Zusammenfassung
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Die Aktivierung des Kaio-Gehirns in einem Roboter zeigt unerwartete und unerwünschte Folgen. Das manipulierte Gehirn treibt in eine Art Wahnsinn hinein, getrieben von dem einzigen Wunsch Lennox zu töten. Die de Villa-Familie versucht mit einer Täuschung den Roboter aufzuhalten, was zu chaotischen Zuständen auf dem Mars führt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Table of Contents
Lennox und das Erbe der Alten
Das Zeitalter des Kometen #34
Teil 3 von 3
von Jo Zybell
Der Umfang dieses Buchs entspricht 131 Taschenbuchseiten.
Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Die Aktivierung des Kaio-Gehirns in einem Roboter zeigt unerwartete und unerwünschte Folgen. Das manipulierte Gehirn treibt in eine Art Wahnsinn hinein, getrieben von dem einzigen Wunsch Lennox zu töten. Die de Villa-Familie versucht mit einer Täuschung den Roboter aufzuhalten, was zu chaotischen Zuständen auf dem Mars führt.
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Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
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© COVER LUDGER OTTEN
© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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1
»Macht ihm ein Bett aus Laub und Farn.« Vogler deutete auf das Wurzelgeflecht eines Korallenbaumes. »Hier, unter meinem Baum.«
»Cchia, cchia …« Der Siebentöner auf seiner linken Schulter spreizte die Schwingen und krächzte. »Meinbaum, meinbaum …«
Vogler hockte auf der letzten Stufe seiner Wendelstiege und sah zu, wie sie altes Laub, Gras und Farn herbeibrachten und die Kuhle zwischen zwei überirdisch verlaufenden Wurzelsträngen damit auspolsterten. »Gut so«, sagte er irgendwann. »Legt ihn hinein.«
Vier Männer seiner Sippe bückten sich zu dem Fremden hinunter. Es widerstrebte ihnen sichtlich, den Fiebernden zu berühren. »Er stinkt schon«, sagte der jüngste von ihnen.
»Er wird so oder so sterben.«
»So odaso!«, krächzte der Siebentöner.
»Legt ihn hinein, habe ich gesagt.« Vogler erhob seine Stimme nicht, aber seine Handbewegung war unmissverständlich: Der Baumsprecher duldete keinen Widerspruch.
»Inein, inein!«
»Halt den Schnabel, Faust«, sagte Vogler leise. Der Siebentöner gurrte beleidigt, schwang sich von der Schulter seines Gefährten und landete auf einem der Wurzelarme neben der Kuhle.
Die Männer packten den Fremden an Armen und Beinen und hievten ihn in die Kuhle. Der Mann stöhnte laut auf. Sein Gesicht war blau und grün geschwollen, Blutkrusten verklebten seinen Mund und seine Nase, und seine Kleider hingen ihm in schmutzigen Fetzen vom Leib. Ein Städter. Ein ranghoher Städter vermutlich, jedenfalls glaubte Vogler das an der Art der Kleidung ablesen zu können.
»Dreht ihn auf die Seite.« Die Männer gehorchten. Ein fauliger, metallener Geruch stieg jetzt auch Vogler in die Nase.
Der Siebentöner breitete die Schwingen aus flatterte auf den untersten Ast eines jungen Weißholzes.
Ein Zucken und Beben ging durch den Körper des Fremden.
Auf dem Rückenstoff seines Anzugs prangte ein roter Stern; an den Rändern, über dem Gesäß und unter den Schulterblättern, gelblich und rosa, im Inneren tiefrot, und im Zentrum ein schwarzer, fingerlanger Strich.
Der jüngste der vier Männer zog ein langes Messer mit einem kurzen schwarzen Griff aus seiner Basttasche. »Das hier steckte neben der Wirbelsäule.« Mit Zeigefinger und Daumen seiner Rechten zeigte der Junge etwa sechs Zentimeter an. Er hieß übrigens Uranus. Vogler hatte ihn im letzten Sommer als Schüler zurückgewiesen. Deine Zeit ist noch nicht da, hatte er ihm damals beschieden. Wortlos streckte der Baumsprecher den Arm aus. Uranus überließ ihm die Klinge. »Zieht ihm die schmutzigen Lumpen aus, reinigt seine Wunde und gebt ihm zu trinken.« Vogler winkte den Umstehenden.
Zwei Frauen fühlten sich angesprochen. Sie gingen vor dem Verwundeten in die Hocke. Beide genossen einen guten Ruf als Heilerinnen, die alte Wega sogar weit über die Waldhänge des Elysium Mons hinaus.
Während die einen den fiebernden Städter aus seinen Kleidern schnitten und schälten und die anderen Wasser herbeischafften und ihn zu waschen und zu tränken begannen, drehte Vogler das Messer zwischen den Fingern. Angelockt durch den Reflex eines Lichtstrahls auf der Klinge, flog Faust herbei und ließ sich auf dem Knie seines menschlichen Gefährten nieder.
Vogler seufzte leise, während er das Messer betrachtete.
Baumsprecher des Waldvolkes benutzten solche Messer; auch er besaß eines dieser Art. Die Schmiede stellten es ausschließlich für sie und die Heiler her; um Laub, Kräuter und Blüten zu ernten oder um Parasiten und Symbionten aus den Baumkronen zu schneiden. Auf dem schwarzen Griff war ein Zeichen eingeschnitten, ein kunstvoll gestaltetes W.
»Es muss nicht sein, dass einer von uns es getan hat«, murmelte Vogler bei sich selbst. »Vielleicht hat es jemand gestohlen und dann missbraucht …«
»Villeikt, villeikt …« Der Siebentöner neigte den langen Schädel zur Seite. Es sah aus, als würde er zweifeln, und Vogler, der die Wahrheit längst ahnte, stimmte ihm innerlich zu.
Er stand auf, der Siebentöner schwang sich zurück in das Weißholz. Vogler tat vier Schritte und ging vor dem Städter in die Hocke. Während seine Gefährten dem Verletzten die Wunden wuschen, betrachtete er ihn genauer. Der Mann hatte kurzes graues Haar. Sein schweißnasses Gesicht war breit, seine Muskulatur sehr ausgeprägt – vor allem an den Beinen, den Armen und im Brust- und Nackenbereich. Überhaupt kam er dem Baumsprecher ungewöhnlich kräftig gebaut vor.
Voglers Blick fiel auf das linke Handgelenk des Städters. Ein breites schwarzes Armband hielt dort eine große flache Scheibe fest. »Gebt mir das Ding von seinem Arm.«
Sie trockneten den Fremden ab, legten einen Verband aus dem Brei gewisser Wurzeln über seine eiternde Stichwunde am Rücken und klebten Korallenbaumblätter darüber. Behutsam drehten sie ihn auf den Rücken. Dann erst löste Uranus das Armband und reichte es seinem Baumsprecher.
In diesem Moment schlug der Verwundete einen Atemzug lang die Augen auf. Er schielte ein wenig. Schwer zu sagen, ob er seine Umgebung überhaupt wahrnahm.
Vogler stand auf, ging zurück zu seinem Baum, setzte sich wieder auf eine der unteren Wendelstufen und widmete sich dem Armband und der flachen Scheibe daran.
Vogler wusste, dass er einen PAC in Händen hielt, einen persönlichen Armbandcomputer. Viele Städter trugen so ein Ding mit sich herum. Vogler war auch im Bilde über den Nutzen eines solchen Dings: miteinander sprechen, obwohl man fern voneinander war; Musik hören, obwohl keine Musikanten in unmittelbarer Nähe aufspielten; Nachrichten hören, von einem Boten, der einem nicht gegenübersaß; Erinnerungen, Adressen, Botschaften schreiben; und so weiter …
Auf der Rückseite des Armbands war ein Name eingeprägt.
Carter Loy Tsuyoshi, las Vogler. Er zog die Brauen hoch und atmete tief ein. Die vom Hause Tsuyoshi galten als die einflussreichsten Städter. Seit ein paar Tagen tönte der Wald nur so vom Namen Tsuyoshi; vor allem vom Namen dieses Tsuyoshis.
»Carter Loy Tsuyoshi«, murmelte Vogler. Seine Ahnungen verdichteten sich zu einer Gewissheit, die ihm das Herz zusammenschnürte.
»Wir sind soweit«, sagte die alte Wega. Der verwundete Städter lag gewaschen, in eine Decke gehüllt und mit gereinigten Wunden in der Kuhle zwischen den Wurzelsträngen. Er war ohne Bewusstsein, und er glühte. »Ich werde ihm ein wenig von meiner Medizin brauen, vielleicht überlebt er das Wundfieber und den Blutverlust dann.«
»Nein«, sagte Vogler. »Das wirst du nicht tun.«
»Nein, nein«, krächzte Faust.
»Dann wird er sterben«, sagte Uranus.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.« Vogler wiegte das Messer in den Händen. »Kocht Wasser mit ein paar Weißholzblättern ab und tut ein wenig Wurzelpulver hinein. Davon könnt ihr ihm zu trinken geben. Sonst nichts.«
»Was redest du da, Baumsprecher?«, sagte die alte Wega.
»Unsere Art ist es, Leben zu erhalten, und nicht, es verrinnen zu lassen.«
»Unsere Art ist es auch, dem Leben untertan zu sein und zu lauschen, was es will.« Mit dem Messer deutete Vogler auf den Bewusstlosen. »Dieser da hat an der Ordnung des Lebens gerüttelt und sich schwer an ihr versündigt. Er hat getötet. Menschen und Bäume.«
Ein Raunen ging durch die Menge der Umstehenden. Die alte Wega sperrte ihren zahnlosen Mund auf, Uranus lauerte aus schmalen Augen. Doch keiner zweifelte, denn alle wussten, wie gut Vogler die Sprache der Buschgeller, Nektarsauger und Siebentöner beherrschte. Seine gefiederten Kundschafter brachten ihm täglich neue Nachrichten aus den Tiefen des Waldes; hin und wieder sogar aus den Städten.
»Er hat Menschen unseres Volkes und ihre Korallenbäume getötet.« Der Baumsprecher stand auf und hob die Klinge.
»Was aber noch unbegreiflicher ist: Seine wohl tödliche Wunde schlug ihm einer von uns. Ein Baumsprecher.«
Rufe des Entsetzens wurden laut. Einige wichen erschrocken zurück, andere pressten die Hände an die Wangen, manche begannen zu weinen.
»Wie heißt der Frevler?« Mit geschwollener Brust und grimmiger Miene stand der junge Uranus zwischen dem Verwundeten und den Sippenangehörigen. »Er muss sich unter dem Sühnebaum verantworten! Wie heißt er?«
Vogler musterte ihn solange, bis der Junge den Blick senkte.
»Es reicht, wenn ich es ertragen muss, seinen Namen zu kennen.«
»Eatrragen, eatrragen«, krächzte der Siebentöner.
»Kampf oder Versöhnung«, sagte Vogler. »Das ist jetzt die Frage! Hört meine Weissagung!« Mit dem Messer zeigte er auf den Schwerverletzten. »Wenn der da überlebt, wird Frieden sein. Wenn er stirbt, wird es den zweiten Bruderkrieg geben. Also gebt ihm zu trinken und sonst nichts, damit das Leben selbst sein Urteil fällen kann.«
2
Die Transportkapsel verursachte nicht das geringste Fahrgeräusch. Timothy Lennox fröstelte. Der Eindruck, in ein Loch von kosmischen Ausmaßen gestürzt zu sein und bald im Nichts zu landen, beschlich ihn. Unheimlich!
Er sah die fragenden Blicke der drei Waldmänner, er spürte den neugierigen Blick Kassadras im Nacken. Sie gingen ihm auf die Nerven mit ihren Fragen. Er brauchte Zeit und Ruhe, um zu verarbeiten, was er da unter dem Marsboden am Seeufer gesehen hatte. Die Gewölbe, die Tunnelröhren, die Inschrift in der Zentralkuppelhalle – der Kopf schwirrte ihm von all diesen Eindrücken; und von den Gedanken, die sie bei ihm aufgewirbelt hatten.
»Dieser Lottac also hat Ihnen die Schrift der Alten beigebracht«, drängte Kassadra. »Woher kannte er sie?«
»Er heißt Lotraque«, verbesserte Tim, ohne jedoch auf ihre Frage einzugehen. Wollte er seinen Begleitern denn wirklich schon offenbaren, was er bislang nur vermuten konnte? Hatte er nicht schon zu viel preisgegeben; ihnen, die ihn ausspioniert, bewacht und entführt hatten?
Er stellte die Sauerstoffzufuhr ab und nahm die Atemmaske von der Nase. Kapsel Nummer drei ging zur Neige.
»Was war das für ein Freund?« Kassadra Tsuyoshi saß drei Stufen über Lennox auf der asymmetrisch geschwungenen Armlehne eines Sessels, der für menschliche Körpermaße zu niedrig, zu eng und zu unbequem war – auch dies ein Indiz für Tims These. Sie und die drei Waldmänner wollten von ihm wissen, wieso er die Inschrift in der Zentralkuppel der alten Wohnanlage hatte lesen können. »Und warum stand er Ihnen so nahe wie nie jemand zuvor oder danach? Waren Sie mit ihm verheiratet?«
Lennox stutzte und blickte zu Windtänzer und seinen Schülern, als wollte er sie auffordern, ihm beim Verständnis der Frage auf die Sprünge zu helfen. Dann begriff er und lachte laut auf.
»Nein, nein! Ich stehe nicht auf Männer, falls Sie das meinten …«
Und plötzlich stand ihm seine Geliebte vor Augen, seine wilde Marrela. Von der er nicht einmal wusste, ob sie noch lebte – oder noch lange zu leben hatte. Augenblicklich verging ihm das Lachen und er senkte den Kopf. »Nein. Er ist – oder war – einfach ein sehr guter Freund.« Schnell hatte der Mann aus der Vergangenheit sich wieder unter Kontrolle.
»War?«, fragte Schwarzstein. »Ist er tot?«
Lennox zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.« Er hockte auf den Stufen zum Instrumentenpult. Vor den schmalen, aber langen Fensterovalen an den Längsseiten der Kabine war es einfach nur schwarz. Schwer zu sagen, mit welcher Geschwindigkeit die Magnetschwebezelle unterwegs war. »Ein paar Tage nach unserem Start von der Erde haben außerirdische Invasoren Hunderte von Nuklearbomben dort gezündet.« Er schüttelte den Kopf. Allein die Erinnerung machte ihn fassungslos. »Als wir mit der PHOBOS vorbeiflogen, sah ich Rauchpilze in der Atmosphäre, und Feuersbrünste unvorstellbaren Ausmaßes in vielen wolkenfreien Regionen. Ich muss also mit allem rechnen, was die Menschen betrifft, die ich liebe.«
»Furchtbar«, flüsterte Aquarius. Anders als sein temperamentvoller Gefährte ergriff er selten das Wort. Meist beobachtete er nur still. »Das ist so furchtbar …« Der Baumsprecher-Lehrling mit dem langen blauen Haar verbarg das Gesicht in den Händen.
Anfangs hatte Timothy den kaum zwanzigjährigen Jungen für eine scheue Mimose ohne jedes Selbstvertrauen gehalten.
Allmählich jedoch dämmerte ihm, dass Aquarius ein ungewöhnlich begabter Mensch war, dessen wachem Geist kaum etwas entging.
»Nach unserem Start von der Erde?«, fragte Schwarzstein.
»Bist du also mit deinem Freund zum Mond geflogen?«
»Mit Lotraque? Nein. Der hätte wohl niemals freiwillig ein Raumschiff betreten. Eine Frau namens Naoki Tsuyoshi war bei mir.«
Der Name weckte sogar die Neugier des schwermütigen Windtänzers. Der Baumsprecher saß zwischen seinen Schülern.
Seit ihn vor zwei Tagen die Nachricht vom Tod seiner Lieblingsfrau und der Vernichtung seiner Wohnbäume wie Hagelschlag aus wolkenlosem Himmel getroffen hatte, war er nicht mehr der Alte. Er redete kaum noch und aß überhaupt nichts mehr. Jetzt aber, als der Name Tsuyoshi fiel, hob er den schmalen langen Kopf und richtete seinen müden Blick auf den Erdmann.
»In Elysium geht man davon aus, dass diese Frau eine irdische Verwandte der Gründerin Akina Tsuyoshi war«, sagte Kassadra.
»Dann müsste sie ja über zweihundertfünfzig Jahre alt sein.« Schwarzstein dachte in Marsjahren. »Oder ist sie mit dir durch den Zeitriss gestürzt, Tinnox?«
»Nein. Naoki Tsuyoshi hat ihren Körper im Laufe der Jahrhunderte mit Hilfe von elektronischen und technischen Ersatzteilen erneuert. Sie ist ein Cyborg, falls euch das etwas sagt.« Es sagte ihnen nichts, er las es in ihren Mienen. »Ein Kunstmensch«, erklärte er. »Halb Lebewesen, halb Maschine.«
»Was ist mit ihr?«, fragte Windtänzer. Der Baumsprecher sprach mit hohler Stimme.
»Die gigantische Explosion auf der Erde setzte einen Elektromagnetischen Impuls frei …« Schwarzstein hob fragend seine weißen Brauen, und Tim setzte neu an: »Stellt euch … eine Art unsichtbares Messer vor, mit zahllosen Klingen, das alle elektrischen Leitungen zerschneidet. Was Elektrizität ist, wisst ihr doch?«
Obwohl sie nicht wirklich zu begreifen schienen, nickte Aquarius eifrig. Über Kassadras Miene flog ein spöttisches Lächeln.
»Nun ja«, fuhr Tim fort. »Diese unsichtbaren Klingen haben auch Naoki Tsuyoshi erwischt.« Er zuckte mit den Schultern.
»Im Prinzip war sie zwar unsterblich, aber all ihre elektronischen Körperteile waren nun mal darauf angewiesen, dass Strom fließt …«
»Was ist eine Nuklearbombe?« Die Frage brachte Schwarzstein einen missbilligenden Blick seines Lehrers ein.
Bevor Lennox antworten konnte, sprang Kassadra auf. »Dafür ist später noch genug Zeit. Im Moment brennen uns andere Fragen unter den Nägeln. Wir waren bei Ihrem guten Freund stehengeblieben, Tinnox. Wer war er, und woher kannte er die Schriftzeichen der Alten? Sie sind uns die Antwort noch schuldig!«
»Schuldig bin ich Ihnen gar nichts«, gab Tim zurück. »Schon vergessen? Ich bin derjenige, der gegen seinen Willen auf den Mars verschleppt, angefeindet, bedroht und entführt wurde!«
Sie stieg die drei Stufen zu ihm hinunter und baute sich vor ihm auf. »Ach! Bin ich nicht genauso entführt worden von diesen … Baumleuten?« Es war nicht schwer zu erkennen, dass ihr ein ganz anderer Ausdruck auf den Lippen gelegen hatte.
»Und meinen Sie etwa, ich hätte mich darum gerissen, Ihr Kindermädchen zu spielen? Alles lief prima in meinem Leben, bis Sie aufgetaucht sind, Sie … Barbar!«
»Wer ist hier der Barbar? Wollen Sie wissen, was ich von Ihrer angeblich so blitzsauberen marsianischen Gesellschaft halte?«
»Sie … sie …« Kassadra rang nach Worten. Auf ihrem geröteten Gesicht waren die dunklen Pigmentstreifen kaum noch auszumachen.
»Bitte«, unterbrach Aquarius‘ Stimme den Disput.
Tim und Kassadra fuhren zu ihm herum. »Was?«, fauchten beide wie aus einem Mund.
Der Junge neigte den Kopf in Tims Richtung. »Ich spüre, dass du noch nicht so weit bist, uns alles zu offenbaren, Tinnox. Du bist dir selbst nicht sicher, was die Wahrheit ist und welche Folgen sie haben wird. Deshalb schlage ich vor, wir fahren nach Utopia, und du siehst dir in Ruhe die Grotte des Strahls und die Anlagen der Alten dort an. Dann erst entscheidest du, was du uns sagen willst.«
»Das ist …«, begann Kassadra, verstummte aber gleich wieder, als Windtänzer seinen Arm und Zeigefinger nach ihr ausstreckte.
»Und du fährst dorthin, weil du unsere Gefangene bist. Du hast gar keine andere Wahl.« Er legte eine kurze Pause ein.
»Wir machen es so, wie Aquarius vorgeschlagen hat.«
Kassadras Augen verengten sich, über ihren hochstehenden Wangenknochen pulsierte die Kaumuskulatur. Der Zorn verwandelte ihr ebenmäßiges Puppengesicht in das einer anziehenden Frau. Tim Lennox registrierte es verwundert. Statt ihrer Wut freien Lauf zu lassen, sog sie die Luft geräuschvoll durch die Nase ein und drehte sich wieder zu Lennox um. »Wenn Sie tatsächlich die Schriftzeichen der Alten drauf haben, dann müssten Sie eigentlich auch die Anzeigen auf der Instrumentenkonsole dort oben lesen können.« Sie deutete zum Steuerpult hinauf.
»Dort gibt es die gleichen Schriftzeichen wie in der unterirdischen Stadt?« Der Mann aus der Vergangenheit sprang auf. Damit hatte er nicht gerechnet.
»Was dachten Sie denn? Die Instrumentenkonsole, diese Transportzelle, die ganze Bahnanlage wurden von denselben Intelligenzen erbaut!«
Zusammen mit Kassadra und Schwarzstein stieg Tim zum Steuerpult hinauf. Sie beugten sich über Leuchten, Sichtfelder und Schriftzüge.
»Tatsächlich! Die gleichen Zeichen wie in der Kuppelhalle!«
Lennox deutete auf eine Inschrift. »Das hier bedeutet ›Geschwindigkeit‹! Leider wird eine Maßeinheit angezeigt, die ich nicht umrechnen kann.« Er sah sich weiter um. »Aber hier … das heißt so viel wie ›Übersicht‹!« Er drückte drei Knöpfe, woraufhin ein Sichtfeld aufflammte, das sich zuvor unsichtbar in die Oberfläche der Konsole eingefügt hatte. Ein Astschema wurde dargestellt.
Kassadra sog überrascht die Luft ein. »Das sieht aus wie ein Streckennetz! Bei den Monden – es scheint den gesamten Planeten zu durchziehen!«
Timothy nickte. »Aber nur die Linie, auf der wir uns bewegen, ist blau dargestellt, sehen Sie? Alle anderen sind dunkelgrün und damit laut des Indexes inaktiv!«
Vielleicht staunte er selbst am meisten über seine Fähigkeit – fast mühelos konnte er die Zeichen und Zahlen lesen! Er wusste genau, wem er dieses Wissen zu verdanken hatte, dennoch kam es ihm vor, als wäre ein kleiner Magier in seinem Kopf erwacht.
»Der gelbe Punkt dort sind wir! Wir haben schon mehr als zwei Drittel der Gesamtstrecke zurückgelegt.«
Links und rechts des metallic-silbernen Sichtfeldes identifizierte er Zielwahltasten, eine Anzeige für die rasch schrumpfende Entfernung zur Zielstation, ein Tastfeld, um irgendwelche Video- oder Funkmodule zu aktivieren und ein weiteres für die Geschwindigkeitsregulierung und -kontrolle.
Er versuchte die Ziffern zu interpretieren; das dauerte, aber es gelang: Die Transportzelle glitt mit gerade mal sechzehn Prozent ihres Geschwindigkeitspotentials dahin! Der Mann von der Erde machte sich klar, dass sie sich durch ein Vakuum bewegte, also keinen Luftwiderstand zu überwinden hatte.
Wenn er Kassadra richtig verstanden hatte, auch keine Materialreibung, denn die elliptische Zelle fuhr nicht auf oder unter Schienen, sondern wurde durch eine Art Magnetfeld getragen, sodass sie an keiner Stelle mit den Wänden in Berührung kam.
»Unglaublich, einfach unglaublich«, flüsterte Kassadra. »Sie können die Zeichen entziffern, ich fasse es nicht! Unsere besten Sprachforscher haben sich daran die Zähne ausgebissen.«
»Ich begreife es ja selbst kaum.« Lennox hob den Blick – die Frau aus Elysium und die drei Männer aus dem Wald sahen ihn an. Aquarius skeptisch, Schwarzstein neugierig, Windtänzer ausdruckslos, und Kassadra halb bewundernd, halb zweifelnd.
Plötzlich schien der Erdmann interessant und mehr als nur ein grobschlächtiger Barbar für sie zu sein. Das amüsierte Tim Lennox direkt ein wenig.
»Was war das für ein Mann, der Ihnen das beigebracht hat? Reden Sie endlich, Tinnox!«
Im Überschwang der Gefühle war Tim bereit, ein weiteres Puzzlestück seiner These, die für ihn mehr und mehr zur Gewissheit wurde, zu enthüllen.
»Es klingt so unglaublich, dass Sie mich für verrückt halten werden«, sagte er, »aber Lotraque war kein Mensch. Er gehörte zu einem unterseeischen Volk, das sich Fischmenschen nannte.« Ein schwaches blaues Licht blinkte auf dem Sichtfeld. »Zeigen Sie mir die Grotte des Strahls und die Schriftzeichen dort. Wenn ich mir ganz sicher bin, erzähle ich Ihnen mehr darüber.« Das blaue Licht leuchtete intensiver. »Wir werden langsamer.«
»Wenn man sich der Endstation nähert, drosselt die Steuerungsautomatik die Geschwindigkeit«, sagte Kassadra. »In knapp zehn Minuten sind wir am Ziel.«
Die Transportzelle bremste weiter ab und stand schließlich still. Die Außenluke öffnete sich lautlos und wie von unsichtbarer Hand. Timothy Lennox setzte die Sauerstoffmaske auf und drehte die Zufuhr auf vierzig Prozent. Sie stiegen aus.
3
Geschwindigkeit: 580 km/h. Reibungskraft: null.
Geschwindigkeit: 551 km/h. Luftfeuchtigkeit: nicht messbar.
Geschwindigkeit: 535 km/h Reibungselektrizität: null.
Geschwindigkeit: 489 km/h. Zieldistanz: 204 km.
Ich bin keine Spinne. Ich habe acht Beine. Ich bin acht Beine. Ich bin eine Leichtmetalllegierung. Titan, Nickel, Stahl, Gold, Kohlefasern. Jedes meiner Beine ist mir bewusst. Es sind acht. Sie sind zusammengeklappt. Ihre mittleren Glieder klammern sich an der Unterkante des Gefährts fest.
Geschwindigkeit: 458 km/h. Zieldistanz: 182 km.
Ich muss nicht wissen, was für eine Art von Gefährt das ist.
Ich weiß, wer sich darin aufhält. Ich bin die mittleren Glieder meiner acht Beine. Ich bin mein Wissen um die vier im Gefährt.
Ich bin keine Spinne.
Geschwindigkeit: 437 km/h. Außentemperatur: 3° C.
Geschwindigkeit: 401 km/h. Reibungskraft: null.
Geschwindigkeit: 384 km/h …
Ich bin ein Tsuyoshi. Kerntemperatur: 19° C. Temperatur in der Peripherie: 7° C. Temperatur an der Außenhülle des Gefährts: 5° C. Vier Männer und eine Frau in dem Gefährt. Ich hasse sie. Innentemperatur des Gefährts: 20,6° C. Ich kann sie nicht sehen. Die flache Unterseite trennt uns.
Noch.
Ich kann die Schallwellen anpeilen, die sie verursachen.
Geschwindigkeit: 324 km/h. Sinkend.
Einer verursacht so gut wie keine Schwingungen, ein zweiter nur geringe: 214 hz. Aber dann: 495 hz? Wahrscheinlich die Frau. Und eine Stimme, eine vertraute – ich hasse dich, Timothy Lennox – um die 300 hz. Das könnte er sein, das muss er sein, das ist er. Ich hasse ihn, ich soll ihn vernichten, ich werde ihn vernichten.
(Falsch: Wir sollen ihn fangen und beim Rat abliefern.) Geschwindigkeit: 239 km/h. Rasch sinkend. Reibungskraft: null. Wer hat diese Vakuumröhre erdacht? Wie hat er sie gebaut? Zu welchem Zweck hat er sie gebaut?
Drei tragen Geräte an ihren Körpern. Eines ist ein Armbandcomputer. Zwei elektromagnetische Wellenmuster könnten von Outdoor-Anzügen stammen. Speichern, mit der Laserortung verknüpfen, Kontrolle, gespeichert und verknüpft.
Geschwindigkeit: 178 km/h. Rasch sinkend. Zieldistanz: 45 km.
Praktisch, so ein Körper: acht Beine, Leichtmetalllegierung, Titan, Nickel, Stahl, Gold, Kohlefasern; kann Bäume fällen, kann schwere Panzer knacken, kann im Vakuum existieren, kann Felsbrocken aus Felswänden sprengen, kann Timothy Lennox töten, kann ganze Wälder mit Laserstrahl roden. Praktisch, so ein Spinnenkörper.
Geschwindigkeit: 123 km/h. Sehr rasch sinkend.
Ich bin ein Tsuyoshi. Ich liebe mein Haus. Ich verehre den Rat.
(Wie kommen wir nur darauf?)
Meine Mutter hat mich operiert. Ich hasse den Mann von der Erde. Das Gesicht meiner Mutter über mir, und ich schloss die Augen. Ich hasse alle, die ihn unterstützen oder mit ihm sympathisieren. Ich öffne die Augen wieder und bin auf dem Mars und habe einen Spinnenkörper aus Titan, Nickel, Stahl, Gold, Kohlefasern …
Geschwindigkeit: 43 km/h. Sehr rasch sinkend.
Außentemperatur: 4° C. Zieldistanz: 4 km.
Ich hasse Commander Timothy Lennox.
Geschwindigkeit: 27 km/h. Sinkend. Zieldistanz: 3 km.
Ich wiederhole: Ich hasse Timothy Lennox und werde ihn vernichten …
(Fangen wir ihn ein, nur einfangen, hören wir?)
… und alle, die mit ihm sind. Der Rat schickt mich. Der Rat gibt mir ein Zuhause. Ich verehre den Rat.
(Warum eigentlich?)
Geschwindigkeit: 17 km/h. Sinkend. Außentemperatur: 5° C.
Keine messbare Luftfeuchtigkeit. Keine Luft. Keine messbaren Stimmfrequenzen. Zieldistanz: 1,5 km.
(Warum eigentlich hassen wir Timothy Lennox?) Weil er meine Mutter getötet hat. Darum werde ich ihn vernichten. Weil er meine Mutter getötet hat.
Geschwindigkeit: 9 km/h. Sinkend. Zieldistanz: 800 m.
Meine Mutter! Meine geliebte Mutter, meine geliebte Mutter, meine geliebte Mutter, meine geliebte Mutter …
Stopp.
Das Ding hat angehalten. Sie steigen aus. Alle vier. Wohin gehen sie? Wo genau bin ich? Wie komme ich raus aus dieser Vakuumröhre?
Geschwindigkeit: null. Ich habe einen Körper.
Reibungskraft: null. Ich bin ein Körper. Luftfeuchtigkeit: nicht messbar. Ich bin wieder ein Körper. Kaio Tsuyoshi ist wieder ein Körper.
Zieldistanz: null.
(Lassen wir uns fallen, Kaio Tsuyoshi! Wir sind keine Spinne! Lassen wir das Gefährt los, lassen wir uns fallen und suchen den Aufstieg vorn in der Dunkelheit, irgendwo dort, wo sie gerade den Lift betreten)
Stopp.
(Viel Glück, Kaio Tsuyoshi, viel Glück!)
4
»Sie haben die Zeugenaussagen gehört, aber ich kann sie gern noch einmal zusammenfassen, Herr … ähm …« Neronus Ginkgoson blieb vor dem Gefangenen stehen. »Herr …« Der Mann tat, was er schon die ganze Zeit tat, sieben Stunden inzwischen: er schwieg.
Neronus Ginkgoson blickte sich um. An einem bogenförmigen Tisch saßen zwei Protokollanten vor ihren Schreibschirmen. »Felsspalter«. Der zweite Protokollant las den Namen von seinem Schirm ab. »Einfach nur Felsspalter, Herr Magister.«
»Danke.« An der Tür warteten zwei Exekutivmänner. Etwas rechts vom Bogentisch saßen die Ratspräsidentin und Fedor Lux auf einer schwarzen Kunstledercouch. Cansu Alison Tsuyoshi hatte den Städtebauer zum Stellvertreter ihres derzeit verschollenen Beraters berufen. »Also … Felsspalter, hier noch einmal die Zeugenaussagen.«
Der Waldmann mit dem kräftigen Körperbau und den langen grünen Locken stand zwischen den beiden anderen Exekutivleuten der Wacheskorte. Magister Neronus Ginkgoson selbst saß in einem hohen Sessel. Über dessen rechter Armlehne flimmerte ein D-Feld, das ihm die nötigen Informationen lieferte. Jetzt zum Beispiel die Zeugenaussagen.
»Gemeinsam mit etwa zehn Männern und Frauen Ihres Volkes gingen Sie gegen Mittag des besagten Tages an Bord der FLOWER OF ELYSIUM. Sie trugen einen Käfig mit einem Vogel mit sich, bei dem es sich um einen Buschgellerhahn handelte. Nach übereinstimmender Aussage der Luftschiffsbesatzung führte eine Frau namens Rosen das Wort in ihrer Gruppe, Ihre Zwillingsschwester, wie wir inzwischen wissen.«
Schweigend und scheinbar ungerührt blickte der Waldmann über Ginkgosons Sessel hinweg zur Präsidentin. Der Magister fragte sich, ob er überhaupt zuhörte. Die ganze Zeit fixierte er Cansu Alison Tsuyoshi.
»Statt nun, wie nach solchen Rundflügen üblich, die FLOWER OF ELYSIUM am Raumhafen wieder zu verlassen«, fuhr er fort, »wiederholten Sie und Ihre Begleiter den Stadtrundflug, ja, buchten sogar einen dritten Flug. Kurz bevor das Luftschiff an der Mittelterrasse des Regierungsgebäudes andockte, um zum letzten Mal an diesem Tag Passagiere aufzunehmen, begann der Vogel im Käfig zu singen. Fluggäste und Besatzung beschrieben übereinstimmend eine hypnotische Wirkung, die von seinem Gesang ausging.«
Der Mann mit dem seltsamen Namen Felsspalter zeigte keinerlei Regung. Er rührte sich nicht, er zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen stand er einfach nur da und starrte über Ginkgosons Sessel hinweg die Präsidentin an. Der Mann war dem Magister durchaus ein wenig unheimlich.
»Während die FLOWER OF ELYSIUM andockte, versammelten sich mehr und mehr Fluggäste und Besatzungsmitglieder um Sie und Ihren … ähm … Ihren Vogel. Zeugen sagten aus, dass plötzlich der Erdmann Tinnox durch die Eingangsluke gestürmt sei, bewaffnet mit einem Neuronenblocker. Zu diesem Zeitpunkt befand sich einzig die Pilotin noch auf ihrem Posten, alle anderen Besatzungsmitglieder lauschten dem Gesang des Vogels. Der Erdmann …«
»Hatten wir das nicht alles schon, verehrter Magister?« Aus dem Hintergrunde drängte die Stimme der Präsidentin. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn unterbrach.
»Sicher doch, verehrte Dame Ratspräsidentin.« Neronus Ginkgoson blickte sich nicht nach ihr um. »Aber unsere Gesetze schreiben vor, einem Angeklagten jeden Anklagepunkt solange vorzutragen und zu erläutern, bis wir sicher sind, dass er ihn verstanden …«
»Es ist in Ordnung, Magister Ginkgoson.« Dankenswerter Weise mischte Fedor Lux sich ein. »Machen Sie einfach Ihre Arbeit.« Eine mutige Parteinahme gegen Cansu Alison Tsuyoshi. Vielleicht konnte man sich das ab einem gewissen Alter erlauben.
»Also gut. Hören Sie zu, Felsspalter: Der Erdmann sperrte sich mit der Pilotin im Cockpit ein, so die Aussage der Frau, und zwang sie unter Androhung von Gewalt zum Start. Unterdessen kamen weitere Angehörige Ihrer Sippe an Bord, darunter der Baumsprecher Windtänzer und seine Tochter Morgenblüte. Zwei Männer, so die Zeugenaussagen, hätten die Dame Kassadra Tsuyoshi an Bord getragen. Diese sei vom Schuss eines Neuronenblockers getroffen und folglich außerstande gewesen, sich aus eigener Kraft zu bewegen. Die FLOWER OF ELYSIUM startete und flog zum Raumhafen. Dort, so die Zeugen, hätten Sie und Ihre … äh … Ihre Angehörigen das Luftschiff in Begleitung des Erdmannes Tinnox und der bewegungsunfähigen Dame Kassadra Tsuyoshi verlassen.«
Neronus Ginkgoson deaktivierte das D-Feld zu seiner Rechten. »So weit die Zeugenaussagen.« Er sah dem Waldmann ins Gesicht, der es nicht einmal zu bemerken schien.
»Nehmen Sie bitte Stellung dazu, Felsspalter.«
Der Mann reagierte nicht. Stumm fixierte er Cansu Alison Tsuyoshi. Die Präsidentin war schon die ganze Zeit unruhig auf der Couch hin und her gerutscht. Jetzt sprang sie auf und rauschte zum Sessel des Magisters. »Das haben wir doch alles schon zweimal durchgekaut!« Drei Schritte vor dem Gefangenen blieb sie links von Ginkgoson stehen. »Meine Geduld ist am Ende! Ich will wissen, warum ihr den Erdmann entführt habt! Ich will wissen, welche Rolle Maya Joy Tsuyoshi bei dieser Entführung gespielt hat! Und ich will wissen, ob Kassadra Tsuyoshi ebenfalls an diesem ungeheuerlichen Komplott beteiligt gewesen ist! Ich gebe dir zwanzig Sekunden, Bursche!«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und begann mit der Schuhspitze auf den Boden zu klopfen. Dabei hielt sie dem Blick des Waldmannes stand; und er hielt ihrem stand. Die unheimliche Ausstrahlung des Mannes verursachte dem Magister Beklemmung. Das Atmen fiel ihm plötzlich schwer.
Er fragte sich, ob die Präsidentin denn nicht von ähnlichen Empfindungen belästigt wurde. Anzumerken war ihr jedenfalls nichts.
»Du redest also nicht?« Die zwanzig Sekunden waren vorüber. »Wie du willst.« Sie wandte sich an Ginkgoson. »Drei Tage Nahrungsentzug, Dauerlicht, Dauerbeschallung mit Triebwerkslärm.« Und wieder an die Adresse des Waldmannes:
»Wenn du dann nicht redest, stellen wir dich noch am selben Tag vor das Magistratstribunal und urteilen dich auf Grund der Zeugenaussagen und Indizien ab.« Sie wandte sich an Ginkgoson. »Lassen Sie ihn zurück in seinen Kerker bringen und veranlassen Sie die Sonderbehandlung!« Sie drehte sich um und stelzte zurück zur Couch.
»Eines sollst du wissen, Alison.« Plötzlich begann er zu sprechen. Cansu Alison Tsuyoshi blieb stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. »Jeder hat zu bezahlen!«
Neronus Ginkgoson räusperte sich. »Sie sprechen mit der Ratspräsidentin, Felsspalter! Sie wird mit Dame Ratspräsidentin Cansu Alison Tsuyoshi angesprochen, und Sie haben sie zu siezen …«
»… auch du, Alison, wirst bezahlen. Jeder, der einem anderen das Leben raubt oder einen Beitrag zum Raub eines Lebens leistet, bezahlt.«
»Was faselst du da?« Cansu Alison drehte sich um. »Was fällt dir ein?«
»Die Mörder meiner Schwester, meiner Nichte und unserer Wohnbäume wurden bereits bestraft«, fuhr der Waldmann ungerührt und mit ruhiger Stimme fort. »Die sie geschickt haben, werden noch bezahlen. Auch du. Das sollst du wissen, Frau. Vergiss es nicht!«
»Weg mit ihm!« Die Präsidentin wurde laut. »Schafft ihn endlich raus!« Die Exekutivmänner packten den Waldmann namens Felsspalter und führten ihn aus dem Raum.
Cansu Alison Tsuyoshi wartete, bis die Tür sich schloss, dann trafen ihre zornigen Blicke abwechselnd den Magister und den Städtebauer. »Woher weiß er das?«, rief sie. »Wer hat ihm gesagt, dass seine Schwester tot ist? Er war doch ohne Bewusstsein, als der Baum sie erschlug!« Ihr Blick flog zwischen Ginkgoson und Fedor Lux hin und her. Eisbleich war sie plötzlich, fand der Magister, und sie wirkte gehetzt.
»Irgendjemand muss es ihm doch verraten haben!«
»Möglich.« Fedor Lux erhob sich. Seine Miene war ernst und nachdenklich. »Muss aber nicht sein. Vielleicht hat sich ein Vogel in seine Zelle verirrt, vielleicht ein paar Insekten. Diese Leute verfügen über Informationskanäle, von denen wir nichts ahnen.«
5
Die Lifttüren schlossen sich, der Aufzug fuhr nach oben. Die Kabine hatte die Form eines Eis – nichts Eckiges, nichts wirklich Gerades.
»Folgendes, meine Herren«, sagte Kassadra, und es klang keineswegs entspannt. »Man hat mich auf meinen Gefangenenstatus hingewiesen. Ich könnte mich also wie eine Gefangene verhalten und jede Kooperation verweigern. Dann aber kämen wir nicht weit, das können Sie mir glauben.« Sie drückte auf eine Taste in der Armaturenleiste neben der Lifttür.
Die Kabine stoppte.
»Was soll das heißen?« Schwarzstein belauerte sie voller Misstrauen. »Warum hältst du den Aufzug an?«
»Damit Sie mir zuhören, wenn ich Sie über die Verhältnisse auf dem Areal rund um die Grotte des Strahls informiere.«
»Du willst uns helfen?«
»Nicht aus reiner Güte oder weil ich mit Ihren Methoden einverstanden wäre!«, schränkte Kassadra ein. »Sondern weil mich das Geheimnis des Strahls interessiert und Tinnox der Einzige zu sein scheint, der es lösen kann. Der Sache wäre nicht gedient, wenn man ihn gleich wieder verhaftet und wegsperrt … oder Schlimmeres.«
Schwarzstein sah sie verblüfft an. »Also gut!«
»Etwa siebzig Meter über uns liegt das Zentrum Utopias«, begann die marsianische Historikerin und Linguistin. »Wir steigen aus, zwei oder drei Minuten vergehen, und irgendjemand glaubt zu Recht, unsere Gesichter im Suchaufruf des Magistrats auf ENT gesehen zu haben.«
»Ich verstehe nicht – liegt die Bahnstation denn nicht in unmittelbarer Nähe des Strahls?«
»Das war einmal, Tinnox. Bei der ersten Expedition zum Strahl im Jahr 2092 irdischer Zeitrechnung kam es zu einem Unfall, der die gesamte Grotte und die ursprüngliche Endstation verschüttet hat. [1] Unsere Mütter und Väter haben achtzig Erdjahre gebraucht, um eine neue Station außerhalb der Einsturzzone zu errichten. Dort entstand später dann Utopia.«
»Und jetzt?« Timothy Lennox war wie vor den Kopf gestoßen.