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Das Zeitalter des Kometen #33: Lennox auf dem roten Planeten

©2021 121 Seiten

Zusammenfassung


Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Lennox befindet sich noch immer in der Gefangenschaft der Baumleute, doch er ist dort nicht sicher, die Stadtbewohner auf dem Mars wollen ihn töten. Sie gehen dabei nicht gerade rücksichtsvoll mit den eigenen Artgenossen um. Dann kommt eine weitere Partei ins Spiel, die Lennox eine Zusammenarbeit anbietet. Aber kann er überhaupt jemandem trauen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Lennox auf dem roten Planeten

Copyright

1

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24

Epilog

Lennox auf dem roten Planeten

Das Zeitalter des Kometen #33

Teil 2 von 3

von Jo Zybell

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 121 Taschenbuchseiten.

 

Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …

Lennox befindet sich noch immer in der Gefangenschaft der Baumleute, doch er ist dort nicht sicher, die Stadtbewohner auf dem Mars wollen ihn töten. Sie gehen dabei nicht gerade rücksichtsvoll mit den eigenen Artgenossen um. Dann kommt eine weitere Partei ins Spiel, die Lennox eine Zusammenarbeit anbietet. Aber kann er überhaupt jemandem trauen?

 

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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1

Einige schrien über den Konferenztisch hinweg, andere zischten, manche ballten die Fäuste. Vergeblich schwenkte Carter Loy Tsuyoshi die Tischglocke. Ettondo Lupos de Villa schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, wieder und wieder. Die ersten Ratsmitglieder sprangen auf.

Ephy Caleen Damarr rauschte zur Tür, ihr Berater lief hinterher, hielt sie auf. Kyra Jolana Paxton und Joshen Margou Sandoval brüllten sich an und schnitten Grimassen, als wollten sie sich an die Kehle gehen.

Carter Loy besaß ein robustes Nervenkostüm: Er hatte in den höchsten Steilwänden des Mars gehangen, war zweimal auf seinen Laufstrecken von Sandstürmen überrascht worden, einmal gar in ein Treibsandfeld geraten – wirklich gefürchtet hatte er sich nie. Das hier jedoch, das machte ihm Angst.

Fedor Lux gelang es schließlich, Ephy Caleen wieder zur Rückkehr an ihren Platz zu bewegen. »Hat nicht eine Tsuyoshi den Erdmann begleitet?«, schrie sie hysterisch, während Lux und ihr Berater sie zur Konferenztafel führten. »War es eine Tsuyoshi, oder war es eine Damarr?«

Die Präsidentin reagierte nicht, dafür begann jetzt auch Kyra Jolanas Sohn auf den Tisch zu schlagen, und zwar mit der Faust. Aus welchem Grund, war nicht ersichtlich.

»Und ich sage Ihnen, die vom Hause Paxton stecken dahinter!«, rief Joshen Margou Sandoval. »Wer zu einem Mord an Bord eines Raumschiffes fähig ist, schreckt auch vor einer Entführung nicht zurück!«

»Ungeheuerlich!« Kyra Jolana und Hendrix Peter Paxton waren schon wieder aufgesprungen. »Infam!«

»Genug davon!« Die alte Dame Sandoval forderte ihre Beraterin mit lauter Stimme auf, ihr »unangemessenes Geschrei« einzustellen, wie sie sich ausdrückte.

Die beiden Vertreter des angegriffenen Hauses jedoch wollten sich nicht mehr beruhigen: Kyra Jolana erging sich in wüsten Beschimpfungen der Sandovals, und ihr Sohn Hendrix Peter trat sogar den nicht eben kurzen Weg um die Tafelrunde an und machte Anstalten, sich auf die Beraterin der Sandovals zu stürzen. Andere sprangen auf, hielten den Ratsneuling fest, redeten auf ihn ein. Wieder erhob sich Geschrei. Carter Loy setzte die Tischglocke ab; sinnlos.

»Wer hat denn dem Erdmann diese Kassadra Tsuyoshi als Begleiterin zugewiesen?«, schrie Ephy Caleen Damarr, kaum dass sie wieder die Lehne ihres Sessels berührte. »Sie, Cansu Alison!« Wie ein Spieß richtete die Ratsdame ihre Rechte auf die Ratspräsidentin, während ihre Linke Halt an der Sessellehne suchte. »Wer hat denn den Erdmann entgegen des Ratsbeschlusses zur Luftschiffstation auf der Mittelterrasse geführt? Kassadra Tsuyoshi!«

Carter Loy traute seinen Ohren nicht. »Sie sind ja von allen guten Geistern …«

»Die Tsuyoshis, nicht die Paxtons!« Voller Entrüstung blickte die dürre Frau in die Runde. »Eine Tsuyoshi verhilft diesem Halbbarbaren zur Flucht, meine verehrten Ratsmitglieder!« Carter Loy bemerkte, dass ihr blauer Haarturm bebte. »Folgt daraus nicht mit unausweichlicher Logik, dass ein ganz bestimmtes Haus, und nur dieses, hinter der Befreiung des Erdmannes stecken muss, verehrte Ratsmitglieder?«

»Absurd!« Jetzt platzte auch Carter Loy der Kragen, jetzt sprang auch er auf. Sein Sessel knallte hinter ihm auf den Boden. »Empfinden Sie denn nicht selbst die Ungeheuerlichkeit Ihrer Behauptung?« Die Fäuste auf den Tisch gestemmt, richtete er seinen Silberblick auf die erregte Frau. »Ich muss Sie auffordern, Ihre Worte abzuwägen, bevor Sie derartige Äußerungen tun, Dame Ephy Caleen!« Sein kräftiger Bass brachte das aufgescheuchte Stimmengewirr im Konferenzsaal endlich ein wenig zur Ruhe.

»Sie haben mich zu überhaupt nichts aufzufordern, Carter Loy!« Die Ratsdame des Hauses Damarr gab den Armen ihres Beraters nach, der sie zurück auf den Sessel neben sich zog.

»Ist denn meine These so viel ungeheuerlicher als Ihre Behauptung, das Haus Paxton hätte den Erdmann entführt, oder gar wir, die Damarrs?« Sie wollte noch mehr sagen, doch ihr Berater, ein engelhafter weißhaariger Mann namens Peer Rodrich Damarr, redete besänftigend auf sie ein.

Carter Loy schluckte eine unfreundliche Bemerkung herunter, nutzte den gesunkenen Geräuschpegel und griff doch noch einmal zur Glocke. »Als Protokollführer und Moderator darf ich diese Forderung sehr wohl erheben!« Das Geläut verebbte, er blickte in die Runde. »Und die anderen Damen und Herren Ratsmitglieder fordere ich hiermit ebenfalls zu Mäßigung und Ruhe auf!« Es wurde ruhiger. »Stellen Sie sich vor, unsere Bürger müssten mit ansehen, wie wir uns hier verhalten! Einander auf solch barbarische Weise anzuschreien, sollte unter unserer Würde sein! Von den Gewaltandrohungen ganz zu schweigen!« Sein Silberblick traf den jungen Paxton.

Fedor Lux murmelte etwas, das nach Zustimmung klang, Merú Viveca Sandoval nickte beifällig und bedachte ihre Beraterin mit einem tadelnden Blick. Nach und nach verstummte auch das letzte Zischen.

»Die Präsidentin hat das Wort!« Carter Loy blickte zu seiner Rechten, wo Cansu Alison Tsuyoshi saß. Er hoffte inständig, sie würde die richtigen Worte finden, um die außer Rand und Band geratene Regierung wieder hinter sich zu versammeln.

»Bitte, Dame Cansu Alison.« Reglos und mit ausdruckslosem Gesicht, glich die Ratspräsidentin einer Statue ihrer selbst.

Kaum einer kannte Cansu Alison so gut wie Carter Loy. Er kannte zum Beispiel die pulsierende Ader an ihrer rechten Schläfe, er kannte auch die leichte Rötung um die Pigmentstreifen am Haaransatz und jene kaum sichtbare Anspannung der Lippenmuskulatur, wenn der Vulkan, der in dieser jungen Frau kochte, an die Oberfläche drängte. Carter Loy Tsuyoshi bückte sich nach seinem Sessel, stellte ihn wieder auf und nahm Platz.

»Merken Sie denn nicht, was hier geschieht?« Leise und rau klang die Stimme der Ratspräsidentin. »Meine verehrten Damen und Herren Ratsmitglieder – haben wir nicht soeben den schlagenden Beweis für die Gefährlichkeit dieses irdischen Halbbarbaren mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört und mit eigenem Herzen gefühlt?« Sie stand auf, beugte ihre schlanke Gestalt über den Tisch und stützte die Hände auf die Tafel. Einige Ratsmitglieder senkten betreten die Köpfe.

»Wann je zuvor hat es einen derartigen Tumult im höchsten Gremium des Mars gegeben, meine verehrten Damen und Herren Ratsmitglieder?« Cansu Allison machte eine Pause.

Schwer hing ihre Frage im Raum. »Niemals! Fragen Sie die Dame Merú Viveca Sandoval, befragen Sie Ihre Mütter und Großmütter und die gesammelten Protokolle der Ratssitzungen; nie!«

Was für eine Frau, dachte Carter Loy Tsuyoshi, was für ein Wille, was für ein Verstand! Ein verstohlener Blick in die Runde bestätigte ihn: Keiner, der jetzt nicht an ihren Lippen hing.

»Es ist die zerstörerische Kraft der Zwietracht und des Hasses, die von diesem Irdischen ausgeht, dieselbe zerstörerische Kraft, die unseren Mutterplaneten schon vor der Zeit der Gründer mit Krieg überzog, mit dem Blut der Hingeschlachteten überschwemmte und mit den Tränen der Gequälten tränkte. Und bis zum heutigen Tag wirkt diese böse Kraft in eben jener Weise auf der Erde, wie wir leider erfahren mussten, als unsere Expedition von wenigen Jahren den Mutterplaneten besuchte.«

Wieder ließ sie ihre gedrechselten Sätze ein paar Sekunden lang wirken. »Was nun Kassadra Tsuyoshi betrifft, meine verehrten Herren und Damen Ratsmitglieder: Wie sollte denn eine einzelne Frau dieser Kraft widerstehen, wenn selbst die Elite des Mars ihrem Gift Tribut zollen muss, wie wir eben erleben mussten? Tinnox hat Kassadra becircst, glauben Sie mir! Ein gerissener Verführer ist er, eine gefährliche Schlange!«

»Verzeihen Sie, wenn ich unterbreche, Dame Ratspräsidentin«, meldete sich Ruman Delphis zu Wort, wie Lux ein unabhängiger Berater der Regierung. »Aber ich halte es für ausgeschlossen, dass Kassadra und der irdische Halbbarbar ohne jede Hilfe von außen …«

»Genau so ist es!«, schnitt Cansu Alison Tsuyoshi ihm das Wort ab. »Unterschätzen wir Tinnox‘ Gewaltpotential nicht, dennoch hätte er niemals ohne fremde Hilfe fliehen können. Wir aber werden die Fluchthelfer finden!« Sie tippte mit dem rechten Zeigefinger auf den Tisch. »Sie müssen bestraft werden, genau wie meine arme Cousine Kassadra bestraft werden muss.«

»Sie reden, als hätten Sie bereits Hinweise auf die Fluchthelfer«, sagte Ettondo Lupos de Villa.

»In der Tat, die haben wir.« Die Ratspräsidentin sank wieder in ihren Sessel. »Bitte, Herr Carter Loy.«

Carter Loy registrierte erstaunt, wie aufmerksam die Räte noch immer zuhörten. Cansu Alison hatte so gut wie gewonnen. Er war wieder am Zug. »Unsere Hinweise lassen sogar Schlüsse auf den Aufenthaltsort von Kassadra Tsuyoshi und dem Erdmann zu«, sagte er. »Hören wir zunächst die Aussage der leitenden Sicherheitsbeamten.« Er führte seinen PAC zum Mund. »Bringen Sie bitte Sicherheitsmagister Ginkgoson und seinen Submagister herein.«

 

 

2

Der Junge bog tief herabhängende Äste und Buschwerk zur Seite, fast ohne Geräusche zu verursachen. Obwohl er blütenweißes Haar hatte, schätzte Tim Lennox ihn auf höchstens zwanzig Jahre. Ein Albino. Seine wächserne Haut war seltsam marmoriert und gesprenkelt. Wenn der Lichtkegel aus der Lampe des Anführers auf sie fiel, sah sie aus wie Perlmutt.

Er hieß Schwarzstein, so viel hatte der Mann aus der Vergangenheit inzwischen mitbekommen. Schwarzstein – merkwürdiger Name für einen Weißhaarigen.

Trotzdem achtete Tim zurzeit mehr auf die Lampe als auf ihren Träger.

Es handelte sich um eine Petroleumlampe aus Messing, wie sie früher auf irdischen Schiffen üblich gewesen waren. So etwas hier auf dem Mars zu finden war schon seltsam genug – was Timothy aber einen Schock versetzt hatte, war eine Gravur auf dem Metall: USS RANGER.

Er kannte dieses Schiff! Es war der Flugzeugträger, der – wie er selbst und seine Fliegerstaffel – auf mysteriöse Weise in die Zukunft geschleudert worden und auf den er vor über einem Jahr gestoßen war. [1] Hier eine Lampe der USS RANGER zu finden, die man später umbenannt hatte in USS HOPE, war schlechterdings unmöglich.

Auf seine Frage, woher die Lampe stamme, hatte Schwarzstein nur die Schultern gezuckt und war weiter gegangen. Tim hatte sich vorgenommen, die Frage später wieder zu stellen, so lange, bis er eine befriedigende Antwort darauf erhielt.

Schwarzstein schien die Gegend gut zu kennen. Schon den zweiten Tag gab er den Scout und führte die kleine Gruppe zielstrebig durch einen dichten Wald, der sich in den Augen des Erdenmannes durch nichts von dem Wald unterschied, in den sie vor dreißig Stunden eingedrungen waren. Jetzt zum Beispiel durchquerten sie ein Feld mit farnähnlichen Stauden, und Tim Lennox kam es vor, als hätten sie dasselbe Feld schon vor einer Stunde durchquert; und zwei Stunden davor ebenfalls.

Anfangs – vor drei oder vier Tagen, genau wusste er es nicht mehr – hatte Lennox über dreißig Köpfe gezählt. Doch je weiter sie Elysium hinter sich zurückließen, und je tiefer sie in den Wald eindrangen, desto rascher schrumpfte die Schar dieser eigenartigen Menschen. Nach und nach setzten sich die Waldleute in meist kleinen Gruppen ab und verschwanden im Unterholz. Jetzt waren sie nur noch zu fünft unterwegs: Tim Lennox, Kassadra Tsuyoshi und drei Waldmänner.

Meter für Meter arbeiteten sie sich durch das Dickicht. Ein dichter Wald mit geschlossenem Laubdach. Erstaunlich, was das Terraforming in fünfhundert Jahren hervorgebracht hatte.

Im Zwielicht, das tagsüber herrschte, warfen weder Bäume noch Menschen einen Schatten, und nachts konnte der Mann von der Erde nicht einmal die Hand vor Augen erkennen.

Sie hatten ein Ziel, das war klar, doch Tim Lennox war außerstande, sich eine klare Vorstellung von diesem Ziel zu machen.

Das lag weniger an seiner Orientierungslosigkeit, als vielmehr an dem eigenartigen Dialekt, den sie benutzten, wenn sie miteinander sprachen. Wenn er sich konzentrierte, verstand er manchmal halbe Sätze, meistens aber nur einzelne Worte. Es ging um einen abgelegenen, sicheren Ort, um vorläufige Zuflucht abseits der Siedlungen dieser Waldmenschen, und es ging um eine Art Einsiedler. Viel mehr hatte Lennox nicht heraushören können.

»Still«, kam es von hinten. Der Junge vor Tim blieb stehen; und alle anderen auch. Über die Schulter sah Lennox zurück: Hinter dem zweiten Jungen und Kassadra verharrte der Anführer wie ein im Stehen Eingeschlafener. Die Schiffslampe ins Unterholz gerichtet, hielt er den Kopf schräg auf die Schulter geneigt und lauschte mit geschlossenen Augen.

Da, ein Zirpen! Es drang von rechts oben aus dem dichten Laub. Und wieder! Ein Vogel? Ein Insekt? Tim Lennox war sich nicht sicher. »Er ist da«, sagte der Anführer der Waldleute.

Jedes Mal, wenn er ihn beobachtete, musste Tim an einen indianischen Schamanen denken. Sie nannten ihn Baumsprecher, und sprachen ihn mit einem für Lennox‘ Ohren altertümlich klingenden englischen Wort an, das so viel wie

»Windtänzer« bedeutete.

Windtänzer – was für ein Name …

Der so genannte Baumsprecher bedeutete dem Jungen, den Weg fortzusetzen. Tim Lennox schaute zu Kassadra hinüber. Sie humpelte immer noch leicht. Beim Handgemenge an der Zeppelinstation hatte sie ein Wachmann mit einer kleinen röhrenförmigen Waffe erwischt; eine Art Paralysator. Seit zwei Tagen konnte sie ihre Glieder wieder bewegen, seit einem Tag wieder laufen. Bis vor etwa dreißig Stunden musste sie auf einem kleinen Wagen gezogen werden. Warum seine Befreier – oder besser: seine Entführer – die Historikerin aus Elysium überhaupt mit auf die Flucht genommen hatten, dämmerte Tim erst nach und nach: um Maya Joy Tsuyoshi zu schützen.

Weiter ging es. Der Junge bückte sich unter einem schweren Ast mit rostfarbenem Laub hindurch und teilte einen dichten Busch. Schrundige schwarzbraune Rinde kam zum Vorschein.

Aus ihr ragten Keile wie Stufen. Ihr Ziel, wie es schien, denn der Junge blieb stehen.

Tim Lennox blickte nach oben: Zwanzig oder dreißig Meter über ihm verschwand der sicher drei Meter durchmessende Stamm in der rostroten Laubkrone. Spiralartig um ihn herum zogen sich Stufenkeile, und über den Stufenkeilen im Stamm befestigte Holme. Der Junge griff nach dem untersten Holm, nahm die erste Stufe und winkte den Mann von der Erde und die anderen hinter sich her.

Tim musste sich strecken, um die Griffholme zu erreichen.

Offenbar hatte man die Baumwendeltreppe nur für erwachsene Durchschnittswaldleute gebaut, die ihn um mindestens zwanzig Zentimeter überragten. War der Baum denn für die Kinder und die halbwüchsigen Waldleute tabu?

Nach wenigen Stufen klopfte Tim das Herz in Kehle und Schläfen, sein Atem flog. Mit der Rechten hielt er sich an einem Holm fest, mit der Linken öffnete er die Beintasche, in der sich seine Sauerstoffmaske befand. Ein rotes Licht blinkte an deren Vorderseite – die Sauerstoffkapsel war leer. Lennox löste die Patrone und steckte eine der vier noch vollen auf.

Zwei hatte er schon verbraucht.

Nachdem er sich die Maske mühsam mit nur einer Hand über das Gesicht gezogen und ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, beruhigte sich sein Puls. Während er die Beintasche schloss, registrierte er flüchtig die anderen Anzeigen auf der Deckelinnenseite: Kompass, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Außentemperatur. Einen Moment wunderte er sich, denn es herrschten nur neun Grad Celsius, und trotzdem war ihm angenehm warm. Der äußerlich so unscheinbare Anzug, den ihm Maya verschafft hatte, funktionierte störungsfrei. Sogar während der Nächte, als die Temperatur deutlich unter den Gefrierpunkt gefallen war, hatte er ihn warm gehalten.

Er fasste nach dem nächsten Holm, setzte seinen Stiefel auf die nächste Stufe und kletterte weiter. Sein Blick fiel auf eine etwa handtellergroße, in die Rinde eingelassene Steinscheibe.

Mit verblasster, ehemals grüner Farbe war ein Symbol in sie eingraviert: ein Baum zwischen den Schenkeln eines Vs. Das gleiche Zeichen hatte Lennox schon auf einem Amulett entdeckt, das der Anführer der Waldleute trug, der Schamane.

Vermutlich das Zeichen dieses rätselhaften Baumsprecher-Ordens. Maya hatte davon erzählt.

Stufe um Stufe nahm der Mann aus der Vergangenheit, drei oder vier Meter trennten ihn schon vom Boden.

»Da hinauf!«, rief eine Stimme. Lennox blickte zum Fuß des Baumes hinab. Der Mann namens Windtänzer forderte Kassadra auf, endlich den Stamm hinaufzusteigen. »Geh schon, Städterin!«

Die Frau machte ein trotziges Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich denke nicht daran.«

Der Baumsprecher musterte sie schweigend. Selbst von hier oben und trotz des fahlen Dämmerlichtes konnte Tim Lennox das Leuchten in seinen dunkelgrünen Augen sehen. »Gut«, sagte Windtänzer schließlich. »Dann eben nicht. Dann geh halt in den Wald und verhungere, oder lass dich von deinesgleichen einfangen und wegen Verrats vor Gericht stellen.«

»Was für eine Gemeinheit!« Kassadra fauchte den Baumsprecher an. »Warum habe ich mich bloß auf so etwas eingelassen?«

»Wer sollte das wissen, wenn nicht du?« Windtänzer drängte sich an ihr vorbei und kletterte in den Baum. »Die Häscher jedenfalls sind längst unterwegs.«

Der zweite Junge folgte ihm. Tim hatte seinen Namen zwar gehört, aber wieder vergessen. Überhaupt besaß dieser blutjunge, blauhaarige Bursche die Gabe, so unauffällig zu wirken, dass man seine Anwesenheit schier vergaß.

Lennox‘ Blick traf sich mit dem Kassadras. Grimmig starrte sie zu ihm hinauf. Du hast mir das eingebrockt, sagten ihre Augen.

»Kommen Sie schon, Kassadra!« Timothy schlug einen versöhnlichen Tonfall an. »Sie haben keine Chance allein in dieser Wildnis!«

Kassadra Tsuyoshi stieß ein Wort aus, das Tim nicht verstand. Sie tastete nach dem ersten Holm, aber auch sie – nur drei Zentimeter größer als Tim – kam nicht richtig heran.

Der blauhaarige Junge fasste sie an den Hüften und hob sie hoch, als wäre sie nur ein Zweig. An seinem Handgelenk erkannte Timothy Lennox in diesem Augenblick den Minicomputer Kassadras. Klar, dass sie ihr den abgenommen hatten …

»Was fällt dir ein, Bursche?«, schimpfte Kassadra. Doch ehe sie sich versah, hatte der Junge sie mit einem Tau an sich gebunden. Das andere Ende warf er seinem Anführer zu, der es sich um die Hüfte schlang. So gesichert begann Tims ehemalige Aufpasserin mit dem Aufstieg.

Das Schimpfen verging ihr bald. Körperliche Anstrengung schien sie nicht gewohnt zu sein. Wut und Mühe hatten die Glätte und Ausdruckslosigkeit aus ihrem viel zu schönen Gesicht vertrieben. So fand Tim Lennox es richtiggehend anziehend.

Übrigens trug auch sie inzwischen andere Kleider – einen Ganzkörperanzug von der gleichen erdgrünen Farbe wie seiner und mit dem gleichen warmen Rostrot des Hüftgurts, der Jackenschulterstücke und des Kragens. Die Waldfrauen hatten sie noch vor der ersten Nacht im Wald umgezogen. Lennox zweifelte nicht daran, dass ihr Anzug über die gleichen Funktionen wie seiner verfügte. Zusätzlichen Sauerstoff benötigte sie natürlich nicht.

Irgendjemand musste den Hightechanzug für Kassadra organisiert haben. Und folgte daraus nicht, dass man von Anfang an geplant hatte, auch sie zu entführen?

Knapp unter der Baumkrone blickte Tim noch einmal nach unten. Im Halbdunkel verschwammen Unterholz, Büsche, Farn und junge Bäume zu grünlich-grauem Dunst. Dabei war es früher Nachmittag und nicht einmal bewölkt. Doch das Licht der fernen Sonne drang nur spärlich durch die dichten Baumkronen.

Weiter ging es. Mit jedem Meter, den Tim Lennox nach oben kletterte, wurde es ein wenig heller. Etwas zirpte ganz in seiner Nähe. Er verharrte, spähte aus schmalen Augen ins Geäst über und hinter sich. Erst als er schon weiterklettern wollte, entdeckte er das Tier. In Augenhöhe und Reichweite hockte es auf einem Ast in Stammnähe.

Der Mann aus der Vergangenheit hielt die Luft an. Das Tier war mindestens so lang wie sein Unterarm, jedoch wesentlich dicker. Es hatte einen schwarz schillernden Panzer, drei pelzige Beinpaare, mächtige Kauscheren und gebogene Fühler: ein Mammutkäfer!

 

 

3

Jarro Fachhid de Villa nahm kleine Prisen Fischfutter aus der Dose und versenkte sie andächtig im Wasser. Er hatte die hydraulische Sitzfläche seines Rollstuhls bis zum Anschlag ausgefahren, sodass sich die Öffnung des großen Aquariums eine Handbreite unterhalb der Armlehne befand. Scheinbar aufmerksam beobachtete er, wie die blau und rot schillernden Fische nach den Futterkrümeln schnappten. Tatsächlich aber hörte er dem Bericht des jungen Paxton zu und behielt zugleich den Spiegel im Auge. Die rückwärtige Innenwand des Aquariums bestand aus einer Spiegelfläche, und in ihr konnte der Patriarch die Gestalt seines zweiten Besuchers betrachten.

Die Frau – er hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen – hielt sich etwas im Hintergrund.

»Zur Stunde vernehmen sie den Sicherheitsmagister und einen seiner Submagister.« Der blonde Schönling brachte neue Nachrichten aus der Ratssitzung. »Ettondo Lupos ist der Meinung, dass diese Vernehmung den Standpunkt der Präsidentin nicht mehr wesentlich beeinflussen wird.«

Im Grunde dauerte diese Ratssitzung schon vier Tage lang und wurde stundenweise zu Essens- und Schlafenspausen unterbrochen. Was konnte schon Gutes herauskommen bei solchen Marathonsitzungen?

»Ratsherr Ettondo Lupos glaubt, das Schicksal des Erdbarbaren sei besiegelt«, schloss der Blonde.

»Da mag er Recht haben.« Wieder ließ der Alte eine Prise Fischfutter ins Aquarium fallen. »Die Präsidentin wird alle Hebel in Bewegung setzen, um den Erdmann zu finden, und wenn sie ihn gefunden hat, wird sie ihn beseitigen, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.« Jarro Fachhid stieß ein verächtliches Grunzen aus. Er verschloss die Futterdose und senkte die Sitzfläche seines Rollstuhls ab. »Ist die Stimmung noch immer gereizt?«

»Gereizt ist untertrieben.« Curd Renatus Paxton winkte ab.

»Isbell sagt, es hätte nicht viel gefehlt, und sie wären aufeinander losgegangen.«

»Nicht zu fassen.« Der Patriarch des Hauses de Villa schüttelte seinen schweren Schädel. Zwei der sechs oder sieben Haarsträhnen, die ihm geblieben waren, rutschten ihm ins pergamenthäutige Gesicht. »Natürlich nur Folgen des Bösen, das der Erdmann eingeschleppt hat, habe ich Recht?«

»Genauso deutet es die Präsidentin, sagt Isbell«, bestätigte der Blonde.

Der Patriarch lachte zynisch. »Diese Heuchlerin!« Weder Ettondo Lupos, der Vertreter des de Villa-Hauses im Regierungsrat, noch Isbell Antara kamen während der Sitzungspausen in einen seiner Wohnsitze. Zu gefährlich. Auch über PAC und Holofunk nahmen sie keinen Kontakt auf.

Beides war nicht hundertprozentig abhörsicher. Doch der junge Paxton erstattete alle vier Stunden Bericht. Er war Isbell Antaras Geliebter und engster Vertrauter.

Der Patriarch lächelte hintergründig, denn plötzlich stellte er sich vor, wie Isbell den jungen Mann während der Sitzungspausen ins Bett zerrte und ihm die neuesten Nachrichten ins Ohr stöhnte, während sie ihn nahm.

Er schüttelte die reizvolle Fantasie ab. »Schade, dass da irgendjemand schneller war als wir«, seufzte er. »Doch das ändert nichts an unserem Ziel. Die Zusammenarbeit mit dem Erdmann wird unserem Haus unschätzbare Vorteile bringen. Soll die Präsidentin sein angeblich so kriegerisches Potential fürchten, wenn sie mag. Wir werden uns sein wissenschaftliches und technisches Knowhow zunutze machen. Wenn wir ihn also schon nicht mehr durch eine Entführung retten können, retten wir ihn uns eben, indem wir ihn aus den Händen seiner Entführer befreien.« An Curd Renatus Paxton vorbei blickte der Alte die Frau im Hintergrund an. »Traust du dir eine solche Mission zu, mein Kind?«

»Ja, Großvater, das traue ich mir zu.« Die Frau trat näher.

Sie war nur knapp zwei Meter groß, hatte ungewöhnlich schmale Hüften und ziemlich breite Schultern. Ihr kurzes schwarzes Haar trug sie auffällig modelliert: In Form von zwei oder drei Dutzend Stalagmiten ragte es stachelartig von ihrem quadratischen Schädel. »Ich habe zwei Jahre als Submagister des Sicherheitsdienstes von Phönix gedient, und drei Jahre ein Expeditionscorps am Südpol kommandiert, bevor ich …«

»Ich weiß, ich weiß, Athena.« Seine erhobene Rechte brachte die Frau zum Schweigen. »Auch wenn du offenbar nie Gelegenheit hattest, deinen Großvater zu besuchen oder wenigstens den Kontakt mit ihm zu pflegen, so war ich doch immer auf dem Laufenden über deine Karriere und dein persönliches Ergehen. Dein Bruder geht bei mir ein und aus. Er ist mir ein großer Trost in meiner Gefangenschaft.«

Athena Tayle de Villa antwortete nicht. Sie war eine der Schwestern von Reza Gundol de Villa, dem ältesten Sohn des Zweitgeborenen von Jarro Fachhid de Villa. Reza Gundol war Präsident von MOVEGONZ TECHNOLOGY und galt deswegen als einer der einflussreichsten Vertreter des Hauses de Villa. Den Ratsherrn Ettondo Lupos betrachtete der Patriarch als seinen Handlanger, seinen Enkel jedoch als seine rechte Hand.

Athena, gelernte Physikerin und Triebwerksingenieurin, leitete die Forschungsstation auf Phobos und arbeitete zugleich für die Entwicklungsabteilung von MOVEGONZ TECHNOLOGY. Wegen ihrer direkten Verwandtschaft mit dem Patriarchen waren ihre Bewerbungen für den Dienst an Bord eines Raumschiffes bisher abgewiesen worden. Nach all den Jahren herrschte im Präsidium noch immer ein gewisses Misstrauen gegenüber allen Mitgliedern des Hauses de Villa, die dem verfemten Patriarchen nahe standen.

»Du hast Mitarbeiter, denen du vertrauen kannst, mein Kind?«

»Das habe ich, Großvater.« Sie nickte. Eine Laune der Natur hatte dafür gesorgt, dass ihre linke Gesichtshälfte ungleich stärker pigmentiert war als die rechte. Vor allem im Bereich ihres linken Auges schimmerte so gut wie keine weiße Haut mehr durch, sodass jemand, der Athena Tayle von fern sah, leicht den Eindruck gewinnen konnte, sie würde eine Art Augenklappe tragen.

Jarro Fachhid wies auf den Blonden. »Dieser junge Herr aus dem Hause Paxton wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen, mein Kind.«

Ganz freiwillig tat Curd Renatus das nicht, vielmehr hatte er sich dem Willen des Patriarchen gefügt. Der hatte ihm gegenüber zuvor durchblicken lassen, dass es seiner Karriere im Präsidium schaden könnte, wenn seine Kontakte zu den verbotenen Kampfclubs und seine darin erworbenen Meistergrade bekannt würden. »Und mit Personal ebenfalls«, fuhr der Alte fort. »Er verkehrt nämlich in gewissen schlagkräftigen Etablissements unserer Stadt, deren Betreiber großen Wert auf mein Wohlwollen legen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich verstehe sehr gut, Großvater.«

»Während wir also die endgültigen Beschlüsse des Rates abwarten und jeden weiteren Schritt der Regierung genau beobachten, stellst du schon einmal Gerätschaft und Personal für die Suche nach dem Erdmann zusammen, mein Kind. Wir müssen in jedem Fall schneller sein als die Präsidentin. Sämtliche Informationen gehen sofort an dich weiter. Wenn wir den Erdmann erst einmal an einem sicheren Ort versteckt haben und mit ihm zusammenarbeiten, wird auch deine Teilnahme an einem Mondflug nur noch eine Frage der Zeit sein, mein Kind. Sogar das Kommando über eine zweite Expedition zur Erde stelle ich dir für diesen Fall in Aussicht.«

»Davon träume ich, Großvater, und diesen Traum hast du mir ins Herz gepflanzt.« Zum ersten Mal huschte so etwas wie ein Lächeln über die beherrschten, fast herben Züge seiner Enkelin. »Wenn wir uns weiterentwickeln wollen, müssen wir die Schätze der Wissenschaft und Technik heben, die unsere irdischen Vorfahren auf dem verwüsteten Mutterplaneten hinterlassen haben.«

»Richtig.« Er nickte lächelnd. »Sobald wir erfahren, wo der Erdmann sich aufhalten könnte, sagen wir dir Bescheid.« Der Patriarch drehte seinen Rollstuhl zum Aquarium um und betrachtete den bunten Fischschwarm. »Eines noch, mein Kind: Ettondo Lupos hat mir den Bericht von Maya Joy Tsuyoshi zukommen lassen. An einer Stelle erwähnte dieser Tinnox einen Pilz, dessen Sporen die Atemluft an Bord der alten Raumstation vergiftet haben. Angeblich wirken diese Sporen auf das zentrale Nervensystem und verursachen psychotische Zustände mit Halluzinationen und so weiter.«

»Mir ist nichts dergleichen bekannt, Großvater.«

»Aber mir, wie gesagt.« Der Alte drückte einen Knopf an der Unterseite der rechten Armlehne. »Ich könnte mir vorstellen, dass man diese Sporen in der Luftaufbereitungsanlage findet, die Tinnox vom Erdmond mitgebracht hat. Es dürfte doch keine Schwierigkeit für dich sein, das herauszufinden, mein Kind?«

»Absolut nicht. Ich bin mit der Untersuchung der Queen Victoria befasst. Als leitende Mitarbeiterin habe ich freien Zugang in das irdische Raumschiff.«

»Na wunderbar. Mache ein paar Abstriche, und wenn du diesen ominösen Pilz entdeckst, lass eine Kultur davon anlegen. Derartige Kostbarkeiten sollte das Haus de Villa nicht einfach am Wegrand liegen lassen.« Er drehte seinen Rollstuhl zur Seite und sah dem blonden Schönling ins Gesicht.

»Und Sie, junger Herr Paxton, lassen Ettondo über Isbell Antara wissen, dass er bei seiner Strategie bleiben soll. Je loyaler er sich der Präsidentin gegenüber gibt, desto ungestörter können wir arbeiten.«

Die Tür zum Wintergarten öffnete sich, ein halbwüchsiges Mädchen kam herein – Jarro Fachhids Urenkelin und Pflegerin.

»Das wäre es zunächst«, sagte der Alte lächelnd. »Ich danke euch, und viel Glück!« Der Blonde und die Frau quittierten sein Lächeln mit einer Verneigung, machten kehrt und gingen an dem Mädchen vorbei aus dem Wintergarten.

»Ich habe das Bedürfnis nach einem Mittagsschläfchen, Rulia Fredis.« Der Patriarch steuerte seinen Rollstuhl der Tür entgegen. »Sei so lieb und bring mich zu Bett.«

 

 

4

Das Rieseninsekt zirpte, rührte sich jedoch nicht von seinem Ast. Seine Fühler vibrierten, und zwischen seinen Kauzangen quoll grünlicher Schleim hervor. Tim Lennox entdeckte plötzlich, dass die andere Seite des Stammes auf einer Höhe von fast zwei Metern mit diesem Schleim bedeckt war. Der Erdenmann wagte nicht, das Sekret zu berühren, jedoch kam es ihm fest und hart vor. Fast sah es aus, als würde der Mammutkäfer hier an einer Art Nest arbeiten.

Nach und nach schälten sich die Konturen weiterer Käfer aus dem rostroten Laub. Fünf Tiere machte Tim aus. Alle hockten und hingen irgendwo an den Rändern der Platte aus verfestigtem Schleim und sonderten dort ihr Sekret ab. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihn beobachteten. Seine Nackenhaare stellten sich auf.

Schnell weiter. Er griff nach dem nächsten Holm, stemmte das Bein auf den nächsten Stufenkeil. Die Käfer blieben zurück. Bald erreichte er einen durch Geländer gesicherten Steg, der über ihm vom Stamm weg in die Außenbereiche der mächtigen Baumkrone führte und dort aus dem Blickfeld verschwand. Schwarzstein lehnte über das Holzgeländer und wartete.

Er und der zweite Junge verhielten sich dem Anführer der Waldleute gegenüber wie seine Söhne. Aus ihren Gesprächen jedoch hatte Tim Lennox herausgehört, dass sie so etwas wie seine Jünger waren; Schüler also, die zugleich das Leben mit ihm teilten und ihm dienten. Lennox war kein Historiker, aber er meinte sich zu erinnern, dass solche sozialen Konstellationen auch in der irdischen Antike vorgekommen waren.

Er kletterte auf den Steg, schon wieder außer Atem. »Hast du diesen Riesenkäfer gesehen, Junge?« Der Weißhaarige nickte. »Was war das für ein Biest?« Tim drehte die Sauerstoffzufuhr hoch und verschnaufte ein wenig.

»Ein Tjork. Sie gehören zu uns.«

»Bitte? Sie gehören zu euch?«

»Ja. Sie gehören zu uns. Sagte ich doch.«

Der Mann aus der Vergangenheit stutzte – der Tonfall des Jungen machte deutlich, dass für ihn das Thema erledigt war.

Tim Lennox akzeptierte das; vorläufig. »Und wohin führt der Steg?« Er ließ sich neben dem Jungen auf die Holzplanken nieder, unterbrach die Sauerstoffzufuhr und nahm die Sauerstoffmaske ab, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.

»Es ist eine Baumbrücke«, sagte Schwarzstein. »Sie führt in den nächsten Baum.« Er sprach mit rauer, ziemlich tiefer Stimme. Rotes Laub hing in seinem weißen Haargeflecht. Tim mochte den Jungen. Seine Augen lachten, selbst wenn er eine ernste Miene schnitt; und das tat er meistens.

»Okay, eine Baumbrücke. Und wohin führt sie?«

»Zum Waldsitz des Weltenwanderers. Was bedeutet ›okay‹?«

»So viel wie ›in Ordnung‹. Ein Vorarbeiter von Ford hat das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in die Welt gesetzt.«

Jetzt strengte ihn schon das bloße Reden an. Tim setzte die Maske wieder auf. »Er stand am Ende des Montagebandes und zeichnete jeden neuen Ford mit seinen Initialen ab. Er hieß Oscar Keller, glaube ich. Oder Oscar Keyman? Nein – Oscar Kayne …« Lennox winkte ab und zuckte mit den Schultern.

»Egal, seine Initialen lauteten jedenfalls O.K., okay?«

»Was für ein Montageband, und was ist ein Ford, und woher willst du wissen, was ein Vorarbeiter im zwanzigsten Erdjahrhundert tat?« In den dunklen Augen des weißhaarigen Jungen loderten Schrecken und Neugier zugleich.

»Ein Ford ist ein amerikanischer Wagentyp, ich bin im zwanzigsten Jahrhundert auf der Erde geboren, und ein Montageband ist …« Lennox winkte ab. »Nun ja, ein Band eben … Was ist ein Weltenwanderer?«

»Es gibt nur den einen, und das ist der verehrte Erste Baumsprecher Sternsang.« Die Stimme des Jungen war plötzlich heiser. »Wie alt bist du denn?«

»Das frage ich mich auch manchmal. Und du?«

»Elf Marsjahre, also zweiundzwanzig Erdjahre.« Der Junge fasste Zutrauen. Oder war es einfach nur Neugier? »Du kennst dein Alter nicht, Tinnox?«

Unter ihnen raschelte Laub. Der Mann namens Windtänzer kletterte auf die Baumbrücke. »Weiter!«, unterbrach er das Gespräch. Er zog die Frau aus Elysium nach oben. »Bleib dicht hinter ihr, Aquarius, halte sie gut fest!«

Aquarius … So hieß der zweite Junge, genau. Kein schwieriger Name eigentlich, und Lennox fragte sich, warum er ihn vergessen hatte. Lag es an der Ausstrahlung, die von dem Blauhaarigen mit der für einen Marsianer ungewöhnlich dunklen Haut ausging?

Details

Seiten
Jahr
2021
ISBN (eBook)
9783738954470
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Juni)
Schlagworte
zeitalter kometen lennox planeten
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Titel: Das Zeitalter des Kometen #33: Lennox auf dem roten Planeten