"

McCullum schüttelte energisch den Kopf.

"Nein", sagte er. "Das habe ich nicht gesehen."

"Aber..."

Für Maureen war das unbegreiflich.

"Ich musste mich darauf konzentrieren, einen Unfall zu verhindern. Von seinem Gesicht konnte ich auch nichts erkennen!" Er atmete heftiger. "Dieser verrückte Hund! Reitet bei Dunkelheit einfach so über die Straße! Ist wohl lebensmüde..."

"Und dann ist er einfach davongeritten...", murmelte Maureen. Sie versuchte zu lächeln, obwohl ihr der Schrecken noch in den Gliedern saß. "Vielleicht zu einem Kostümfest! Gibt es in Dunmoore jemanden, der so etwas Ausgefallenes veranstaltet?"

McCullum blickte sie seltsam an.

"Ein Kostümfest?" Er schüttelte heftig den Kopf. "Nein, so etwas gibt es hier nicht", fügte er dann schnell im Brustton der Überzeugung hinzu.

"Aber warum war der Kerl dann so merkwürdig angezogen?"

"Ich weiß es nicht." Dann atmete er auf und versuchte, etwas entspannter dreinzublicken. Die Ahnung eines Lächelns huschte über sein Gesicht, aber auf Maureen wirkte es eher gezwungen. McCullum sagte schließlich: "Es ist nichts passiert, vergessen wir es also!"

"Wenn Sie meinen..."

"Es ist das beste, glauben Sie mir, Miss Stanley."

Er versuchte, weiterzufahren, aber der Wagen heulte nur klagend auf und McCullum schlug mit der flachen Hand gegen das Lenkrad.

"Was ist los?", fragte Maureen.

McCullum schlug wütend mit den Handballen auf das Lenkrad und schimpfte: "Na, was wohl! Wir sitzen fest!"

Er fuhr sich mit der Hand durch das schüttere Haar und wandte sich dann an seinen Fahrgast. "Haben Sie einen Führerschein?"

Sie nickte.

"Ja."

"Na, um um so besser, dann brauche ich Ihnen ja nichts zu erklären!"

"Was haben Sie vor, Mr. McCullum?"

Er hob die Schultern.

"Rutschen Sie hinters Steuer, ich werde aussteigen und schieben!"



4

Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie den Wagen wieder flott hatten. Als McCullum dann hinter dem Steuer saß saß, war er bis auf die Haut nass und fluchte leise vor sich hin.

Maureen entschied, dass es im Moment ratsamer war, ihn nicht anzusprechen. Seine Laune war schlecht und sie hatte volles Verständnis dafür.

Kurze Zeit später erreichten sie ein Landhaus. Unterdessen hatte der Regen nachgelassen und verebbte schließlich ganz.

Aber das Wetter blieb trübe.

Wolken standen am dunklen Himmel und verdeckten die meiste Zeit über den Mond.

McCullum fuhr so nahe an die Haustür heran, wie es ging.

"Hier wohnt Mister Cormick!", erklärte er. "Soll ich auf Sie warten?"

"Ja, das wäre nett."

"Aber machen Sie nicht zu lange, Miss! Ich möchte langsam Feierabend machen."

Maureen nickte.

"Ich werde mich beeilen, Mister McCullum!"

Maureen stieg aus und ging zur Haustür. Es gab keine Klingel, nur einen gusseisernen Ring zum Klopfen. Als Maureen zum ersten Mal klopfte und dann einen Moment wartete, rührte sich nichts.

Sie versuchte es ein zweites Mal, diesmal etwas energischer - und mit Erfolg.

Ein hochgewachsener, aristokratisch wirkender Mann von unbestimmbarem Alter öffnete ihr. Er mochte Mitte fünfzig sein, vielleicht aber auch zehn Jahre älter, das war schwer einzuschätzen.

Sein Körperbau war hager, sein Gesicht feingeschnitten. Er trug einen dünnen Oberlippenbart und hatte hohe Wangenknochen.

Der Mann blickte auf die junge Frau herab und und zog die Augenbrauen in die Höhe.

"Ja, bitte?", fragte er mit einem Tonfall, in dem so etwas wie unterschwellige Herablassung mitschwang.

"Mein Name ist Maureen Stanley. Sind Sie Mister Cormick?"

Er nickte.

"Ja, der bin ich." Sein Gesicht hatte die ganze Zeit über angespannt gewirkt.

Jetzt machte er den ziemlich hilflosen Versuch, etwas lockerer zu wirken.

Maureen sagte: "Wir hatten miteinander telefoniert."

Cormick atmete tief durch und nickte dann erneut.

"Sie werden sich den Schlüssel für das Haus abholen wollen, nicht wahr?"

"Ja, so ist es."

"Warten Sie einen Augenblick..."

Cormick verschwand für einen Moment und als er dann zurückkam, hatte er in der Rechten einen Schlüssel, den er Maureen in die Hand drückte.

"Ich danke Ihnen."

"Ich bin froh, das das Haus endlich wieder vermietet ist. Es hat lange leer gestanden. Wenn also..."

"Ich werde schon zurechtkommen!"

Er lächelte verhalten.

"Ja, das glaube ich auch. Ach, da ist noch etwas..."

Cormick zögerte, so als suche er noch nach den richtigen Worten.

Maureen hob die Augenbrauen.

"Ja?"

"Es ist vielleicht ganz gut, dass endlich einmal wieder in diese Gegend zieht, der hier nicht geboren und aufgewachsen ist. Hier haben sich manche wunderlichen Dinge erhalten, wie Sie sicher noch feststellen werden. Sitten, Gebräuche, auch Aberglauben..." Er stockte erneut. Dann zuckte er mit den Schultern. "Ich sag's Ihnen am besten gleich so, wie es ist. Die Leute hier erzählen sich seltsame Geschichten, über das Haus, das ich Ihnen vermietet habe."

Wenn das alles ist, was mit diesem Haus nicht stimmen soll!, dachte Maureen und lächelte erleichtert.

"Was für Geschichten?", fragte sie.

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Ach, nur Gerede. Ich hoffe Sie geben nichts darauf."

Maureen lachte.

"Ich glaube eigentlich nicht an Gespenster!"

"Dann ist es ja gut!"

Sie traten gemeinsam vor die Tür. Cormick war indessen ausgestiegen und lehnte an der Motorhaube seines Wagens. Er winkte Cormick zu und nickte.

"Guten Abend, Mister Cormick!"

"Guten Abend, Mister McCullum!"

"Das war ein Regen, was!"

"Ja das kann man wohl sagen! Ihr Wagen sieht ja furchtbar aus!"

"Ja, und meine Hose auch! Ich habe festgesteckt... Da war so ein Verrückter, der plötzlich wie aus dem Nichts mit seinem Pferd auftauchte. Ich musste ausweichen dann dann war's auch schon passiert!"

Cormick verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.

"Ärgerlich", murmelte er. "Haben Sie den Kerl erkannt? Er muss ja schließlich hier aus der Gegend kommen!"

McCullum schüttelte den Kopf.

"Ging alles viel zu schnell!", meinte er und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.

"Es war jemand mit einem Säbel und weißer Perücke... Wie ein Landadliger des achtzehnten Jahrhunderts!", warf Maureen ein, ohne viel darüber nachgedacht zu haben. "Und er trug eine schwarze Maske."

McCullum rieb sich amüsiert die Nase.

"Wissen Sie, was sie mich gefragt hat?", lachte der Taxifahrer an Cormick gewandt. Dieser strich sich mit den Fingern über seinen Oberlippenbart und hob die Augenbrauen.

"Was denn?"

"Ob hier jemand in der Gegend einen Maskenball veranstaltet? Stellen Sie sich vor! Ein Maskenball in Dunmoore." McCullum schlug sich auf die Schenkel, so amüsierte ihn das im Nachhinein.

Cormick lächelte nachsichtig.

"Miss Stanley scheint keine Ahnung davon zu haben, was für ein knochentrockener Menschenschlag hier wohnt", vermutete er. "So etwas wie ein Maskenball ist in dieser Umgebung wirklich schwer vorstellbar..."



5

Wenige Augenblicke später saßen sie wieder zusammen im Wagen und fuhren über die holperige, teils befestigte Straße.

"Sie sollten sich unbedingt einen Wagen anschaffen, wenn Sie sich hier häuslich niederlassen", meinte McCullum.

Maureen nickte.

In London hatte sie keinen Wagen gebraucht, aber hier draußen gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel. Allerdings auch keinerlei Parkplatzsorgen.

"Ich werde mich bald darum kümmern", meinte sie.

"Vielleicht kann ich Ihnen etwas vermitteln", erwiderte McCullum. "Ich kenne hier viele Leute und vielleicht will ja irgendwer etwas verkaufen, was Sie gebrauchen könnten, Miss Stanley..."

"Gut, wenn Sie sich einmal umhören wollen!"

"Das tue ich gerne für Sie, Miss. Hier in der Gegend hilft jeder jedem!"

Maureen sah hinaus in die Dunkelheit.

Nebel waren über der kargen Moorlandschaft aufgezogen und krochen über die sanften Hügel, die sich nur als dunkle, geheimnisvolle Schatten abhoben.

Dann tauchte ein Haus auf und einen Augenblick später stoppte McCullum.

"Wir sind da."

"Ich danke Ihnen."

Er schaute auf seinen Zähler.

"Da ist 'ne saftige Rechnung zusammengekommen."

"Ist schon in Ordnung."

Maureen bezahlte McCullum und stieg aus.

McCullum stieg auch aus, ging zum Kofferraum und holte Maureens Gepäck heraus.

"Stellen Sie es einfach hier ab!"

"In Ordnung, Miss Stanley."

Etwas später setzte McCullum dann rückwärts und fuhr die holperige Straße zurück, auf der sie gekommen waren. Maureen sah dem Wagen nach, bis er im Nebel verschwand. Maureen

schlug ihren Mantelkragen hoch und fröstelte. Es war lausig kalt geworden.

Sie stand da, mit ihren beiden Koffern und musterte das Haus, in dem sie wohnen würde. Es war nicht allzu groß und aus massivem Stein gebaut. So, wie es da stand, wirkte es gewissermaßen zeitlos. Jahrhunderte mochte es schon so überdauert haben.

Aber dieses Haus gefiel ihr.

Sie nahm ihre Koffer und ging zur Tür. Auf dem hölzernen Sturz sah sie eine Jahreszahl eingebrannt: 1623. Dieses Haus wahr also tatsächlich schon sehr alt.

Nun, dachte Maureen. Es hat die Zeit in einem ganz passablen Zustand überstanden.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und trat dann über die Schwelle. Es war dunkel, aber sie fand den Lichtschalter schließlich doch noch, nachdem sie einen Stuhl umgeworfen hatte.

Der Raum, den sie dann sah, wirkte sehr gemütlich. Im Zentrum war ein Kamin. Die Möbel waren rustikal und einfach, aber sie passten in dieses Haus hinein, als wären sie dafür gemacht.

Maureen ließ den Blick über die Einrichtung schweifen und öffnete dann die Tür zur Küche. Das Haus hatte neben dem Bad und der Küche noch zwei Räume: Wohnzimmer und Schlafzimmer.

Maureen blickte ins Schlafzimmer und sah, dass im Schrank sogar Bettwäsche war.

Alles war so gut gepflegt, so sauber, dass es fast den Eindruck machte, als wäre dieses Haus bewohnt. Hatte McCullum nicht gesagt, es wäre lange Zeit nicht mehr vermietet gewesen?

Maureen zuckte mit den Schultern.

Und dann erstarrte sie.

Sie hörte ein Knarren, so als hätte jemand das Haus nach ihr betreten. Sie stand da, wie zu Stein geworden und wagte es nicht, auch nur zu atmen.

Sie lauschte und glaubte zu hören, wie sich die Haustür knarrend bewegte.

Maureen atmete tief durch, dann schlich sie zu jener Tür, die das Schlafzimmer mit dem Wohnraum verband und warf einen Blick durch den Türspalt.

Die Tür stand halb offen, der Wind bewegte sie ein wenig hin und her.

Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie das sah.

Ich hätte die Tür hinter mir schließen sollen!, dachte sie.

So hatte sie wohl der Wind hin und her bewegt und dadurch die Geräusche verursacht.

Entschlossenen Schrittes betrat sie nun das Wohnzimmer, schloss die Tür und rieb sich die Hände.

Ihr Blick ging zum Kamin.

Sogar Holz liegt bereit!, ging es ihr durch den Kopf. Nein, es war wirklich kaum zu glauben, dass hier schon lange niemand mehr gewohnt hatte. Eher schien es, als wäre es das Haus von jemandem, der nur für eine Nacht wegbleiben und dann zurückkehren würde.



6

In der Nacht schlief sie hervorragend und als sie am Morgen erwachte fühlte sie sich wie neu geboren. Es war die Sonne, die sie weckte. Sie ging ans Schlafzimmerfenster, öffnete es und blickte hinaus.

Am hellen Tag sah alles ganz anders aus. Der Nebel hatte sich verzogen und man hatte nun eine gute Sicht.

In einiger Entfernung sah sie eine Ansammlung von Häusern.

Das musste Dunmoore sein.

Ein kleines verschlafenes Nest, aber sicher gab es dort eine Gelegenheit zu frühstücken.

Maureen hatte nämlich auf einmal einen ziemlichen Hunger.

Sie reckte sich und zog sich dann schnell an.

Zu dem Haus, das sie gemietet hatte, gehörte auch ein kleiner Schuppen, in dem allerlei Gerümpel abgelegt war. Das meiste war wohl schon ziemlich alt, wenn man nach den Rostspuren an den Schaufeln und Hacken ging, die da unordentlich auf einem Haufen lagen.

Maureen fand aber auch ein altes Damenrad, das zwar ebenfalls deutliche Rostspuren aufwies, ansonsten aber völlig in Ordnung war.

Dunmoore lag zwar nahe genug, dass man den kleinen Ort auch zu Fuß gut erreichen konnte, aber mit einem Drahtesel war es wohl doch einfach bequemer.

Maureen holte das Rad aus dem Schuppen heraus, wobei es furchtbar quietschte und rasselte. Es brauchte ein paar Tropfen Öl, aber im Schuppen war keines.

Maureen blickte sich um.

Vom Haus aus führte ein unbefestigter Weg bis zur Straße, die dann geradewegs in den Ort führte. Da stand sogar ein Schild am Straßenrand.

Dunmoore 1 Meile.

Sie hatte sich gerade den Sattel ein wenig gesäubert und wollte nun aufsteigen, da glaubte sie, ihren Augen nicht zu trauen.

Irgendwo in der Ferne, zwischen den sanften Hügeln und den verkrüppelt wirkenden, windschiefen Bäumen bewegte sich etwas.

Es war ein Reiter.

Ein wahrhaft gespenstischer Reiter in Dreispitz, gepuderter Perücke und einem Rock um wehenden Schößen; das Gesicht verdeckt von einer schwarzen Maske und an der Seite einen geschwungenen Säbel.

Maureen runzelte die Stirn und schüttelte innerlich den Kopf. Was mochte das nur für ein komischer Kauz sein? Ein Verrückter vielleicht, dem es beliebte, in historischen Kostümen über das Moor zu reiten und Leute zu erschrecken?

Der Reiter schien sie gesehen zu haben.

Er zügelte sein Pferd auf einem der Hügel und blickte in ihre Richtung.

Maureen sah zurück und hatte auf einmal das Gefühl, als würde sich ihr eine eisige Hand auf die Schulter legen. Will der Kerl etwas von mir? ging es ihr durch den Kopf und wie zur Antwort hob der düstere Reiter die rechte Hand und winkte ihr zu.

Maureen reagierte nicht.

Sie stand wie angewurzelt da und blickte gebannt zu dem Reiter hinüber.

Er winkte noch einmal, dann riss er urplötzlich sein Pferd herum und preschte in wildem Galopp davon.

Maureen sah ihm nach, bis er schließlich hinter den Hügeln verschwunden war.

Ich werde mich in Dunmoore mal nach diesem Kerl erkundigen!, überlegte sie.

Schließlich war dieser Maskierte ihr in nicht einmal 24 Stunden bereits zweimal begegnet und so brannte sie nun darauf, endlich zu erfahren, was es mit diesem seltsamen Kerl auf sich hatte.

Andererseits hatte McCullum, der Taxifahrer, auch nichts darüber gewusst - oder es zumindest vorgegeben - und Taxifahrer waren doch im allgemeinen gut informiert.

Aber wie auch immer!, dachte Maureen. Ich werde einfach mal mein Glück versuchen...

Außerdem war ihr vordringlichstes Problem im Moment auch ein ganz anderes.

Sie hatte Hunger!

Und so schwang sie sich auf das Rad und fuhr den holperigen Weg bis zur Straße, wobei sie so gut es ging den Pfützen auszuweichen suchte, die von dem gestrigen Wolkenbruch noch stehengeblieben waren. Dann war sie auf der Straße und es ging sogar ein wenig

bergab. Wenn sie nachher den ansteigenden Rückweg vor sich hatte, hätte sie ja etwas gegessen.



7

In Dunmoore gab es eine kleine Poststation, ein Restaurant, einen Zeitungskiosk und ein Lebensmittelgeschäft. Das besondere war, dass dies alles in demselben Haus beherbergt war, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift 'Harry's' hing.

Der Laden, den Harry Cramer mit seiner Frau betrieb war so gewissermaßen das Zentrum von Dunmoore. Maureen bekam von Mrs. Cramer ein stattliches Frühstück mit Eiern und gebackenem Schinken vorgesetzt, während Harry hinter der Theke stand, Gläser spülte und sich dabei mit einem Mann in den mittleren Jahren unterhielt.

Zunächst hatte Mrs. Cramer einen etwas abweisenden Eindruck gemacht, aber als Maureen ihr dann sagte, sie sei die neue Lehrerin, da wurde sie etwas wärmer und setzte sich dann sogar zu ihr an den Tisch.

Wahrscheinlich war sie einfach neugierig. Allzu viel Abwechselung gab es hier ja wohl auch nicht.

"Wie gefällt es Ihnen hier bei uns in Dunmoore?", begann sie etwas unbeholfen.

Maureen versuchte ein Lächeln.

"Ich bin erst seit gestern Abend hier", erklärte sie dann mit einem Schulterzucken.

"Ah, da haben Sie unser Wetter gleich von seiner besten Seite mitgekriegt!", meinte Mrs Cramer. "Das war ein ganz schöner Wolkenbruch, selbst für unsere Verhältnisse. Und wir sind hier einiges gewöhnt, kann ich Ihnen sagen!"

"Wir hatten Wasser im Keller!", meinte der Mann an der Theke, dessen Gespräch mit Harry inzwischen verebbt war.

"Solche Probleme haben wir nicht", erwiderte Mrs. Cramer an den Mann gewandt. Dann drehte sie sich wieder zu Maureen herum und lachte verschmitzt. "Wissen Sie, wir haben nämlich keinen Keller!"

Maureen lächelte.

"Ist wohl zu feucht hier."

Mrs. Cramer nickte.

"Ja, früher war das alles Moor. Jetzt ist schon vieles trockengelegt, aber trotzdem würde ich niemandem raten, hier einen Keller in die Erde zu setzen!"

Maureen trank einen Schluck von ihrem Tee, wobei sie Mrs. Cramers Blicke unverwandt auf sich gerichtet fühlte.

"Wo sind Sie untergekommen, Miss..."

"Stanley."

"Miss Stanley, ja. In einer Pension kann es nicht sein, denn die einzige Zimmervermietung in der Gegend betreiben wir!" Sie lachte freundlich und fügte dann in gespielter Empörung hinzu: "Aber wenn dem doch so sein sollte, dann würde ich gerne wissen, wer uns Konkurrenz macht!"

"Keine Sorge!", erwiderte Maureen. "Ich habe ein Haus gemietet. Von Mister Cormick, Sie werden ihn sicher kennen... Von Dunmoore aus kann man es sehen."

"Es liegt dort oben auf dem Hügel nicht wahr?", fragte Mrs. Cramer nach und dabei hatte sich ihre Stimme merklich verändert.

Maureen nickte und nahm dabei einen Bissen von dem Ei.

"Ja."

"Ich weiß, welches Haus Sie meinen. Es ist lange nicht vermietet worden..."

"Ja, Mr. McCullum hat es mir erzählt."

Mrs. Cramer atmete tief durch.

"So, Brad McCullum kennen Sie also auch schon! Hat er Ihnen auch den Grund gesagt, weshalb niemand mehr in das Haus einziehen wollte?"

"Nein, hat er nicht. Er hat nur etwas von alten Geschichten gesagt, aber nichts näher erklärt. Und wie ich gesehen habe, scheint mit dem Haus auch alles in Ordnung zu sein!"

Mrs. Cramer nickte.

"Wahrscheinlich ist auch auch alles in Ordnung."

"Worum geht es es denn in diesen alten Geschichten, die McCullum so beiläufig erwähnte?"

Mrs. Cramer warf einen Blick zu ihrem Mann, der aufgehört hatte abzuspülen und zu Maureen hinüberblickte.

"Warum sagst du ihr nicht einfach, wie es gewesen ist?", meinte Harry Cramer und fuhr dann an Stelle seiner Frau fort: "Es ist einfach so, dass die letzte Mieterin, eine gewisse Mrs. Bradshaw, dem Wahnsinn verfiel und ein rätselhaftes Ende fand." Er zuckte mit den Schultern. "Seitdem glauben manche Leute hier in der Gegend, dass so etwas wie ein Fluch auf diesem Haus liege..."

"Ein Fluch?"

Maureen zog die Augenbrauen hoch.

Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Und so musste sie unwillkürlich lächeln. Wenn das Dach undicht gewesen oder kein Wasser aus dem Hahn gekommen wäre - das wären ernste Dinge gewesen.

Aber ein Fluch?

Innerlich schüttelte Maureen den Kopf.

"Mrs. Bradshaw war eine wunderlich gewordene Witwe", berichtete Harry Cramer dann und fuhr damit fort, Gläser zu spülen. "Sie glaubte, Geister und Fabelwesen zu sehen. Vielleicht wäre sie nicht gestorben, wenn man sie rechtzeitig in eine Anstalt gesperrt hätte. Aber da sie niemandem schadete und für keinen gefährlich wahr, hat man sie mehr oder weniger sich selbst überlassen."

Nun meldete sich der Gast zu Wort, der bei Harry an der Theke stand. Und der schien die Sache nicht so leicht zu nehmen wie Harry Cramer.

"Du musst zugeben, dass die Sache damals schon ziemlich merkwürdig war und auch nie wirklich aufgeklärt worden ist!", gab er zu Bedenken, führte sein Glas zum Mund und nahm einen kräftigen Schluck. "Die wunderliche Mrs. Bradshaw behauptete immer, dass ein Mann mit einem Säbel hinter ihr gewesen wäre und sie umbringen wolle. Und woran ist sie am Ende gestorben? An einer Wunde, die sehr wohl von einem Säbel herrühren könnte."

"...oder die sie sich in ihrer Ungeschicklichkeit der Sense selbst beigebracht hat, mit der sie immer ihre kleine Wiese mähte!", hielt Harry dagegen. "Ich glaube jedenfalls weder an Flüche noch an Gespenster. Und ich schätze, die junge Lady dort tut es auch nicht!"

Der Mann an der Theke zuckte mit den Schultern.

"Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns erklären können", meinte er. Dann zuckte er in betonter Gleichgültigkeit mit den Schultern und murmelte düster: "Jeder muss selbst wissen, was er tut..."

Für einige Augenblicke sagte niemand ein Wort. Maureen hatte keine Lust, diese Sache auszudiskutieren und so wandte sie sich an Mrs. Cramer.

"Sagen Sie, das Gebäude am Ende der Straße, ist das die Schule?"

"Ja, direkt neben der Kirche", bestätigte Mrs. Cramer. "Sie wollen sie sich sicher einmal ansehen, nicht wahr?"

Maureen lächelte.

"Ja."

"Die Schlüssel hat Ihre Vorgängerin, die in diesem Jahr pensioniert wurde: Miss Wainright."

"Man hat mir ihre Adresse gegeben."

"Sie wohnt direkt neben der Schule in dem kleinen Häuschen. Schauen Sie ruhig einmal bei ihr vorbei. Sie wird sich freuen!"



8

Als Maureen zu Ende gefrühstückt und Harry's verlassen hatte, nahm sie ihr Fahrrad und schob es die Straße entlang.

Sie sah ein paar Kinder spielen, die neugierig zu der fremden Frau herüberblickten.

Die Jüngeren von ihnen würde sie in einigen Wochen wohl als ihre Schüler wiedersehen...

Maureens Blick ging über die kleinen Häuser. An einem der Fenster nahm sie eine Bewegung war und es war ihr auf einmal irgendwie unangenehm, sich so beobachtet zu fühlen.

Da musst du durch!, sagte sie sich selbst und beschloss, nicht weiter darauf zu achten.

Sie erreichte die schlichte Kirche, dann kam sie an der kleinen Schule vorbei und erreichte schließlich das Haus ihrer Vorgängerin.

Elizabeth Wainright - so stand es deutlich an ihrer Tür zu lesen.

Maureen läutete an der Tür und wenig später machte ihr eine sympathisch wirkende ältere Dame die Tür auf.

"Miss Wainright?", fragte Maureen.

"Ja?"

"Ich bin Maureen Stanley, die neue Lehrerin!"

Miss Wainright schien überrascht.

"Sie sind noch sehr jung", entfuhr es ihr, aber schon in der nächsten Minute schien ihr diese Bemerkung leid zu tun.

"Verzeihen, Sie Miss Stanley, aber so war es nicht gemeint. Wirklich nicht!"

"Ist schon gut", gab Maureen freundlich zurück. "Aber Sie haben ja vollkommen recht. Dies ist meine erste Anstellung!"

"Kommen Sie doch herein! Und setzen Sie sich zu uns..."

Als die junge Frau Miss Wainright in ihren Flur folgte, sah sie plötzlich die hochgewachsene Gestalt eines Mannes aus aus dem Halbdunkel auftauchen. Er mochte Anfang dreißig sein, und hatte ein feingeschnittenes Gesicht, in dessen Mitte zwei intelligente Augen blitzten. In der Rechten hielt er ein kleines Köfferchen, das darauf schließen ließ, dass er Arzt war.

"Aber Dr. Anderson! Wollen Sie nicht doch noch etwas bleiben?"

Dr. Anderson lächelte.

"Nun, ich habe noch einige Hausbesuche vor mir", murmelte er, wobei er seinen Blick nicht von Maureen ließ. Er nickte ihr zu.

"Ich habe den Tee fertig", meinte Miss Wainright. "Wollen Sie nicht doch noch eine Tasse probieren?"

"Naja, für einen Augenblick..."

Miss Wainright führte den Maureen und Dr. Anderson in ein völlig überladenes Wohnzimmer, das aber einen eigenen, merkwürdigen Charme entfaltete.

Es war das Zimmer einer Sammlerin.

Altmodische, aber gemütliche Möbel, die nicht zu einander passten, standen hier. Maureen sah eine Vitrine, die mit alten Porzellan-Puppen angefüllt war.

An den Wänden hingen Bilder.

Es waren Photos, Gemälde und Zeichnungen. Manche von professionellen Malern, andere offenbar von Kindern ihrer Schule angefertigt. Gruppenphotos von Schulklassen, Erinnerungsphotos von Ausflügen und Festen. Viele davon waren schon ziemlich vergilbt, aber alle hatte Miss Wainright mit viel Liebe gerahmt.

Maureens Blick glitt die dicht behängten Wände entlang.

Es waren so viele Bilder, dass man kaum irgendwo ein Stück der Tapete sehen konnte.

Und dann erstarrte die junge Frau plötzlich, als ihr Blick auf ein Gemälde fiel, das einen Reiter zeigte, dessen Pferd in wildem Galopp über einen vom Sturm entwurzelten Baum sprang. Von seiner äußeren Erscheinung her glich dieser Reiter demjenigen, den sie heute morgen von ihrem Haus aus gesehen hatte...

Maureen schluckte.

Es lief ihr kalt über den Rücken.

Der Reiter auf dem Bild trug einen Dreispitz und eine gepuderte Perücke, dazu die charakteristische schwarze Maske, durch deren Augenlöcher es gespenstisch zu leuchten schien.

Den Säbel schwang er hoch über dem Kopf, so als wollte er zu einem furchtbaren Schlag ausholen.

Im Vordergrund war eine junge Frau zu sehen, die offenbar in wilder Panik vor dem Reiter zu fliehen versuchte. Das dichte, braune Haar wehte ihr ins Gesicht, so dass ihre Züge nicht erkennbar waren.

Maureens Blick drohte förmlich in diesem Bild zu versinken.

Wie durch einen Nebel drang Miss Wainrights Stimme an ihr Ohr.

"Miss Stanley! Wollen Sie sich nicht setzen?"

Maureen lächelte gezwungen.

"Ja, natürlich..."

Dr. Anderson nahm in einem der Plüschsessel Platz, während Maureen sich in das Sofa sinken ließ. Ihr Blick war noch immer auf das Gemälde mit dem Reiter gerichtet, während Miss Wainright in die benachbarte Küche gegangen war, um den Tee zu holen.

"Sie starren dieses Bild an, als ob..." Dr. Anderson brach ab und machte eine hilflose Geste.

Maureen wandte den Blick zu dem jungen Arzt und hob die Augenbrauen.

"Als ob was, Dr. Anderson?"

Er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß auch nicht...", bekannte er.

Jetzt kam Miss Wainright mit dem Tee zurück.

"Sagen Sie, was ist das dort für ein Bild?", fragte Maureen ihre Vorgängerin und deutete auf das Gemälde mit dem finsteren Reiter.

Miss Wainright schenkte zunächst den Tee ein. Dann setzte sie sich und meinte: "Es ist schon uralt. Sie sehen es an den Farben, Miss Stanley. Sie sind hier und da schon etwas arg verblasst... Der Maler ist nicht bekannt, aber er muss wohl aus dieser Gegend stammen. Wer sonst würde sich sonst schon Lord Kavanaugh, den ruhelosen Reiter aus dem Totenreich als Motiv für ein Gemälde auswählen?"

Maureen führte ihre Teetasse zum Mund und nahm einen Schluck. Eines musste man Miss Wainright in jedem Fall lassen: Sie verstand sich ausgezeichnet auf die Teezubereitung.

"Lord Kavanaugh?", fragte die junge Frau dann etwas befremdet. "Der Reiter aus dem Totenreich?"

"Ja, ein beliebtes Motiv in den Sagen und Legenden dieser Gegend... Lord Kavanaugh ist ein Verfluchter, ein Untoter, der immer wieder die Lebenden heimsucht!" Miss Wainright lächelte ein wenig amüsiert, als sie Maureens erstauntes Gesicht sah. "Ja, Sie werden sich wohl oder übel auch mit diesen alten Geschichten befassen müssen. Schon allein, um sie den Kindern in der Schule erzählen zu können..."

Maureen erzählte dann von dem Reiter, den sie gesehen hatte. "Er sah genau so aus, wie auf diesem Bild", erklärte sie.

"Ich verstehe", meinte Dr. Anderson. "Deshalb haben Sie das Gemälde so angestarrt..."

Maureen nickte.

"Ja, so ist es."

Dr. Anderson lächelte.

"Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder, Sie haben wirklich ein Gespenst aus dem Jenseits gesehen..."

"Oder?"

"Oder jemand hat sich einen ganz üblen Scherz erlaubt!", ergänzte Miss Wainright.

Maureen zuckte mit den Schultern.

"Ja, scheint so... Da es keine Gespenster gibt, muss es wohl so sein. Aber warum?"

Miss Wainright machte eine wegwerfende Bewegung. "Ein dummer Jungenstreich, so schätze ich das ein. Was glauben Sie, was ich schon alles hab über mich ergehen lassen müssen - in dieser speziellen Hinsicht meine ich! Da könnte ich Ihnen Sachen erzählen!"

Und dann begann sie zu erzählen.

Maureen sah immer wieder zu dem Gemälde mit dem Reiter hin, während Dr. Anderson mehrfach auf die Uhr schaute, nachdem er seinen Tee aufgetrunken hatte.

Wahrscheinlich hatte er Miss Wainrights Geschichten über Schülerstreiche und dergleichen schon mehrfach mit anhören müssen.

Jedenfalls erhob er sich schließlich.

"Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, Miss Wainright, aber ich muss jetzt wirklich los!", erklärte er, wobei er sich erhob.

"Und dasselbe gilt für mich", gestand Maureen.

"Oh, das ist wirklich schade. Aber ich denke, wir werden noch öfter Gelegenheit bekommen, uns zu unterhalten..."

"Ich würde gerne einen Blick in die Schulräume werfen!"

"Aber natürlich. Warten Sie, Miss Stanley, ich hole Ihnen die Schlüssel..."

Miss Wainright ging an eine ihrer Kommoden, zog eine Schublade auf und gab Maureen einen Augenblick später die Schlüssel.

"Hier. Sie sind jetzt dafür verantwortlich."

"In Ordnung."

"Ich habe einen guten Eindruck von Ihnen, Miss Stanley. Sie werden Ihre Sache schon gut machen! Davon bin ich überzeugt"

Sie gingen alle drei zur Tür. Miss Wainright verabschiedete von Maureen und Dr. Anderson.

Der Arzt deutete auf seinen Wagen, den er ein paar Dutzend Meter weiter an der Straße abgestellt hatte.

"Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?", fragte er.

Aber Maureen schüttelte den Kopf.

"Nein, danke, Dr. Anderson. Ich wollte noch in die Schule..."

"Sagen Sie Jim zu mir."

"Gut. Ich bin Maureen."

Und bei sich dachte sie: Er ist attraktiver Mann, dieser Arzt. Er war ihr ausgesprochen sympathisch.

"Sagen Sie, Jim: Was zieht einen relativ jungen Arzt wie Sie hier in diese Abgeschiedenheit! Das würde mich wirklich interessieren!"

Er lächelte gewinnend.

"Eine ähnliche Frage könnte ich Ihnen stellen, Maureen!"

"Aber ich habe zuerst gefragt."

"Nun, es steckt nicht viel dahinter. Ich bin hier geboren und hatte die Gelegenheit, die Praxis meines Vaters zu übernehmen. Und ich bereue es nicht. Es gefällt mir hier... Und Ihnen?"

Maureen hob die Augenbrauen und meinte schelmisch: "Solange mir der Geist von Lord Kavanaugh nicht nachstellt..."



9

Als sich Maureen in der kleinen Schule umsah, fand sie dabei ein Buch, das in einen kunstvoll verarbeiteten Ledereinband gefasst war. Es trug die Aufschrift 'Die Legende von Lord Kavanaugh, dem Ruhelosen'.

Maureen klappte das Buch auf.

Herausgegeben von Jason Cormick war dort angegeben. Ob das jener Jason Cormick war, von dem sie das Haus gemietet hatte?

Vermutlich war er es.

Ich werde ihn fragen, wenn sich die Gelegenheit ergibt!, dachte sie bei sich.

Das Buch war mit kunstvollen Illustrationen von Malern aus der Umgegend angereichert. Eine Reproduktion des Gemäldes, das Maureen bei Miss Wainright hatte hängen sehen, war auch darunter.

Maureen begann zu lesen.

Lord Charles Kavanaugh - auf den die Legende angeblich zurückging - hatte danach von 1698-1725 gelebt und war der letzte Spross einer Adelsfamilie, auf deren Geschichte ein Fluch von Gewalt und Tod gelegen haben musste.

Kaum einer der ihren war eines natürlichen Todes gestorben.

Und dasselbe Schicksal - jedenfalls der Sage nach - ereilte auch Lord Charles Kavanaugh. Die Geschichte von seinem Fall nahm ihren Anfang, als er das Bauernmädchen Ann begehrte, das jedoch von dem zum Jähzorn neigenden Lord nichts wissen wollte.

Sie liebte James, einen jungen Mann aus Dunmoore, aber Lord Kavanaugh hinderte das nicht im mindesten.

Und so stellte er dem jungen Mädchen weiterhin nach und setzte ihren Vater unter Druck, indem er diesem androhte, ihn von dem Land zu verjagen, das dieser von den Kavanaughs gepachtet hatte.

Da fasste Ann gemeinsam mit ihrem Geliebten einen verzweifelten Plan. Sie ließen Lord Kavanaugh eine Nachricht von Ann zukommen, in der diese ihm mitteilte, dass sie ihm jetzt doch nachgeben und sich mit ihm des nachts an einer knorrigen, verkrüppelten Eiche, in die ein Jahr zuvor der Blitz geschlagen war, treffen wolle.

Lord Kavanaugh - blind vor selbstzerstörerischer Leidenschaft und jede Vorsicht vergessend - kam zum vereinbarten Treffpunkt, wo Ann und ihr geliebter James dem Lord auflauerten und ihn erschlugen.

Aber die beiden Liebenden wurden nicht glücklich.

Der Fluch ihrer Tat schien sie nicht aus seiner Gewalt zu lassen. Ann wurde wahnsinnig und glaubte, dass der Geist von Lord Kavanaugh sie verfolgte und ihr nachstellte, diesmal nicht zu ungestümer Leidenschaft entflammt, sondern blind vor Rachedurst.

Immer wieder konnte man Anns Schreie über die Hügel gellen hören, wenn sie wieder einmal den düsteren, maskierten Reiter hinter sich her hetzen sah und verzweifelt versuchte, ihm zu entkommen...

Für die Menschen von Dunmoore stand außer Zweifel, dass es wohl tatsächlich der Geist des toten Lords sein musste, der nun ruhelos umherirrte und auf Rache sann.

Eines Tages war sie dann verschwunden.

Man fand einen Schuh und einen Umhang von ihr und so kam man zu dem Schluss, dass der untote Lord Kavanaugh sie ins Moor gehetzt hatte, wo sie dann ein furchtbares Ende gefunden haben musste.

Ihr Geliebter James nahm sich daraufhin aus Verzweiflung das Leben. Zuvor aber gestand er - wohl um sein Gewissen zu erleichtern einem Geistlichen den Mord an Lord Kavanaugh.

Später fand man ihn dann an jener Eiche erhängt, an der das nächtliche Rendezvous mit Lord Kavanaugh stattgefunden hatte.

Und manchmal, so berichtete die Sage, sehe man den finsteren Reiter noch heute über die Hügel preschen, wütend und ruhelos; mit einem unstillbaren Hass...

Maureen klappte das Buch zu.

Eine grausige Geschichte!, dachte sie.

Und dabei bemerkte sie, dass sich eine Gänsehaut über ihre Arme gelegt hatte.

Normalerweise hätte sie über eine solche Geschichte schmunzeln können... Schließlich gab es fast überall auf dem Lande solche Legenden von wundersamen und übernatürlichen Begebenheiten. Geschichten von Liebe, Mord und Rache, die man sich früher am Kamin erzählt hatte...

Aber dies hier war etwas anderes!

Ich habe den Reiter gesehen!, dachte Maureen. Oder zumindest jemanden, der sich so kostümierte...

Aber wenn es nur ein Witzbold war, der hier sein Unwesen trieb - warum kannte ihn dann niemand? Es musste doch noch andere gegeben haben, die ihn gesehen hatten!

Und eine solche Neuigkeit hätte sich in Dunmoore sicher wie ein Lauffeuer verbreitet!

Maureen zuckte mit den Schultern.

Wahrscheinlich nehme ich das ganze viel zu wichtig!, dachte sie und stellte das Buch wieder zurück. Herausgegeben von Jason Cormick!, fiel ihr ein.

Ich werde diesen Cormick mal auf diese Legende ansprechen, überlegte sie. Denn wenn er wirklich mit dem Herausgeber dieses Buches identisch war, dann musste er so etwas wie ein Fachmann auf dem Gebiet sein. Jemand, der Legenden und Sagen seiner Heimat sammelte.

Maureen zuckte die Schultern.

Vielleicht ist die Erklärung auch ganz einfach, ging es ihr dann durch den Kopf - und sie erschrak bei dem Gedanken.

Vielleicht werde ich auch wahnsinnig - so wie diese Ann aus der Legende!



10

In den nächsten Tagen tauchte der geheimnisvolle Reiter nicht mehr auf.

Maureen lebte sich mehr und mehr in Dunmoore ein. Und irgendwie begann sie, das ruhige Leben hier auch ein wenig zu schätzen.

Sie ließ sich von McCullum, dem Taxifahrer nach Linbury bringen, wo es einen Gebrauchtwagenhändler gab und kam mit einem schon recht angejahrten, aber von seinem Vorbesitzer gut gepflegten Austin zurück.

An den ersten zwei Tagen war das Wetter schön. Die Sonne schien und die Moorlandschaft sah ungewohnt friedlich und einladend aus. Aber dann wurde das Wetter wieder schlechter, der Himmel bewölkte sich, am Abend krochen unheimliche Nebel über die sanften Hügel.

Maureen genoss die freie Zeit mit Nichtstun und Lesen.

Einmal täglich ging sie zu Harry's, um einzukaufen und dabei ein paar Neuigkeiten zu erfahren.

Ein, zweimal traf sie Dr. Anderson und dann unterhielten sie sich über dieses oder jenes. Der Arzt war ihr sympathisch, aber jedesmal wenn sie sich trafen, fühlte sie sie eine seltsame Befangenheit.

"Vielleicht werden Sie etwas frischen Wind in diesen verschlafenen Ort bringen, Maureen", meinte Anderson einmal.

"Meinen Sie denn, dass das für Dunmoore das Richtige wäre?"

Und darüber mussten sie dann beide herzhaft lachen.



11

Einige Tage später - die Dämmerung hatte sich bereits grau über das Land gelegt - saß Maureen in ihrem Wohnzimmer und las in einem Buch, das sie mitgebracht hatte.

Es war ein Roman und sie war derart in die Handlung vertieft, dass sie für eine ganze Weile lang nichts um sie herum wahrnahm. Es war wie eine Art Trance und in der Zwischenzeit wurde es draußen finster. Ein Geräusch holte sie dann ziemlich unsanft auf diesem Zustand wieder heraus.

Sie schrak zusammen.

Das, was sie da hörte, waren die Geräusche galoppierender Pferdehufe.

Sie konnte nicht anders. Unwillkürlich musste sie an den Reiter mit der Maske denken.

Die Geräusche kamen näher heran und Maureen stockte der Atem. Sie machte das Licht aus, um aus dem Fenster sehen zu können. Der geisterhafte Reiter hatte das Haus nun erreicht.

Maureen konnte hören, wie er das Pferd zügelte und abbremste.

Sie schluckte, ging zum Fenster und blickte hinaus.

Es war eine bedeckte Nacht. Nicht ein einziger Stern war durch die schnell dahinziehende grauschwarze Wolkendecke zu sehen, nur hin und wieder schimmerte das fahle Mondlicht etwas hindurch.

Maureen sah nichts weiter, als einen schattenhaften Umriss. Der Reiter stand einfach da und schien das Haus betrachten.

Soweit Maureen das sehen konnte rührte er sich nicht und auch sein Pferd schien sehr ruhig.

Wie das grausige Standbild eines ruhelosen Gespenstes wirkte dieser Schemen und Maureen fragte sich, was sie nun tun sollte. Fest stand, dass der Reiter wusste, dass jemand im Haus war, denn es konnte ihm nicht entgangen sein, dass das Licht ausgemacht worden war.

Maureen atmete tief durch.

Was mag er nur von mir wollen? fragte sie sich. Sie wagte es kaum, sich zu bewegen, denn jede Bewegung konnte sie verraten.

Und dann hörte Maureen seine Stimme. Dumpf und fremdartig, keiner Stimme ähnlich, die sie je

gehört hatte. Erst war sein Rufen sehr leise und verhalten, so dass es kaum zu hören war und größtenteils vom Wind um dem Raschelnder Büsche verschluckt wurde.

Maureen konnte zunächst nicht verstehen, was er rief. Aber sie fand, dass es irgendwie traurig klang. Voll unerfüllter Sehnsucht und unendlichem Schmerz. Doch dann wurde die Stimme lauter und fordernder - ja, regelrecht angsteinflößend. Maureen verstand einen Namen und dieser Name jagte ihr einen eisigen Schauder über den Rücken.

"Ann!", kam es von draußen. "Komm heraus, Ann!"

Ann - das war der Name des Bauernmädchens aus der Legende gewesen!

Maureen schüttelte den Kopf.

Nein, dachte sie. Das kann doch wahr sein! Das durfte einfach nicht wahr sein!

"Ann!", hörte sie ihn erneut. "Komm, Ann!"

Sie überlegte kurz, dann entschloss Maureen sich, in die Offensive zu gehen. Wer auch immer ihr hier eins auswischen wollte, ihm gehörte die Meinung gesagt. Mit einer schnellen Bewegung öffnete sie das Fenster und rief zu dem Reiter hinaus: "Hier wohnt niemand der Ann heißt! Und es wäre nett, wenn Sie meine Privatsphäre respektieren und mich nicht mehr durch Ihr Geschrei

belästigen würden!"

In diesem Moment kam der Mond durch die Wolken hindurch.

Sein fahles Licht erhellte für den Bruchteil eines Augenblicks den Reiter.

Maureen sah die Maske, die Perücken, den Dreispitz... Und vielleicht eine Sekunde lang sah sie auch das Paar blitzender Augen, das sie hasserfüllt anstarrte.

"Warum nur, Ann?", kam es dumpf von dem Reiter herüber. "Warum, um alles in der Welt, hast du mir das nur angetan, Ann?"

Maureen verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.

"Ich habe Ihnen nichts getan. Ich weiß noch nicht einmal, wer Sie sind und wenn Sie nicht machen, dass Sie davonkommen, werde ich die Polizei rufen!", erklärte sie dann mit Entschlossenheit.

Sie versuchte, soviel innere Überzeugung wie möglich in ihre Worte zu legen und tatsächlich schienen sie den Reiter für einen Augenblick wenigstens ein wenig zu beeindrucken.

Jedenfalls sagte er nichts mehr.

Er saß schweigend im Sattel, während seine Gestalt wieder nicht mehr, als ein düsterer Umriss geworden war. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden und Maureen dachte, hoffentlich verzieht er sich jetzt auch wirklich...

Die Sache mit der Polizei, das hatte sie einfach so dahingesagt. Im Grunde war es eine ziemlich leere Drohung, denn was sollte sie den Beamten erzählen? Dass jemand, der sich gab und kleidete, als wäre er Lord Charles Kavanaugh sie - Maureen - offenbar für seine geliebte Ann hielt?

Wahrscheinlich würde statt eines Streifenwagens ein Nervenarzt geschickt werden!, ging es Maureen durch den Kopf.

Genau in diesem Moment geschah es dann. Maureen hörte ein metallisches Geräusch und einen

Augenaufschlag später wusste sie auch, was es bedeutete. Der Reiter hatte mit einer schnellen Bewegung seinen Säbel gezogen und nun preschte er in wildem Galopp auf das Fenster zu, an dem Maureen stand.

"Ihr werdet bezahlen Ann! Ihr alle beide! Du und James!", schrie er, seine Waffe wild über dem Kopf schwingend.

Es ging unwahrscheinlich schnell.

Der Reiter stürmte heran, während Maureen das Fenster zu schließen versuchte.

Dann wich sie zurück. Maureen stolperte über irgendetwas, taumelte und fiel zu Boden.

Sie hörte gleichzeitig das Splittern von Glas.

Der düstere Reiter hatte mit einem Säbelhieb die Fensterscheibe zertrümmert. Sein Pferd stellte sich wiehernd auf die Hinterhand und er hatte einige Mühe damit, sich im Sattel zu halten.

Aber er schien ein geschickter Reiter zu sein. Jedenfalls hatte er das Tier schon nach wenigen Augenblicken wieder unter Kontrolle. Dann stieg er aus dem Sattel und kletterte durch das Fenster.

Maureen rappelte sich auf und wich vor dem wütenden Eindringling zurück. Es war fast ganz dunkel im Raum. Nur das von außen einfallende Mondlicht konnte einem ein wenig bei der Orientierung helfen.

Maureen dachte an das Telefon. Aber es war aussichtslos, dorthin zu gelangen und irgendwen anrufen zu wollen. Ihr Gegenüber würde es zu verhindern wissen.

Der Eindringling kam näher.

Maureen stürzte den runden Tisch um und rollte ihn dem Fremden entgegen. Und zur gleichen Zeit lief sie zum gegenüberliegenden Fenster, öffnete es und sprang hinaus.

Drinnen hörte sie eine dumpfe Stimme Verwünschungen ausstoßen.

Maureen rannte, bis sie den gebrauchten Austin erreicht hatte. Kalter Angstschweiß stand ihr auf der Stirn. Nein, dies war kein Spaß mehr, dies war nicht einmal mehr ein übler Streich, mit der vielleicht irgendein Schuljunge seine zukünftige Lehrerin begrüßen wollte...

Es ging um ihr Leben.

Maureen hatte keine Ahnung weshalb ihr das geschah und was wirklich dahinter steckte.

Es stand für sie allerdings jetzt fest, dass dieser geheimnisvolle Reiter sie nicht nur ärgern oder erschrecken, sondern umbringen wollte.

Sie öffnete hastig die Wagentür.

Der Schlüssel steckte noch. Sie stieg ein, ließ den Motor an und setzte zurück.

Und dann sah sie, dass der Maskierte das Haus verlassen hatte und sich wieder auf den Rücken seines Pferdes geschwungen hatte, um der flüchtenden Maureen nachsetzen zu können.

Maureen hatte unterdessen die Scheinwerfer angestellt, um besser sehen zu können. Als der Reiter frontal auf den Wagen zuhielt, wurde er direkt angeleuchtet.

Sie sah den metallisch blinkenden Säbel in seiner Hand und die von Wahnsinn gezeichneten Augen, die durch die kleinen Schlitze der schwarzen Maske blitzten.

Maureen setzte noch ein weiteres Stück zurück, aber sie musste auf der Hut sein. Wenn sie irgendwo mit den Reifen steckenblieb, dann war es aus!

Der Reiter preschte heran, kam dicht an der Fahrerseite vorbei und ließ den Säbel krachend auf die Frontscheibe niedersausen, die nun einen Sprung zeigte. Er lenkte sein Pferd herum und schickte sich an zurückzukommen, vermutlich um einen weiteren Angriff auszuführen.

Maureen setzte nun nach vorne, während der Maskierte eine Art Bogen ritt und dann erneut frontal auf den Austin zuhielt.

Mein Gott!, ging es ihr durch den Kopf. Ich dachte, so etwas gibt es nur im Film!

Sie trat das Gaspedal herunter, der Wagen schnellte nach vorne. Es gab keinen anderen Ausweg.

Augen zu und durch!, dachte sie.

Der Reiter zügelte sein Pferd, das sich nun auf die Hinterhand stellte, während Maureen den Motor aufheulen ließ und an Tier und Reiter vorbeischnellte.

Sie atmete auf, als sie an dem Maskierten vorbei war. Im Rückspiegel sah sie für einen kurzen Moment noch, wie er mit dem Pferd zu kämpfen hatte, das offenbar von wilder Panik ergriffen worden war. Dann hatte die Dunkelheit alles verschluckt und Maureen hoffte nur, dass er ihr nicht auch noch folgen würde. Auf diesen kleinen Straßen und Holperwegen konnte ein

Reiter per Abkürzung möglicherweise schneller sein, als ein Auto.



12

Als Maureen Dunmoore erreichte, und der Reiter ihr offenbar nicht mehr folgte, stoppte sie den Austin und überlegte, wohin sie sich wenden sollte.

Zurück zum Haus konnte sie erst einmal nicht. Es bestand die Gefahr, dass der Maskierte sich noch dort befand und sie erwartete.

Maureen fröstelte.

Ihr war kalt. Sie war nur in in ihrer dünnen Bluse hinausgelaufen, da sie natürlich keine Zeit gehabt hatte, ihre Jacke anzuziehen.

Sie ließ den Austin langsam durch den Ort fahren. Dann kam sie an der Schule vorbei und dachte: Vielleicht wird Jim Anderson mir helfen!

So stellte sie den Wagen vor dem Haus des Arztes ab, ging zur Tür und klingelte.

Zunächst geschah gar nichts. Und im Grunde war das auch alles andere, als ein Wunder. Maureen war einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon ziemlich spät.

Und dann waren endlich hinter der Tür ein paar Geräusche zu hören und einen Augenblick später stand Maureen Dr. Anderson gegenüber. Er trug einen Morgenmantel und hob erstaunt die Augenbrauen.

"Maureen?"

"Kann ich hereinkommen, Jim?"

"Was ist los? Du siehst aus, als ob der Teufel hinter dir her wäre."

"Ich bin überfallen worden!"

Anderson legte ihr den Arm um die Schulter, um sie etwas zu beruhigen. Sie atmete tief durch und rang nach Luft.

Und dann erzählte Maureen ihm, was geschehen war. Es sprudelte einfach so aus ihr heraus. Sie musste es loswerden und sie nahm auch keine Rücksicht darauf, ob ihr Gegenüber sie jetzt vielleicht für verrückt hielt.

Etwas später saß sie dann bei Anderson im Wohnzimmer, während der Arzt für ein paar Minuten in einem Nebenraum verschwand.

Schließlich kam er zurück.

Er gab ihr einen Pullover und meinte: "Hier, zieh das an. Es ist viel zu kalt!"

Sie nickte.

"Danke!"

"Ich habe die Polizei angerufen!"

"Was?"

"Ja, Sergeant Knowland kommt von Linbury hier herausgefahren."

Sie sah ihn mit fragenden Augen an.

"Jim", begann sie. Anderson setze sich zu ihr.

"Was ist, Maureen?"

"Denkst du, dass ich verrückt bin? Jemand, der von Lord Kavanaughs Geist verfolgt wird hat doch sicher die besten Chancen, im Irrenhaus zu enden."

Anderson schüttelte den Kopf.

"Nein, ich glaube nicht, dass du verrückt bist."

"Er hat mit dem Säbel die Frontscheibe meines Austin zerschlagen. Man kann den Sprung deutlich sehen. Komm, ich zeige ihn dir!"

"Ich glaube dir auch so, Maureen."

"Wirklich?"

Er nickte entschieden.

"Wirklich!", erklärte er so überzeugend, dass Maureen erleichtert aufatmete.

"Und was machen wir jetzt?", fragte sie.

Jim Anderson kratzte sich am Kinn.

"Ich werde mich anziehen. Und dann fahren wir hinaus zu deinem Haus. Dort werden wir den Sergeant treffen!"



13

Einige Minuten später saßen sie gemeinsam in Jim Andersons Wagen und fuhren den Weg zurück, den Maureen zuvor gekommen war.

"Er hat versucht, mich zu töten!", erklärte Maureen im Brustton der Überzeugung. Sie zuckte mit den Schultern. "Ich verstehe nur nicht, weshalb, Jim! Wem habe ich denn hier etwas getan? Ich kenne ja kaum jemanden!"

"Ich weiß es auch nicht, Maureen", erwiderte der Arzt.

"Aber wir werden dieser Sache schon auf den Grund kommen! Glaub mir!"

"Erst dachte ich, dass es irgendein dummer Jungenstreich sei..."

"Nein, so sieht das nicht mehr aus..."

Nicht lange und sie hatten ihr Ziel erreicht.

Anderson parkte den Wagen neben Maureens Haus und griff auf den Rücksitz, wo er sich eine lange Stabtaschenlampe hingelegt hatte.

Sie stiegen aus und blickten sich um.

Anderson ließ den Lichtkegel der Lampe ein wenig umherkreisen. Aber nirgends regte sich etwas.

"Hier scheint niemand mehr zu sein!", meinte der Arzt.

Sie gingen um das Haus herum und kamen schließlich zu dem Fenster, das der Mann mit dem Säbel eingeschlagen hatte.

Aber was sie dann sahen, ließ Maureen vor Schreck fast erstarren.

"Nein..." flüsterte sie. Das konnte doch nicht wahr sein!

Eine Trittleiter ragte zur Hälfte aus dem Fenster heraus. Es war so arrangiert, dass es so aussah, als wäre die Leiter ins Fenster hineingestürzt und hätte dabei die Scheibe zerschlagen.

Sie blickte zu Anderson und sah die Falten auf dessen Stirn. Er schien jetzt wohl ebenfalls an ihrem Verstand zu zweifeln, auch wenn er das nicht so offen aussprach.

"Die Leiter stand im Schuppen!", sagte Maureen eilig. "Der Maskierte muss sie auf diese Weise hingestellt haben, damit es so aussieht, als wäre mir nur ein Missgeschick passiert!"

Anderson schwieg und ließ den Lichtkegel über den Boden gleiten.

"Jim!", stieß Maureen hervor. "Du glaubst mir doch, oder?"

Er ging darauf nicht ein.

"Du hast von einem Reiter gesprochen, nicht wahr?", meinte er statt dessen.

Maureen nickte.

"Ja, natürlich!"

"Aber dann müssten vor dem Fenster doch Hufspuren zu sehen sein. Aber der Boden sieht dort aus wie frisch geharkt..."

Maureen war fassungslos.

"Jim, du denkst doch nicht etwa..."

"Die Wahrheit ist, dass ich nicht so recht weiß, was ich davon halten soll", murmelte er nachdenklich, während er den Lichtkegel der Taschenlampe noch etwas umherschweifen ließ.

Ein Geräusch ließ sie dann beide herumfahren. Es war das Motorengeräusch eines herannahenden Wagens.

"Das wird der Sergeant sein!", meinte Anderson.

Eine weitere Taschenlampe war zu sehen und dann erkannte Maureen die Uniform eines Polizisten.

"Guten Abend, Sergeant Knowland", sagte Dr. Anderson.

Der Sergeant kam näher heran.

"Guten Abend? Eigentlich schon 'guten Morgen', Mister Anderson. Meinen Sie nicht auch?" Er räusperte sich. "Das klang ja ziemlich dringend am Telefon..." Er kratzte sich am Hinterkopf und rückte sich die Mütze zurecht. Dann sah er zu Maureen. "Sind Sie diejenige, die man überfallen hat?"

"Ja..."

Maureen sagte es zögernd, obwohl sie dazu doch eigentlich keinen Anlass hatte. Sie erzählte von dem maskierten Reiter und sah dabei, wie die Furchen auf Sergeant Knowlands Stirn immer tiefer wurden.

Dann, als Maureen geendet hatte, wandte der Polizist sich wortlos herum.

"Haben Sie beide hier irgendetwas verändert?"

"Nein", erklärte Anderson.

"Die Leiter scheint das Fenster zerschlagen zu haben!", meinte der Seargent dann.

"Das muss der Täter so arrangiert haben! Er hatte doch genug Zeit!", rief Maureen.

"Ich sehe auch nirgends Pferdespuren", setzte der Sergeant dann noch hinzu. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe umher und hielt den Blick zur Erde gerichtet.

"Keinerlei Spuren..."

"Er hat sie alle beseitigt!", rief Maureen und fasste sich den Kopf. "So muss es sein! Er hat die Spuren verwischt und..."

Sie fühlte Andersons Arm, der sich um ihre Schulter legte und brach ab.

"Komm, beruhige dich, Maureen. Es ist ja nichts passiert."

Sie sah zu ihm auf.

"Nichts passiert?"

Der Sergeant kam zu ihnen zurück und meinte: "Auf diesem Haus scheint wirklich ein Fluch zu liegen..."

Der Doktor hob die Augenbrauen.

"Was meinen Sie damit?"

"Nun, wie soll ich sagen..." Sergeant Knowland machte eine hilflose Geste. "Die letzte Mieterin - Mrs. Bradshaw glaubte auch, von einem maskierten Reiter verfolgt zu werden. Sie wurde wahnsinnig und glaubte, dass der Geist Lord Kavanaughs es auf sie abgesehen habe! Es ist schon eine merkwürdige Parallele..."

"Ich bin nicht verrückt!", erklärte Maureen fest. "Und ich weiß, was ich gesehen habe, Sergeant!"

"Was Sie gesehen zu haben glauben!", gab der Sergeant trocken zurück. "Es war dunkel, vielleicht haben Sie ein Geräusch gehört, einen Schatten gesehen..."

"...und mir dann etwas eingebildet, das meinen Sie doch, nicht wahr?"

"Sie wären weder die erste noch die letzte, der so etwas passiert. Wenn es Sie beruhigt, dann werde ich mir noch einmal alles in Ruhe ansehen und auch im Haus nachschauen... Aber nach einem Überfall sieht mir das nicht aus..."

Während sich der Sergeant abwandte atmete Maureen tief durch. Innerlich ballte sie die Hände zu Fäusten. Dieser Dorfpolizist dachte nicht im Traum daran,dieser Sache wirklich nachzugehen!

"Die genauen Umstände von Mrs. Bradshaws Tod konnten doch nie wirklich aufgeklärt werden, nicht wahr?", warf Maureen ein.

Der Sergeant legte die Stirn in Falten.

"So ist es. Sie haben von dem Fall gehört?"

"Ja."

"Hm", brummte der Beamte nachdenklich. Dann gingen sie noch ins Haus, um sich dort umzusehen. Maureen machte Licht. Mit Ausnahme der zersplitterten Fensterscheibe war nichts beschädigt.

"Ist vielleicht irgendetwas gestohlen worden, Miss Stanley?", erkundigte sich Sergeant Knowland. Maureen überprüfte das schnell und sah auch im Schlafzimmer nach.

Aber es fehlte nichts.

"Nein, Sir" sagte sie.

"Na, wie es aussieht gibt es dann für mich hier nichts mehr zu tun!", meinte er dann, verabschiedete sich und ging davon.

Maureen hörte, wie er seinen Wagen anließ und davonfuhr.

Sie blickte Jim Anderson mir großen, traurigen Augen an und meinte: "Du denkst dasselbe wie der Sergeant, nicht wahr?"

"Nun...", sagte der junge Arzt vorsichtig.

Er will mir nicht wehtun!, ging es Maureen durch den Kopf, während Anderson fortfuhr: "Manchmal glaubt man, etwas gesehen zu haben, das sich dann bei näherem Hinsehen als etwas ganz anderes herausstellt. Unsere Sinne spielen uns ab und zu einen Streich. Jedem von uns ist das schon passiert, da bist du keine Ausnahme, Maureen." Er atmete tief. "Warum akzeptierst du nicht einfach, dass du dich geirrt hast?"

Es hat keinen Sinn!, dachte Maureen. Warum sich mit ihm darüber streiten? Hätte sie nicht an seiner Stelle ganz genauso reagiert?

"Kann ich bei dir übernachten, Jim?", fragte sie dann.

"Natürlich."

"Ich werde auf deiner Wohnzimmercouch schlafen und dir bestimmt keine Umstände machen!"

Jim lächelte.

"Ich hätte vielleicht gar nichts dagegen, wenn du mir Umstände machen würdest, Maureen."

Maureen lächelte zurück und Jim Anderson nahm ihre Hand.

Sie war eiskalt.

Er ist wirklich ein netter Kerl!, dachte sie. Vielleicht sogar mehr. Ja, wenn sie ehrlich war, dann musste sie zugeben, dass sie sich wohl ein wenig verliebt hatte.

Und dann traf es sie wie der Blitz: Er heißt Jim!

Jim - die Kurzform von James!

Gespenstisch!, dachte Maureen.

Es war wie in der Legende.

Sie selbst hatte die Rolle von Ann, Dr. Anderson die von James. Und Ann war Maureens zweiter Vorname, der allerdings nur in ihrem Pass stand und kein Rufnahme war: Maureen Ann Stanley.

Maureen fröstelte.

"Nimm mich in den Arm, Jim!", sagte sie. "Mir ist kalt!"

Jim drückte sie an sich.

"Was ist los?", fragte er.

"Nichts."

"Alles in Ordnung?"

"Ja."

Aber das Letzte war eine glatte Lüge und mit einem Mal wurde Maureen bewusst, wie allein sie war. Niemand außer ihr hatte den Reiter gesehen. Niemand glaubte ihr, dass er wirklich existierte.

Nicht einmal Jim Anderson, der Mann den sie liebte.



14

Es war gegen Mittag des folgenden Tages, als Maureen zu ihrem Haus zurückkehrte, während Jim Anderson unterwegs war, um ein paar Hausbesuche in der Umgebung zu absolvieren.Am Morgen hatte Maureen mit einem Glaser aus Linbury telefoniert und als sie mit ihrem Austin auf das Haus zuhielt, sah sie, dass dieser bereits dort war.

"Haben Sie mich angerufen? Um ein Haar wäre ich wieder abgefahren!", begrüßte der Glaser Maureen etwas ärgerlich, als sie aus ihrem Wagen gestiegen war. Sie versuchte ihren Charme einzusetzen und schenkte dem Mann ihr reizendstes Lächeln.

"Entschuldigen Sie, aber ich wusste nicht, dass Sie so schnell sind, Mister..."

"Jeffers", brummte er - schon etwas versöhnlicher. "Mein Name ist Jeffers."

Maureen zeigte ihm das zerstörte Fenster und er begann mit der Arbeit.

Dann hörte sie einen weiteren Wagen herankommen. Maureen staunte nicht schlecht, als sie wenig später keinem Geringeren als Jason Cormick gegenüberstand.

Cormick trug eine karierte Tweedjacke und eine dazu passende Mütze.

Sein Gesicht wirkte irgendwie blass und farblos. Nur seine Augen funkelten und hatten eine fast hypnotische Ausstrahlung.

Das Lächeln, das er Maureen schenkte, war ziemlich verkrampft.

"Guten Tag, Miss Stanley!", rief er. "Ich dachte mir, ich schau mal bei Ihnen vorbei!" Er machte eine unbestimmte, etwas verlegene Geste. "Schon etwas eingelebt in Ihr neues Heim?"

"Es geht", war Maureens kühle Erwiderung.

Der Schrecken der letzten Nacht saß ihr noch immer in den Knochen.

Gestern Nacht noch war sie sich ihrer Sache sicher gewesen. Sie hatte Ihrem Verstand absolut vertraut und war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie nicht einer Sinnestäuschung aufgesessen war.

Jetzt hatte sie Zweifel.

"Sind Sie zufrieden mit dem Haus?", meinte Jason Cormick und versuchte dabei, sein gewinnendstes Lächeln aufzusetzen.

Aber nach wie vor blieb er etwas verkrampft.

Maureen nickte.

"Ja." Gegen das Haus war auch wirklich nichts zu sagen.

Wenn da dieser seltsame Reiter nicht gewesen wäre, der aussah wie der wiedererstandene Lord Kavanaugh und sich anschickte, Maureen ebenso in den Wahnsinn zu treiben, wie dies offenbar mit der armen Mrs. Bradshaw geschehen war.

Maureen musterte Jason Cormick mit einem nachdenklichen Blick und fragte ihn dann: "Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass Sie mich aufsuchen?"

Die Ahnung eines Lächelns huschte über Cormicks Gesicht, dann schüttelte er den Kopf.

Auf Maureens Frage ging er gar nicht ein, sondern deutete auf den Wagen des Glasers.

"Sie lassen neue Scheiben einsetzen?", fragte er.

"Nur eine einzige. Sie ist zersprungen", erwiderte Maureen kühl und hoffte, dass das Thema damit erledigt war.

"Ich sah den Wagen des Glasers hier stehen und habe mich gefragt, was das wohl zu bedeuten hat. Deshalb bin ich auch hier herauf gefahren." Er zuckte mit den Schultern. "Aber meine Frage hat sich ja nun beantwortet..."

Warum weicht er meinem Blick aus?, fragte sich Maureen.

Cormick wandte indessen den Kopf etwas zur Seite, so dass sein Blick zu den Hügeln ging.

Maureen sagte: "Ich war in der Schule und da habe ich ein interessantes Buch gefunden. Herausgegeben von einem gewissen Jason Cormick. Das sind Sie, nicht wahr?"

Seine Lippen formten ein dünnes Lächeln. Er nickte, ohne Maureen dabei anzusehen.

"Ja, das ist gut möglich", meinte er. "Es ist gewissermaßen ein Hobby von mir: Ich sammle Märchen und Legenden dieser Gegend, um sie vor dem Vergessen zu bewahren!"

"So auch die Legende von Lord Kavanaugh und seiner geliebten Ann, nicht wahr?"

Er zog die Augenbrauen hoch.

"Sie haben davon gelesen?"

"Ja."

Nun wandte er ihr den Blick zu und der Ausdruck seines Gesichts verunsicherte Maureen.

Irgendetwas ging in Jason Cormick vor, aber Maureen war es unmöglich zu sagen was das war.

In seinen Augen blitzte es.

Als er Maureens Verwirrung bemerkte, zwang er sich jedoch zu einem Lächeln.

"Ich wusste gar nicht, dass Sie sich für solche Dinge interessieren, Miss Stanley..."

"Nun, das tue ich normalerweise auch gar nicht. Aber diese Geschichte mit dem Lord, der aus dem Jenseits zurückkehrt, um sich an seinen Mördern zu rächen..."

"Ja, eine tragische Schauergeschichte."

"Nicht vielleicht doch mehr?"

"Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Miss Stanley."

"Hat diese Geschichte einen historischen Kern? Geht sie auf irgendwelche wahren Begebenheiten zurück?" Maureen verschränkte die Arme vor der Brust. "Was ist die Meinung des Experten?"

Er zuckte mit den Schultern.

"Ich habe nicht die geringste Ahnung!"

Damit gab sich Maureen nicht zufrieden.

"Aber wenn man sich so für diese Dinge interessiert wie Sie, dann hat man doch seine persönliche Meinung, oder etwa nicht?"

Jason Cormick verschränkte nun ebenfalls die Arme.

"Sie haben recht. Ich habe sogar auf diesem Gebiet eigene Nachforschungen angestellt..." Er machte eine verheißungsvolle Pause und Maureen hob ihre Augenbrauen.

"Und?"

"Ich bin davon überzeugt, dass sowohl Lord Kavanaugh wie auch Ann und James wirklich gelebt haben." Er deutete zum Haus. "Vielleicht sogar hier..."

"Was?"

"Dieses Haus hat einst einem Pächter der Kavanaughs gehört. Warum sollte es nicht Anns Vater gewesen sein? Es wäre durchaus möglich..."

Maureen kam etwas näher heran.

"Erzählen Sie mir mehr, Mister Cormick!"

"Nicht jetzt, Miss Stanley. Ich habe im Augenblick wenig Zeit. Aber wenn es Sie wirklich interessiert, dann besuchen Sie mich mal..."

Er wandte sich um und ging zu seinem Wagen. Bevor er einstieg, winkte er Maureen zu.

Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, etwas mehr über diese Legende zu erfahren!, dachte sie.

Eines stand für sie jedenfalls fest: Sie würde dieser Sache auf den Grund gehen müssen, ganz gleich wo der auch liegen mochte. Und wenn es in ihrem eigenen Kopf war... Aber den Gedanken an diese Möglichkeit scheuchte sie schnell wieder davon...

"Ich werde vielleicht auf Ihr Angebot zurückkommen, Mister Cormick", erklärte Maureen.

"Tun Sie das. Sie brauchen sich nicht extra anzumelden. Kommen Sie einfach vorbei. Aber bitte niemals vor fünf Uhr nachmittags. Sonst werden Sie mich kaum zu Hause antreffen."

"Gut, Mister Cormick."

Er nickte, zuckte dann die Achseln und verabschiedete sich.

Maureen sah ihm eine Weile nachdenklich nach, sah wie er mit seinem Wagen davonfuhr.

Ein merkwürdiger Mann, dachte sie.

Sie konnte nicht sagen, was mit ihm nicht stimmte. Es war mehr ein Gefühl, das Cormick verbreitete, sobald er anwesend war.

Er wirkte äußerlich glatt und beherrscht, aber Maureen hatte das untrügliche Gefühl, dass es unter dieser Oberfläche brodelte. Ein Dampfkessel, der ständig unter hohem Druck stand, das war ihr Eindruck von ihm.

Als Cormick davonfuhr, sah Maureen einen weiteren Wagen heranrollen. Sie erkannte gleich, wem er gehörte und ihre Lippen formten unwillkürlich ein sanftes Lächeln.

Es war Jim.

Er hielt den Wagen neben dem des Glasers an und stieg aus.

Maureen kam ihm ein Stück entgegen.

"Das ist aber eine Überraschung", meinte sie.

Das Gesicht des Arztes blieb ernster, als sonst. Maureen spürte gleich, dass ihn irgendetwas beschäftigte.

"Wie geht es dir, Maureen?", fragte er.

"Gut."

"War das nicht Cormick, der gerade an mir vorbeigefahren ist?"

"Ja, das war er. Er hat mich eingeladen, mich mit ihm mal über Lord Kavanaugh, den Ruhelosen zu unterhalten..."

"Was?"

"Er hat ein Buch über diese Sage herausgegeben."

Jim nickte.

"Ja, ich weiß." Der Ton, in dem er das sagte verriet, dass es ihm nicht gefiel, was Maureen ihm da erzählt hatte. "Warum interessiert dich diese Geschichte so?"

"Nun, ich denke, dass..." Sie stockte. Alles, was sie jetzt vorbringen konnte, hätte irgendwie nicht sehr vernünftig geklungen.

Jim Anderson sah sie an und erriet es auch so.

"Du glaubst, dass da ein Zusammenhang zwischen dieser alten Geschichte und dem, was gesehen zu haben glaubst, besteht, habe ich recht?"

"Du hast recht, Jim. Mit der Einschränkung, dass ich das, was letzte Nacht passiert ist, nicht geträumt habe. Es war Wirklichkeit."

"Sicher..." Jim legte den Arm um Maureens Schultern und fuhr dann nach kurzer Pause fort: "Aber eigentlich bin ich wegen einer anderen Sache gekommen... Was hältst du davon, wenn wir heute Abend zusammen in die Stadt fahren und ausgehen?"

"Gerne", lächelte sie. "Aber wird nicht irgendein Notfall am Ende dazwischenkommen?"

"Ich hoffe nicht. So gegen acht werde ich hier sein, um dich abzuholen. Okay?"

"Okay."

"Es wird dir guttun, mal wieder hier herauszukommen und etwas anders zu sehen."

"Vielleicht, ja."

"Bestimmt!"

"Jedenfalls freue ich mich."



15

Gegen fünf schaute Maureen bei Jason Cormick vorbei. Sie war ein paar Minuten zu früh und traf ihn daher noch nicht zu Hause an. So parkte sie ihren Austin vor Cormicks Haus und sah sich ein bisschen um.

Der Wind pfiff kühl über das Moor. Am Himmel begannen die Wolken sich aufzutürmen und Maureen fragte sich, ob es heute wohl noch regnen würde.

Die ersten Tropfen fielen bereits, als Cormick endlich auftauchte. Als er aus dem Wagen stieg, stand für einen kurzen Augenblick ein erstaunter Zug in seinem Gesicht, dann lächelte er, ging auf Maureen zu und schüttelte ihr die Hand.

"Ich hätte nicht gedacht, dass Sie wirklich kommen würden", bekannte er.

"Warum nicht?"

"Nun, es war war einfach so ein Gefühl. Aber ich habe mich getäuscht... Kommen mit mir, sonst werden wir noch richtig nass!"

Cormick führte sie zur Haustür und öffnete diese.

Innen herrschte Halbdunkel, an das Maureen sich erst etwas gewöhnen musste. Der Flur, durch den Cormick sie führte war sehr hoch. Wenig später kamen sie in ein Wohnzimmer, durch dessen Fenster das Tageslicht hereinfiel.

Das erste, was Maureen auffiel, waren die Unmengen von Büchern, die Cormick besaß und die die Wände bis oben hin verdeckten. Große, in Leder eingebundene Folianten waren darunter, über die sich bereits eine sichtbare Staubschicht gelegt hatte.

Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, den Maureen nicht so recht einzuordnen wusste. Vielleicht war es der allgegenwärtige feine Staub oder altes Papier, das sich langsam zersetzte.

"Sie sehen überrascht aus, Miss Stanley", stellte Cormick kühl lächelnd fest.

Maureen nickte.

"Ich hätte nicht erwartet, in einem Ort wie Dunmoore eine derartige Menge von Büchern an einer Stelle versammelt zu sehen!", gestand sie.

"Das kann ich mir denken!", nickte Cormick und beobachtete sie indessen unablässig.

Maureen wandte sich zu ihm herum.

"Sie sind ein... ein Sammler?"

Er hob die Schultern und machte eine unbestimmte Geste.

"Man kann es so ausdrücken", nickte er schließlich. "Obwohl ich den Großteil dieser Bücher nicht selbst angeschafft habe."

"Ach nein?"

"Mein Vater hat sie übernommen, als er vor vielen Jahren dieses Anwesen erwarb. Allerdings befand der Großteil dieser Bücher im Keller und moderte vor sich hin. Als ich alles geerbt hatte, habe ich sie dann ans Tageslicht zurückgeholt. Es waren interessante Raritäten darunter."

Maureens Blick ging die Reihe der dicken, oft kunstvoll in Leder gebundenen Folianten entlang.

"Darf ich?", fragte sie und hob dabei die Hand in Richtung eines der dicken Wälzer.

"Nur zu!", meinte Cormick. "Aber seien Sie vorsichtig! Manche dieser Bände sind leider in einem nicht mehr sehr stabilen Zustand! Der Zahn der Zeit hat schon kräftig an ihnen genagt, wie Sie feststellen werden!"

Maureen nahm einen der Wälzer heraus und öffnete es. "Von Junszt, Unaussprechliche Kulte", murmelte sie und klappte es wieder zu. "Ein Roman?"

"Nein. Ein..." Er zögerte bevor er weitersprach. "Ein wissenschaftliches Buch", vollendete er dann mit einem verlegenen Lächeln. Er hob leicht die Hände und schränkte dann ein: "Allerdings würden die meisten Menschen es wohl kaum so bezeichnen."

Er trat näher an sie heran, nahm ihr das Buch wieder aus der Hand stellte es zurück an seinen Ort.

Maureen musste ein Niesen unterdrücken. Der Staub war ihr in die Nase gestiegen.

"Ich glaube, ich verstehe nicht so recht, was Sie meinen...", erklärte sie dann.

"Ich interessiere mich nicht nur für alte Sagen und Legenden, so wie die von Lord Kavanaugh, dem Ruhelosen, sondern auch für das, was man gemeinhin Okkultismus nennt..."

"Eine interessante Kombination", stellte Maureen fest.

"Veranstalten Sie Seancen, auf denen Tarotkarten gelegt oder Stühle gerückt werden?"

Er schüttelte den Kopf.

"Aber nein", sagte er. "Diese Art Kunststücke führt ihnen jeder Zirkus-Magier vor. Das meine ich nicht..."

"Und was meinen Sie dann?"

"Sehen Sie, ich interessiere mich zum Beispiel dafür, in wie weit es möglich ist, dass der Geist eines Verstorbenen von einem Lebenden Besitz ergreift..."

Maureen blickte auf.

Bis jetzt hatte sie die Unterhaltung so vor sich hin plätschern lassen, ohne dass es sie sonderlich interessierte, was Jason Cormick ihr zu sagen hatte. Ein bisschen Smalltalk zum Warmwerden sozusagen. Später hätten sie sich dann über die Legende unterhalten können, über die Cormick geforscht hatte. Aber jetzt, stand alles in einem ganz anderen, neuen Zusammenhang.

Jason Cormick sah das blanke Erstaunen im Gesicht der jungen Frau und lächelte dünn.

"Haben Sie über diese Frage auch schon einmal nachgedacht, Miss Stanley?"

"Nun, ich..."

Cormick unterbrach sie, noch ehe sie weitersprechen konnte.

"Wahrscheinlich werden Sie mich jetzt für verrückt halten, nicht wahr? Aber sehen Sie, ich habe Sie nicht ohne Grund hier her eingeladen."

Maureen nickte.

"Sie wollten mir etwas über die Legende von Lord Kavanaugh erzählen!", stellte sie fest.

"Ja, so ist es. Es hat einen bestimmten Grund, dass Sie sich dermaßen für diese Geschichte interessieren, habe ich recht?"

Maureen fühlte sich plötzlich ziemlich unbehaglich.

"Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mister Cormick", gab sie reserviert zurück.

Aber Cormick blieb unbeirrt.

"Erinnern Sie sich an Ihre Ankunft, hier in Dunmoore?"

"Sicher."

"Es war ein furchtbar regnerischer Abend."

"Ja, ich weiß."

"Sie kamen zusammen mit McCullum, dem Taxi-Fahrer und haben mir von einem Reiter erzählt..."

Maureen schluckte. Gleichzeitig wurde sie jetzt sehr hellhörig. Worauf wollte Cormick hinaus?

Die junge Frau nickte fragte dann: "Sie haben sich damals nicht sehr dafür interessiert!"

"Das stimmt nicht. Ich habe nur so getan, um nicht in den Verdacht zu geraten, verrückt zu sein. Sie sind die einzige hier im Dorf, die im übrigen etwas von meinem Hobby, dem Okkultismus weiß. Solche Dinge machen hier schnell die Runde und ehe man sich versieht, werden Dinge über einen geredet, die einem nicht gefallen. Sie verstehen?"

Maureen strich sich eine Strähne aus den Augen nickte eilig.

"Durchaus", erklärte sie.

"Also, gehen Sie bitte damit nicht hausieren, ja?", bat Mister Cormick eindringlich.

"Versprochen", gab Maureen zurück. "Was ist nun mit dem Reiter, den ich gesehen habe?"

Cormick hob abwehrend die Hände.

"Zuvor eine Frage!"

"Bitte!"

"Hat sich die Sache inzwischen vielleicht anderweitig geklärt? Etwa auf die Art, dass Ihnen jemand einen Streich gespielt hat oder dergleichen?"

"Nein."

Er nickte. "Dieser Reiter ist der Grund dafür, dass Sie sich so sehr für Lord Kavanaugh und seine Legende interessieren, nicht wahr?"

"Ja."

"Ist der Reiter Ihnen noch einmal begegnet?"

Maureen zögerte einen Moment und dachte nach. Dann bestätigte sie: "Ja, er ist mir erneut begegnet." Maureen erzählte Cormick in knappen Worten, was in der letzten Nacht geschehen war. "Haben Sie eine Ahnung, wer oder was dahintersteckt?"

"Nur Vermutungen, Miss Stanley. Und Theorien, die Ihnen nicht gefallen werden!"

Maureen verschränkte die Arme.

"Glauben Sie vielleicht, ich habe einen Geist gesehen oder etwas in der Art? Oder halten Sie mich nur zum Narren?"

"Ich glaube, dass es möglich ist, dass die Seele eines Toten, die aus irgendwelchen Gründen keine Ruhe zu finden vermag, von einem Lebenden Besitz ergreifen kann! Davon bin ich überzeugt, Miss Stanley - und genau das, scheint mir hier der Fall zu sein!"

Maureen stand mit offenem Mund da und schien einige Augenblicke lang völlig fassungslos.

Aber Jason Cormick schien völlig zu meinen, was er da sagte. Er machte eine hilflos wirkende Geste und Maureen wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

"Das ist doch absurd!", meinte sie dann entschieden.

Sich für Okkultismus zu interessieren war eine Sache, wirklich an die Wiederkehr von Toten zu glauben, aber eine ganz andere.

"Ich weiß, dass es schwer ist, zu akzeptieren, was ich Ihnen da aufgetischt habe!", versuchte Cormick, ihre Erregung ein wenig zu dämpfen.

"Allerdings!", kam ihre eisige Erwiderung.

"Vielleicht würden Sie anders darüber denken, wenn ich Ihnen sage, dass Sie nicht die einzige sind, der Lord Kavanaugh begegnet ist!"

"Nein?"

"Wie gesagt, ich habe mich eingehend mit dieser Legende beschäftigt. Sie haben mich nach meiner Privatmeinung gefragt, ob diese einen historischen Kern hat. Den hat sie. Sowohl Lord Kavanaugh, als auch Ann und James haben meiner Ansicht nach wirklich gelebt..."

Maureen zuckte die Achseln.

"Aber was hat das alles mit diesem Reiter zu tun?"

"Seit Jahrhunderten gibt es immer wieder Berichte darüber, dass der tote Lord Kavanaugh von einem Lebenden Besitz ergriffen hat..."

"Das sind nur Geschichten!"

"Ich habe lange in alten Archiven gestöbert. Es gibt Berichte von Ärzten darunter... Immer wieder ist der tote Kavanaugh aufgetaucht, um Rache zu nehmen für das, was ihm widerfahren ist. Immer wieder hat es in dieser Gegend unaufgeklärte Morde an Frauen gegeben, die mit einem

Säbel erschlagen wurden, nachdem sie halb wahnsinnig geworden waren und etwas von einem Reiter faselten, den niemand gesehen außer ihnen gesehen hatte..."

"Wie Mrs. Bradshaw!", entfuhr es Maureen.

"Ja, wie Mrs. Bradshaw!"

"Dann muss es ein Wahnsinniger sein!"

Cormick zog die Augenbrauen hoch. "Ein Wahnsinniger, der Jahrhundertelang lebt? Ich habe recherchiert und es gibt da beispielsweise einen Fall aus dem Jahre 1812, der auch vor ein Gericht gekommen ist und an dem wohl kaum etwas anzuzweifeln wäre!" Er schüttelte energisch den Kopf. "Es ist der ruhelose Geist von Lord Kavanaugh, von dem irgendeiner der Leute aus Dunmoore oder der Umgebung besessen ist. Er hat Sie als sein Opfer auserwählt, Miss Stanley."

"Aber... Warum ich?"

Cormick zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht", bekannte er.

"Zwischen mir und dieser Ann besteht doch überhaupt kein Zusammenhang!"

"Vielleicht keiner, den Sie kennen."

"Mein zweiter Vorname ist Ann."

"Sehen Sie! Und Sie treffen sich auffallend oft mit einem Mann dessen Vorname Jim - James - ist."

Einen Moment lang stutzte Maureen.

Er ist gut über mich informiert!, dachte sie. Und das, obwohl Jason Cormick alles andere, als ein kontaktfreudiger Mann zu sein schien, der bei Harry's saß und sich den neuesten Dorfklatsch anhörte.

Cormick fuhr fort: "Vielleicht glaubt Lord Kavanaugh, in Ihnen so etwas wie eine Wiedergeburt von Ann gefunden zu haben. Ich kann es mir nicht anders erklären."

"Irgendwie klingt das alles nicht sehr überzeugend für mich", erklärte Maureen dann nach einigem Zögern, wobei sie sich ein paar Haare aus den Augen strich.

"Ich kann Sie nur warnen", erklärte Jason Cormick in sehr ernstem Tonfall. "Sie sind in höchster Lebensgefahr, wenn es stimmt, was ich annehme!"

"Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Vielleicht zur Polizei gehen und sagen, dass irgendwo hier in der Gegen jemand vom Geist eines Toten besessen ist? Sergeant Knowland zweifelnd sicher ohnehin schon an meinem Verstand! Wenn das so weiter geht, verliere ich am Ende noch meine Anstellung denn wer will seine Kinder schon von einer Lehrerin unterrichten lassen, die im wahrsten Sinne des Wortes Gespenster sieht?"

Cormick hob die Hände. In seinem Gesicht stand blanke Hilflosigkeit. Ein gequältes, etwas verlegenes Lächeln ging über seine Lippen.

"Ich wollte Sie warnen, Miss Stanley. Deshalb habe ich Sie hier her zu mir eingeladen, um Ihnen begreiflich zu machen, dass Sie in Gefahr sind!"

Er wandte sich zur Seite und ging dann ein paar Schritte auf und ab. Maureen spürte die Nervosität, die von Cormick ausging.

Maureen sah ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis an und sagte dann schließlich: "Okay, Mister Cormick. Sie haben mich jetzt gewarnt. Aber was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun, wenn dieser Reiter erneut auftaucht?"

Jason Cormick schluckte und drehte sich dann langsam zu Maureen herum.

"Ich weiß es nicht", murmelte er. "Wenn ich Sie wäre, würde ich..." Er zögerte.

"Ja?", fragte Maureen.

"Ich würde aus der Gegend verschwinden. Lord Kavanaugh scheint auf die Gegend um Dunmoore beschränkt zu sein. Vielleicht wäre das eine Chance."

Maureen sah ihn kopfschüttelnd an und murmelte dann: "Das kommt nicht in Frage, Mister Cormick."

Cormick zuckte die Achseln.

"Sie müssen selbst wissen, was Sie tun", erklärte er. "Aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich die Entscheidung nicht mehr allzu lange vor mir herschieben. Der Reiter wird wiederkommen und Sie töten, Maureen!"

"Ich glaube, Sie sind verrückt, Mister Cormick!", versetzte Maureen kühl.

"Ich nehme Ihnen das nicht übel, Miss Stanley", erwiderte Cormick freundlich. "Aber ich möchte Ihnen doch empfehlen, über das nachzudenken, was ich Ihnen gerade gesagt habe."

Sie nickte zögernd.

Dann sagte Sie: "Vielleicht gehe ich jetzt besser..."

"Tun Sie das", nickte er.

"Auf wiedersehen, Mister Cormick."

"Warten Sie, ich werde Sie noch zur Tür bringen."

Sie gingen durch den Flur.

Als Cormick die Tür öffnete, meinte er: "Es regnet noch immer ein bisschen. Am besten, ich gebe Ihnen einen Schirm, damit sie trocken zum Wagen kommen!"

"Lassen Sie nur", gab Maureen zurück. "Es sind ja nur noch ein paar Tropfen, die da vom Himmel kommen."

"Es macht aber keine Umstände!"

"Beantworten Sie mir besser eine Frage!"

Cormick blickte Maureen verwundert an und zog beide Augenbrauen in die Höhe.

"Bitte! Fragen Sie!"

"Ist der Reiter Ihnen schon einmal begegnet?"

"Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder, Miss Stanley. Dann können wir uns ausführlich darüber unterhalten!"

"Warum sagen Sie nicht einfach ja oder nein?"

"Auf wiedersehen, Miss Stanley."

Maureen zuckte die Achseln.

Offenbar steckte doch nicht allzu viel hinter dem, was Cormick ihr weiszumachen versucht hatte. Ein Schaumschläger schien er zu sein, der sich und seine zweifelhaften Theorien wichtig machen wollte.

Möglicherweise bin ich verrückt, dachte Maureen. Aber dann war Cormick es mindestens ebenso!

"Auf wiedersehen, Mister Cormick!", murmelte sie also und ging hinaus den Nieselregen. Bis zum Wagen waren es nur ein paar Schritte.

Sie hatte den Austin gerade erreicht und ihre Hand an den Türgriff gelegt, da hörte sie hinter sich Cormicks Stimme und glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen.

"Passen Sie auf sich auf, Ann!"

Maureen lief es auf einmal eisig über den Rücken. Sie wandte sich herum, aber da hatte Cormick die Tür bereits zugeschlagen.



16

Maureen war ungewöhnlich aufgeregt an diesem Abend. Jim war pünktlich, was bei ihm ja nicht selbstverständlich sein konnte.

Schließlich konnte bei einem Arzt immer mal etwas dazwischenkommen.

Maureen lief hinaus und ging ihm entgegen. Sie trug ein enggeschnittenes, figurbetontes Kleid, dessen lindgrüne Farbe sich mit den grasbewachsenen Hügeln im Hintergrund biss. Es passte nicht hier her, in diese raue, urwüchsige Landschaft.

Es war einfach zu elegant für Dunmoore.

Aber heute Abend wollten sie nach Linbury fahren und zusammen essen gehen. Und dafür schien es ihr genau das Richtige zu sein.

Jim sah sie bewundernd an, als er aus dem Wagen stieg. Er lächelte.

"Na? Bin ich dir schön genug?", lachte sie.

"Ich bin geblendet!", meinte er scherzhaft und nahm sie in den Arm.

Als sie sich wieder von ihm gelöst hatte, erwiderte Maureen ebenso scherzhaft:"Ich hoffe, du kannst noch Auto fahren!"

Jim machte ihr die Wagentür auf.

"Da mach' dir mal keine Sorgen..."

Als sie dann auf dem Beifahrersitz neben ihm saß und sie gemeinsam Richtung Linbury fuhren, fragte sie sich, in wie weit Jim Anderson wohl etwas für sie empfinden konnte, wo er doch annehmen musste, dass sie verrückt war...

"Wie geht es dir, Maureen?", fragte Jim und Maureen wusste sofort, worauf er hinauswollte.

Er machte sich Sorgen. Allerdings waren diese Sorgen ganz anderer Art, als die, die Maureen sich selbst machte...

"Es geht mir gut", sagte sie. "Ich glaube, ich habe mein Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden."

"Das ist schön."

Aber Maureen selbst wusste, dass das nur die eine Hälfte der Wahrheit war.

Es könnte so schön sein, dachte sie. Sie hatte mit Jim Anderson einen wirklich sympathischen und attraktiven Mann kennengelernt und sich in ihn verliebt. Und er schien ihre Gefühle durchaus zu erwidern. Aber da war irgendwo im Hintergrund ein maskierter Reiter, der nicht bereit war, sie aus dem Visier zu lassen... Maureen hatte seit der gestrigen Nacht fast ständig das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, aber wenn sie sich dann umsah, war dort niemand.

Ich habe den Reiter gesehen!, dachte sie.

Und sie war felsenfest davon überzeugt, dass er wirklich existierte und mehr war, als nur der Geist eines rachsüchtigen Liebhabers.

Cormick hatte ihr geglaubt, aber er war bislang der einzige, der die Erscheinung des Maskierten nicht in Frage gestellt und sie nicht für verrückt erklärt hatte. Vielleicht war Cormick ja selbst ein bisschen verrückt.

Ist es das, was der Maskierte will?, fragte sie sich. Mich in den Wahnsinn treiben?

Maureen dachte an Mrs. Bradshaw, der offenbar vor vielen Jahren etwas Ähnliches geschehen war. Vielleicht war die Witwe gar nicht verrückt gewesen... Oder anders ausgedrückt: Möglicherweise hatte jemand kräftig dabei nachgeholfen, sie in den Wahnsinn zu treiben.

Aber warum nur?

Maureen zermarterte sich das Gehirn, aber das ganze wollte einfach keinen Sinn ergeben.

Nicht jetzt!, versuchte Maureen sich einzuhämmern. Jetzt war etwas anderes wichtig. Sie saß neben Jim und war im Begriff, einen wunderbaren Abend zu verleben.

Du solltest jetzt einfach genießen und deine düsteren Gedanken davonjagen, Maureen!, sagte sie sich selbst.

"Du bist so schweigsam, Maureen..."

Sie blickte zu ihm hinüber und lächelte etwas unsicher.

"So?"

"Dir macht die Sache von letzter Nacht noch zu schaffen, nicht wahr?"

"Ist das verwunderlich, Jim?"

"Nein. Aber du solltest jetzt mal für eine Weile versuchen, das zu vergessen."

Maureen seufzte.

"Das hältst du wirklich für das Beste?"

"Sicher."

"Ich nicht. Ich bräuchte jetzt eigentlich jemanden, mit dem ich darüber reden könnte."

Jim Anderson sah kurz zu ihr hinüber und nickte dann. "Na, gut", meinte er. "Dann schieß los!"

"Ich war heute bei Cormick!"

"So?"

"Ein merkwürdiger Mann..."

"Ja, aber mit guten Manieren. Deshalb nimmt kaum einer Anstoß daran, dass er so ein Eigenbrötler ist. Außerdem gehört ihm das meiste Land in der Umgebung."

"Wovon lebt er, Jim?"

"Davon, dass er Land verpachtet. Außerdem besitzt er eine Pferdezucht, die sich eines recht guten Rufes erfreut."

"Pferde?", machte Mauren verwundert.

"Ja."

"Wusstest du, dass er sich mit Okkultismus beschäftigt, Jim?"

Jim hob erstaunt die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf. "Nein, davon hatte ich bisher keine Ahnung", erklärte er gedämpft.

"Er glaubt, dass es sich bei diesem Reiter um den Geist von Lord Kavanaugh handelt, der von irgendeinem Menschen dieser Gegend Besitz ergriffen hat."

Jim schien nicht so recht ernst zu nehmen, was er da hörte.

"Das sind doch wirre Ideen, Maureen!"

"Das habe ich ihm auch gesagt."

"Schön, das wir da einer Meinung sind!"

"Jim, er hat mich gewarnt! Dieser Reiter würde mich töten, wenn ich nicht die Gegend verlasse!"

Jim verdrehte die die Augen.

"Ich hoffe, du gibst nichts auf dieses alberne Geschwätz, Maureen!", sagte er dann in einem Tonfall, der Maureen einen Moment lang überlegen ließ, ob sie ihm auch noch den Rest erzählen sollte.

Sie entschloss sich dazu, es zu versuchen - auch die Gefahr hin, dass Jim Anderson sie von da ab nicht mehr für voll nahm.

Aber das Risiko musste sie auf sich nehmen. Irgendjemandem musste sie ja schließlich vertrauen.

"Da war da noch etwas", begann sie also vorsichtig und studierte dabei jede Veränderung, die in Jims Gesicht vor sich ging.

"Was?", forschte er.

"Als ich Cormick verließ, hat er mich Ann genannt. Ist doch merkwürdig, oder? Der Reiter hat mich auch so genannt."

"Vielleicht wollte er dich einfach erschrecken."

"Und warum sollte er das wollen?"

Jim zuckte die Achseln.

"Ich habe keine Ahnung", murmelte er und schwieg dann eine Weile. Schließlich fuhr er fort: "Mister Cormick war verheiratet."

"Ich habe dort außer ihm selbst niemanden gesehen!"

"Sie hat ihn verlassen, Maureen. Und zwar vor vielen Jahren schon. Aber das entscheidende: Sie hieß Ann. Vielleicht hat er die Namen unbewusst verwechselt. Wie gesagt,er ist ein Eigenbrötler und Sonderling. Er hat nicht oft Besuch bei sich. Vielleicht hast du ihn an seine Ann erinnert."

Maureen seufzte und meinte dann: "Aber merkwürdig ist das ganze schon, oder?"

Jim runzelte die Stirn. Der Verlauf des Gesprächs schien ihm nicht zu gefallen.

"Sein Gerede hat dich beeindruckt, nicht wahr?", stellte er dann nach kurzer Pause fest.

In Maureens Ohren klang das fast wie die Diagnose einer gefährlichen Krankheit.

"Nein, ich...", begann sie und brach dann ab.

"Gib es ruhig zu, Maureen!", forderte Jim Anderson äußerlich ruhig, aber innerlich bereits ziemlich aufgewühlt. "Ich merke doch, das etwas hier etwas nicht stimmt! Er hat dir ganz schön Angst eingejagt, wie mir scheint! Aber ich an deiner Stelle würde auf dieses Geschwätz nichts geben! Hörst du? Nichts!"

"Auf jeden Fall ist er der einzige, der nicht bestritten hat, dass es diesen Reiter gibt! Er hat es nicht einmal in Frage gestellt, sondern mir sofort geglaubt."

"Hat er ihn selbst gesehen?", bohrte Jim nach.

Maureen hob machte hilflose Geste und rieb die Hände gegeneinander.

"Das habe ich ihn auch gefragt", murmelte sie dann.

Jim wandte sich kurz zu ihr um. "Und?"

"Er ist mir ausgewichen."

"Da siehst du, was du davon zu halten hast, Maureen."

"Jim..."

"Ich weiß nicht warum, Maureen, aber dieser Cormick scheint nichts anderes gewollt zu haben, als dir Angst einzujagen!"

Maureen schüttelte den Kopf.

"Warum sollte er das tun wollen? Außerdem - vielleicht ist es gar nicht so abwegig,was Mister Cormick gesagt hat. Hast du schon mal darüber nachgedacht, was geschieht, wenn man stirbt?"

Er nickte.

"Sicher! Darüber denkt jeder irgendwann mal nach. Aber ich glaube einfach nicht, dass die Geister von Verstorben in albernen Kostümen durch die Gegend reiten, um Leute zu erschrecken!"

"Mister Cormick hat mir von einer ganzen Reihe von Mordfällen berichtet. Menschen, die durch Säbelwunden starben und die zuvor diesen Reiter sahen, Jim! Und das über Jahrhunderte!"

Jim Anderson atmete tief durch.

Ein Wagen kam ihnen auf der engen Straße nach Linbury entgegen und der Arzt musste das Steuer herumreißen, um ihm im letzten Moment auszuweichen. Es war gerade noch einmal gutgegangen.

Dann verging eine ganze Weile, ohne, dass einer von ihnen beiden ein Wort sagte.

Ein seltsames Unbehagen stand zwischen ihnen und es löste sich auch nicht, als Jim schließlich sagte: "Er scheint eine Art Sammler zu sein, dieser Mister Cormick..."

"Ja, so kann man ihn nennen!"

"Ich glaube, ich werde mich mal mit ihm unterhalten müssen...", murmelte Jim.

"Das würde ich für keine gute Idee halten", erwiderte Maureen.

"Und warum nicht?"

"Weil ich wahrscheinlich nichts mehr von ihm erfahren werde, wenn du ihm erst eine Standpauke gehalten hast!"

Jim lachte.

"Wer sagt, dass ich das tun will?"

"Wer sagt, dass du es nicht tun wirst?"

Indessen tauchten die ersten Häuser von Linbury auf und Jim meinte: "Ich bin dafür, dass wir den Rest des Abends ohne den ehrenwerten Mister Cormick verbringen. Okay?"

"Okay. Nur wir zwei."



17

Es war ein wunderbarer Abend und Maureen gelang es dabei fast, für eine Weile zu vergessen, was in der vergangen Nacht geschehen war.

Das Dinner war vorzüglich und Jim gab sich alle Mühe, seinen Charme spielen zu lassen.

"Hast du dir nicht irgendwann auch mal gewünscht, diese Einöde hinter dir zu lassen, Jim?", fragte Maureen ihn dann irgendwann.

Jim lächelte. Der Schein der Kerze, die auf dem Tisch stand, ließ seine Züge weich erscheinen.

"Nun", begann er und zuckte dann beiläufig die Achseln, bevor er nach kurzer Pause fortfuhr. "Erst war es nur die Praxis meines Vaters, die ich übernehmen konnte. Er starb ein paar Monate bevor ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte durch einen Verkehrsunfall. Die Gegend hatte keinen Arzt und für mich war es die Chance, mich relativ früh selbstständig zu machen. Irgendwann hätte ich die Praxis ohnehin bekommen, wenn Dad sich zur Ruhe gesetzt hätte. Aber das wäre erst in einigen Jahren gewesen. So wurde ich gleich ins ziemlich kalte Wasser geworfen."

"Die Praxis kann nicht der einzige Grund sein, um hier in Dunmoore zu bleiben, Jim. Du könntest sie verkaufen, und doch woanders niederlassen, wenn du das wirklich wolltest. Oder habe ich Unrecht?"

Jim sah sie einen Moment lang an, während ein Lächeln über sein Gesicht flog.

"Du hast recht", gestand er ein. "Inzwischen gefällt es mir hier sehr gut und ich will hier auch eigentlich gar nicht mehr weg." Sein Lächeln wurde etwas breiter. "Und vor kurzem ist ein weiterer Grund zum Hierbleiben in das Haus, das Cormick zu vermieten hatte, gezogen!"

Maureen fühlte, wie Jim ihre Hand nahm.

"Das hast du nett gesagt!", fand sie.

"Du bist eine wunderbare Frau, Maureen!"



18

Es war kurz nach Mitternacht, als sie zurück nach Dunmoore fuhren.

Jim Anderson brachte Maureen nach Hause.

"Es war ein schöner Abend", sagte er, während er den Wagen vor Maurreens Haus anhielt.

Sie nickte.

"Vielleicht kommst du noch auf eine Tasse Kaffee zu mir", schlug sie dann vor.

"Ziemlich spät dafür, findest du nicht?", lächelte Jim.

Maureen tat erstaunt.

"Ist das dein Ernst?", fragte sie. Aber Jim schüttelte den Kopf.

"Natürlich nicht!"

Sie stiegen aus und schlossen die Wagentüren hinter sich.

Jim legte den Arm um ihre Schultern und so gingen sie dann zum Haus.

Der Wind strich sanft über die nahen Hügel und bog das Gras nach Westen, während er am Himmel die Wolken ziemlich schnell vor sich hertrieb. Als Maureen den Schlüssel ins Haustürschloss steckte, kam für ein paar Augenblicke der Mond hervor und tauchte alles in sein fahles Licht.

Dann schrak sie plötzlich zusammen.

"Was ist los?", erkundigte sich Jim Anderson, der die Stirn in Falten gelegt hatte.

"Pferdehufe...", murmelte Maureen.

Einen Moment lang hatte sie ganz deutlich ein galoppierendes Pferd gehört. Und jetzt blickten sie beide suchend hinaus in die Dunkelheit.

Aber da schien nichts zu sein.

Nichts, außer geisterhaften Schatten, bei denen es sich in Wahrheit wohl um Sträucher handelte, die vom Wind hin und her bewegt wurden.

Maureen sah zu Jim, in dessen Augen sich das Mondlicht spiegelte.

"Du hast es doch auch gehört, oder?", murmelte sie. "Da war ein Pferd... Ganz deutlich!"

"Ich habe nichts gehört, Maureen. Nur den Wind."

"Aber..."

Sie stand mit offenem Mund und konnte es nicht fassen. "Ich verstehe das nicht", wisperte sie und fasste sich an den Kopf. Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie die Haare zurück und schüttelte dann stumm den Kopf.

Jim versuchte, gelassen zu wirken und die Sache und die Sache einigermaßen heiter zu nehmen - was ihm jedoch nur zur Hälfte gelang.

"Wenn der Wind so über die Hügel und das Moor streicht, dann glaubt man manchmal, alles mögliche zu hören, Maureen. Das ist nun wirklich kein Grund, um sich Sorgen zu machen."

Maureen atmete tief durch. Sie fühlte seine warme, kräftige Hand. Die ihre war schweißnass.

"Meinst du wirklich?"

Er nickte und versuchte es mit einem Lächeln, das ihm jedoch reichlich dünn geriet.

"Ja", murmelte er. "Komm, lass uns jetzt reingehen."

Er macht sich ernsthafte Sorgen um mich, wurde ihr klar.

Und vielleicht sind diese Sorgen sogar berechtigt. Wenn man Dinge hört und sieht, die andere offensichtlich nicht wahrnehmen, dann ist das nicht normal!

Sie öffnete die Tür und führte Jim ins Haus.

Drinnen war es recht kühl.

"Ich werde den Kamin anmachen!", erklärte Maureen, noch ehe sie das Licht angeknipst hatte. "Setz dich doch. Ich gehe nur eben ins Schlafzimmer, um mir einen Sweater zu holen!"

Maureen rieb sich die Hände. "Ich habe keine Lust, mir eine Erkältung einzufangen."

Ehe Jim etwas erwidern konnte, war sie bereits in den Nachbarraum gegangen und machte auch dort Licht.

Jim Anderson ließ den Blick unterdessen zum Kamin schweifen. Holz war noch genug da. Er suchte in der Jackentasche nach dem Feuerzeug.

Dann hörte er Maureens Schrei.



19

Jim war mit ein paar schnellen Schritten im Schlafzimmer.

Sein erster Blick galt Maureen, deren Gesicht jegliche Farbe verloren hatte.

Sie schrie jetzt nicht mehr, sondern stand schweigend da und deutete auf das Bett.

Und dann sah es auch Jim. Auf dem Bett lag ein dickes Seil, insgesamt nicht länger als ein Meter.

Es war zu einer Schlinge geknüpft worden.

"Siehst du das Jim?", flüsterte sie dann fast tonlos. "Oder glaubst du, dass ich mir das auch nur einbilde. Oder dass ich es vielleicht sogar selbst so auf das Bett gelegt habe..."

Sie zuckte die Schultern und setzte bitter hinzu: "Wäre ja theoretisch möglich!"

Jim ging zum Bett und nahm die Schlinge in die Hand. Dann schüttelte er den Kopf.

"Nein, für mich sieht das aus, als wollte dir jemand einen Schrecken einjagen."

"Es hat alles mit der Legende zu tun Jim. Mit der Legende von Lord Kavanaugh."

"Und was soll dann dieser Strick? Der einzige in der Geschichte, der auf diese Weise umkam, ist..."

"...James", unterbrach sie ihn. "Ich weiß."

Jim Anderson rang mit den Armen und legte den Strick zurück

"Ach, komm schon", meinte er. "Das ist doch alles ziemlich absurd!" Er blickte sich um. "Das Haus war abgeschlossen, nicht wahr?"

"Ja."

"Die Fenster geschlossen?"

"Ja. Ganz bestimmt."

Jim wirkte entschlossen. "Ich schlage vor, diesem Mister Cormick mal einen Besuch abzustatten. Und zwar heute Abend noch!"

Maureen schien überrascht.

"Ist das dein Ernst?"

"Allerdings! Wenn hier wirklich jemand eingedrungen ist, dann steht er ganz oben auf der Liste. Als Vermieter wird er selbstverständlich einen Zweitschlüssel für das Haus haben."

"Das ist wahr..."

"Und er scheint Spaß daran zu haben, dich zu erschrecken. Sonst hätte er dir nicht diese haltlosen Geschichten erzählt!"



20

Wenig später waren sie auf dem Weg zu Cormick. Jim fuhr ziemlich rasant über die engen Straßen. Aber als sie dann vor Cormicks Haustür standen, machte niemand auf.

Jim Anderson seufzte.

"Entweder er ist nicht zu Hause, oder er hat keine Lust, sich mit uns zu unterhalten!"

"Jim, vielleicht sollten wir es morgen noch einmal versuchen."

"Nein", schüttelte er den Kopf. "Ich will jetzt wissen, was hinter diesem ganzen Theater steckt!" Theater!, dachte Maureen und schrak dabei unwillkürlich etwas zusammen. Er nennt es Theater!

"Ich gehe zum Wagen und werde ihn aus dem Schlaf hupen!", kündigte Jim indessen an.

Sie sah ihm nachdenklich hinterher. Im Grunde seines Herzens glaubte er ihr immer noch nicht, so vermutete sie. Aber das konnte sie ihm schlecht übel nehmen. Was war schon eine Schlinge, die sie ohne weiteres selbst hätte knüpfen können?

Vielleicht habe ich es sogar getan und erinnere mich nur nicht mehr daran!, durchfuhr es sie.

Wenn sie wirklich verrückt war, dann war das durchaus eine Möglichkeit.

Unterdessen hupte Jim zweimal und sah dann auf, in der Erwartung, dass irgendein Licht im Haus angehen würde. Aber es geschah nichts dergleichen. Er versuchte es noch einmal, aber nichts rührte sich.

Maureen kam jetzt ebenfalls zum Wagen und meinte: "Ich glaube nicht, dass das noch Sinn hat, Jim! Er scheint die Nacht woanders zu verbringen?"

"Jason Cormick?" Jim zog die Augenbrauen hoch und schüttelte dann energisch den Kopf. "Der Mann war zwar noch nie in meiner Praxis, aber als Arzt kriegt man hier auch eine Menge über die Leute mit, die man nicht untersucht. Und Jason Cormick ist sicher nicht der Typ, der nachts außer Haus geht. Der Mann ist seit Jahren nicht über Linbury hinaus gereist, Maureen. Er hat etwas von einem Einsiedler!"

Sie hatten sich schon wieder ins Auto gesetzt, da kam ein Wagen heran und hielt vor dem Haus.

"Das ist Cormick!", rief Maureen und stieg aus. Jim folgte ihrem Beispiel.

Cormick schien überrascht zu sein.

Er trat näher und in seinen Zügen spiegelte sich deutlich die Verwunderung wider, die er empfand. "Guten Abend", meinte er schließlich, wobei er locker zu wirken versuchte. "Sie, Doktor? So spät noch?" Er wandte sich dann an Maureen, ohne dass sich seine Züge dabei auch nur einen Deut änderten. "Miss Stanley..."

"Wo kommen Sie jetzt her, Mister Cormick?", fragte Jim.

Seine Stimme klang eisig.

Cormick schien irritiert.

"Sie wollen wissen..."

"Sie haben schon richtig verstanden!"

Cormick hob die Arme und wich einen Schritt zurück. Dann fragte er: "Ist das vielleicht ein Verhör oder etwas in der Art?"

"Nur eine Frage!", erwiderte Jim.

Cormick atmete tief durch und fuhr sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht. Er rieb sich kurz die Nase, dann meinte er: "Ich war noch bei meinem Reitstall."

"Um diese Zeit?"

"Eines der Tiere ist krank." Er lächelte schwach. "Hören Sie, was wollen Sie eigentlich?"

"Miss Stanley war heute Nachmittag bei Ihnen. Sie haben ihr weiszumachen versucht, dass der Geist eines Verstorben hinter ihr her sei und versuchen würde, sie zu töten... Und als wir jetzt aus Linbury zurückkamen, fand sie auf ihrem Bett eine Schlinge. Es gab keine Spur eines Einbruchs - und Sie sind der einzige, außer ihr selbst, der einen Schlüssel von dem Haus besitzt. Oder irre ich mich?"

Cormick warf Maureen einen undeutbaren Blick zu. Dann verzog er den Mund zu einem dünnen Lächeln.

"Wenn es wirklich ein Geist war", versetzte er schneidend, "dann brauchte der wohl kaum einen Schlüssel, oder?"

"Warum versuchen Sie Maureen Angst zu machen?", bohrte Jim weiter. "Was bezwecken Sie damit?"

"Dann hören Sie mir mal gut zu, Dr. Anderson! Diese Frau hier ist völlig besessen von einer Legende, über die ich wegen eines Buches vor Jahren mal etwas nachgeforscht habe! Ich habe ihr angeboten, dass wir uns darüber unterhalten könnten und ihr mein Wissen zur Verfügung gestellt. Das war alles. Aber während unserer Unterhaltung fielen bereits einige Merkwürdigkeiten auf! Sie..." Er stockte. "Sie schien sich verfolgt zu fühlen und fragte mich, ob ich es für möglich halten würde, dass der Geist eines Toten von einem Lebenden Besitz ergreift!"

"Hören Sie auf!", rief Maureen. "Das ist doch alles gelogen!"

"Ich habe ihr gesagt, dass das alles nur Legenden seien, ohne Wahrheitsgehalt."

"Das ist nicht wahr! Sie haben..."

"Es tut mir Leid, Miss Stanley. Ich habe Ihnen zwar versprochen, kein Wort über Ihre Vermutungen und Ideen zu verlieren, aber unter den gegebenen Umständen halte ich es für das Beste."

"Es war ganz anders!", behauptete Maureen schon etwas schwächer, während Cormick sich an den jungen Arzt wandte.

"Ich denke, Sie wissen solche Dinge besser einzuschätzen, als ich, Dr. Anderson."

Der Arzt wandte sich zu Maureen herum, legte ihr den Arm um die Schulter und sagte: "Komm, Maureen, lass uns gehen..."

"Jim!"

Sie sträubte sich und schüttelte stumm den Kopf.

Schließlich meinte Jim: "Komm, Maureen. Es ist das beste. Glaub' mir!" Dann zuckte er mit den Schultern, als er sah, dass seine Worte sie nicht erreichten. "Ich warte im Wagen auf dich, okay?"

"In Ordnung", wisperte sie, obwohl ihr klar war, dass in Wahrheit gar nichts mehr in Ordnung war.

Sie sah Jim kurz nach. Als er dann hinter dem Steuer saß, hörte Maureen Jason Cormicks flüsternde Stimme, die fast vom Wind verschluckt wurde.

"Ich hatte Sie gewarnt!"

Maureen fuhr herum.

"Wovon sprechen Sie?", fragte sie in gedämpftem Tonfall. Sie klang halb erstickt.

"Sie hatten mir versprochen, niemandem etwas von unserer Unterhaltung zu sagen. Ich musste alles abstreiten, das verstehen Sie doch, oder?"

Maureen schüttelte leicht den Kopf und strich dabei ihre Haare etwas zurück.

"Nein", sagte sie ernst.

Cormick trat etwas näher an Maureen heran und wisperte dann: "Hüten Sie sich vor diesem Mann, Miss Stanley!"

"Vor Jim?", vergewisserte sie sich und sah ihn mit deutlichem Befremden an.

Er nickte.

"Ja, ganz genau. Steigen Sie nicht zu ihm in den Wagen. Dieser Mann kann Ihren Tod bedeuten, Miss Stanley!"

Maureen atmete tief durch und versetzte dann: "Ich glaube, jetzt sind Sie völlig übergeschnappt, Mister Cormick!" Sie wollte sich schon von ihm abwenden, aber der Klang seiner Stimme hielt sie davon ab.

"Heute Nachmittag sprach ich von dem Geist eines Toten, der von einem Lebenden Besitz ergriffen hat und nun in dessen Gestalt nach Ihrem Leben trachtet! Sie erinnern sich... Der Reiter, den Sie gesehen haben... Ich weiß jetzt mehr über die Sache."

"Sie meinen...Jim?"

"Wussten Sie, dass Dr. Anderson ein passionierter Reiter ist?"

"Nein."

"Er besitzt auch ein Pferd."

Maureen wurde blass.

"Davon hatte ich keine Ahnung. Aber ich glaube dennoch nicht, dass er..."

"Nicht er!", verbesserte Cormick. "Lord Kavanaugh."

"Wie auch immer, Mister Cormick!"

"Und ich kenne zufällig denjenigen, der den Stall in Ordnung hält, in dem Dr. Anderson sein Pferd untergestellt hat. Ich bin auf einem Sprung bei ihm vorbeigefahren und habe ihn gefragt, ob es sein könnte, dass Dr. Anderson in letzter Zeit vielleicht nachts ausgeritten sei."

"Und?", fragte Maureen.

"Der Mann sagte mir, dass er den Verdacht schon länger hätte. Aber warum sollte der Mann darauf achten? Schließlich ist es Dr. Andersons Pferd. Er kann ausreiten, wann er will. Nur Ihnen sollte es eine Warnung sein, Miss Stanley!"

"Ich glaube Ihnen kein Wort!", behauptete sie, war aber selbst schon im Zweifel darüber, ob nicht doch etwas an der Sache dran war.

"Steigen Sie nicht zu ihm in den Wagen, Miss Stanley!", sagte er noch einmal mit Nachdruck.

Maureen blickte indessen kurz zu Jim Anderson hinüber, der ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad herumtrommelte.

"Wenn Sie wollen werde ich Sie nach Hause bringen!", hörte sie indessen Cormicks leise Stimme.

Aber Maureen schüttelte den Kopf.

Und damit drehte sie sich herum und lief zum Wagen.



21

"Du glaubst mir doch, Jim?", fragte Maureen während der Rückfahrt, nachdem sie zuvor beide eine ganze Zeit geschwiegen hatten.

"Natürlich", murmelte Jim. Aber sie spürte, dass es in Wahrheit genau das Gegenteil bedeutete. Zumindest war er unsicher geworden.

"Ich weiß nicht, warum Mister Cormick so gelogen hat, Jim! Ich kann mich doch erinnern, wie er mir von seinen Theorien erzählt hat."

"Maureen...", versuchte er sie zu beruhigen. Aber ihr ließ die Sache keine Ruhe.

"Was, wenn es dieser Cormick ist, der..." Sie sprach nicht weiter, während Jim Anderson den Wagen anhielt. Sie waren wieder bei Maureens Haus.

Jim drehte sich zu ihr herum.

"Was soll mit Cormick sein?", fragte er ganz ruhig.

"Könnte er nicht der Reiter sein?"

"Vielleicht von einem Geist besessen?"

"Ich meine es ernst, Jim! Er besitzt Pferde, er interessiert sich für alte Legenden, er ist Okkultist, auch wenn er das abstreitet..."

Jim versuchte zu lächeln.

"Also alles in allem ein merkwürdiger Kauz."

Sie seufzte und schüttelte verzweifelt den Kopf. "Und du meinst, das reicht nicht, um ihn zu verdächtigen. So ist es doch, nicht wahr?"

Jim nickte.

"Ja", murmelte er.

"Aber irgendetwas muss man doch tun können!"

"Sicher", erwiderte Jim. "Aber nicht das, was du vorhast, Maureen."

"Was soll das heißen?"

Jim legte den Arm um sie.

"Hör zu", sagte er. "Morgen sieht alles vielleicht schon ganz anders aus! Und wenn du willst können wir ja bei Cormicks Pferdestall vorbeifahren. Ich kenne den Stallburschen ganz gut, der wird sicher nichts dagegen haben, wenn wir uns ein bisschen umsehen."

Sie sah ihn erstaunt an.

"Ist das dein Ernst?"

"Ja. Aber wenn wir nichts finden, was deinen Verdacht bestätigt, dann hoffe ich, dass die Sache damit erledigt ist."

"Du glaubst immer noch, dass ich mich da in etwas hineingesteigert habe, nicht wahr?"

Er atmete tief durch. "Maureen..."

"An deiner Stelle würde ich wahrscheinlich genauso denken."

Sie machte eine kurze Pause und nahm seine Hand. Dann fragte Sie: "Du besitzt ein Pferd?"

Er musterte sie verwundert.

Dann nickte er. "Ja. Leider komme ich viel zu selten dazu, damit auszureiten. Ich habe schon überlegt, ob ich es nicht verkaufen soll."

"Du hast mir nichts davon erzählt!"

Er zuckte verlegen die Schultern und lächelte matt.

"Warum ist das jetzt so wichtig?", fragte er dann

"Es war nur eine Frage", sagte sie kühl. "Reitest du manchmal nachts aus?"

"Was?", fragte er verständnislos. Er versuchte ihre Hand zu nehmen, aber sie zog sie zurück.

"Darauf lässt sich mit ja oder nein antworten, Jim!"

"Maureen, jetzt übertreibst du es aber! Findest du nicht auch? Erst verdächtigst du Cormick, und jetzt auch schon mich!" Er hob hilflos die Hände. Maureen wich indessen vor ihm zurück, öffnete die Wagentür und stieg aus.

Jim stieg ebenfalls aus.

"Vielleicht hast du recht, Jim", sagte sie dann gedämpft und schluckte.

"Bestimmt..."

Er wollte sich ihr nähern, aber sie hob abwehrend die Hand.

"Lassen wir's dabei, Jim! Es war ein schöner Abend. Du kannst nichts dafür, dass alles so gekommen ist. Vielleicht brauche ich wirklich nur etwas Ruhe..."

Jim atmete tief durch. Nach kurzer Pause fragte er dann: "Bist du sicher, daß du klarkommst?"

Sie nickte.

"Ja, Jim."

"Ich werde morgen bei dir vorbeischauen, in Ordnung, Maureen?"

"Gut."

"Ich rufe dich an."

"In Ordnung."

Sie lief zur Tür, schloss auf und blickte noch einmal zurück zu Jim. Sie winkte ihm kurz zu. Er hob die Hand, stieg dann in den Wagen und ließ den Motor an. Als er davonfuhr, sah sie ihm nach und fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Sie spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen und aus dem dezenten Make-up, das sie für den Abends angelegt hatte, ein diffuses Aquarell machten.

Vielleicht habe ich den letzten Menschen vor den Kopf gestoßen, mit dem ich noch über den seltsamen Reiter reden konnte!, ging es ihr schmerzhaft durch den Kopf.

Sie hatte Jim Anderson vertraut.

Und es war durchaus möglich, dass sie ihm dieses Vertrauen zu Unrecht entzogen hatte.

Sie wusste nicht mehr, was sie glauben, oder denken sollte. Wäre ich doch nur nie in dieses Nest am Ende der Welt gekommen!, schoss es ihr bitter durch den Kopf.

Sie schloss sorgfältig die Tür hinter sich.

Eigentlich war sie hundemüde, aber sie war einfach zu aufgewühlt, um jetzt schlafen zu können.

Sie zündete das Kaminfeuer an und ließ sich anschließend in einen der Sessel fallen. Indessen loderten die Flammen knisternd empor und langsam wurde es etwas wärmer.

Maureen stand dann noch einmal kurz auf, um sich einen Drink zu machen.

Ich habe eine große Dummheit begangen!, schoss es ihr durch den Kopf, als sie sich mit ihrem Glas und einer Decke zurück in den Sessel setzte.



22

Das Geräusch von Pferdehufen drang zögernd in ihr Bewusstsein.

Maureen schreckte hoch. Sie war offenbar eingenickt. Wenige Augenblicke später hörte sie, wie ein Schlüssel im Türschloss herumgedreht wurde.

Sie erhob sich und überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Ihr Blick ging zum Telefon. Zwei Schritte waren es bis dorthin. Aber als sie dann mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung den Hörer abnahm, war ihr in der nächsten Sekunde klar, dass die Leitung tot war.

Im nächsten Moment ging knarrend die Tür auf und Maureen hatte das Gefühl, als würde sich eine kalte Hand auf ihre Schulter legen.

Eine Gänsehaut überzog ihr feingeschnittenes Gesicht und sie wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

In der Tür stand eine gespenstische Gestalt. Maureens Blick ging über das maskierte Gesicht zu dem Geschwungen Säbel, den der Unheimliche in seiner Rechten hielt.

"Ann!", murmelte er mit seltsam verzerrter Stimme, die durch die dunkle Maske gedämpft und verfremdet wurde. Maureen wollte etwas sagen, wollte schreien, um vielleicht irgendjemanden auf sich aufmerksam zu machen, wohl sie wusste, dass das sehr unwahrscheinlich war. Aber über ihre Lippen kam kein Laut. Sie schluckte nur, wich weiter zurück und ließ dabei den unheimlichen Eindringling nicht aus den Augen. Ihr Atem wurde schneller. Auf ihrer Stirn bildete sich

Angstschweiß.

"Niemand kann seinem Schicksal entgehen", murmelte indessen der Maskierte. "Niemand! Auch du nicht, Ann! Auch nach so vielen Jahrhunderten nicht!"

Maureens Blick ging unterdessen vorsichtig seitwärts.

Aus den Augenwinkeln heraus sah den Fenstergriff, während der Düstere sich weiter näherte.

Er schien es nicht eilig zu haben. Der Schein Kaminfeuers fiel auf sein maskiertes Gesicht und gab ihm etwas Geisterhaftes. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie, dass der Mann blaue Augen hatte. Oder bildete sie es sich nur ein?

Jim hatte blaue Augen.

Und Cormick? Sie hatte nie darauf geachtet.

Maureen begann zu zittern.

Sie musste jetzt kühlen Kopf bewahren. In der nächsten Sekunde entschied sie sich dafür, alles auf eine Karte zu setzen. Mit zwei schnellen Schritten war sie beim Finster und riss es mit einer entschlossenen Bewegung auf.

Kühle Nachtluft kam ihr entgegen, als sie hinaussprang.

Es war nicht hoch, aber ihr Knöchel schmerzte nachdem sie aufgekommen war. Doch sie biss die Zähne zusammen und rannte um ihr Leben.



23

Maureen keuchte, während sie in die Dunkelheit hinein hetzte.

Hinter sich wusste sie den maskierten Reiter, der ihr dicht auf den Fersen war. Er hatte keine Eile, denn er wusste, dass die Flüchtende nicht den Hauch einer Chance hatte. Maureen sah ihn ihn kurz aus den Augenwinkeln heraus, wie er sich gegen das Mondlicht abhob und den Säbel durch die Luft sirren ließ.

Das Pferd schnaubte dicht hinter ihr und sie fühlte blanke Panik in sich aufsteigen.

"Ann!", klang es dumpf unter der schwarzen Maske hervor.

"Ann, du bist mein!"

Der grasbewachsene Boden war weich. Maureen blieb mit einem Schuh stecken und verlor ihn. Sie strauchelte etwas, blieb auf den Beinen und hetzte weiter. Von irgendwoher drang ein Geräusch an ihre Ohren, das sie im ersten Moment nicht so recht einzuschätzen wusste. Dann trat sie in ein Erdloch, stolperte und fiel der Länge nach ins Gras. Augenblicklich rollte sie sich herum und blickte dann zu dem unheimlichen Reiter empor, der sein Pferd gezügelt hatte.

Es ist aus!, dachte Maureen unwillkürlich.

Dann wurde sie plötzlich durch einen grellen Lichtschein geblendet. Ein Wagen kam heran. Der Reiter wirbelte im Sattel herum, während sich sein Pferd aufbäumte und wiehernd auf die Hinterhand stellte.

Der Fahrer des Wagens ließ den Motor aufheulen und stoppte erst im letzten Moment, aber da war es für den Reiter bereits zu spät. Er konnte sich nicht mehr halten und stürzte zu Boden, während das Pferd wiehernd davonstob.

Maureen hatte sich indessen aufgerappelt. Sie sah den maskierten Reiter sich am Boden wälzen. Offenbar hatte er sich bei dem Sturz verletzt. Der Säbel lag ein paar Meter von ihm entfernt. Maureen machte einige Schritt nach vorn und nahm die Waffe an sich.

Der Maskierte konnte es nicht verhindern. Er versuchte, sich zu erheben, sank aber ächzend zurück.

Ein Mann stieg inzwischen aus dem Wagen.

Maureen erkannte ihn sofort und war sehr erleichtert.

"Jim!"

Er lief zu ihr ihr hin. "Maureen! Alles in Ordnung?"

Sie nickte.

"Ja. Es ist noch einmal gutgegangen."

Er nahm sie in die Arme. "Ich hätte vielleicht mehr Vertrauen zu dir haben sollen", murmelte er dann. "Ich habe versucht, dich von unterwegs aus anzurufen, aber..."

"...die Leitung war tot", ergänzte Maureen.

Jim nickte.

"So war es. Und dann sah ich in der Ferne einen Reiter über die Hügel jagen. Nur ganz kurz hob er sich gegen das Mondlicht ab..."

"Du hast gedacht, dass ich mir alles nur einbilde, nicht wahr?"

"Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel", gab er zurück.

Sie strich sich die durcheinandergebrachten Haare aus dem Gesicht und ließ ein mattes, aber glückliches lächeln über ihre Lippen huschen. "Das ist doch jetzt nicht mehr wichtig", meinte sie.

Jim löste sich von ihr und wandte sich dem am Boden Liegenden zu, der sich das Bein hielt.

Der Arzt trat näher, dann griff er zu und riss dem Mann die Maske vom Gesicht.

"Mister Cormick!", entfuhr es Maureen.

"Ann", murmelte Cormick.

"Ich bin nicht, Ann!", erwiderte sie.

Er schien gar nicht zuzuhören.

"Es hat keinen Sinn, Maureen", stellte Jim fest, während er sich um Cormicks Bein kümmerte und es notdürftig versorgte.

"Er ist seiner Wahnwelt gefangen."

Über das Funktelefon, das Jim Anderson in seinem Wagen hatte, wurde Sergeant Knowland informiert, der bald darauf mit einem Kollegen am Ort des Geschehens eintraf und den völlig verwirrt wirkenden Cormick in Gewahrsam nahm. Später sollte er behaupten, dass der Geist des toten Lord Kavanaugh von ihm Besitz ergriffen hätte, woraufhin man ihn mit der Diagnose einer schweren Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik einwies.

Ein paar Tage später saßen Jim und Maureen bei Kerzenschein, Wein und einem guten Essen zusammen. Jim hatte selbst gekocht - und gar nicht mal übel, wie Maureen fand.

Der Abend war schon etwas fortgeschritten und während Maureen an ihrem Glas nippte, drang Jims Stimme in ihre Gedanken.

"So nachdenklich?", fragte er.

Sie lächelte.

"Ich habe nur daran gedacht, dass nicht viel gefehlt hätte, und nicht Jason Cormick, sondern ich wäre jetzt ein Fall für den Nervenarzt."

"Das ist ja nun alles vorbei", lächelte Jim.

"Er hat mich sogar dazu gebracht, zu glauben, dass du vielleicht der Jenseits-Reiter wärst!" Sie zuckte die Schultern.

Jim griff nach ihrer Hand und einen Augenblick später stellte Maureen fest, dass er ihr etwas gegeben hatte. Ein kleines Kästchen.

"Was ist das?", fragte sie, obwohl sie es ahnte. Sie öffnete das Kästchen, und holte einen Ring heraus.

"Ein kleines Zeichen meiner Liebe" erwiderte er. "Und vielleicht ein zusätzliches Argument für dich, diesem einsamen Nest namens Dunmoore doch nicht so schnell wie möglich wieder den Rücken zu kehren."


ENDE

Patricia Vanhelsing und die Burg der Tempelritter

Roman von Alfred Bekker





Auf die junge Journalistin Patricia Vanhelsing wartet ein gefährliches Abenteuer. Sie ist dem legendären Orden der Tempelritter auf der Spur, der angeblich im Mittelalter zerschlagen wurde, der aber Gerüchten zufolge auch heute noch im Untergrund existiert. Ihre Recherchen führen Patricia aus dem nebeligen London ins sonnige Südfrankreich – und auf die Spur eines ebenso geheimnisvollen wie auch faszinierenden Mannes.




Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author /COVER WERNER ÖCKL

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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1

Kalter Modergeruch drang in meine Nase. Düstere steinerne Wände umgaben mich, von denen eine schier eisige Kälte ausging. Eine Grabeskälte, die alles zu durchdringen vermochte und mich bis ins Mark frösteln ließ.

Um die Handgelenke fühlte ich etwas ebenso Kaltes. Ich war festgekettet an einer Wand und konnte mich kaum bewegen.

Eine Gefangene war ich - festgekettet und dem Tode geweiht...

Mir gegenüber stand die hochaufragende Gestalt eines Kreuzritters in voller Rüstung. Das Helmvisier war herabgelassen, so dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.

Um so deutlicher aber sah ich das achtspitzige Kreuz auf dem weißen Gewand, das er über dem Kettenhemd trug...

Dumpf hörte ich seinen Atem unter dem Helm.

Der Ritter zog sein Schwert. Mit beiden Händen packte er den Griff und holte mit der Klinge zu einem furchtbaren Schlag aus.

„Nein!“, hörte ich mich selbst aufschreien. Das Herz schlug mir bis zum Hals, während lähmendes Entsetzen mich ergriff.

Ich fühlte Schwindel. Alles schien sich zu drehen, während ich die Klinge des Kreuzritters auf mich zuschnellen sah.

„Nein!“

Es war ein Schrei, der nichts anderes als nackte Todesangst offenbarte. Eine namenlose Furcht, die meine Seele schier zu zerreißen drohte.

„Nein!“

Das letzte, was ich sah, war das Gesicht eines Mannes.

Ein sehr ebenmäßiges Gesicht mit zwei ruhigen, grauen Augen und umrahmt von dunklem Haar.

Dann raste die mörderische Klinge auf mich herab...



2

„Nein!“

„Patricia!“

„Nein! Nicht!“

„Patricia, wach auf!“

Ich fühlte einen kräftigen Griff um meine Schultern, und ich fuhr hoch. Kerzengerade saß ich da – und fand mich in meinem Bett wieder.

Das Mondlicht sickerte durch das große Fenster und fiel in das Gesicht von Tante Lizzy, in deren Villa ich wohnte.

„Es ist alles gut, Patricia! Du hast nur geträumt!“

Langsam wurde mir das auch klar. Ich schluckte, versuchte etwas zu sagen. Mein Mund war trocken, meine Lippen fühlten sich spröde und aufgesprungen an, während ich mit der Zunge darüber fuhr.

„O mein Gott“, hörte ich mich selbst flüstern, aber der Arm, den Tante Lizzy jetzt um meine Schultern legte, gab mir die Gewissheit, dass mir jetzt nichts passieren konnte.

„War es wieder der Traum?“, fragte Tante Lizzy.

Ich nickte. „Ja. Ich war angekettet, und ein Kreuzritter wollte mich mit seinem Schwert erschlagen...“

„Es ist das dritte Mal, Patricia...“

„Ich weiß...“

„Du solltest diese Sache sehr ernst nehmen...“

Tante Lizzy brauchte nichts weiter zu sagen. Ich wusste auch so, worauf sie hinaus wollte.

Meine Großtante Elizabeth Vanhelsing war eine leidenschaftliche Okkultistin und an allem interessiert, was sich auch nur ansatzweise als übersinnliches Phänomen ansehen ließ.

Ihr verschollener Mann Frederik Vanhelsing war ein bekannter Archäologe gewesen und hatte dafür gesorgt, dass die Villa mit Fetischen und Kultgegenständen aus aller Welt vollgestopft war. Dazu kam noch Tante Lizzys eigene Sammlung von Zeitungsartikeln, Büchern und allerlei Gegenständen zum Bereich des Übersinnlichen, so dass die Vanhelsing-Villa fast so etwas wie ein kleines Privatmuseum des Okkulten war.

„Es ist wie damals“, erklärte Tante Lizzy in ernstem Tonfall, nachdem sie aufgestanden war und Licht gemacht hatte. Damals...

Schon wieder fing sie mit diesem Thema an.

Als 12jährige hatte ich den tragischen Tod meiner Eltern in einem Traum vorausgesehen, so behauptete zumindest Tante Lizzy. Und im Alter von 16 einen Hausbrand.

Seitdem war meine Großtante, die mich nach dem Tod meiner Eltern wie eine Tochter aufgezogen hatte, überzeugt davon, dass ich übersinnliche Fähigkeiten hätte.

Ich persönlich stehe diesen Dingen etwas skeptischer gegenüber. Schließlich bin ich Journalistin und als solche nüchternen Fakten verpflichtet.

Tante Lizzy aber hatte wohl mehr Vertrauen in meine paranormalen Fähigkeiten als ich selbst.

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin

tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens

verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine

Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte,

kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es

existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die

unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein,

besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss

es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht

erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere

Rolle. In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

Ich sträubte mich einfach gegen den Gedanken, dass Zukunft vorhersagbar war. Das war ein Gedanke, der mir nicht gefiel.

„Du glaubst, dass dieser Traum etwas über meine Zukunft enthüllt, nicht wahr?“, erriet ich Tante Lizzys Gedanken.

Ich stand auf und warf mir einen Morgenmantel über. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken, auch wenn ich am nächsten Morgen an meinem Arbeitsplatz in der Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS einschlafen würde.

Tante Lizzy nickte und trat auf mich zu.

„Lass uns darüber reden, Patti!“

„Tante Lizzy...!“

„Doch, es muss sein! Als du diesen Traum das letzte Mal hattest, bist du einem Gespräch auch schon ausgewichen, aber du wirst dich dieser Sache stellen müssen! Dieser Traum hat eine Bedeutung. Vielleicht geht es um Leben und Tod! Also...“

Ich seufzte. „Was soll ich tun?“

„Versuche dich an jede Einzelheit zu erinnern“, beschwor mich Tante Lizzy eindringlich.

„Es war wieder exakt derselbe Traum.“

„Keine Veränderung?“

„Nein. Ich war an eine Steinwand gekettet und ein Kreuzritter wollte mich umbringen. Du glaubst doch wohl kaum, dass das meine Zukunft sein kann! Schließlich sind Ritter nicht gerade zeitgemäß! Ich denke, es war ein ganz gewöhnlicher Alptraum, wie ihn hin und wieder jeder mal hat. Und der Ritter ist nichts weiter als ein Symbol für die Furcht, die mich packt, wenn mich mein kratzbürstiger Chefredakteur in sein Büro zitiert!“

„Patti!“, beschwor mich Tante Lizzy eindringlich. „Mach darüber keine Witze. Waren da noch irgendwelche Einzelheiten? Versuch dich zu erinnern, bevor der Traum verblasst.“

Ich versuchte es. „Dieses Kreuz auf dem Gewand des Ritters,“ flüsterte ich.

„Was war damit?“ Tante Lizzy ließ nicht locker.

„Wie soll ich das beschreiben? Es war ein besonderes Kreuz. An jeder der vier Enden hatte es zwei kleine Spitzen...“

„Das achtspitzige Kreuz!“, rief Tante Lizzy plötzlich aus. „Weißt du, was das bedeutet?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid!“

„Das ist das Zeichen des Ordens der Tempelritter; auch Templer von Jerusalem genannt... Zunächst beteiligte sich der Orden an den Kreuzzügen, und nach der Vertreibung der Kreuzfahrer aus dem Heiligen Land bildete er im mittelalterlichen Europa eine Art Staat im Staat. Vor allem in Frankreich und Spanien war er sehr mächtig, bis er schließlich verboten und wegen der Anwendung Schwarzer Magie aufgelöst wurde. Die Templer wurden gnadenlos verfolgt und auf die Scheiterhaufen gebracht. Aber bis heute hat sich das Gerücht gehalten, dass der Orden im Verbogenen über all die Jahrhunderte weiterexistiert hat und vielleicht sogar heute noch besteht – als okkulte Geheimgesellschaft!“

Ich merkte schon, das Tante Lizzy jetzt in ihrem Element war.

„In meiner Bibliothek steht ein Buch, dessen Autor den Beweis anzutreten versucht, dass der Orden bis in unser Jahrhundert hinein existierte und für eine Reihe von Ritualmorden verantwortlich ist. Es stammt von einem Deutschen namens Dietrich von Schlichten. Die einzige englische Übersetzung erschien 1923, der Verleger starb unter mysteriösen Umständen, und von Schlichten selbst verschwand auf einer Reise nach Südfrankreich – nur wenige Monate später.“

Ich sah Elizabeth Vanhelsing etwas müde an. Meine Großtante war zwar an allem interessiert, was übersinnliche Erscheinungen betraf, aber obskuren Kulten und sektenartigen Vereinigungen stand sie sehr kritisch gegenüber.

„Pass auf dich auf, mein Kind“, sagte Tante Lizzy leise. „Ich weiß nicht, was dein Leben mit den Templern zu tun hat – aber ich fürchte, das wird sich schon bald herausstellen.“

Und das sollte schon am nächsten Tag der Fall sein...



3

„Na? Die Nacht durchgezecht?“

Ich wirbelte herum und blickte in die strahlend blauen Augen von Jim Field, einem jungen und etwas unkonventionellen Fotografen der LONDON EXPRESS NEWS.

Er schenkte mir sein sympathisches, offenes Lächeln, das so typisch für ihn war, und ich erwiderte: „Ich hatte gedacht, dass ich wenigstens auf dem Flur ungeniert gähnen könnte.“

Er lachte und strich sich mit einer beiläufigen Bewegung eine blonde Strähne aus dem Gesicht. „Tja, hier wird man halt überall beobachtet... Für die LONDON EXPRESS NEWS gibt es kein Privatleben – weder für die Mitarbeiter noch für die Stars und Sternchen, deren geheim Affären wir auf unsere Seiten bringen – exklusiv und in Farbe!“

Ich setzte den Gesichtsausdruck gespielten Erstaunens auf.

„Du hörst dich ja heute an wie unser Chefredakteur!“

Jim Field grinste und verhinderte dann gerade noch mit einer schnellen Bewegung, dass ihm die Kamera von der Schulter rutschte. Er zwinkerte mir zu.

„Tja, Patti, ich übe schon mal. Schließlich habe ich mir vorgenommen, eines Tages den Posten des großen Michael T. Swann zu übernehmen!“

Ich sah abschätzig an ihm herab. „Nun, falls du dich überwinden könntest, eine Jeans zu tragen, die nicht überall geflickt ist, und du es dir noch abgewöhnst, müde Reporterinnen zu erschrecken – warum nicht?“

Wir lachten beide.

Jim ist ein Spaßvogel, auch wenn seine Art von Humor nicht jedermanns Sache ist. Aber immerhin hatte er mit seiner Flachserei dafür gesorgt, dass es mir jetzt trotz meiner Müdigkeit etwas besser ging und der Morgen nicht allzu grau erschien.

„Aber nun mal im Ernst“, sagte Jim. „Du bist spät dran heute. Der Chef lässt dich schon suchen und hat mich durch das ganze Haus gejagt, um dich aufzutreiben.“

„Was ist denn los?“

„Hat er nicht gesagt. Aber es muss dringend sein. Komm, wir haben denselben Weg!“

„Ach, du hast auch einen Termin in der Höhle des Löwen?“

Er nickte. „So ist es!“



4

„Na endlich!“

Michael. T. Swanns Gesicht wirkte stets missmutig.

„Guten Tag, Mister Swann!“, sagte ich in gedämpften Tonfall, gespannt darauf, was mich jetzt erwartete. Uns Platz anzubieten, das schien Swann nicht in den Sinn zu kommen.

„Wo waren Sie denn, Patricia? Ich habe Sie überall suchen lassen!“

„Nun, ich...“

„Ich sitze hier auf heißen Kohlen, weil Clark Dalglish krank ist und ich unbedingt jemanden brauche, der für ihn einspringt. Für Sie ist das eine Bewährungsprobe, Patricia! Eigentlich lasse ich Anfänger nicht an so wichtige Sachen, aber im Moment habe ich keine andere Wahl. Außerdem haben Sie Ihren Job bislang ja ganz passabel gemacht!“

„Ich werde mir Mühe geben“, versprach ich und fragte mich dabei, wann er mit seinem Klagelied endlich aufhören und zur Sache kommen würde.

Swann kratzte sich am Kinn. „Ist ja auch egal. Es geht um jede Sekunde. Die EXPRESS NEWS haben den Ruf, immer die ersten zu sein, immer am schnellsten am Ort des Geschehens... Na ja, diesmal wird das wohl nichts mehr.“

„Worum geht es, Mister Swann?“, erkundigte ich mich.

Swann sah mich an. Er war streng und konnte mit eisernem Besen fegen, wenn es sein musste. Aber unter seiner rauen Fassade steckte ein herzensguter Mensch – auch wenn man das nicht auf den ersten Blick erkennen konnte. Und wenn er mich auch ab und an grob anrüffelte – im Grunde respektierte er mich inzwischen.

Schließlich hatte ich bewiesen, dass ich eine gute Reporterin war. Und Leistung erkannte ein Mann wie Swann immer an.

„Sagt Ihnen der Name Marc Larue etwas?“

Den Namen kannte ich tatsächlich.

„Ist das nicht dieser französische Schauspieler, der vor dem Sprung nach Hollywood steht?“

Swann nickte, und auf seiner Stirn erschienen ein paar tiefe Furchen. Sein Gesichtsausdruck wurde sehr ernst.

„Zu diesem Sprung wird es nicht mehr kommen.“

„Wieso?“

„Es ging wie ein Lauffeuer über den Ticker. Larue ist heute Morgen in seinem Londoner Hotel tot aufgefunden worden. Die näheren Umstände sind nicht bekannt. Machen Sie 'ne schöne Story daraus! Gleich morgen wollen wir etwas darüber bringen. Aber nicht irgend so ein Gefasel, sondern Fakten!“

Ich verkniff mir eine Erwiderung. Woher die Fakten kommen sollten, das verriet Swann mir natürlich nicht. Und das zu einem Zeitpunkt, da selbst die Polizei und Staatsanwaltschaft noch so gut wie nichts in der Hand hatten.

Swann kramte zwischen den Bergen aus Blättern und Manuskripten herum, die sich auf seinem völlig überladenen Schreibtisch stapelten, dann zog er einen Zettel heraus, den er mir reichte. Ich nahm ihn und sah, dass in Swanns krakeliger Handschrift eine Adresse darauf notiert war.

„Das ist das Hotel, in dem man Larue gefunden hat! Wenn Sie sich ein bisschen beeilen, kann Mister Field vielleicht noch ein paar Fotos davon machen wie sich die Polizeiwagen vor dem Eingang drängeln... Und nun verschwinden Sie beide!“

Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen...



5

Schon der Parkplatz des Hotels war völlig überfüllt. Noch mehr galt das für die Eingangshalle. Uniformierte Polizisten überall, dazu die Beamten von Scotland Yard.

Ich hielt mich an den Portier an der Rezeption, einen freundlichen älteren Herrn, dem ich mit dem charmantesten Lächeln, das ich zustande bringen konnte, sowie einer Hundert-Pfund-Note die Zunge löste.

Jim sah sich derweil etwas um und schoss ein paar Fotos von Polizisten mit angestrengten Gesichtern. Irgendwie verlor ich ihn dann in dem Gewühl aus den Augen.

„Unser Zimmermädchen hat den Toten gefunden“, erläuterte indessen der Portier, während er sich über den Tresen der Rezeption beugte und eine wichtige Miene aufsetzte. „Die Tür stand nämlich offen, und das kam ihr dann doch verdächtig vor...“

„Was war die Todesursache?“, fragte ich.

„Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.“

Ich war erstaunt. „Woher wissen Sie das so genau?“

„Weil sich der Gerichtsmediziner da vorne an der Treppe mit dem Inspektor von Scotland Yard unterhalten hat. Ich konnte alles mithören...“

„Weiß man schon irgend etwas über die Hintergründe?“

Doch da musste der Portier passen. Er hob die breiten Schultern und machte ein bedauerndes Gesicht.

„Nur Spekulationen...“

„Was für Spekulationen?“

„Also, ein Raubmord war es nicht. Soweit ich gehört habe, wurde nämlich nichts gestohlen. Es muss irgend etwas Persönliches sein. Eifersucht, Rache... Man weiß doch, wie das bei diesen Schauspielern und Filmleuten ist. Affären ohne Ende!“

Nur, dass die meisten dafür nicht umgebracht werden, setzte ich in Gedanken hinzu, aber der Redeschwall des Portiers ließ es nicht zu, dass ich mehr als ein gelegentliches „Hm!“ anbringen konnte.

Trotzdem an Informationen bekam ich nichts mehr aus ihm raus.

„Welches Zimmermädchen hat Larue denn gefunden?“

„Teresa.“

„Wo finde ich die?“

Er hob die Schultern. „Da haben Sie Pech, Miss.“

„Wieso das?“

„Ich habe sie gerade dort hinten ins Billardzimmer gehen sehen. Und dort verhört Inspektor Craven von Scotland Yard gerade die Angestellten... Kann ein bisschen dauern, bis so ein Protokoll fertig ist!“



6

Vor dem Billardzimmer stand ein uniformierter Polizeibeamter. Er passte auf, dass niemand den Inspektor bei seinen Verhören störte. Mit unbewegtem Gesicht blickte er an mir vorbei. Ich nahm in einem der großen Ledersessel Platz, die in der Eingangshalle standen, und setzte mich so, dass ich die Tür zum Billardzimmer im Auge behalten konnte.

Gleichzeitig sah ich mich auch immer wieder nach Jim um, aber der war wie vom Erdboden verschluckt.

Eine Viertelstunde saß ich einfach nur da.

Zwischendurch beobachtete ich einen wild gestikulierenden kleinen Mann, der recht schmächtig war. Er schien ziemlich aufgebracht zu sein. Seinem Akzent nach war er Amerikaner. Er redete dauernd von eine Filmprojekt, ich schätzte, dass er entweder Produzent oder Larues Agent war.

Jedenfalls schien ihn der Tod des französischen Schauspielers stark getroffen zu haben – aber wohl nur in zweiter Linie aus menschlichen Gründen.

Ich erwog bereits, den schmächtigen Wichtigtuer kurz zu interviewen, da öffnete sich die Tür des Billardzimmers, und eine junge, dunkelhaarige Frau trat heraus.

Auf dem hellblauen Kleid, das sie trug, befand sich das Emblem des Hotels.

Ich sprang auf und trat ihr entgegen.

„Teresa? Mein Name ist Patricia Vanhelsing. Ich komme von den LONDON EXPRESS NEWS und...“

„...und vielleicht lassen Sie die arme Frau jetzt in Frieden!“, ertönte eine barsche männliche Stimme.

Ein breitschultriger Mann in einem leicht verknitterten Jackett trat jetzt ebenfalls durch die Tür. Er trug einen buschigen Schnauzbart und über der markanten Nase leuchteten zwei hellblaue, aufmerksame Augen.

Teresa drehte sich halb zu ihm herum, und der Mann nickte ihr zu. „Gehen Sie nur!“

Dann wandte er sich an mich. Ich wollte Teresa nacheilen, aber er fasste mich am Arm.

„Moment!“

„Was fällt Ihnen ein, Mister...!“

„Inspektor Craven, Scotland Yard. Und ich habe entschieden etwas dagegen einzuwenden, dass Sie diese junge Frau jetzt mit Ihren Fragen quälen. Alles, was sie zu sagen hatte, hat sie bereits zu Protokoll gegeben.“

Ich riss mich los und sah Craven wütend an.

„Wohl noch nie etwas von Pressefreiheit gehört, was?“

„Ach, kommen Sie, die ist doch erfunden worden, als es noch richtige Zeitungen gab – nicht solche bunten Blätter wie die EXPRESS NEWS!“

Ich fühlte Wut in mir aufsteigen. Was fiel diesem Inspektor ein, mich und meine Arbeit zu beleidigen?

Aber schon in der nächsten Sekunde begriff ich, dass das seine Methode war. Er wollte mich in ein Gespräch verwickeln, und bis dahin war Teresa, das Zimmermädchen, verschwunden.

Also verzichtete ich darauf, ihm die Meinung zu sagen, und lief stattdessen hinter Teresa her.

„Warten Sie!“, rief der Inspektor. „Was Sie von ihr wissen wollen, können Sie auch mich fragen.“

Ich blieb stehen.

Inspektor Craven hatte mich eingeholt.

„Was ist?“, fragte er. „Ist das kein Angebot?“

„Gut.“

Aber es war ein Fehler gewesen, darauf einzugehen, wie ich später merkte. Ein dummer Anfängerfehler.

Alles, was Craven mir anzubieten hatte, wusste ich schon. Weitere Informationen könne er mir leider nicht geben. „Aus fahndungstaktischen Gründen“, wie er mir weiszumachen versuchte.

Teresa war jedenfalls später unauffindbar, und innerlich verfluchte ich Jim dafür, dass er nicht dagewesen war und wenigstens ein schönes Bild von dem Scotland Yard-Inspektor gemacht hatte.

Diese Geschichte fing alles andere als gut an, und ich sah mich schon am Abend in der Redaktion sitzen und mir irgend etwas aus den Fingern saugen, was Michael T. Swann mir dann anschließend um die Ohren hauen würde.

Ich seufzte.

Selbst der Filmproduzent war inzwischen untergetaucht...



7

„Hallo, Patti!“

Ich hatte mir in der Hotelbar einen Espresso bestellt, da tauchte Jim Field wie aus dem Nichts hinter mir auf. Sein legeres Äußeres war für ein Hotel dieser Preiskategorie schon etwas auffällig.

Um seine Mundwinkel spielte ein zufriedenes Lächeln, für das es meiner Ansicht nach überhaupt keinen Anlass geben konnte.

„Komm mit, wir fahren!“, sagte er.

„Was?“

„Ich erzähl es dir im Wagen.“

„Wovon redest du?“

„Willst du erst warten, bis ich verhaftet werde?“

Ich verstand überhaupt nichts. Aber als er wenige Minuten später neben mir auf dem Beifahrersitz meines alten Mercedes saß, den Tante Lizzy mir einst vermacht hatte, erklärte er mir alles.

„Ich war in Larues Zimmer“, eröffnete er mir.

Ich war einen Moment lang sprachlos, und er schien diesen Augenblick regelrecht zu genießen.

Weil mir nichts Besseres einfiel, fragte ich: „Wurde das Zimmer denn nicht bewacht?“

„Versiegelt.“

„Aber...“

„Ja, ich weiß. Und dass in spätestens einer halben Stunde bei Scotland Yard ein Donnerwetter loskrachen wird, das sich gewaschen hat! Hör zu, ich habe den Tatort fotografiert. Der Tote war natürlich nicht mehr da, der ist längst abtransportiert worden. Aber da war etwas anderes, dem wir nachgehen könnten...“

„Was?“

„Larue hat eine Telefonnummer an die Zimmertapete geschrieben. Er war ja bekannt für sein rüpelhaftes Benehmen. Ich war mal dabei, als eine Home-Story über ihn gemacht wurde. Vielleicht hatte er auch einfach nur kein Papier zur Hand...“

Ich zog die Augenbrauen hoch und gab zu bedenken: „Oder die Nummer wurde von einem Gast auf die Tapete geschrieben, der vor Larue das Zimmer hatte!“

Jim Field schüttelte ganz energisch den Kopf. „In einem solchen Hotel? Da ist Sauberkeit und Ordnung das oberste Gebot. Die würden alles daran setzen, um so etwas zu beseitigen, bevor ein neuer Gast kommt.“

„Dann sollten wir die Nummer mal ausprobieren.“

„Auswendig weiß ich sie nicht. Und zum Aufschreiben hatte ich keine Zeit, schließlich wollte ich nicht erwischt werden.“

Ich sah ihn kurz an. „Und da soll ich beeindruckt sein?“, schnauzte ich. „Was nutzt uns diese Telefonnummer, wenn wir sie nicht kennen?“

Jim grinste mich an und klopfte dann leicht auf den Fotoapparat, den er auf dem Schoß hatte. „Ich sagte doch, ich habe den Tatort fotografiert. Mit 'ner schönen Großaufnahme besagter Nummer.“

„Okay.“ Ich grinste zurück. „Ich bin beeindruckt.“

Also ging es zunächst einmal zurück in die Redaktion. Die Bilder mussten entwickelt werden.

Jim war ein echter Profi, was sein Handwerk anging.

Ich saß an meinem Schreibtisch und grübelte darüber nach, wie ich meinen Artikel beginnen sollte. Viel war es ja nicht gerade, was ich bis jetzt an Fakten zusammengetragen hatte. Dreimal hatte ich schon begonnen, und jedesmal sah ich im Geiste Michael T. Swanns strenges Gesicht vor mir, wie er mir meinen Artikel mit spitzen Worten in der Luft zerriss.

Dann kam Jim endlich.

„Hier“, sagte er und warf einen ganzen Stapel von Bildern auf den Tisch. „Ich war auch noch mal kurz im Archiv und habe die Bilder herausgesucht, die ich damals zu der Home-Story über Marc Larue gemacht habe. Vielleicht kannst du sie ja irgendwie verwenden. Da wir den toten Larue schon nicht fotografieren konnten.“

Manchmal war er wirklich geschmacklos.

„Und die Nummer?“

Er tippte auf eines der Fotos. Die Telefonnummer war darauf deutlich und in Großaufnahme zu erkennen.

Ich zögerte nicht lange, nahm meinen Apparat und wählte die Nummer. Wenige Augenblicke später legte ich wieder auf.

Jim runzelte die Stirn und fragte: „Was war denn?“

„Ich hatte den Anrufbeantworter eines Privatdetektivs dran“, erklärte ich. „Ashton Taylor. Sagt dir der Name was?“

„Nein. Aber unser Archiv ist bekanntlich allwissend, Patti. Vorausgesetzt, man hat Zeit genug...“

Ich hörte nur halb hin, während Jim weitersprach. Mein Blick ging über die Fotos, die Jim aus dem Archiv gegraben hatte. Auf den meisten war Larue zu sehen...

Larue in seiner ersten Filmrolle, in der er einen Schurken darstellte. Larue in einer komödiantischen Rolle mit einer seltsamen Grimasse. Dann Larue zu Hause mit seinem Hund...

An diesem Bild blieb mein Blick haften.

Der Franzose trug darauf ein Hemd mit kurzen Ärmeln. Die ersten drei Knöpfe waren offen. Seine Brust war glattrasiert, wie es bei französischen Männern heutzutage Mode ist. Er sah gut aus, wenn auch für meinen Geschmack ein bisschen zu jungenhaft.

Ich hielt das Bild näher an meine Augen.

„Brauchst du eine Brille?“, flachste Jim, aber ich hatte im Moment keinen Sinn für seine Witze.

In dem Hemdausschnitt war eine Tätowierung zu sehen, vielleicht so groß wie ein Zeigefinger.

Es war, als würde ein kalter Hauch mich erfassen und bis ins tiefste Innere frösteln lassen.

Die Tätowierung zeigte nichts anderes als ein achtspitziges Kreuz! Wie ich es in meinem Traum auf dem Gewand des Ritters mit dem heruntergelassenen Visier gesehen hatte!

Das Zeichen der Templer von Jerusalem!



8

Es war früher Nachmittag, als ich das Gebäude erreichte, in dem Ashton Taylor sein Büro in bester Lage hatte und das in der Ladbroke Grove Road stand. Die Adresse hatte ich dem Telefonbuch entnommen. Es gab zwar dutzendweise Taylors in London, aber nur einen Ashton Taylor, der als Privatdetektiv arbeitete.

Jim stellte in der Zwischenzeit für mich das Archiv auf den Kopf.

Taylors Detektei schien es nicht schlecht zu gehen. Wie hätte er sich sonst eine Büroetage in dieser Lage leisten können?

„Sie wünschen?“, fragte eine dunkle, männliche Stimme an der Sprechanlage, die neben der Tür in der fünften Etage angebracht war.

„Ich möchte zu Mister Taylor. Mein Name ist Patricia Vanhelsing.“

Ich konnte nicht sagen, was es genau war, aber irgend etwas hatte der Klang dieser Stimme in mir ausgelöst... Ein gewisses Unbehagen begann sich in meiner Magengegend breitzumachen.

Eine Ahnung...

„Einen Moment“, sagte die Stimme. Der Türsummer schlug an, ich drückte die Tür auf und trat ein.

Ein hochgewachsener, breitschultriger und sehr gut aussehender Mann trat mit entgegen. Er war elegant gekleidet. Hose und Jackett waren aus Schurwolle. Der erste Knopf seines Hemdes war geöffnet.

Als ich das Gesicht sah, versetzte es mir einen Stich, ich erstarrte unwillkürlich zur Salzsäule.

Dieses Gesicht war aus meinem Traum! Dieselben grauen Augen, die dunklen Haare... Auch das Grübchen am Kinn war da.

Seine ruhigen Augen musterten mich.

„Was ist los?“, erkundigte er sich. „Habe ich Sie erschreckt?“

„Nein.“

Er reichte mir die Hand. „Ashton Taylor.“ Er hielt meine Hand einen Augenblick länger, als es eigentlich nötig gewesen wäre, während unsere Blicke sich trafen. „Treten Sie doch ein, Miss...“

„Vanhelsing. Patricia Vanhelsing.“

Er führte mich in ein sehr sachlich, aber gediegen eingerichtetes Büro und bot mir einen drehbaren Ledersessel an.

„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte er dann.

„Nein.“

Ich wollte gleich zur Sache kommen, aber die Erkenntnis, dass ich sein Gesicht im Traum gesehen hatte, hatte ich immer noch nicht richtig verarbeitet.

Ashton Taylor setzte sich jetzt ebenfalls. Er nahm mir gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz und sah mich wieder an.

Eine seltsame, geheimnisvolle Aura umgab diesen Mann.

Etwas, das man nicht erklären kann. Das begann schon, wenn man versuchte, sein Alter zu schätzen...

Er wirkte recht jugendlich, nur seine Augen und ein gewisser Zug in seinem Gesicht schienen eher zu einem älteren Mann zu passen.

Auf jeden Fall war er sehr attraktiv und hatte ein Ausstrahlung, die fast schon beängstigend war.

„Was ist Ihr Anliegen?“, fragte Taylor.

„Es geht um einen gewissen Marc Larue“, erklärte ich und achtete dabei genau auf sein Gesicht, das allerdings völlig unbewegt blieb. „Den französischen Schauspieler... Er wurde in seinem Londoner Hotelzimmer ermordet aufgefunden. Und Ihre Telefonnummer hatte er an die Wand geschrieben, Mister Taylor.“

Er zog die linke Augenbraue hoch und meinte dann: „Ich glaube nicht, dass Sie von Scotland Yard sind, Miss Vanhelsing.“

„Habe ich das behauptet?“

„Was ist Ihr Interesse an diesem Schauspieler?“

„Ich bin von den LONDON EXPRESS NEWS.“

„Ah.“ Ein charmantes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er hatte das sehr geschickt gemacht. Anstatt, dass ich jetzt etwas über ihn wusste, hatte er den Spieß einfach umgedreht und mich ausgefragt.

Ich beschloss, dass mir das nicht noch einmal passieren würde.

Allerdings war das leichter gesagt als getan. Es war einfach zu verlockend, seinem Charme auf den Leim zu gehen...

„Was wollte Larue von Ihnen, Mister Taylor?“

„Erwarten Sie darauf wirklich eine Antwort?“

„Die Polizei wird Ihnen dieselbe Frage stellen“, gab ich zu bedenken.

„Das ist anzunehmen.“

„Larue war Ihr Klient“, schloss ich. „Alles andere macht keinen Sinn...“

Es klingelte. Jemand war an der Tür, und das gab Ashton Taylor die sicher nicht unwillkommene Gelegenheit, meinen Fragen auszuweichen. „Sie entschuldigen mich...“

Was blieb mir anderes übrig?

Taylor verließ das Büro und ging zur Tür.

Die markige, nicht gerade freundliche Stimme des Besuchers, erkannte ich sofort.

Es war Inspektor Craven von Scotland Yard!

Für mich bedeutete das, dass mein kleines Interview hier zu Ende war.

Als Craven hereinkam und mich sah, stutzte er. „Nanu, schon wieder Sie?“

„Ich bin ebenso überrascht.“

Cravens Augen blitzten und funkelten mich böse an. Sein Zeigefinger schnellte vor und erinnerte mich fast an den Lauf einer Pistole, als der Inspektor ihn auf mich richtete.

„Larues Hotelzimmer war versiegelt. Aber jemand hat das Siegel zerstört und ist dort eingedrungen. Es würde mich nicht wundern, wenn Sie auf diese Weise an Mister Taylors Telefonnummer gekommen wären!“

„Das ist eine Unterstellung!“

„Ach ja?“

Es war Ashton Taylor, der mir aus der Patsche half.

„Miss Vanhelsing ist privat hier“, erklärte er und nahm meine Hand. Sein Blick ruhte auf meinem Gesicht, und ein warmer Schauer lief mir über den Rücken. „Sie sehen selbst, dass ich im Moment wenig Zeit für Sie habe, Miss Vanhelsing, aber vielleicht möchten Sie heute Abend mit mir essen...“

„Nun, ich...“

„Ich werde Sie um acht am Gebäude der LONDON EXPRESS NEWS abholen. Einverstanden?“

Ich nickte lächelnd. „Einverstanden.“

Ich musste ihn schon deshalb unbedingt wiedersehen, weil ich sein Gesicht im Traum gesehen hatte.



9

„Wie war's?“, fragte mich Jim, als ich zurück in die Redaktion kam.

„Ein beeindruckender Mann, dieser Taylor“, murmelte ich vielleicht eine Spur zu versonnen. „Ich frage mich, wie alt er ist.“

„Zweiundvierzig oder dreiundvierzig. Die Angaben sind widersprüchlich.“

Ich sah Jim überrascht an.

Er grinste. „Ich habe einiges über ihn im Archiv gefunden. Er ließ sich vor fünf Jahren in London als Privatdetektiv nieder. Seine Vergangenheit liegt im Dunkeln. Angeblich soll er ein ehemaliger Fremdenlegionär und Ex-Geheimagent sein... Jedenfalls scheint er sich beruflich auf eine bestimmte Art Morde zu konzentrieren.“

Ich hob die Augenbrauen.

„Was meinst du damit?“

Jim zeigte mir ein paar Zeitungsartikel, in denen sein Name – zumeist nur beiläufig – erwähnt wurde.

„Es ging jedesmal um Sekten, Ritualmorde, Geheimkulte und dergleichen...“

Ich überflog kurz die Überschriften. Eine fiel mir besonders ins Auge:

SCOTLAND YARD: KEINE BEWEISE FÜR DIE EXISTENZ EINER TEMPELRITTER-SEKTE!

Mordfall Mary Barnes noch immer ungeklärt. Selbstmord nicht ausgeschlossen.

Ich überflog den Artikel. Es ging um eine junge Frau, die sich an die Polizei gewandt hatte, um vor einer mysteriösen Tempelritter-Sekte geschützt zu werden. Mary Barnes hatte behauptet, während eines Frankreich-Urlaubs in Marseille mit der Sekte in Kontakt gekommen zu sein. Jetzt wollte sie aussteigen und die Öffentlichkeit vor den gefährlichen Zielen dieser geheimen Vereinigung zu warnen.

Wenig später war sie tot!

Als dann herauskam, dass die junge Frau kurzzeitig in psychiatrischer Behandlung gewesen war, schien der Fall für die Behörden klar. Mary Barnes litt unter Verfolgungswahn.

„Was interessiert dich so an diesem Artikel?“, fragte Jim. „Dieser Taylor scheint dich ja mächtig beeindruckt zu haben. Da kann man ja richtig neidisch werden. Allerdings...“

Ich blickte auf. „Was?“

„Wenn du mich fragst – für mich ist das eine dubiose Gestalt.“

„Vielleicht werde ich heute Abend mehr erfahren“, murmelte ich.


10

Ashton war pünktlich. Er wartete auf dem Parkplatz auf mich und saß in einem sportlichen Cabriolet.

„Steigen Sie ein, Miss Vanhelsing!“

„Soll ich nicht besser hinter Ihnen herfahren?“

„Haben Sie Angst, dass ich Sie nicht zurückbringe?“

Wir fuhren durch den Londoner Abendverkehr.

Zwanzig Minuten später parkte er den Wagen in einer Seitenstraße. Er war ein vollendeter Gentleman und machte mir die Tür auf.

Mir gefiel seine Art. Dieser Mann strahlte Sicherheit und Erfahrung aus. Und das Geheimnisvolle, das ihn umgab, erhöhte mein Interesse an ihm noch.

Auch wenn ich es mir in diesem Augenblick noch nicht so recht eingestehen mochte, aber ich traf mich nicht nur mit ihm, weil ich hoffte, mehr über die Hintergründe des Larue-Falles zu erfahren.

Ich wollte den Mann kennenlernen, der Ashton Taylor war.

„Mögen Sie indische Küche?“, fragte er mich.

„Kulinarisch bin ich für alles offen.“

„Um so besser.“

Das Restaurant, in das er mich führte, gehörte zur gehobenen Klasse. Es war geschmackvoll eingerichtet, und ein Kellner führte uns zu Tisch und zündete die Kerzen darauf an.

„Mister Taylor“, begann ich, aber er unterbrach mich mit einer Handbewegung.

„Seien Sie nicht so förmlich. Nennen Sie mich Ashton!“

„Meinetwegen. Sagen Sie bitte Patricia zu mir!“

„Sie wollen wissen, was Larue von mir wollte? Ich sollte jemanden für ihn suchen. Wie Sie vielleicht gelesen haben, ist Larue seit einiger Zeit zum zweitenmal geschieden. Seit dem hatte er häufig wechselnde Liebschaften. Die letzte hieß Peggy Jones.“

„Eine Engländerin?“

„Ja. Sie ist verschwunden. Aus dem Grund ist Larue übrigens nach London gekommen.“

„Und? Haben Sie irgendeine Spur von dieser Peggy gefunden, Ashton?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, bislang nicht. Ich stand allerdings auch erst am Anfang meiner Recherchen.“

Er nahm meine Hand.

„Wissen Sie, es ist ein so schöner Abend, Patricia. Wollen wir uns da wirklich nur über so unerfreuliche Dinge unterhalten wie ermordete Schauspieler und ihre verschwundenen Geliebten?“

Der Kellner kam und brachte den Wein.

Es war ein edler Tropfen.

Wir stießen an.

„Auf uns, Patricia!“

„Meinetwegen.“

Wir tranken. Der Wein schmeckte sehr süß.

„Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie eine sehr attraktive Frau sind, Patricia?“

„Jedenfalls nicht so charmant wie Sie...“, erwiderte ich etwas verlegen. „Ich möchte noch einmal auf Larue zurückkommen“, sagte ich dann. „Er hatte eine Tätowierung auf der Brust.“

„Schauspieler sind manchmal etwas exzentrisch. Das ist doch bekannt.“

„Es war ein achspitziges Kreuz. Sie wissen, was das für ein Zeichen ist. Oder muss ich erst den Namen Mary Barnes erwähnen, um Ihr Erinnerungsvermögen anzuregen, Ashton?“

Es war das erste Mal, dass ich so etwas wie Verwunderung in seinem Gesicht sah.

„Alle Achtung“, meinte er anerkennend. „Wie es scheint, habe ich Sie unterschätzt. Das achtspitzige Kreuz ist das Zeichen des Templer-Ordens...“

„...von dem manche glauben, dass er bis heute, über all die Jahrhunderte hinweg im Verborgenen existiert.“

„Spekulationen“, erwiderte Ashton kühl.

„Mary Barnes starb durch diese Leute, Larue ist ebenfalls tot... Und ich nehme an, dass Sie mehr darüber wissen, Ashton.“

„Lassen Sie die Finger von der Sache, Patricia!“, sagte er plötzlich und dabei hatte seine so warm klingende Stimme mit einem Mal einen harten, metallischen Klang, der keinen Widerspruch duldete. „Sie verrennen sich in eine wilde Theorie!“

„Es ist mehr, Ashton, und das wissen Sie auch!“

„Wenn es wirklich mehr als nur eine Theorie wäre, Patricia, dann wäre dies um so mehr ein Grund für Sie, die Finger davon zu lassen, wenn...“

„...wenn ich ich nicht zum Schweigen gebracht werden will? Für immer?“

Er erwiderte nichts darauf.

Aber unsere Blicke ruhten aufeinander, und ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als zu wissen, was hinter seinen grauen Augen vor sich ging.

Augen sind Fenster der Seele, so sagt man. Aber was die grauen Augen von Ashton Taylor anging, hatte ich nichts weiter als ein einziges großes Geheimnis vor mir...

„Hören Sie, Patricia“, sagte er dann in einem versöhnlichen Tonfall. „Ich mag Sie. Und genau aus diesem Grund werde ich Ihnen in dieser Sache nicht weiterhelfen. Es ist zu Ihrem Besten!“

„Werden Sie diese Peggy Jones weiterhin suchen?“

„Mein Auftraggeber ist tot.“

Eine konkrete Antwort auf meine Frage war das nicht, die blieb er mir schuldig.

Trotzdem wurde es ein wundervoller Abend. Und je länger ich in Ashtons Nähe war, desto mehr nahm mich dieser Mann mit seiner Art gefangen.

Es war bereits dunkel, als wir zu Ashtons Wagen zurückkehrten. Er hatte sanft den Arm um meine Schultern gelegt, während wir die dunkle Straße entlanggingen.

„Werden Sie jetzt noch arbeiten, wenn ich Sie zurück zur Redaktion der EXPRESS NEWS fahre?“

„Nein, ich glaube nicht. Aber...“

Er hob die Augenbrauen, während er mir die Wagentür öffnete.

„Aber was?“, hakte er nach.

Ich stand ziemlich dicht bei ihm. Unsere Blicke trafen sich.

Und im nächsten Moment auch unsere Lippen.

Es war erst ein etwas schüchterner, dann ein leidenschaftlicher Kuss voller Gefühl und Verlangen.

Die Knie drohten unter mir nachzugeben, und es schien eine kleine, wundervolle Ewigkeit zu dauern, bis sich unsere Lippen wieder voneinander lösten.

„Vielleicht bringst du mich ja gar nicht zur Redaktion“, hauchte ich etwas außer Atem.

„Sondern?“

„Nun, es könnte ja sein, dass du mich noch auf eine Tasse Kaffee zu dir nach Hause einlädst. Ich würde jedenfalls nicht nein sagen...“



11

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, begrüßte mich Tante Lizzy als ich nach Hause kam. Eigentlich hatte ich gedacht, ich sei sehr leise gewesen. Bevor ich die Treppe hinaufging, von der ich wusste, dass sie knarrte, hatte ich mir extra die Schuhe ausgezogen.

Aber Tante Lizzy schien exzellente Ohren zu haben.

„Ich weiß, wie spät es ist, Tante Lizzy.“

„Du kannst mir nicht erzählen, dass das jetzt etwas mit deinem Job zu tun hat...“

„Ja und nein.“

Wir gingen zusammen ins Kaminzimmer, wo sie auf mich gewartet hatte, und ich ließ mich in einen Sessel fallen. Ich war müde, im Grunde war es ja schon früher Morgen.

„Du hättest mich wenigstens anrufen können“, tadelte mich Tante Lizzy.

Sie hatte immer noch nicht so recht begriffen, dass ich kein kleines Mädchen mehr war. Doch im Grunde hatte ich auch gar nichts gegen ihre Fürsorge.

Ich gähnte ungeniert. Und dann eröffnete ich ihr: „Ich habe einen faszinierenden Mann kennengelernt, Tante Lizzy!“

Sie seufzte.

„Das hätte ich mir ja denken können.“

„Er heißt Ashton Taylor. Und sein Gesicht... Es ist das Gesicht, das ich im Traum gesehen habe!“

Tante Lizzy war völlig entgeistert. Mit weit aufgerissenen Augen saß sie mir gegenüber und schüttelte dann stumm den Kopf.

Als sie sich schließlich gefasst hatte, beschwor sie mich geradezu, mich von diesem Mann fernzuhalten.

„Dein Traum war eine Warnung, Patti!“

„Ach, Tante Lizzy. Wenn ich in dem Traum etwas über meine Zukunft gesehen habe, dann ist doch gar nicht gesagt, dass Ashton darin eine negative Rolle spielt.“

„Patti, pass auf dich auf!“

„Natürlich.“

Ich hatte jetzt einfach keine Lust, mich länger mit ihr zu unterhalten. Die Müdigkeit war zu groß.

Doch erholsamen Schlaf fand ich in dieser Nacht nicht.

Mich quälte erneut der Alptraum, der mich schon eine ganze Weile in mehr oder minder regelmäßigen Abständen heimsuchte.

Wieder war ich angekettet und stand einem Tempelritter in voller Rüstung und mit heruntergelassenem Visier gegenüber. Und obwohl ich den Ablauf des Traumes doch inzwischen so genau kannte, empfand ich alles als völlig real.

Der Ritter holte zu seinem Schlag aus und dann...

Ashtons Gesicht!

Ich erwachte und fuhr hoch. Kerzengerade saß ich im Bett und zitterte am ganzen Körper. Tante Lizzy hat recht, sagte ich mir. Dieser Traum hat etwas zu bedeuten...

Aber was er über Ashton aussagte, das war mir noch nicht so recht klar. Was hatte er mit dem finsteren Ritter zu tun?

War es am Ende gar sein Gesicht, das unter dem heruntergelassenen Visier steckte?

Der Gedanke traf mich wie ein Schlag vor den Kopf.

Was, wenn Ashton selbst in diesen rätselhaften Mord verwickelt war?

Ich versuchte, diesen furchtbaren Gedanken zu verscheuchen, aber es ergab durchaus eine Sinn. Daran konnte ich einfach nicht vorbeigehen.



12

Am nächsten Morgen saßen Tante Lizzy und ich beim Frühstück zusammen. Ich erzählte ihr von den Mordfällen Larue und Mary Barnes. Natürlich ließ ich nicht unerwähnt, dass da ein Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Templer-Orden bestehen konnte.

„Ich muss alles darüber wissen“, sagte ich. „Hältst du es wirklich für möglich, dass ein solcher Orden über Jahrhunderte hinweg existiert hat?“

„Wenn, dann würde das nichts Gutes bedeuten!“, meinte Tante Lizzy düster.

„Was meinst du damit?“

„Die Templer wurden grausam verfolgt, mein Kind. Sie hätten allen Grund, sich zu rächen für das, was ihnen angetan wurde...“

Über diese Seite der Medaille hatte ich noch gar nicht nachgedacht.

Ich führte meine Teetasse zum Mund und hörte Tante Lizzy zögernd fragen: „Wie ernst ist das mit diesem Ashton Taylor und dir?“

„Wie meinst du das?“

Ich wollte ihr jetzt nicht darauf antworten. Allerdings war das auch gar nicht nötig, denn Tante Lizzy kannte mich gut genug, um manchmal meine geheimsten Gedanken lesen zu können - aber das hatte dann wirklich nichts mit übersinnlichen Fähigkeiten zu tun!

„Du hast dich wirklich verliebt, nicht wahr?“, hörte ich sie sagen. Es war eher eine Feststellung.

„Schon möglich“, murmelte ich abwesend.

Tante Lizzy hatte genau ins Schwarze getroffen.



13

In den nächsten zwei Tagen sah ich Ashton nicht. Ich versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, hatte aber jedesmal nur den Anrufbeantworter am Apparat.

Was den Mord an Larue anlangte, so kamen weder Scotland Yard noch Jim und ich in der Sache sehr viel weiter. Wir hatten einzelne Teile eines Puzzles, aber ein Gesamtbild war noch nicht zu erkennen.

Am Abend wurden Jim und ich auf eine VIP-Party geschickt. Ein paar schöne Bilder und ein flott geschriebener Text darüber, was die Reichen und Schönen essen und trinken – das war schnell erledigt.

Jim blamierte sich und unsere Zeitung natürlich, weil er allzu unverschämt bei den Kaviarhäppchen zulangte.

Immerhin machte er hervorragende Bilder. Was seine Arbeit anging, war er wirklich ein Profi.

Marc Larues Tod war natürlich ein Gesprächsthema. Ich traf unter anderem den Produzenten wieder, der mir schon in der Hotelhalle aufgefallen war.

Er hieß Craig Donovan, kam aus New York und war in ein angeregtes Gespräch mit einem grauhaarigen, hageren Mann vertieft, der mit französischem Akzent sprach.

An seinem Arm hing irgendein Starlet, dessen Gesicht ich schon mal auf einer Illustrierten gesehen zu haben glaubte.

Sie hatte offenbar ein bisschen zu sehr dem Sekt zugesprochen. Anders war ihr dauerndes Kichern kaum zu erklären.

Die Männer ergingen sich derweil in den wildesten Spekulationen über den Mord an Larue. Von der Mafia bis zu unseriösen Immobiliengeschäften war alles dabei – aber nichts, was meiner Ansicht nach Hand und Fuß hatte oder auf wirklichen Informationen beruhte.

Ich versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben und meinte: „Soweit ich gehört habe, war Marc Larue Mitglied in einer obskuren Geheimsekte...“

Der grauhaarige Franzose hob die Augenbrauen.

Und Craig Donovan sagte: „Davon weiß ich nichts. Es sei denn, Sie meinen mit Geheimsekte die Schauspielergewerkschaft!“

Sie fanden das alle sehr witzig und lachten schallend.



14

Am nächsten Morgen rief mich Swann zu sich. Seine Laune war nicht sonderlich gut, aber dass das nicht unbedingt etwas mit mir zu tun haben musste, das hatte ich inzwischen gelernt. Er war eben der Ansicht, dass er von allen Menschen, die die EXPRESS NEWS beschäftigten, der am meisten überlastete war und letztlich alles an ihm hängenblieb.

„Ich war mit Ihrem letzten Artikel nicht zufrieden“, eröffnete er mir ziemlich unverblümt.

Ich war etwas überrascht, schließlich hatte ich den Artikel noch einmal in der Morgenausgabe gelesen – und Swann hatte kaum darin herumgestrichen.

„Aber Sie haben ihn doch gedruckt!“

Er sah mich an und schien meine Verblüffung einen Moment sogar zu genießen. Dann sagte er. „Natürlich habe ich ihn gedruckt. Was ich meine, ist, dass ich von Ihnen schon besseres gelesen habe! Versuchen Sie Ihr Niveau zu halten und nicht in Routine abzurutschen wie die meisten irgendwann...“

„Ich werde mir Mühe geben.“

„Das wollte ich hören. Ich weiß, dass Sie es packen werden. Sie haben das Zeug dazu.“

Ein solches Kompliment von Michael T. Swann! Das war schon fast ein Grund, sich diesen Tag im Kalender rot anzustreichen.

„Mister Field wartet übrigens auf Sie“, eröffnete Swann dann. „In der Themse wurde eine Frauenleiche gefunden, und Sie beide sollen dorthin fahren. Die Polizei ist noch bei der Arbeit.“

Ich war verblüfft.

„Woher...?“

Swann grinste und beugte sich halb über den Tisch.

„Jim Field hat ein ganz besonderes Hobby“, meinte er dann. „Er hört ab und zu den Polizeifunk ab.“

„Ist das nicht illegal?“

„Sicher ist es das. Aber Sie kennen doch Field!“

Natürlich kannte ich ihn. Und irgendwie passte es zu ihm.

Bevor ich zu Jim in den Wagen stieg, versuchte ich noch einmal Ashton anzurufen. Diesmal sprach ich ihm eine Nachricht auf den Anrufbeantworter.

„Hier ist Patricia. Ashton, warum meldest du dich nicht? Ich muss dich wiedersehen...“

Es war ein seltsames, unbehagliches Gefühl, das sich in meiner Magengegend bemerkbar machte, als ich den Hörer aufgelegt hatte. In Gedanken sah ich sein Gesicht vor mir.

So, wie ich es im Traum gesehen hatte. Und so, wie er mich angeschaut hatte, nachdem wir uns geküsst hatten...

Versuch einen klaren Kopf zu bewahren!, versuchte ich mir selbst zu sagen.

Trotz allem!



15

Die Tote war in der Nähe einer alten Industrieanlage ans Ufer geschwemmt worden. Ein paar Jugendliche, die hier ihre Motorräder reparierten, hatten die Frau gefunden.

Ganz in der Nähe stand ein brandneues Einkaufszentrum. Dies war Sanierungsgebiet. Die alten Industrien wurden abgerissen und machten nach und nach Geschäften Platz.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2021
ISBN (ePUB)
9783738954906
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juli)
Schlagworte
alte flüche geheimnisse geheimnis thriller

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Alte Flüche, dunkle Geheimnisse: 7 Geheimnis Thriller